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Das Verbrechen hat sich Anfang der 1930er-Jahre im badischen Pforzheim zugetragen – der Raubmord an einem Schmuckfabrikanten. Von der Krise gebeutelt, hatte er sich mit zwielichtigen Gestalten eingelassen. Zum Täter wurde dann ein junger Mann, der – obwohl aus intakten Verhältnissen stammend – früh ins Milieu abrutschte. Er wurde Teil einer Clique junger Männer, die das Ende der „Goldenen Zwanziger“ sowie der Weimarer Republik erlebten und sich mit Betrügereien durch die schwierigen Zeiten lavierten. Pforzheim gilt bereits damals als Zentrum der deutschen Schmuck- und Uhrenbranche schlechthin. Glanz und Gloria, aber in der Folge auch spezielle Kriminalität durchdringen das Leben in der Goldstadt und ihrem Umkreis.
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Michael Schenk
Goldstadt-Milieu
Geschichte eines aberwitzigen Raubmords im Herbst 1932
verlag regionalkultur
Titel: Goldstadt-Milieu
Untertitel: Geschichte eines aberwitzigen Raubmords im Herbst 1932
Autor: Michael Schenk
Herstellung: verlag regionalkultur
Satz und Lektorat: Melina Lamadé, vr
Umschlaggestaltung: Melina Lamadé, vr
Endkorrektorat: Michael Kohler, vr
Epub-Erstellung: Charmaine Wagenblaß (vr)
eISBN 978-3-89735-039-7
Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich.
104 S., Broschur. ISBN 978-3-95505-495-3.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
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Stadtplan von Pforzheim aus dem Jahr 1928 (Ausschnitt). Halblinks zentral: der Turnplatz (weiß) an der Enz, halbrechts: der Zusammenfluss von Nagold und Enz mit darüber führender Auerbrücke.
Impressum
Vorwort
I Werdegang
II Opfer
III Tat
IV Vor Gericht
V Strafe
VI Vollzug
Epilog
Anhang
Die „Goldstadt Pforzheim“ – Zentrum für Schmuck- und Uhrenfertigung sowie Edelmetallverarbeitung – bietet Verbrechen ein räumlich wie wirtschaftlich außergewöhnliches Feld in Deutschland. Für labile Charaktere eröffnet die Stadt an der Nahtstelle zwischen Schwarzwald und Kraichgau eine Fülle an Versuchungen. Gleich einem Bartresen für Alkoholiker. Jede Menge Jobs, die verführerisch auf ungefestigte Persönlichkeiten wirken. Jede Menge Wohlhabende sowie jede Menge Habenichtse prägen die städtische Gesellschaft, seit 1767 im Zucht- und Waisenhaus die Keimzelle der Schmuck- und Uhrenfertigung gelegt worden ist. Auch dank der im Jahr darauf gegründeten Goldschmiedeschule erreichte die Branche Blütezeiten und begründete den weltweiten Ruf der Stadt.
Ein Staatsanwalt bezeichnete etwa 225 Jahre später – das skizziert die Kehrseite der Medaille – die Deliktlage in Pforzheim als ziemlich einzigartig in der Republik. Ohne auf die funkelnde Branche voller Glanz und Gloria tiefer eingehen zu wollen, hier Beispiele für die mannigfaltigen Gefährdungen: Da ist das alltäglich gegenwärtige Lebensgefühl der Branchenangehörigen. Wer als Außendienstvertreter mit Musterkoffern voller Preziosen im Heck die Juweliergeschäfte bereist, sieht sich vor. Statt mit PF-Kennzeichen steuert man zu seinen Kunden in Wagen mit Ortskürzeln anderer Städte. Andernfalls ist das Vehikel für Diebe und Räuber leicht als rollende Schatztruhe erkennbar.
Demgegenüber ein krasses Beispiel für konkrete kriminelle Energie aus bewegten Zeiten: Anfang der 1930er-Jahre hat sich im Strudel der untergehenden Weimarer Republik ein aberwitziges Verbrechen abgespielt. Eine Bluttat, die trotz ihrer Absurdität symptomatisch für diese Zeit des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs gelten kann. Lange beherrschte dieser Raubmord das Stadtgespräch des sich politisch braun einfärbenden Pforzheims. Das Opfer, ein Schmuckfabrikant, der – statt eine Schritt aus der Krise zu machen – den Tod findet. Der Täter, ein junger Mann, dessen Gier nach einem Leben in Saus und Braus ihn selbst sowie zwei Familien ins Unglück stürzt. Dieses schreckliche Geschehen bietet tiefe Einblicke in die Abgründe des Milieus. Es liegt hier nacherzählt vor – rekonstruiert aus juristischen Dokumenten, Zeitungsartikeln, subjektiven Erinnerungen und ergänzt mit Recherchen plus fiktionaler Freiheit.
Fast alle Namen sind mit Rücksicht auf Nachkommen der involvierten Personen geändert worden.
„Entweder ich habe demnächst 10 000 Mark – oder zehn Jahre…“
Kurt Spaier (23), erwerbslos, September 1932
Im hellbraunen Trench schleicht er die Treppe hinauf. Den Hut auffällig tief ins Gesicht gezogen. Ein lauer Samstagnachmittag anno 1932 im Enztal. Sanfter Wind weht frühherbstlich mild von Südwesten durch Pforzheim. Badische Sonne und angenehme 20 Grad locken ins Freie. Etliche Menschen flanieren an den drei kleinen Flüssen Enz, Nagold und Würm. Diese vereinigen sich im beschaulichen Zentrum von Schmuck- und Uhrengewerbe zwischen Karlsruhe und Stuttgart. Wie im ganzen Land fiebern hier etliche der knapp 80 000 Einwohner einem großen Tag entgegen. Morgen, am 2. Oktober, feiert Reichspräsident Paul von Hindenburg seinen 85. Geburtstag. Die Lokalblätter würdigen das Ereignis vorab mit opulenter Berichterstattung. Manche räumen ihre gesamte Titelseite für den Kriegshelden und parteilosen Politiker; ein Haudegen, der erst im Frühjahr zum zweiten Mal zum Reichspräsidenten gewählt worden war. Mit 16 Prozent Vorsprung gegenüber Adolf Hitler (NSDAP); in Pforzheim waren es lediglich knapp drei Prozent und im Amtsbezirk der Goldstadt lag der „Führer“ gar ein halbes Prozent vorne.
21 Stufen, roter Buntsandstein, von unzähligen Schuhen ausgetreten. 21 Stufen bis zur Befreiung aus Kurt Spaiers Zwickmühle. Noch hat er die Treppe in einem Hinterhof im Stadtviertel Au vor sich – und ein ganzes Leben. Einen Steinwurf weit entfernt plätschert die Enz auf ihrem Weg via Neckar und Rhein in die Nordsee.
Kurt Spaier zählt 23 Jahre. Bereits ein Jahr älter ist er geworden als sein früh verstorbener Vater, Jahrgang 1887. Ein Leben voller unerträglicher Leichtigkeit. Unerträglich allerdings auch für seine Mitmenschen. Hindenburg hin, Republik her. Kurt trägt eine schwarze Maske, Handschuhe sowie einen leeren Handkoffer mit sich. Tiefe Taschen im Mantel seines Stiefvaters. An alles gedacht? Alles dabei? Kurz vergewissert sich Kurt, tastet nach
- der Schnur,
- dem Gummiknüppel,
- den vier Tüten gemahlenen Pfeffers,
- der Maske und
- der Pistole.
„Dengelmann und die anderen werden ganz schön gucken“, saust es durch Kurts akkurat gescheitelten braunen Schopf, als er die erste Stufe noch etwas zögerlich nimmt. Sich selbst Mut zuzusprechen, das hat er gut gelernt.
„Entweder ich habe demnächst 10 000 Mark oder zehn Jahre“, prahlte er neulich ganz lässig. Entweder – oder, hopp oder top. Doch jetzt ist mit Lässigkeit kein Eindruck mehr zu machen. Seine Schritte sind nun etwas energischer. Eigentlich gehört die Knarre dem Otto Dengelmann (24), fünftes Glied einer neunköpfigen Kinderschar. Fünf seiner Geschwister sind allerdings früh gestorben. Bald floh Dengelmann dann aus dem Haus. Vor allem, weil er mit dem herrischen Alten nicht klarkam. Der drangsalierte ihn, wie es ihm gefiel. Vor allem, wenn er besoffen war, was fast schon alltäglich geworden ist. Warum aber? Warum nur steigt Kurt jetzt mit jedem seiner Schritte entschlossener die ausgelatschten Stufen empor? Kurt, was hast du mit Schnur, Gummi, Pfeffer, Maske und der Waffe bloß im Sinn? Hatten die Lehrer ihm nicht – eher widerwillig – eine rasche Auffassungsaufgabe bescheinigt? Hatten sie nicht seine durchaus hohe Intelligenz anerkannt? Aber Kurt brachte im Tornister ein narzisstisch-kindisches, egozentrisches Gebaren mit. Schabernack, Hinterlist, Heimtücke – oft Renitenz pur. Eben der typische Querulant.
Schon Kurts Geburt in einem Schwarzwalddorf steht Mitte 1909 unter einem unglücklichen Stern. Der Kleine wird Sohn einer trauernden Witwe (20). Bei Geburt bereits Halbwaise. Der Vater – ironischerweise aus einem Luftkurort im oberen Enztal stammend – war 14 Tage vor Marthas Niederkunft mit 22 der Lungentuberkulose erlegen.
Kurt wächst vornehmlich bei Oma Lena auf. Deren Tochter, Mutter Martha, eine erfahrene Schmuck-Poliererin (Polisseuse), findet zwei Jahre später neue Zweisamkeit – mit Anton Spaier. Der „Toni“, ein bodenständiger Maler und Lackierer, tauscht mit Martha Anfang Juli 1911 die Ringe. Kurt erhält ein Dreivierteljahr später den Namen seines Stiefvaters Anton und heißt nun Spaier statt wie bisher Nittler. Jahre später handelt er sich seinen Spitznamen ein – wegen seiner mitunter feuchten Aussprache unter Verballhornung seines Namens: „Spucker“.
Das Paar zieht vom Höhendorf hinab in die malerische, einstige badische Residenzstadt Pforzheim. Es bezieht eine Bleibe ohne Südfenster in der Kaiser-Friedrich-Straße („KF“ genannt); ziemlich zentral, direkt am Fuß des Hügels „Rodrücken“; zum Turnplatz an der Goethebrücke ist es nur ein Katzensprung.
Als Kurt sechs Jahre alt wird, holen die beiden den Jungen nach. Die Familie ist nun erstmals komplett. Ihre Stimmung beglückt: Was soll noch schiefgehen? Kurt besucht die Weiherbergschule. Dann geht es auf die Oberrealschule gegenüber dem Turnplatz jenseits der Enz. Dort heißt es später über ihn, „…begabt mit einer raschen Auffassung“ … „immer unter den ersten Zehn zu finden“.
Gerne wäre er bis zum Abitur durchmarschiert, aber nach der Obersekunda mangelt es an Geld. Malern und Polieren reicht lediglich, um bescheiden zu leben. Aber große Sprünge? Höhere Bildung für den begabten Sprössling? Kurt muss sich fügen. Eine bittere Wirklichkeit schreddert den Traum vom Aufstieg in die sorgenfreie Welt der Schönen und Reichen. Mitunter schimpft Kurt deswegen umso heftiger auf „die feinen Pinkel“. Ein Ärger, der an den Stammtischen dominiert. Denn die Lage einer steigenden Zahl von Erwerbslosen – immer prekärer. Unter- und Mittelschicht haben zu knabbern, werden geplagt von Abstiegs- und Verlustängsten, wohingegen die Oberschicht genüsslich das Leben feiert. Prügelbereite Braunhemden gewinnen zusehends mit Hetze gegen Versailles, (Sozial-)Demokratie, Republik und Juden an Boden. Sündenböcke für den Frust aus dem verblichenen Kaisertum.
Passt der Kurt aber nicht wirklich viel besser dorthin, wo nach wie vor Milch und Honig fließen? Verstohlene Blicke etlicher Mädchen, der Mann im Spiegel und Fotos bestätigen es doch! Zeigen sie nicht einen richtig schneidigen Kerl? Eine Kante von einem Scheitel trennt das glatte, braune nach hinten gekämmte Haar wie ein Meridian. Schnurgerade Nase, schmale Lippen und leichte Hohlwangen. Klarer, mitunter durchdringender Blick aus braunen Augen. Und dazu noch der Hut: ein Fedora im Stil von Humphrey Bogart. Jener kühle Charismatiker mit dem Sehnsuchtsblick, der damals noch in Hollywood an seinem Durchbruch arbeitet. Runde Brillengläser verleihen Kurts Miene einen Hauch von Intellekt. Hermann Hesse aus dem nahen Calw an der Nagold lässt grüßen. Der Autor hat soeben seine „Morgenlandfahrt“ veröffentlicht. Bogart und Hesse. Dazu ein charmantes Lächeln. Mitunter maliziös, besserwisserisch überheblich. Optisch verkörpert Spaier komplett disparate Typen. Dazwischen gähnt eine weite Kluft. Eine Kluft, in der man ohne Halt verloren gehen kann.
Wird Kurt Spaiers Sehnsucht nach Glamour deshalb umso bohrender? Erscheint ihm die Schampus-Society des leichten Lebens darum noch glanzvoller, noch viel erstrebenswerter?
So viel steht fest, um diesen Eindruck zu verwischen, wird er herzlich wenig getan haben.
Schnöder Mangel blockiert Kurt den Weg zur Ingenieurslaufbahn. Seine Suche nach einer technischen Lehre erscheint gepflastert mit mehr und meist weniger einfühlsamen Absagen. Die Welt der Technik bleibt unerreichbar für den Halbwüchsigen. Kurz vor seinem 16. Geburtstag beginnt er – zähneknirschend – eine kaufmännische Lehre bei der Schmuckmanufaktur Widun. Eintritt durch die Hintertür des glänzenden Geschäfts der Bijouterie, in die Sehnsuchtswelt der edlen Preziosen. Zwar keine Sektempfänge auf Terrassen an lauen Sommerabenden, aber immerhin so etwas wie eine Ahnung von Saus und Braus, tröstet Kurt sich mühsam und biegt sich seine Wirklichkeit gerade. Oder er versucht es wenigstens.
Bijouterie und Doublé? „Bijouterie“ heißt Schmuck, der mit Hilfe industriellen Maschineneinsatzes gefertigt wird, lernt Kurt. „Doublé“ benennt preiswertes Metall mit einem Hauch von Gold bedeckt. Beides mit sprachlichem Sahnehäubchen aus Frankreich. Man betrachtet Bijouterie quasi als einen Vorläufer des Modeschmucks. Technische Kniffe, die edel wirkende Preziosen erschwinglicher machen – und so die Pforzheimer Schmuckbranche beflügeln. Ähnlich wie es Jahre später dem buckligen Käfer mit der Autoindustrie gelingt.
Doch Kurt hat mit schnöder Büroarbeit wenig am Hut. Tabellen, Zahlen, Fakturierungen und Bleistifte spitzen – öde. Nebenher besucht er die Handelsschule. Sein Elend, falsch abgebogen zu sein, lässt er sein Umfeld spüren: Eltern, Mitschüler und vor allem – die strengen Autoritäten – Lehrer. An ihnen arbeitet er sich mit flottem Mundwerk ab.
„Ätsch“ oder „siehste“, ruft er kindisch, wenn seine Schadenfreude mit ihm durchgeht. Dazu sein maliziöses Grinsen – maximal schmallippig. Selbst, als er noch seine letzten Pickel ausdrückt. Deren Anzahl schwindet, während die Arroganz wächst.
„Es gab rechte Schwierigkeiten“, wird später ein Pfarrer berichten. „Einer der schlimmsten Schüler, der oft die ganze Klasse gegeneinander bringen konnte.“
Rüdiger Zorens, Rektor der Handelsschule, findet ebenfalls wenig Erbauliches an Kurts Ego-Eskapaden. Schimpft: „Sein Verhalten zum Lehrer – unlenksam und zurückhaltend“. Schlimmer noch empfindet Zorens seine „losen Streiche“: „Er ist geneigt, die Klasse mit büßen zu lassen. Gegen ihn musste wiederholt disziplinarisch in scharfer Weise eingeschritten werden.“
Kurt Störenfried, Kurt auf Kurs Systemsprenger. Als er 17 ist, hebt der Spucker ab und lässt triste Realitäten hinter sich. Fühlt mehr, als dass er denkt.
Das erste Jahr bei Widun läuft für Kurt zunächst ganz manierlich. Anpassen und Beobachten lautet die Devise. Dann darf er sich der Auszahlung der Wochenlöhne widmen. Spaier gewinnt also Zugriff auf die Fleischtöpfe der Fabrik. Verlockungen zu widerstehen, zählt ebenso wenig wie Selbstreflektion oder gar Selbstkritik zu Kurts Stärken. In jenem Frühsommer 1926 frisiert er die Bücher und ergaunert mehr als 12 000 Reichsmark. Das geht ihm leicht von der Hand. So unterschlägt er Beiträge für die Invaliden- und Angestelltenversicherung, stiehlt dann Gold- und Silberschmuck sowie Uhren aus dem Kassenschrank. Die Portokasse erleichtert er um mehr als 120 Mark. Ein ganzer Zahltag von allein 1478 Mark, eine Serie von Musterstücken sowie Wertpapiere wandern in seine Tasche. Kurt fühlt sich großartig und schlau – schlauer als jene fleißigen Malocher, die es nie auf die Südseite des Lebens bringen werden. Was kostet die Welt?
Mit dem Tabubruch erkauft er sich schaumige Tage voller Freiheit und Ausschweifungen: Autotouren mit Sektgelagen und, versteht sich, mit Erkundung erotischer Kurven. Modisch elegant eingekleidet wie ein Gentleman, gibt er sich als Bonvivant aus. Wo eine Villa, ist auch (s)ein Weg. Er fühlt sich ganz bei sich. Spucker mag‘s fett. Großspurig.
Mitunter leiht er sich ein Cabrio und fährt damit zum Straßenstrich am „Pariser Plätzle“ außerhalb der Stadt, Richtung Karlsruhe.
Blondinen. Mit Figur, versteht sich. Wie deren Parfüm duftet! Das gepflegte Haar! So weich, so kuschelig. Damit „Karola“ einsteigt, muss er ihr fünf Mark extra in den Ausschnitt stecken. Mit ihr braust er raus nach Birkenfeld und weiter über Neuenbürg zum Aussichtsturm „Schwanner Warte“ am Rand des Nordschwarzwalds. Dort oben eröffnet sich ein betörender Panoramablick – über den Kraichgau und bis jenseits von Philippsburg. Den „Pfälzer Wald“ erspäht man nordwestlich von Karlsruhe unten im Rheintal, ganz westlich noch die Vogesen.
Kurts Hang zur Romantik? Würde seine Familie als noch unterentwickelt beschreiben. Aber mit fortschreitender Pubertät lernt er rasch: Mädchen sind für Naturerlebnisse empfänglich. Dazu zählen traute Stunden bei Panoramen mit Fernblick. Zwitschernde Vögel auf Aussichtsplattformen jeglicher Art öffnen Zugang zu sanft gestimmten Herzen. Da braucht es kaum noch geflüsterte Komplimente oder gereimte Verse.
Selbst Professionelle, die Zärtlichkeit kapitalistisch kalkulieren, lassen sich so geschmeidiger, williger stimmen. So willig, dass sie angesichts Kurts Charmeoffensive mit dem BH ihre Distanz ablegen. Kurt giert nach solchen Momenten, da sie ihm die Illusion glamourösen Daseins suggerieren. Selbstredend hat er dann Sekt dabei. Ein weiterer, im Glas und auf der Haut prickelnder Spannungslöser.
„Kurt, bist ja ein ganzer Schlawiner!“, gurrt die Blondine, als er schließlich tastend ihre Haare wuschelt, dann Bluse und Mieder unterwandert und flüstert: „Karola, bist so zuckersüß.“
Dann gurrt sie nicht mehr, weil Kurts Zungenspitze fordernd zwischen ihre Lippen drängt. Entgegen professioneller Gepflogenheiten lässt sie es sich eben gefallen. Mitunter fährt er mit seinen „Karolas“ in die nahen Weinberge der Vororte Eisingen, Dietlingen und Ellmendingen.
Ein andermal kurvt er nach Baden-Baden. Dort bringt er sein ergaunertes Geld – Dostojewski auf der Spur – am grünen Filz des altehrwürdigen Spielcasinos unter die Leute.
In der Wirts- und Kaffeehausszene der Goldstadt gibt Kurt dann, jetzt da er flüssig ist, großherzig „’ne Runde“ aus. Dann tischt er der Runde seine Spritztouren und gelegentlich seine Amouren auf. Bleibt jedoch meist bei Andeutungen, spart sich die ganz schlüpfrigen Details mit einem flotten, ans Ende gepflanzten Grinsen: „Ihr wisst schon . . .“ Und genießt den Neid in den Gesichtern der Tischgenossen. Cabrios? Kennen die meisten allenfalls vom Hörensagen, von blonden Karolas ganz zu schweigen. Wobei Kurt deren Professionalität unterschlägt. Türöffner zu den Herzen sei sein schneidiger hoppla-jetzt-komm-ich-Charme: „Hallo Schöönee!“ Soll doch jeder denken, dass der adrette Kurt Käufliche beim Lebtag niemals nicht nötig hat!
„Der Spaier hat Schlag bei den Frauen, mein lieber Freund und Kupferstecher, deeer hat den Dreh raus!“