Der Geist von Lamb House - Joan Aiken - E-Book

Der Geist von Lamb House E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Tony Lamb und seine Familie waren im 18. Jahrhundert die ersten Bewohner von Lamb House im südostenglischen Rye. Dort hat sich eine unheimliche Geschichte zugetragen, die der verkrüppelte Toby, der einst Schriftsteller werden wollte, aufgeschrieben hat. Jahre später übernimmt der große englische Schriftsteller Henry James das Haus, oder vielmehr - so scheint es ihm von Anfang an ­ das Haus übernimmt ihn.

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Joan Aiken

Der Geist von Lamb House

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Diogenes

Zum Andenken

an John Aiken, der in

Rye lebte und

Gespenstergeschichten liebte

Vorbemerkung der Autorin

Sämtliche Figuren und Begebenheiten dieser Geschichten beruhen auf Tatsachen, natürlich bis auf die Gespenster und Geistererscheinungen, die, wie auch Toby Lambs Geschichte, frei erfunden sind.

Henry-James- und E.-F.-Benson-Kenner werden sehen, daß ich diese Schriftsteller möglichst oft und ungeniert mit ihren eigenen Worten zitiert habe. Dabei habe ich mich weitgehend auf die großartige Henry-James-Biographie von Professor Leon Edel sowie die Werke Alice James: A Biography von Jean Strouse und E.F. Benson, As He Was von Geoffrey Palmer und Noël Lloyd gestützt. Besonderen Dank schulde ich Mr. und Mrs. Martin, die mir freundlicherweise gestatteten, in den Dachkammern und Kellerräumen, in Ecken und Winkeln von Lamb House herumzustöbern.

Der Fremde im Garten

1Toby

Meine Schwester Alice verließ uns mit zwölf und blieb acht Jahre fort. Lang wie ein ganzes Menschenleben dünkte mich ihre Abwesenheit damals, und was sie an Kummer und Leid brachte, wäre in der Tat genug für so manches Menschenleben gewesen. Dabei hatten meine Eltern nur ihr Bestes gewollt.

Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich des Augenblicks, da Alice mit verweintem Gesicht auf den kleinen gepflasterten Hof kam und mir sagte, daß sie in die Fremde müsse. Da ich damals erst sieben und von zarter Gesundheit war, übertrug man mir einfache Handreichungen, die meine Kräfte nicht überforderten. An diesem frostiggrauen, winterlichen Herbstnachmittag hatte Großmutter Grebell mich angewiesen, die Binsen zu wenden und zu schälen, die Gabriel, der Pferdeknecht, und mein Bruder Robert vor einigen Tagen von den Marschen gebracht hatten.

In unserer Zeit des Überflusses sind Binsenlichter ein wenig aus der Mode gekommen, findet man doch Wachskerzen schon in jedem Handwerkerhaus. Mein Vater aber war, obschon ein reicher Braumeister und dreizehnmal zum Bürgermeister von Rye gewählt, ein sparsamer Mann. Oft genug habe ich ihn sagen hören: »Wir wären, da wir von den Marschen umgeben sind, recht töricht und undankbar, wenn wir nicht Gebrauch von dem machten, was Gott uns gibt.« So standen denn große Wannen mit Binsen, die Robert und Gabriel gebracht hatten, auf dem Hof. Meine Aufgabe war es, sie fleißig zu wenden, bis sie weich waren, und dann die Schale von den Stengeln zu ziehen, so daß nur gerade, schmale Hülsen zur Aufnahme des Dochtes übrigblieben. Die wurden dann auf Weidengestellen getrocknet und später in siedenden Talg getaucht.

Ein Pfund Binsen, mit sechs Pfund Talg bereitet, ergibt achthundert Stunden Licht zu einem Preis von nicht einmal drei Schilling, so sagte mein haushälterischer Vater, und während meine Hände mit Wenden und Schälen beschäftigt waren, gingen meine Gedanken eigene Wege und berechneten, daß wir mit zehn Pfund Binsen achttausend Stunden Licht hätten … Wie viele Tage machte das wohl, wenn wir morgens und abends in Wohnstube, Küche und in meines Vaters Kontor fünf Stunden Licht brauchten? Zwanzig Pfund machten sechzehntausend Stunden …

Ich liebte solche Zahlen- und Rechenspiele. Sie halfen mir über lange, freudlose Stunden hinweg, in denen ich mich mit dem Binsenschälen quälte, dem Putzen und Fetten des Einspänners und des Geschirrs (denn Gabriel, der Pferdeknecht, hatte genug zu tun, er besorgte auch den Garten und machte Botengänge für meinen Vater in der Stadt). Vielleicht, dachte ich sehnsüchtig und ohne viel Hoffnung, schickt mich Vater eines Tages doch noch zur Schule.

»Es ist ein Jammer, den Jungen nichts lernen zu lassen, James«, hatte ich Großmama Grebell einmal in der Stube meines Vaters sagen hören. »Toby hat einen hellen Kopf und ist willig.« (Obschon ich auf den Namen Thomas getauft bin, hat meine Familie mich nie anders als Toby genannt.) »Er könnte dir gute Dienste in der Brauerei oder hier im Kontor leisten.«

»Der? Was soll ich mit einem schwächlichen kleinen Krüppel anfangen?« erwiderte mein Vater verdrießlich. »Ja, wenn Robert …«

»Robert ist ein Tölpel und wird nie etwas anderes sein«, sagte meine Großmutter scharf, und mehr vernahm ich nicht, die Tür hatte sich geschlossen.

Ein Stengel zerbrach unter meinem gedankenlosen Griff und landete auf dem immer höher werdenden Berg unbrauchbar gewordener Binsen, die nur noch als Anmachspäne für die Küche taugten. Und dann kam meine Schwester Alice über den gepflasterten Hof auf mich zugelaufen. Ihre dunklen Locken waren zerzaust, das Gesicht war rot und tränennaß.

»Toby, ach Toby!« Sie hockte sich neben mich, ohne auf die nassen Binsen, ihre Leinenröcke oder die Pfützen zwischen den Pflastersteinen zu achten.

»Was ist, Alice? Hast du dich verbrannt? Hat Robert dich geschlagen?«

Robert war kein schlechter Junge, konnte aber jähzornig werden, wenn man ihn reizte. Hinterher tat es ihm immer leid. »Oder hast du Schelte von Vater bekommen?«

Meine Mutter konnte Alice nicht getadelt haben. Sie hatte so wenig Interesse an ihren Kindern, daß sie uns allenfalls dann zurechtwies, wenn eins von uns ihre Handarbeit durcheinandergebracht hatte. Und das konnte ich mir bei der sanften, sorgsamen Alice nun wirklich nicht vorstellen.

»Nein, nein. Ich muß weg! Sie schicken mich fort!«

»Fort von hier? Aber wohin? Warum?«

Hier – das war das Haus meines Vaters in Rye. Irgendwo anders zu leben war für mich schlechthin nicht vorstellbar, und ich habe es auch später nie getan.

Stotternd und schluchzend, mit einem Schluckauf kämpfend fuhr Alice fort: »Ich … ich soll zu unserer Cousine Honoria Wakehurst in … in Tunbridge Wells.« Es hätte, so wie sie es sagte, ebensogut Timbuktu sein können, in unserer Vorstellung waren die beiden Orte gleich weit von uns entfernt. In fassungslosem Entsetzen sah ich Alice an.

»Aber warum? Ich will nicht, daß du gehst, Alice.«

Solange ich denken konnte, war Alice immer lieb zu mir gewesen. Ob ich gestürzt und mir weh getan hatte, ob ich in Ungnade gefallen war, meine Kleider beschmutzt, mein Essen verschüttet oder Schmerzen in dem kranken Bein hatte – stets war Alice zur Stelle, liebevoll tröstend, sanft und geduldig.

»Nicht weinen, Toby, nicht weinen. Alice ist da, Alice bringt es wieder in Ordnung.«

Sie hatte mich mütterlicher umsorgt als unsere leibliche Mutter. Jetzt, da ich selbst alt bin – ich schreibe diesen Bericht über sechzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen nieder –, weiß ich wohl, daß unsere Mutter nie bei guter Gesundheit war und oft Schmerzen litt. Sie erlag ihrem Leiden in dem Jahr, als Alice heimkam – damals war George, ihr Letztgeborener, erst neun –, und muß schon Jahre vorher gekränkelt haben. Wir waren es gewohnt, daß sie, mit ihrer Handarbeit beschäftigt, auf dem Sofa lag und wir mit unseren Sorgen und Nöten zu Großmama Grebell gehen mußten, die um die Ecke, in der Vicarage Lane, wohnte, sich aber weniger dort als in Lamb House aufhielt.

Ich klammerte mich an Alice und wiederholte: »Ich will nicht, daß du gehst. Ich laß dich nicht weg.«

»Dummbeutel!« Der stämmige achtjährige Robert, der mit einem Freund aus der Lateinschule an mir vorbeikam, sah verächtlich auf mich herab. »Dein Gesicht ist ganz schmutzig«, sagte er höhnisch zu Alice, und dann zu mir: »Wie willst du verhindern, daß sie weggeht, du Heulsuse? Sie soll bei Cousine Honoria lernen, eine große Dame zu werden, und heiratet irgendwann mal einen reichen Kaufmann aus Tunbridge Wells. Die siehst du nie wieder.«

Pfeifend ging er davon, um bei Agnys, unserer Köchin, ein Stück Speckkuchen zu erbetteln.

»Aber warum will Cousine Honoria Wakehurst dich zu sich nehmen, Alice? Du hast doch ein Zuhause. Ich verstehe das nicht …«

»Weil sie keine eigenen Kinder hat. Und jetzt schon über dreißig ist und wohl auch keine mehr bekommt. Und sie und Hauptmann Wakehurst sind reich. Vater sagt, es ist ein großes Glück für mich.«

»Aber warum wollen sie ein Mädchen?«

Sogar ich mit meinen sieben Jahren wußte schon, daß Mädchen weit weniger wert waren als Jungen.

Alice schniefte jämmerlich. »Natürlich hätten sie lieber einen Jungen gehabt. Aber von Robert würde Vater sich nie trennen, und Moses ist zu klein, erst zwei. Und –«

Ich wußte, was sie hatte sagen wollen. Keiner, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde mich, den kränkelnden, zu klein geratenen Krüppel, adoptieren wollen. Es war nicht meine Schuld, das wußte ich wohl, aber dieses Wissen machte mir das Leben nicht leichter.

Großmutter Grebell kam auf den Hof. Mit ihrem scharfen Runzelgesicht, das jetzt, da sie keine Zähne mehr hatte, noch schärfer geworden war, sah sie aus wie ein alter Vorstehhund.

»Toby, du hast deine Arbeit sehr nachlässig verrichtet. Schau, wie viele Binsen du verdorben und zerbrochen hast! Jetzt komm ins Haus. Und du auch, Alice. Wir müssen deine Kleider durchsehen, damit ich weiß, was ich dir mitgeben kann. Jetzt fang nicht wieder an zu weinen, Kind, damit änderst du doch nichts. Sei ein tapferes Mädchen.«

»Ich bin aber nicht tapfer«, sagte Alice gedrückt.

Nein, das war sie nicht, ich wußte es nur zu gut. Es gab so vieles, wovor sie Angst hatte – knurrende Hunde, Donner, laute Geräusche, zornige Stimmen, der Anblick von Blut. Wie wollte sie außerhalb der vertrauten, sicheren Welt von Lamb House nur zurechtkommen?

Über Alices zuckende Schultern hinweg sah Großmama Grebell mich streng an.

»Geh rasch in den Kräutergarten, Toby …« (sie sagte nicht ›lauf‹, denn schnell laufen konnte ich nicht) »… und hol mir ein Bündel Minze. Sie ist jetzt zwar welk, aber noch immer aromatischer als getrocknete. Ich mache dir einen Tee, Kind«, sagte sie und richtete ihren scharfen Blick auf Alice, »dann gehst du zu Bett, und morgen früh findest du dich mit Anstand in dein Schicksal, wie es sich für eine Enkelin deines Großvaters geziemt« (Großvater Grebell hatte sich in der Schlacht von Blenheim tapfer geschlagen und war im Jahr darauf Bürgermeister von Rye geworden).

»Ja, Großmutter«, sagte Alice schluchzend und folgte der alten Dame in die Küche.

Ich hinkte über den gepflasterten Hof und durch die schmale Gasse, die an der Brauerei vorbeiführt, bis zu dem kleinen ummauerten Garten, in dem ein paar uralte Apfelbäume standen und der von meinem Vater gepflanzte Maulbeerbaum und in dem Gabriel Petersilie, Zwiebeln und Küchenkräuter zog. Bedrückt sah ich mich in der tiefer werdenden Dämmerung um und pflückte ein paar Hände voll der noch immer lieblich duftenden Minze. Dann machte ich mich auf den Rückweg.

Überrascht sah ich an der Gartenpforte einen Fremden stehen – einen hochgewachsenen Mann, schwarz gekleidet wie ein Priester, mit schwarzen Strümpfen und Schuhen, einer viereckigen, kastenförmigen Kopfbedeckung und einem großen Überwurf, der ihm wie ein Flügel über die rechte Schulter hing.

»S-sucht Ihr meinen Vater?« stammelte ich erschrokken. »Mr. James Lamb?«

Der fremde Herr aber gab keine Antwort, ja, er sah mich nicht einmal an, sondern ging lautlos und sehr schnell davon. Als ich selbst bei der Gartenpforte angelangt war und nach rechts und links blickte, war er nicht mehr zu sehen, und ich konnte mir gar nicht recht erklären, wie er so schnell hatte verschwinden können. Doch über der drohenden Trennung von Alice vergaß ich ihn bald wieder. Wie sollte ich es ertragen, ohne sie zu sein? Alice war meine halbe Welt – und mehr. Robert kümmerte sich nicht um mich und mein Vater auch nicht, nur hin und wieder sah er mich an, als wünschte er, ich wäre nie geboren. Mit den jüngeren Geschwistern, Sophy und Moses, war noch nicht viel anzufangen, und George war erst ein paar Monate alt. George war im letzten Winter unter recht aufregenden Umständen zur Welt gekommen, denn in eben dieser Nacht, die wild und stürmisch war, hatte der König, dessen Schiff in der Bucht von Rye auf Grund gelaufen war, von Jurys Gap kommend in der Stadt Unterkunft begehrt. Als Bürgermeister war mein Vater genötigt, Seine Majestät bei sich aufzunehmen und sein Schlafzimmer herzugeben. Es war eine recht lästige Einquartierung, denn der König sprach nur Deutsch, und auch sein Gefolge war ausschließlich dieser Sprache mächtig, die mein Vater nicht beherrschte, so daß er genötigt war, nach Dr. Wright zu schicken, der Medizin in den Niederlanden studiert hatte, und ihn zu bitten, er möge für die hohen Gäste den Dolmetsch machen (obschon Vater und Dr. Wright sich wegen der sechs Jahre zurückliegenden Geschichte meines Mißgeschicks nicht grün waren). Zu allem Unglück war unsere Mutter bei all der Aufregung vorzeitig in die Wehen gekommen und hatte meinen Bruder George zur Welt gebracht. (Diesen Namen gab man ihm bei der Taufe, wir alle aber nannten ihn Jem.) Er war bei der Sache noch am besten weggekommen, denn der König, der drei Tage in der Stadt hatte bleiben müssen, bis der Sturm abgeflaut war, hatte bei ihm Pate gestanden, und später kam aus London eine stattliche silberne Schale mit eingravierter Inschrift: »König George seinem Patenkind George Lamb«. Hin und wieder betrachtete ich die Schale, die in der guten Stube stand, voller Kummer und überlegte, warum wohl manche Menschen als Glückskinder geboren werden, während andere ein Unglück nach dem anderen trifft. Ich natürlich hatte mich während des hohen Besuchs vor aller Augen in der Küche verbergen müssen.

»Toby!« rief meine Großmutter aufgebracht. »Kommst du jetzt endlich mit der Minze!«

»Hier ist sie schon …«

Großmama hatte einen Krug mit heißem Wasser in der Hand und versuchte meine Schwester aufzuheitern, indem sie ihr von einem Besuch in Tunbridge Wells erzählte, den sie vor Jahren mit unserer Urgroßmutter unternommen hatte.

»Damals, Kind, war es nur ein bescheidener kleiner Ort, denn Lord North hatte die Heilquelle gerade erst entdeckt. Ein armseliger Gasthof, ein heidebewachsener Hügel – das war schon alles. Jetzt ist daraus eine stetig aufstrebende schöne Stadt geworden, gewiß gibt es dort Geschäfte und Assemblée-Räume, Leihbibliotheken, Blaskapellen und eine Garnison. In ein, zwei Jahren wird Cousine Honoria mit dir auf Bälle gehen. Du bist das glücklichste Mädchen in ganz Rye! Jetzt mach kein so brummiges Gesicht, sonst wird es ihnen noch leid tun, daß sie nicht Sophy genommen haben, auch wenn die erst vier ist …«

»Das wäre mir nur lieb gewesen!«

»Jetzt trink deinen Tee, Kind, und geh zu Bett«, fuhr Großmutter sie in plötzlicher Ungeduld an. »Schau nicht so einfältig. Wie kann ein so großes Mädchen sich derart gehenlassen! Sieh nur, wie verschwollen dein Gesicht schon ist. Was soll Hauptmann Wakehurst denken, wenn er morgen kommt? Lauf jetzt, Kind.«

Alice, die inzwischen brav ihren Schlaftrunk zu sich genommen hatte, schlich – tatsächlich mehr tot als lebendig – aus der Stube. Das frische bräunliche Gesicht, das nicht ausgesprochen hübsch, aber überaus einnehmend war, hatte rote Flecken und war ganz aufgequollen, die schönen dunkelbraunen Augen unter den entzündeten Lidern waren fast nicht mehr zu sehen. Das weiche dunkle Haar war schlaff und aufgelöst. Alice war nicht groß und eher mollig, eine schwanengleiche Gestalt oder stolze Haltung suchte man bei ihr vergebens, aber die rundlichen Arme und Beine mit den zierlichen Händen und Füßen wirkten nett und gefällig. Ihre Hände waren so klein und zart, daß jemand, der sie nicht kannte, ihr keine harte Arbeit zugetraut hätte. Dabei war sie schon mit zwölf eine tüchtige Hausfrau und Wirtschafterin und hatte meiner Mutter viel von dem abgenommen, wozu ihre Kräfte nicht mehr ausreichten.

»Wir werden sie sehr vermissen, soviel steht fest«, seufzte meine Großmutter, während Alice schlucksend die Hintertreppe hochging. »Wer soll jetzt das Buttern besorgen? Agnys hat keine Zeit dazu, und Polly ist zu unachtsam …«

Mich beschäftigte etwas, was Großmutter vorher gesagt hatte.

»Morgen schon will Cousine Honoria Wakehurst kommen?«

»Ja, Kind, ehe es Winter wird und die Straßen zu schlecht sind. Und es ist wohl auch am besten so. Alice macht sich sonst noch krank mit ihren Tränen. Zeit ist der beste Arzt. Wenn sie erst dort ist, wird sie sich schnell eingewöhnen, die ständigen Vergnügungen werden sie vom Heimweh kurieren. Mach keine so großen Augen, Junge …«

Ich sagte fast ungläubig: »Morgen also ist Alice schon nicht mehr da …«

Ich weinte selten – vielleicht, weil ich mich, von klein auf mit Schmerzen in meinem lahmen Bein und anderen Mißhelligkeiten geschlagen, daran gewöhnt hatte, meinen Kummer so gut als möglich allein zu tragen.

Meine Großmutter legte mir erstaunlich sanft eine Hand auf den Kopf. »Sei nicht so betrübt, Toby. Ich weiß, daß Alice dein ein und alles war, aber früher oder später hättest du doch lernen müssen, ohne sie zu leben. In vier, fünf Jahren wäre sie, da sie eine so tüchtige Hausfrau ist, ohnehin verheiratet gewesen, dann hättest du sie auch nicht mehr gehabt …«

»Sie hat gesagt, sie würde mich zu sich nehmen. In die ›Schöne Aussicht‹. Immer wieder hat sie das gesagt.«

»Dann hat sie ein sehr vorschnelles, törichtes Versprechen gegeben. Wenn ihr Mann damit nicht einverstanden wäre?«

»Dann hätte sie ihn eben nicht geheiratet.«

»Danach wird man als Frau nicht gefragt«, sagte Großmama Grebell scharf. Sie hatte sich wieder ans Spinnrad gesetzt, bearbeitete das Trittbrett heftig mit dem Fuß und zwirbelte die Rohwolle so gewalttätig, als könne sie damit alle Einwände zerrupfen und zunichte machen.

»In Tunbridge Wells hat sie bessere Aussichten und mehr Auswahl, sie wird wie eine große Dame leben, denn die Wakehursts haben viele Bekannte und sind reich.«

»Das ist mein Vater auch.«

»Ja, aber hier mußte Alice sich immer um die jüngeren Geschwister kümmern, dort ist sie die Einzige, wird verwöhnt und verhätschelt …«

Ob meine Großmutter all das sagte, um sich selbst zu trösten? Wir wußten wenig von diesen Wakehursts, die bis vor kurzem mit dem Regiment des Hauptmanns im Ausland gewesen waren.

Großmama fuhr fort: »Du solltest dich für Alice freuen und ihr diese Gelegenheit, ihr Glück zu machen, nicht mißgönnen. Vielleicht ist es auch für dich besser so. Du hast stets in ihrem Schatten gelebt, jetzt wirst du selbst deinen Mann stehen müssen.«

Das waren trübe Aussichten. Wie sollte ich ohne Alice durchkommen? Robert war grob und gleichgültig, wir empfanden, da unsere Gewohnheiten so unterschiedlich waren, nicht das mindeste füreinander; Sophy und Moses, die jüngeren Geschwister, hatten keine hohe Meinung von mir, weil ich bei ihren wilden Spielen nicht mittun konnte. Auch waren sie befangen in meiner Gegenwart, meine Behinderung bedrückte sie. Und Jem lag noch in den Windeln.

»Wenn mein Vater mich nur zur Schule schicken würde«, sagte ich halblaut.

«Das wird er wohl leider nie tun.« Großmama sprach nicht aus, was ich selbst nur zu genau wußte: Mein Vater, der (wie wohl die meisten reichen Männer) ein rechter Knauser war, glaubte, mir sei kein langes Leben beschieden, und war deshalb nicht bereit, auch nur einen Penny auf meine Ausbildung zu verwenden. Als Entschuldigung führte er an, lahm und verkrüppelt wie ich sei, würde ich mich in der Lateinschule nie durchsetzen können, was vielleicht sogar zutraf. Aus hingebrummelten Bemerkungen von Großmutter Grebell schloß ich, daß ich meinen elenden Zustand der Sparsamkeit meines Vaters zu verdanken hatte. Hätte er dafür gesorgt, daß bei meiner Geburt ein richtiger Arzt oder zumindest ein Apotheker zugegen gewesen wäre und nicht nur eine betrunkene Hebamme, hätte er Dr. Wright gerufen (mit dem er wegen dessen angeblich unbillig hoher Honorare auf Kriegsfuß stand) statt der alten Mrs. Tubsey, die nach reichlichem Genuß von Gin versehentlich das Bettzeug meiner Wiege in Brand gesetzt hatte …

»Mit deinem Vater umzugehen ist nicht leicht, Kind. Man muß ihn zu nehmen wissen und dabei behutsam und mit Vorbedacht zu Werke gehen.«

Jetzt fiel mir plötzlich wieder der Mann ein, den ich beim Minzepflücken gesehen hatte.

»Das hätte ich fast vergessen, Großmutter. Da war jemand im Garten, der wohl meinen Vater suchte. Ich habe ihn angesprochen, aber er hat mir nicht geantwortet.«

»Jemand? Was für ein Jemand, Kind?«

Ich überlegte. Schon waren die Einzelheiten undeutlich geworden.

»Er trug einen langen schwarzen Überwurf, der ihm über eine Schulter hing. Und einen eckigen Hut von sehr absonderlicher Form. Sein Gesicht habe ich nicht gesehen. Und er hat nicht geantwortet, als ich zu ihm sprach …«

Knarrend kam das Spinnrad zum Stehen. Großmama Grebell sah mich stumm an. Ihr Gesicht war so weiß geworden wie ihre Rüschenhaube.

Sie bewegte das Kinn, als wollte sie schlucken, dann fragte sie: »Wo hast du diesen … Jemand gesehen?«

»Im Garten. Dann ging er durch die Gartenpforte davon, und als ich hinterherging, war er schon fort, obschon ich mich gesputet habe, so sehr ich konnte …«

»Ja, Kind, das glaube ich dir gern«, sagte sie ein wenig zerstreut. »So schnell verschwindet er immer …«

»Wer war es denn, Großmutter?«

Plötzlich wurde sie zornig und lehnte es ab, weitere Fragen zu beantworten. Es sei spät, erklärte sie streng, schandbar spät, seit einer Stunde schon hätte ich im Bett liegen müssen, am nächsten Morgen habe man alle Hände voll zu tun. Die Wakehursts wollten zum Frühstück kommen und würden sich nicht mit Brot und Käse und Bier begnügen, und bis dahin müsse auch Alice fertig sein, damit sie mit ihnen wegfahren könne.

Tief bedrückt schlich ich die schmale Hintertreppe ins Dach hinauf, wo ich eine Kammer mit Moses und Robert teilte. Die Nachbarkammer hatten unsere Schwestern, die anderen beiden die weiblichen und die männlichen Bediensteten. Jem schlief noch unten bei der Mutter.

Sophy, für die schon längst Schlafenszeit war, kam angetappt. »Alice will dich sprechen, Toby!«

Ich betrat die Kammer der Mädchen, deren Dachfenster nach Osten ging. Man sah von hier auf die Vicarage Lane und vorbei an der Kirche, die ernst zu uns herüberblickte, über das Gewirr der roten Dächer bis zum Dorf Playden.

Alice hockte kreuzunglücklich auf ihrem Bett, umgeben von einem wirren Haufen ihrer Habseligkeiten – Fäustlinge, Baumwollstrümpfe, ein Strohhut, Kattunreste, ein Paar Holzschuhe für den Garten. Der Binsenkorb, in dem all diese Dinge untergebracht werden sollten, stand neben ihr auf dem Boden.

»Toby«, sagte sie, und ihre Stimme klang matt und brüchig, »du sollst mein Fensterauge haben. Solch Spielwerk kann ich nicht mitnehmen, das wäre kindisch.«

Auf dem armen verschwollenen Gesichtchen lag ein Ausdruck ängstlicher Vorahnung. Wie oft habe ich seither daran denken müssen!

»Nicht doch, Alice«, widersprach ich. »Du wirst deine hübschen Sachen noch gebrauchen können, wenn du einmal Heimweh hast. Und das Auge ist so schön …«

»Nein, Bruder Toby«, quiekte Sophy. Sie drückte, wie ich erst jetzt sah, die Holzpuppe Lucy an sich, die Alice zum vierten Geburtstag von unserem Onkel Allen geschenkt bekommen hatte und die Sophy bislang nie auch nur hätte anrühren dürfen. »Siehst du, mir hat sie Lucy geschenkt. Denn weißt du, da, wo sie hingeht, bekommt sie bestimmt ganz viele schöne Sachen.«

»Nimm das Auge, Toby«, sagte Alice müde. »Möge es dir mehr Glück bringen, als es mir gebracht hat.«

Sie streckte mir das runde Glasding hin, das eigentlich der Mittelpunkt einer Fensterscheibe war, das sogenannte Ochsenauge, an den der Glasbläser seinen Stab ansetzt. Unser Onkel Jonas Didsbury, Baumeister und Glaser von Beruf, hatte es vor langer Zeit einmal Alice geschenkt, und sie hatte es gehütet wie einen Schatz.

Ich nahm ihr den leuchtendgrünen Glasbrocken ab und sah nachdenklich in seine spiralförmigen Tiefen.

»Ich bewahre es für dich auf, Alice, bis du zurückkommst.«

»Ich komme nie zurück«, sagte sie.

Und das war, wenn man es recht betrachtet, nicht mehr als die Wahrheit.

»Alice, liebste, beste Alice«, klagte ich, »ich werde ganz schnell schreiben lernen, und dann kann ich dir berichten, was zu Hause geschieht. Die Buchstaben habe ich mir mit Roberts Blöcken schon fast beigebracht. Ich schreibe dir bestimmt, das verspreche ich dir.«

»Was nützt mir das, wenn ich die Briefe nicht lesen kann?«

Alice hatte sich nie sehr anstellig im Lesen- und Schreibenlernen gezeigt, und in jüngster Zeit hatte die Hausarbeit sie so sehr in Anspruch genommen, daß für Unterricht keine Zeit mehr blieb.

»Cousine Honoria wird gewiß einen Hauslehrer für dich einstellen«, sagte ich hoffnungsfroh. »Sehr bald bist du dann eine gelehrte Dame und kannst Latein und Griechisch lesen.«

»Bist du toll? Es wird wohl eher so sein, daß ich in der Vorratskammer stehe und Marmelade koche.«

Polly, unsere Dienstmagd, kam über uns wie ein Wirbelwind.

»Euch erwartet alle eine Tracht Prügel, wenn ihr nicht sofort zu Bett geht. Ja, Sie auch, Miss«, sagte sie zu Alice, die sich teilnahmslos zwischen ihren Habseligkeiten zur Ruhe legte.

»Gute Nacht, Alice«, sagte ich. »Dein Fensterauge ist bei mir sicher aufgehoben.« Dann kehrte ich zurück in meine Kammer, die auf die dunklen Marschen und die matt blinkenden Lichter von Winchelsea hinausging und in der Robert und Moses schon in festem Schlaf lagen.

Die Wakehursts trafen am nächsten Morgen ein, noch ehe das Frühstück fertig war (meine Großmutter war seit fünf Uhr früh im Haus, und unter ihrer Aufsicht bereiteten die Mägde ein Mahl von so vielen Gängen, daß es eher einem Mittagessen glich), und mein Vater wies deshalb Robert und mich an, Hauptmann Wakehurst auf einem Rundgang durch die Stadt zu begleiten. Dieser war, wie er sagte, noch nie in Rye gewesen, da sein Regiment bis vor kurzem in Gibraltar gelegen hatte. Er fand, daß Rye eine hübsche Stadt war, und das ist sie auch. Noch heute liebe ich ihre herzliche, freundliche Atmosphäre und betrachte mit Wohlgefallen die stattlichen Häuser aus rotem Backstein, die sich dicht an dicht am Hang aneinanderschmiegen.

Robert war uns ständig voraus, er sprang über Pfosten, kletterte die Stufen zu Aussichtspunkten hinauf, verschwand in schmalen Gassen oder rannte über Laufplanken, um ein paar Worte mit einem seiner Kumpane zu wechseln. So blieb es mir überlassen, unserem Gast Einzelheiten über den Marktplatz zu erzählen, den Stadtbrunnen, den Hafen, in dem gerade ein französisches Schiff seine Ladung löschte, die Stadtmauern und das Tor, von dem der Wachposten erst kürzlich abgezogen worden war, nachdem keine Überfälle der Franzosen mehr drohten.

Hauptmann Wakehurst schien sich für meine Erklärungen nur mäßig zu interessieren.

Das französische Schiff hatte Wein geladen, und er bemerkte: »Hier trifft sicher so manches Faß ein, für das kein Zoll bezahlt wird, was?«

»Davon weiß ich nichts, Sir«, sagte ich.

Als wir die steile Mermaid Street hinaufgingen und er sah, wie ich mein lahmes Bein nachzog, bemerkte er hämisch: »Nur gut, daß deine Schwester Alice zwei gesunde Beine hat. Erzähl mir ein bißchen was von ihr. Ist sie recht fesch und drall wie die Jungfern, die wir auf unserem Gang durch Rye gesehen haben?«

Daß er im Vorübergehen die jungen Mädchen ansah und viele mit einem augenzwinkernden Lächeln bedachte, war mir nicht entgangen.

»Das weiß ich nicht, Sir. Sie ist ein braves Ding.«

»Ein braves Ding? Hat sie denn nicht einen Haufen Verehrer in der Stadt, die abends unter ihrem Fenster schmachten?«

»Aber nein«, erwiderte ich ganz entrüstet. »Erstens würde das mein Vater nie zulassen. Und zweitens hat Alice so viel im Haus zu tun, daß sie sich um solche Narretei nicht kümmern würde.«

»Ja, richtig«, sagte er zufrieden, »sie soll ja eine tüchtige kleine Hausfrau sein.«

»Und drittens«, schloß ich triumphierend, »könnte unter ihrem Fenster niemand schmachten, denn sie schläft mit Sophy in der Bodenkammer, und die hat nur ein Dachfenster.«

Hauptmann Wakehurst lachte laut auf und sagte, ich sei ein gescheiter junger Bursche, das habe er mir gar nicht zugetraut. Dann steckte er eine Hand in die Tasche seiner engen Kniehosen und verehrte mir einen Sixpence mit der Bemerkung, er wisse, daß mein Vater ein alter Knauser sei, der mir wahrscheinlich nie auch nur einen roten Heller gönne.

Das war zwar nicht unrichtig, aber ich hatte nicht viel Gefallen an Hauptmann Wakehurst gefunden und mochte eigentlich sein Geld nicht nehmen. Doch er drückte es mir in die Hand, und als Robert uns atemlos und gerötet einholte, sagte er lachend: »Es soll ein Geheimnis zwischen uns bleiben, wir werden es deinem Bruder nicht verraten.« Dabei warf er Robert zu dessen Ärger einen spöttischen Blick zu. Mein Bruder musterte uns ratlos und überlegte sich offenbar, was ihm entgangen war.

Ich habe noch nicht gesagt, wie Hauptmann Wakehurst aussah. Er war groß und dick und überaus modisch gekleidet, hatte ein fahles Gesicht, stechende schwarze Augen und buschige dunkle Brauen, die nicht recht zu seiner Perücke passen wollten. Wenn er lachte – und er lachte oft! –, bleckte er große weiße Zähne. Er schien jünger zu sein als meine Cousine Honoria, an die ich mich nicht erinnern konnte (obschon sie sagte, sie habe mich schon mal gesehen, als ich kleiner war) und die er recht geringschätzig behandelte. Sie saß mit meinen Eltern in der Wohnstube, als wir zurückkamen, und warf mir einen ratlostraurigen Blick zu, der mich zuerst ziemlich beunruhigte, bis ich begriff, daß sie nie anders dreinschaute. Sie wirkte hager und ausgezehrt, war aber fein ausstaffiert. Über den weiten Röcken trug sie ein gerüschtes und gefälteltes Oberkleid, ihr Haar war hochgetürmt und mit Früchten aus Samt geschmückt. Unsere Mutter nahm sich dagegen geradezu ärmlich und unscheinbar aus, und ich fürchtete, auch Alice würde einen recht dürftigen Eindruck machen. Doch als sie langsam, mit niedergeschlagenen Augen, die Stube betrat, sah ich, daß Großmama Grebell ein altes blaues Chintzkleid meiner Mutter für sie hergerichtet und Polly ihr das Haar gelockt, Bänder hineingeflochten und ihr ein Spitzenhäubchen aufgesetzt hatte. Obschon Alice sehr schüchtern war und außer einem Gruß kein Wort über die Lippen brachte, bemerkte ich, daß Cousine Honoria und Hauptmann Wakehurst – besonders letzterer – sie wohlgefällig musterten.

»Das also ist unser neues Töchterchen«, sagte Cousine Honoria mit ihrer hohen, müden Stimme, und dann fuhr sie fort, über die empörenden Preise für Haarpuder zu jammern und die Unmöglichkeit, in Tunbridge Wells geeignete Dienstboten zu bekommen. »Auf Gibraltar war das ganz anders!«

Mein Vater war sichtlich ungeduldig. Er hatte zur Feier des Tages die graue Tuchjacke und die Weste an, die er nur zu Amtshandlungen als Bürgermeister trug, dazu weiße Strümpfe und ein weißes Halstuch und die Schuhe mit den Silberschnallen, aber ich hatte den Eindruck, daß er es kaum erwarten konnte, bis der Besuch wieder weg war.

In aller Eile wurde das Frühstück verzehrt, denn für die Rückreise waren drei Stunden oder mehr veranschlagt, und deshalb wollten die Wakehursts so schnell wie möglich wieder aufbrechen. Ich brachte keinen Bissen herunter und sah, daß auch Alice nichts aß.

Die Kutsche unserer Cousine wartete am Fuße des Hügels. Für allen Tabak Virginias, hatte Hauptmann Wakehurst gesagt, würde er den Pferden die steile, kopfsteingepflasterte Straße nicht zumuten. Die ganze Familie begleitete die Wakehursts nach unten. Ich hielt mich nah bei Alice. Wir schwiegen. Worüber hätten wir auch noch sprechen sollen? Ich konnte ihr nicht zum Trost sagen: »Du kommst ja bald wieder«, denn das stimmte nicht. Ich konnte ihr auch nicht versprechen: »Ich besuche dich mal«, denn das lag nicht in meiner Macht. Ich steckte Hauptmann Wakehursts Sixpence in das Seidentäschchen, das sie am Handgelenk trug. »Hier sind Sixpence, liebste Alice. Wenn du dir mal was kaufen möchtest …« Sie fragte nicht einmal, wie ich an das Geld gekommen war, obschon ich noch nie zuvor ein Sixpence-Stück besessen hatte.

Hauptmann Wakehurst hob Alice in die Kutsche und bemerkte dazu, sie wiege ja nicht mehr als ein Hering.

»Aber wir werden sie schon aufpäppeln«, sagte er zu meinem Vater, der auf die Uhr sah, als habe er es eilig, wieder in die Brauerei zu kommen. In diesem Moment bekam unsere Mutter, die recht unbeteiligt dabeigestanden hatte, einen ihrer Schwächeanfälle, so daß mein Onkel Allen Grebell, der just in diesem Augenblick vorbeikam (und den die Wakehursts mit recht verächtlichen Blicken maßen), ihr den Hügel hochhelfen mußte. Mein Onkel Allen ist ziemlich gleichgültig seiner äußeren Erscheinung gegenüber. Der schokoladebraune Rock sah aus wie angerostet, die Perücke war nicht gepudert, Halstuch und Kniehose schlotterten, die schwarzen Wollwebstrümpfe schlugen Falten, und die Schuhe waren ungeputzt. Er hatte ein Buch bei sich, in dem er beim Gehen las. Dennoch war er sogleich zur Stelle, als meine Mutter seiner Hilfe bedurfte.

»Leb wohl, leb wohl!« riefen Sophy und Moses, wobei sie herumsprangen und ihre Taschentücher schwenkten. Von Alice war im Kutschenfenster nur ein Stück blasses Gesicht zu sehen.

»Ich will aber nicht, daß Alice geht«, schluchzte Sophy plötzlich auf, die erst in diesem Moment begriff, was sie verloren hatte, aber da knallte schon die Peitsche, und die Pferde setzten sich in Trab.

Ich ging, die beiden Kleinen an der Hand, neben meinem Vater her. Das Herz lag mir schwer und kalt in der Brust gleich einem der runden Flintsteine, mit denen die Straße gepflastert war.

Der Tag, der schlimm begonnen hatte, wurde noch schlimmer. Ein feiner Nieselregen verdichtete sich zum Wolkenbruch, und der Wind erreichte Sturmesstärke. Er heulte und jaulte in den Kaminen und fegte über die Dächer der Stadt. In unserem Haus mit den dicken Mauern, den getäfelten Wänden und fest schließenden Schiebefenstern, das mein Vater erst vor fünf Jahren anstelle eines viel älteren hatte bauen lassen, fühlte man sich wunderbar behaglich und geborgen. Ich dachte an die armen Reisenden, die sich jetzt durch den Sturm kämpften. Wo mochten sie inzwischen sein? Irgendwo in der Weald wahrscheinlich, einem bewaldeten Landstrich, und vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, wütet das Unwetter dort nicht gar so sehr. Wie meiner Mutter war auch der sanften, ängstlichen Alice stürmisches Wetter ein Graus. Wenn der Wind heulte, zuckte sie zusammen und schrie auf. Wie mochte es ihr, so weit weg von allem, was ihr bekannt und vertraut war, mit diesen beiden Fremden in der Kutsche ergehen? Es schien mir unrecht, ja, selbstsüchtig, mich an der heimeligen Wärme unseres Hauses zu freuen, und ich wäre vom Feuer abgerückt, hätte ich nicht Großmama Grebell die Wolle gehalten, so daß ich nicht vom Fleck konnte.

»Wo mögen sie jetzt sein?« fragte ich.

»In Lamberhurst vielleicht, wenn sie sich sputen. Dein Onkel Allen hielt allerdings nicht viel von Hauptmann Wakehursts Pferdeverstand. Schön anzusehen, die Gäule, aber keine Ausdauer, so hat er es gesagt.« Sie zog die Nase hoch. »Von anderem versteht der Hauptmann wohl mehr.«

»Wie meinst du das, Großmama?«

»Laß gut sein, Kind. Hol mir den anderen Strang von der Fensterbank. Himmel hilf, was war das?«

Der Aufschrei war aus dem Zimmer meiner Mutter gekommen. Sie hatte, als es dämmerte, über Schmerzen in den Beinen und im Kopf geklagt und sich zurückgezogen. Da das häufig vorkam, hatte niemand weiter darauf geachtet. Jetzt aber schrie sie wie besessen: »Kommt doch! Warum kommt denn niemand? Schnell, bringt Lichter. Licht, ich bitte euch!«

Polly und Agnys rannten sogleich los, Großmutter folgte dichtauf und überholte sie auf der Treppe, und ich lief hinterher, so schnell ich eben konnte.

»Was fehlt Ihnen, Ma’am?«

»Was hast du, Schwiegertochter?«

»Was ist los, Mutter?«

Die Dienstboten hatten Binsenlichter mitgebracht, und Polly warf Holz aufs Feuer, so daß es wieder aufflammte.

Meine Mutter lag mit verrutschter Haube in den Kissen, die Augen in dem ungewissen Licht tief verschattet.