Der Gottesanbeter - Olaf Hauke - E-Book

Der Gottesanbeter E-Book

Olaf Hauke

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Auftrag scheint einfach aber lohnend. Der bekannte Rechtsanwalt Dr. Sieger hat seinen Mandanten Kevin Schramm nur schlecht in einem Prozess vertreten. Dafür hat der die Höchststrafe kassiert. Kurz danach hat sich die Frau des Mandanten von ihm scheiden lassen und den bekannten Juristen geheiratet. Im Gefängnis hat Schramm einige Male erklärt, er wolle Sieger nach seiner Entlassung töten. Nun werden sich die Tore der Haftanstalt bald für ihn öffnen. Helena Jäger soll den Schutz Dr. Siegers übernehmen. Doch schon sehr bald muss sie feststellen, dass jeder der Beteiligten ihr nicht die Wahrheit sagt und sein ganz eigenes Ziel verfolgt. Dazu erhält sie eine Nachricht, die ihr gesamtes Leben in einen düsteren Abgrund ziehen wird. Einzig von einer völlig unerwarteten Seite kommt die Liebe wie ein wärmender Sonnenstrahl, ohne dass sie es zunächst begreift.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Ende

Die Jäger, Band 3: Der Gottesanbeter

Olaf Hauke

01.11.2021 – 22.11.2021

Copyright 2021

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: Nipunharitash

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

„Frau Jäger, das ist aber ein Zufall!“

Gerade hatte Helena ihre Schritte beschleunigt, weil ihr eingefallen war, dass ihr Parkticket in den nächsten Minuten auslaufen musste. Und aus leidvoller Erfahrung wusste sie, dass jede Überschreitung der Uhrzeit auf dem Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude ein unangenehmes Knöllchen nach sich ziehen konnte. Trotzdem stoppte sie und drehte sich um.

Dabei war der Tag bisher reibungslos verlaufen. Natürlich würde man Brügge wegen Diebstahls und Hehlerei verurteilen, dazu hatte nicht zuletzt ihre Aussage beigetragen. Und die Prämie, die der Kaufhaus-Konzern ihr in den nächsten Tagen überweisen würde, sorgte dafür, dass die Gehälter ihrer Mitarbeiter in den nächsten Monaten gesichert waren. Abgesehen davon war so ein Abschluss immer eine gute Werbung für ihr Geschäft, es sprach sich rum.

Trotzdem ärgerte die Privatermittlerin jede Verzögerung auf ihrem Weg nach unten. Wie hatte ihr Freund Charly sie vor einigen Tagen bei einem eher belanglosen Streit genannt? Pedantin! Und die Tatsache, dass er damit, wie sie selbst wusste, nicht ganz Unrecht hatte, hatte sie umso mehr geärgert.

„Doktor Sieger“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen neutralen und nicht gehetzt wirkenden Klang zu geben. Der hochgewachsene, grauhaarige Mann in dem dunklen Maßanzug war ein stadtbekannter Anwalt. Die Tatsache, dass er ihren Namen kannte, adelte sie ein wenig. Letztlich war sie nur die Bertreiberin eines kleinen Sicherheitsdienstes und Personenschutzes, sie blieb im Schatten. Also beschloss sie, innezuhalten und ein mögliches Bußgeld als Honorar für eine nicht unwichtige Kontaktpflege zu verbuchen.

In der Vergangenheit hatte sie einige Male für ihn arbeiten können. Es waren eher kleine Aufträge gewesen, doch in der Folge hatte er ihren Namen immer wieder bei Kollegen fallenlassen, was gut für ihr Geschäft gewesen war.

Er kam mit ruhigen, weit ausholenden Schritten auf sie zu, lächelte leicht und reichte ihr die Hand. „Was führt Sie in diese heiligen Hallen?“ Er verzog das Gesicht zu einem ironischen Lächeln, aber seine Augen blieben dabei seltsam starr.

„Ich musste eine Aussage machen“, sagte die Privatermittlerin vage und trat ein Stück zur Seite, um eine Gruppe von Leuten passieren zu lassen, die aufgeregt miteinander diskutierten und in Eile schienen. Offenbar war Brügge nicht der Einzige, dem an diesem Tag eine längere Haftstrafe drohte. Doktor Sieger nickte nur gedankenverloren. Er machte eine schleppende Bemerkung über das Wetter, eine Floskel, die nicht recht zu dem erfolgreichen Anwalt passen wollte.

„Warten Sie schon lange auf mich?“ fragte Helena daher ganz direkt. Sie machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Juristen, um den Flur weitergehen zu können. Dabei lächelte sie schmal. Für einen Moment liefen sie schweigend nebeneinander. Der Lärm im Korridor verebbte.

Sieger, der zunächst ein paar Schritte neben ihr gelaufen war, blieb wieder stehen und sah sie einen Moment überrascht an. Dann kniff er seine Augen zusammen und verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln.

„Man kann Ihnen schwer was vormachen, oder?“ Er atmete tief durch und schob unschlüssig die Hände in die Taschen seiner Hose. „Was hat mich verraten? Die fehlenden Akten?“ Er machte eine kleine Pause, Helenas Blick hatte sich an sein Gesicht geheftet.

„Ja,“ sagte er schließlich. „Ich wollte Sie schon gestern anrufen und mit Ihnen einen Termin machen, aber ich habe Sie nicht erreicht. Und heute Morgen sagte mir ein Kollege, dass Sie heute hier bei Gericht sind um bei Brügge auszusagen. Also nutzte ich die Gelegenheit.“

Helenas Blick wanderte am Kopf des Anwalts vorbei aus dem Fenster. Draußen regnete es in Strömen, das rötliche Dach des Gebäudes auf der linken Seite schimmerte feucht, dicke Tropfen schlugen an die Glasscheiben. Bei diesem Wetter, so wusste sie aus Erfahrung, zeigte das Ordnungsamt wenig Neigung, die Parkzeiten der Wagen vor dem Gebäude zu kontrollieren.

„Gut, nun haben Sie mich gefunden“, sagte sie mit einem entspannten Unterton. „Ich nehme nicht an, dass es um die üblichen Dinge wie einen betrogenen Ehemann geht? Wenn Sie mit mir sprechen wollen, gehen wir doch einfach in die Cafeteria. Außerdem müssen Sie mein Ticket übernehmen, wenn die blauen Sherriffs auch bei diesem Wetter ihre Runden drehen.“

Obwohl Doktor Sieger sich Mühe gab, seine Erleichterung zu verbergen, war sie ihm deutlich vom Gesicht abzulesen. „Sehr gerne, Frau Jäger, sehr gerne. Ich kann dringend einen Kaffee gebrauchen, Sie auch? Sehr schön. Und bei dem Prozess um ein zu Unrecht verhängtes Bußgeld werde ich Sie persönlich verteidigen!“

Er lachte, wurde jedoch augenblicklich wieder ernst. Auf dem Weg nach unten sprach er kein Wort, auch Helena tat nichts, um das Schweigen zu unterbrechen. Keine Frage, bei einem seiner üblichen Aufträge für sie hätte er sie einfach angerufen und zu sich zitiert. Vermutlich hätte er nicht einmal selbst mit ihr gesprochen, sondern einen seiner Angestellten vorgeschickt. Die Tatsache, dass er sogar auf sie gewartet hatte, verriet, dass die Angelegenheit nicht nur dringend, sondern auch persönlich war. Sie überlegte und stellte fest, dass sie privat von dem Mann nicht das Geringste wusste.

Um diese Zeit herrschte in der Cafeteria kaum Betrieb. Sie versorgten sich mit Kaffee und nahmen einen Tisch etwas abseits in einer Nische, die vom Eingang her schlecht eingesehen werden konnte. Helena glaubte auch hier nicht an einen Zufall, als Doktor Sieger ausgerechnet diesen Platz ansteuerte. Und ihr war klar, dass er kaum mit ihr Händchen halten wollte. Hatte er nicht vor einigen Jahren geheiratet?

Helena durchforstete ihr Gehirn und trug noch einmal alles zusammen, was sie über den Mann wusste, es war nicht allzu viel. Er hatte einige der großen Strafverfahren in den letzten Jahren geführt, hatte die Kanzlei von seinem Vater übernommen und danach zu einer der großen in der Stadt, vielleicht sogar in ganz Deutschland, gemacht. Er war ehrgeizig, kalt, aber, soweit man das von einem Juristen sagen konnte, korrekt und so offen wie es ihm möglich war. Außerdem hatte sie ihn als einen Mann mit einer schnellen Auffassungsgabe erlebt. Sie hatte irgendwo mal gelesen, dass er an einem Triathlon teilgenommen hatte, deren Gelder für einen wohltätigen Zweck gewesen waren. Aber das musste schon viele Jahre her sein. Auf dem Weg nach unten hatte sie zumindest den Anflug eines Hinkens gesehen.

Auf jeden Fall, so schloss sie, wusste sie nicht allzu viel über den Mann. Sie ließ sich auf ihrem Stuhl nieder, nahm einen Schluck Kaffee. Er öffnete sorgfältig sein Jackett, ehe er sich setzte. Es schien, als wolle er mit jeder Bewegung, die er machte, Zeit gewinnen. Er setzte sich ihr gegenüber, sah zunächst an ihr vorbei, blickte sich dann noch einmal um. Es schien, als würde er keine Anstalten machen, mit dem, was er von ihr wollte, herauszurücken.

„Nun“, sagte Helena nach einer angemessenen Pause, „was kann ich für Sie tun, Doktor Sieger?“ Sie sah ihn über den Rand ihrer Tasse an.

Er nagte kurz an seiner Lippe, wischte dann mit einer für ihn eigentümlich fahrigen Geste über die saubere, weiße Tischplatte. Dann holte er noch einmal kurz Luft, als hätte er vor, abzutauchen.

„Frau Jäger, ich brauche Ihre Hilfe – man will mich umbringen“, sagte er schließlich und verschüttete ein wenig Kaffee, als er an seine Tasse stieß.

Kapitel 2

„Umbringen?“ Wiederholte Helena Jäger. Sie hatte mit allem möglichen gerechnet, aber nicht mit einer so direkten und harten Aussage.

Doktor Sieger sah auf die Pfütze, die sich unter seiner Tasse gebildet hatte. Er griff zu einer Serviette, die auf einem Stapel am Rand des Tisches lagen, und entfernte den Fleck.

„Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl etwas theatralisch ausgedrückt“, sagte er mit einem heiseren Unterton. Er schob den Kaffee ein Stück von sich weg, überlegte es sich dann und nahm doch einen Schluck. Helena ließ ihm die Zeit, die er zu brauchen schien.

„Wahrscheinlich ist es am besten, ich erzähle die Sache von Anfang an“, stellte er nach einer Weile fest. „Ich kann mir vorstellen, wie es für Sie klingen muss, wenn ich mit so einer Feststellung das Gespräch eröffne.“ Er leerte die Tasse in einem Zug.

„Vor sechs Jahren verteidigte ich einen Mann namens Kevin Schramm. Er hatte bei einer Schlägerei einen anderen Mann derart unglücklich getroffen, dass der mit dem Kopf an die Wand schlug und infolge dieser Verletzung verstarb. Ich holte das Beste für ihn heraus, aber vor Gericht benahm er sich immer wieder jähzornig, brachte den Richter, damals noch den alten Deutschmark, immer wieder gegen sich auf. Schließlich landeten wir bei acht Jahren, was ein eher durchwachsenes Ergebnis war. Aber, auch wenn es ein wenig arrogant klingt, es lag nicht an mir.“ Er zögerte bei seinen Worten, so dass Helena an dieser Aussage sofort Zweifel kamen. Er hätte seine eigene Unschuld nicht so vehement betont, wenn er an sie glauben würde.

Helena, die wusste, dass neben Ehrgeiz auch eine Portion Arroganz in ihrem Gegenüber schlummerte, nickte nur leicht.

„Schramm wird in wenigen Tagen entlassen. Vor einigen Monaten habe ich von einem Mann, der einige Wochen mit ihm in einer Zelle saß, erfahren, dass Schramm wiederholt geäußert hat, dass er, sobald er entlassen wird, nur ein Ziel kennt – mich zu töten!“

Helena nickte, etwas in dieser Richtung hatte sie bereits erwartet. „Ich verstehe“, sagte sie gedehnt, während sie überlegte. „Und Sie sind nicht der Auffassung, dass es eine, hm, Knast-Fantasie ist, die der Mann da geäußert hat? Sie wissen, dass ein bestimmter Typ Mensch gerne solche Gedanken äußert, auch, um sich damit ein bisschen wichtig zu machen. Aber eine Fantasie über den Tod eines anderen zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass man sie auslebt und in die Tat umsetzt.“

Doktor Sieger nickte langsam. „Natürlich, ich weiß, was Sie meinen. Er ist auch nicht der erste Mandant, der mich für einen versauten Prozess verantwortlich macht. Und wenn ich jeden Menschen, dem ich im Gedanken den Hals umgedreht habe, tatsächlich getötet hätte, wäre ich jetzt bestimmt nicht hier.“

Wieder legte er eine, für seine Verhältnisse untypische, Pause ein. „Aber … ?“ ermunterte ihn Helena schließlich zum Weiterreden.

„Nun, ich habe nicht alles erzählt. Im Vorfeld der Verhandlung lernte ich auch Schramms Frau kennen.“ Doktor Sieger legte seine Hände flach auf den Tisch und starrte sie an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. „Wir trafen uns mehrfach, zunächst beruflich, dann auch privat, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kurz gesagt, sie ließ sich, nachdem Schramm seine Haftstrafe angetreten hatte, von ihm scheiden. Einige Monate darauf haben wir geheiratet!“

Helena sah ihr Gegenüber mit großen Augen an. Mit einer solchen Wendung hatte sie in keinem Moment gerechnet. „Oh“, sagte sie nur.

„Ich weiß, was Sie jetzt fragen wollen: Ja, es ist mit dem Standesrecht vollkommen vereinbar. Ich kann Ihnen auch versichern, dass ich während des Prozesses mein Bestes gegeben habe. Es ist … es ist einfach so passiert, aber ich habe zu keinem Zeitpunkt das Wohl meines Mandanten aus den Augen verloren. Und unsere Affäre, wenn Sie es so nennen wollen, begann erst, als der Prozess bereits beendet war.“

Jetzt sah er Helena direkt in die Augen. Nein, dachte sie, so ganz kann ich dir die Geschichte nicht abkaufen. Und wenn ich es schon nicht tue, dann beantwortet sich quasi automatisch, ob Kevin Schramm es tat. Immerhin saß er schon etliche Jahre im Gefängnis, hatte nicht nur seine Frau, sondern auch seine Freiheit verloren. Das machte seine Wut um einiges nachvollziehbarer.

„Ich gehe davon aus, dass Schramm weiß, dass Sie seine Frau heirateten, nachdem diese sich von ihm scheiden ließ?“

„Ja“, meinte Doktor Sieger einfach. Helena nickte.

„Waren Sie bei der Polizei?“

Jetzt lachte Sieger leise auf. „Um denen was zu sagen? Es gibt nur die Aussage dieses Mithäftlings, mehr nicht. Ich bin lange genug im Geschäft um zu wissen, dass man vielleicht sogar hinter vorgehaltener Hand eine gewisse Schadenfreude empfinden wird, wenn ich als Bittsteller dort auftauche.“

Helena wusste, worauf der Mann anspielte, denn ungefähr ein Jahr zuvor hatte er mit einigen eher fragwürdigen Winkelzügen einen Mann vor einer langen Haftstrafe bewahrt, der einen Polizisten getötet hatte. Im Endeffekt war es darauf hinausgelaufen, dass der Polizist als eine Art Täter erschienen war, gegen den sich sein Mandant hatte verteidigen müssen, obwohl er ein bekannter Drogenhändler gewesen war.

„Sie wollen also Personenschutz?“ fragte Helena weiter. Sie hörte ihre eigene Stimme und ahnte, was die Antwort auf diese Frage bedeuten würde. Schon jetzt beschwerte sich ihr Lebensgefährte Charly, der als Gastronom eine Bar und einen Club leitete, darüber, dass Helena viel zu wenig Zeit für ihn erübrigen konnte. Ein solcher Auftrag, das war ihr sofort klar, würde die nächsten Tage, vielleicht sogar Wochen komplett sprengen, denn neben dieser Arbeit würde sie auch ihr reguläres Geschäft weiterführen müssen. Auf alle Fälle musste sie verhindern, dass Sieger erwartete, sie dafür komplett in Beschlag nehmen zu können.

Aber Doktor Sieger ließ sich mit der Antwort Zeit, er schien selbst zu überlegen. „Wenn meine Informationen stimmen, wird Kevin Schramm in vier Tagen aus der Haft entlassen. Ich möchte, dass Sie ihn aufsuchen, dass Sie mit ihm reden. Ich halte das für sinnvoller, als wenn Sie tagelang völlig sinnlos vor unserem Haus Wache schieben.“

Diese Überlegung war durchaus nicht von der Hand zu weisen. Außerdem würde das Vorhaben kein allzu großes Loch in Helenas Terminkalender werfen. Abgesehen davon war es nach wie vor im Bereich des Möglichen, dass Kevin Schramm seine Drohungen nur aus einer Art Verzweiflung ausgestoßen hatte, nachdem sich die Zellentür hinter ihm geschlossen hatte. Er wäre bestimmt nicht der Erste gewesen, der sich auf diese Art Luft verschafft hätte.

Doktor Sieger sah auf seine Uhr, das untrügliche Zeichen, dass er seine Botschaft losgeworden war. „Frau Jäger, ich brauche nicht zu betonen, dass die Sache äußerste Zurückhaltung fordert. Wir haben in der Vergangenheit einige Male zusammengearbeitet, ich habe Sie als eine Frau mit Diskretion und Durchsetzungsstärke kennengelernt. Daher vertraue ich Ihnen. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich weiß, wann genau Schramm entlassen wird und wo er sich danach aufhält.“

Er lächelte abwesend und erhob sich. Sie reichten sich um Abschied die Hände. Helena griff nach ihrer Jacke, als sie sich wieder umdrehte, war der Anwalt verschwunden. Mechanisch nahm Helena die Tassen und stellte sie auf die Ablage. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Parkplatz. Das Knöllchen, was sie in der Zwischenzeit bestimmt erhalten hatte, würde sie Doktor Sieger mit auf die Rechnung setzen!

Kapitel 3

Helena betrat ihr Büro am nächsten Morgen eine gute Stunde später, als sie sich eigentlich vorgenommen hatte. Doch die Nacht war lang und anstrengend gewesen. Sie war vor dem Fernseher eingeschlafen und von dem Lärm geweckt worden, den Charly in der Küche veranstaltet hatte. Ein Blick in seine Augen hatte genügt, damit sie wusste, was mit ihm los war.

Inzwischen dämmerte es ihr, dass er seine Sucht, denn als solche sah Helena seinen Konsum von Kokain, nie aufgeben würde. Für ihn waren die Linien eine Art harmloses Aufputschmittel, so wie andere Leute einen Kaffee tranken oder einen Energy-Drink. Aber Helena war das blutige Handtuch nicht entgangen, das er bei ihrem Eintreten in die Küche hastig im Müll hatte verschwinden lassen. In ein oder zwei Jahren, vielleicht auch früher, würde seine Nase zerstört sein, gefolgt von weiteren Organen. Es war kein harmloses Vergnügen, das er sich online besorgte und mit kleinen Umschlägen in den Briefkasten liefern ließ. Helena kannte längst die Art, wie er seine Drogen einkaufte. In seinen Läden dagegen duldete er ironischerweise keine Dealer.

Wütend machte sie sich daran, das Tagesgeschäft zu erledigen. Wenigstens konnte sie auf diese Weise ihre düsteren Gedanken durch die Routine der Arbeit ersticken. Ein Blick auf die Liste der eingegangenen Mails verriet ihr, dass der Tag noch lang werden würde. Für das Finanzamt würde sie jede Abrechnung ausdrucken und gegenzeichnen müssen, so hatte man es ihr erklärt. Und ihr Steuerberater leistete derartige Dienste nur für üppige Honorare.

Allerdings, darüber war sich Helena im Klaren, würde sie über kurz oder lang nicht um eine Hilfe herumkommen. In den vergangenen Jahren hatte sie um ihr eigenes und das Auskommen ihrer wenigen Angestellten kämpfen müssen, doch seit die Auftraggeber, gerade im Einzelhandel, immer zahlreicher wurden, brauchte sie mehr Leute und konnte die Aufgaben, die sich damit ergaben, nicht mehr stemmen. Außerdem vermisste sie es, selbst auf der Straße zu sein. Den ganzen Tag im Büro zu sitzen fiel ihr auf die Nerven. Ihre Leidenschaft war der Personenschutz, nicht das Kopieren von dämlichen Belegen.

„Ich muss mit dir reden!“

Ohne anzuklopfen öffnete sich die Tür des Büros und Jasmin Sonntag, die Tochter von Charly, kam in den Raum. Wie immer war ihr Gesicht ernst und verschlossen, obwohl Helena das Gefühl hatte, dass sie mit der jungen Frau in den letzten Monaten immer besser zurechtkam, zumal sich Jasmin für den Sicherheitsdienst auf geradezu kindliche Art begeisterte, was ihrem sonstigen Naturell widersprach. Sie hatte ihre Schweigsamkeit und ihre Ernsthaftigkeit schätzen gelernt. Insofern war ein Auftritt wie dieser für die hochgewachsene Dunkelhaarige untypisch und überraschend.

Helena nahm die Hände von der Tastatur und lehnte sich zurück. Bei jedem anderen Eindringling hätte sie auf so einen Überfall zumindest mit einer spöttischen Bemerkung reagiert, doch sie blieb ruhig und betrachtete Jasmin, die sich auf einen der Besucherstühle setzte, ihre mitgebrachte, große, schwarze Tasche auf die Oberschenkel stellte und kurz Luft holte. Dann griff sie in die Tasche, zog etwas heraus und warf Helena mit einem Schwung das blutige Handtuch auf den Schreibtisch, das gleiche Tuch, das Charly in den Müll geworfen hatte.

Helena fragte erst gar nicht, wie die junge Frau an das Stück Stoff gekommen war. Vermutlich hatte Charly es aus dem Müll gefischt, hastig eingesteckt und Jasmin hatte es bei ihm zu Hause durch einen blöden Zufall gefunden. „Es ist dein Handtuch und sein Blut“, kommentierte Jasmin.

„Ja zu beiden Aussagen“, meinte Helena und machte keine Anstalten, das Handtuch fortzuwerfen. Jasmin schloss die Tasche, legte die Unterarme auf das Leder und sah Helena an, ohne noch etwas hinzuzufügen.

Helena zuckte schließlich mit den Achseln. „Was soll ich sagen, ich komme nicht gegen seine Sucht an. Er hat sie zuerst geleugnet, jetzt verharmlost er sie. Er arbeitet hart und lange, das Zeug hält ihn vermutlich auf den Beinen, bis sie ihm dann eines Tages von einer Sekunde auf die andere wegbrechen werden.“

Jasmin starrte in ihre Tasche, sodass Helena erwartete, sie würde noch irgendetwas anderes herausholen, aber dann sah sie ruckartig auf. Helena stellte wieder einmal fest, dass in den Augen der jungen Frau eine unbändige, melancholische Schönheit zu schlummern schien, die wie die Spitze eines Eisberges aus dem Meer einer verwundeten Seele ragte. Sie hatte ein schmales Gesicht und volle, ungeschminkte Lippen. Unter ihrem rechten Auge hatte sie zwei kleine Leberflecke, für die junge Frauen einige hundert Jahre zuvor vermutlich getötet hätten.

---ENDE DER LESEPROBE---