Der Rattenfänger von Hameln - Kein Drama - Anno Stock - E-Book

Der Rattenfänger von Hameln - Kein Drama E-Book

Anno Stock

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Beschreibung

Hameln, 1284: Die Stadt wird von einer verheerenden Rattenplage heimgesucht. Ein geheimnisvoller Fremder bietet seine Hilfe an – und befreit die Stadt mit einer magischen Flöte. Doch als die Zeit der Bezahlung kommt, wird das Versprechen gebrochen. Der Rattenfänger rächt sich auf grausame Weise: Er entführt die Kinder Hamelns und zieht sie in eine dunkle Welt hinaus, aus der es kein Zurück gibt. Ein düsteres Märchen über gebrochene Versprechen, Rache und den schmerzhaften Preis der Schuld – meisterhaft erzählt und voller Spannung bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anno Stock

Der Rattenfänger von Hameln - Kein Drama

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Table of Contents

Der Rattenfänger von Hameln

Kapitel 1: Prolog – Die Stadt am Fluss

Kapitel 2: Dunkle Vorzeichen

Kapitel 3: Die Angst wächst

Kapitel 4: Der Rat tagt

Kapitel 5: Die Bitten der Bürger

Kapitel 6: Hoffnungslosigkeit

Kapitel 7: Die Kunde vom Fremden

Kapitel 8: Ein seltsamer Handel

Kapitel 9: Der Pakt

Kapitel 10: Die große Befreiung

Kapitel 11: Die Tage danach

Kapitel 12: Das Fest der Befreiung

Kapitel 13: Der Lohn wird verweigert

Kapitel 14: Zorn und Verachtung

Kapitel 15: Der Tag des Festes

Kapitel 16: Der Marsch ins Ungewisse

Kapitel 17: Das Erwachen

Kapitel 18: Die Sackgasse

Kapitel 19: Schuld und Sühne

Kapitel 20: Jahre später

Epilog: Die Legende lebt weiter

Impressum neobooks

Table of Contents

Der Rattenfänger von Hameln

Ein historischer Roman

Anno Stock

Kapitel 1: Prolog – Die Stadt am Fluss

Hameln, im Sommer des Jahres des Herrn 1284

Die Weser floss träge und dunkel durch das Tal, ihre Oberfläche kräuselte sich sanft im Wind, der von den bewaldeten Hügeln herabwehte. An ihren Ufern erhob sich Hameln, eine Stadt, die im Laufe der Jahrzehnte zu bescheidenem Wohlstand gelangt war – nicht durch Größe oder Pracht, sondern durch die beharrliche Arbeit ihrer Bewohner und ihre günstige Lage an der Handelsstraße, die von Osten nach Westen führte.

Die Stadtmauer, aus grauem Stein gefügt und an manchen Stellen bereits vom Moos überwuchert, umschloss das Herz Hamelns wie eine schützende Hand. Vier Tore öffneten sich in die Welt hinaus: das Ostertor gen Osten, das Münstertor im Norden, das Wesertor zum Fluss hin und das kleine Walltor im Süden. Wachposten standen dort, meist gelangweilt und mit verschränkten Armen, denn Hameln war keine Stadt, die Feinde fürchten musste. Die wahren Gefahren – Krankheit, Missernten, Feuer – waren subtiler und kamen nicht durch die Tore.

An diesem warmen Julinachmittag herrschte geschäftiges Treiben auf dem Marktplatz. Die Sonne stand hoch, und ihr Licht fiel durch die schmalen Gassen zwischen den Fachwerkhäusern, deren Balken dunkel gegen die weiß getünchten Wände abstachen. Schwalben schossen durch die Luft, ihre schrillen Rufe vermischten sich mit dem Stimmengewirr der Menschen. Der Marktplatz war das pulsierende Herz der Stadt – hier trafen sich Bauern aus den umliegenden Dörfern, Händler, die von weither kamen, und die Bürger Hamelns, um Waren zu tauschen, Neuigkeiten auszutauschen und das Leben zu feiern, wie es eben war.

An den Ständen stapelten sich Rüben und Kohl, frisches Brot duftete aus den Körben der Bäckerfrauen, und ein Fleischer pries seine Würste an, während Fliegen um die aufgehängten Schinken kreisten. Eine alte Frau mit einem Korb voller Eier bahnte sich ihren Weg durch die Menge, während Kinder zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchhuschten und kreischend Fangen spielten. Ein Musikant hatte sich am Brunnen niedergelassen und zupfte träge an seiner Laute, eine traurige Melodie, die niemand so recht beachtete.

Die Münzergasse

Abseits des Marktplatzes, in der engen Münzergasse, lebte die Familie des Schuhmachers Heinrich Müller. Sein Haus war schmal und dreistöckig, das Erdgeschoss beherbergte seine Werkstatt, während die oberen Stockwerke der Familie als Wohnräume dienten. An diesem Nachmittag saß Heinrich auf seinem Schemel, den Hammer in der Hand, und bearbeitete einen neuen Stiefel für den Ratsherrn Gottfried von Wehlen. Die Arbeit war mühsam, denn der Ratsherr war ein anspruchsvoller Mann, der auf jedes Detail achtete.

Heinrichs Frau Anna bewegte sich im Raum dahinter, wo die Küche lag. Durch die offene Tür konnte man sie hören, wie sie leise vor sich hin summte, während sie Teig für das Abendessen knetete. Ihre Hände waren kräftig und geschickt, geformt von Jahren harter Arbeit. Sie war eine stille Frau, die wenig sprach, aber wenn sie etwas sagte, hörten die Menschen zu.

Ihre beiden Kinder – der zehnjährige Johann und die achtjährige Grete – spielten draußen auf der Gasse. Johann war ein lebhafter Junge mit strohblonden Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen. Seine Schwester Grete, zarter gebaut und ernster im Gemüt, folgte ihm überallhin. Die beiden waren unzertrennlich, und oft konnte man sie gemeinsam durch die Stadt streifen sehen, immer auf der Suche nach Abenteuern in den engen Gassen und auf den Stadtmauern.

Heute spielten sie mit den anderen Kindern der Nachbarschaft. Ein Dutzend kleiner Gestalten rannte kreischend und lachend über das holprige Pflaster, ihre Rufe hallten von den Hauswänden wider. Es war ein normaler Tag, wie so viele zuvor. Niemand ahnte, dass diese unbeschwerten Stunden bald nur noch eine Erinnerung sein würden.

Das Rathaus

Während das Leben auf den Straßen seinen gewohnten Gang ging, versammelte sich im Rathaus, einem stattlichen Fachwerkbau mit hohen Fenstern und einem geschnitzten Portal, der Stadtrat. Fünf Männer saßen um einen schweren Eichentisch, auf dem Dokumente und Rechnungsbücher ausgebreitet lagen. Kerzen flackerten in ihren Haltern, obwohl es draußen noch hell war – die Fenster waren klein, und das Licht drang nur spärlich in den Raum.

An der Spitze des Tisches saß Bürgermeister Konrad Fehse, ein Mann von fünfzig Jahren mit einem grauen Bart und müden Augen. Er hatte dieses Amt seit zehn Jahren inne und trug die Last der Verantwortung wie einen schweren Mantel. Neben ihm saßen die Ratsherren: Gottfried von Wehlen, ein wohlhabender Kaufmann mit einem Gesicht wie gemeißelt aus Stein; Hermann Brauer, der Besitzer der größten Brauerei der Stadt; Friedrich Schneider, ein Tuchhändler mit nervösem Temperament; und schließlich der junge Peter Lange, der erst vor zwei Jahren in den Rat gewählt worden war und noch immer versuchte, seinen Platz unter den älteren Männern zu finden.

"Die Ernte wird gut ausfallen", sagte Hermann Brauer und strich sich über seinen Bauchansatz. "Die Bauern berichten von vollen Feldern. Wir können mit guten Steuereinnahmen rechnen."

"Das ist erfreulich", antwortete der Bürgermeister, doch seine Stimme klang müde. "Aber es gibt andere Sorgen. Die Berichte aus den Kellern und Vorratskammern mehren sich."

Ein unbehagliches Schweigen legte sich über den Raum. Gottfried von Wehlen räusperte sich. "Ihr meint die... Plage?"

"Nennen wir das Kind beim Namen", sagte Konrad Fehse. "Ratten. Die Leute berichten von immer mehr Ratten in ihren Häusern. Es sind nicht mehr nur ein paar Mäuse, die man mit Fallen und Katzen in den Griff bekommt. Es ist... mehr."

Friedrich Schneider, der nervöse Tuchhändler, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. "Übertreibungen! Die Leute sehen ein paar Nager und schon glauben sie, die Apokalypse stünde bevor. Das ist lächerlich."

"Lächerlich?" Der Bürgermeister zog eine Augenbraue hoch. "Meine eigene Köchin hat gestern Abend drei tote Ratten aus der Speisekammer getragen. Drei! Und das ist nur, was sie gefangen hat. Wie viele mögen noch dort sein?"

Peter Lange, der Jüngste im Rat, beugte sich vor. "Mein Vater hat in seinem Lagerhaus ähnliche Erfahrungen gemacht. Säcke mit Getreide wurden angefressen, und die Schäden sind erheblich. Wenn das so weitergeht..."

"Wenn das so weitergeht, verlieren wir einen beträchtlichen Teil unserer Vorräte", vollendete Hermann Brauer den Satz. "Und das kurz vor dem Winter."

Das Schweigen, das folgte, war schwer. Die Männer wussten alle, was ein Verlust der Vorräte bedeuten konnte. Hameln war keine reiche Stadt. Es gab keine großen Reserven, keine Überschüsse, die man einfach verschmerzen konnte. Jedes Korn, jeder Sack Mehl zählte.

"Wir müssen etwas unternehmen", sagte der Bürgermeister schließlich. "Aber was? Wir haben bereits Fallen aufgestellt, Katzen werden in jedes Haus gebracht, aber es scheint nichts zu helfen."

Gottfried von Wehlen lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. "Vielleicht sollten wir beten. Die Kirche könnte eine Messe abhalten, um den Herrn um Schutz zu bitten."

"Beten?" Friedrich Schneider lachte bitter. "Ich bezweifle, dass Gebete unsere Vorräte retten werden."

"Habt Ihr eine bessere Idee?" fuhr Gottfried ihn an.

Bevor der Streit eskalieren konnte, hob der Bürgermeister beschwichtigend die Hand. "Wir werden beides tun. Wir werden beten, und wir werden praktische Maßnahmen ergreifen. Jeder Haushalt soll angewiesen werden, seine Vorräte besser zu sichern. Wir werden die Stadtmauer auf Löcher überprüfen lassen, durch die die Tiere eindringen könnten. Und wir werden wachsam sein."

Die Männer nickten, wenn auch nicht alle überzeugt. Sie erhoben sich, und einer nach dem anderen verließ den Raum. Nur der Bürgermeister blieb noch einen Moment sitzen, den Blick auf die Kerze gerichtet, deren Flamme im Luftzug tanzte.

Er hatte ein ungutes Gefühl, das sich tief in seinen Eingeweiden festgesetzt hatte. Es war mehr als nur die Sorge um Vorräte oder wirtschaftliche Verluste. Es war eine Ahnung, ein dunkler Schatten, der sich über die Stadt zu legen schien. Aber er war ein pragmatischer Mann, und Ahnungen waren nichts, worauf man Entscheidungen gründen konnte. Mit einem Seufzer erhob er sich und verließ das Rathaus.

Die Dämmerung

Als die Sonne hinter den Hügeln versank und die Schatten länger wurden, verwandelte sich Hameln. Die Geschäftigkeit des Tages wich einer ruhigeren, besinnlicheren Stimmung. Die Menschen kehrten in ihre Häuser zurück, Türen wurden geschlossen, Läden verriegelt. Kerzenlicht flackerte in den Fenstern, und aus den Kaminen stieg Rauch auf, der sich mit dem Abenddunst vermischte.

In der Münzergasse hatten Anna und Heinrich Müller ihre Kinder hereingerufen. Johann und Grete saßen nun am Tisch und löffelten ihre Suppe, während ihre Eltern still daneben saßen. Die Stimmung war friedlich, vertraut. Draußen hörte man das letzte Läuten der Kirchenglocke, das den Tag beschloss.

Doch als die Nacht hereinbrach und die Stadt in Dunkelheit gehüllt wurde, begann das leise Kratzen. Es kam aus den Wänden, aus den Kellern, aus den dunklen Ecken, die das Licht nicht erreichte. Unsichtbar, aber unüberhörbar für jene, die wach lagen und lauschten.

In den kommenden Wochen würde dieses Kratzen lauter werden. Es würde sich ausbreiten wie eine Krankheit, von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse. Und mit ihm würde die Angst wachsen – eine Angst, die sich nicht mit Gebeten oder praktischen Maßnahmen vertreiben ließ.

Hameln stand am Rand eines Abgrunds, und bald würde die Stadt einen Schritt zu weit gehen.

Kapitel 2: Dunkle Vorzeichen

Drei Wochen später

Die Hitze des Hochsommers lag wie eine schwere Decke über Hameln. Die Luft stand still zwischen den engen Gassen, und selbst am frühen Morgen, wenn die Sonne gerade erst über den Horizont kroch, spürte man bereits die drückende Wärme. Die Weser führte weniger Wasser als sonst, ihr Pegel war gesunken, und an den Ufern lagen Steine frei, die sonst vom Fluss bedeckt waren. Die Bauern auf den umliegenden Feldern blickten besorgt zum Himmel und hofften auf Regen, doch der Himmel blieb wolkenlos und blau.

Für die Bewohner Hamelns war die Hitze jedoch das geringste ihrer Probleme. In den vergangenen Wochen hatte sich die Situation dramatisch verschlechtert. Was als vereinzelte Sichtungen begonnen hatte, war zu einer Plage geworden, die nicht mehr zu ignorieren war.

Die Bäckerei von Meister Wilhelm

In der Bäckergasse, nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt, stand die Backstube von Meister Wilhelm Becker. Seit dreißig Jahren führte er sein Handwerk, und in dieser Zeit hatte er die Stadt mit Brot, Brötchen und süßem Gebäck versorgt. Sein Laden war bekannt für die Qualität seiner Waren, und jeden Morgen bildete sich vor seinem Fenster eine Schlange wartender Kunden.

Doch an diesem Morgen blieb die Schlange aus.

Wilhelm stand in seiner Backstube und starrte auf das Chaos, das sich ihm bot. Der Boden war übersät mit Mehl, Körnern und Brotkrümeln. Säcke waren aufgerissen, ihr Inhalt lag verstreut umher. Und überall – auf dem Boden, auf den Regalen, sogar auf dem großen Holztisch, auf dem er normalerweise den Teig knetete – fanden sich die unverkennbaren Spuren der Ratten.

Kleine, dunkle Kugeln, die in Reihen angeordnet waren wie eine stumme Anklage.

"Verflucht", murmelte Wilhelm und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Seine Finger zitterten leicht. Er war ein Mann, der nicht leicht aus der Fassung zu bringen war, aber das hier überstieg alles, was er je erlebt hatte.

Seine Frau Margarete trat neben ihn, die Schürze fest um ihren Leib gebunden. Ihr Gesicht war blass, und ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. "Wir müssen alles wegwerfen", sagte sie leise. "Alles."

Wilhelm nickte stumm. Er wusste, dass sie recht hatte. Mehl, das von Ratten angefressen worden war, konnte man nicht mehr verwenden. Es war verdorben, unsauber. Aber der Verlust war verheerend. Drei große Säcke Mehl – das entsprach fast einer Woche Produktion. Und das Geld, das er dafür ausgegeben hatte, war verloren.

"Wie sind sie hereingekommen?" fragte er, mehr zu sich selbst als zu seiner Frau. "Ich habe jeden Spalt verschlossen, jede Ritze abgedichtet. Wie...?"

Margarete deutete mit zitternder Hand auf eine Ecke des Raums. Dort, zwischen zwei Holzbalken, war ein Loch. Es war nicht groß, kaum größer als eine Faust, aber es war da. Und es war neu.

"Sie haben sich durchgenagt", flüsterte sie.

Wilhelm trat näher und kniete sich hin. Die Ränder des Lochs waren ausgefranst, Holzsplitter lagen am Boden. Die Ratten hatten sich durch das Holz gefressen, als wäre es weiches Brot. Er schluckte schwer. Was für Kreaturen waren das, die sich durch massives Eichenholz fraßen?

Hinter ihnen öffnete sich die Tür, und ihr Lehrling, der junge Thomas, trat ein. Er war ein schmächtiger Bursche von vierzehn Jahren, mit einem Gesicht voller Pickel und ständig zu langen Ärmeln. Als er das Chaos sah, blieb er wie angewurzelt stehen.

"Meister Wilhelm...?"

"Hol einen Besen", sagte Wilhelm müde. "Wir müssen aufräumen."

Thomas nickte und lief davon. Wilhelm und Margarete blieben zurück, inmitten der Verwüstung. Sie sagten nichts mehr, denn was gab es noch zu sagen? Die Ratten waren da, und sie würden nicht von alleine verschwinden.

Der Marktplatz

Am Vormittag versammelten sich die Menschen wie jeden Tag auf dem Marktplatz, doch die Stimmung war anders als sonst. Es lag eine Spannung in der Luft, eine Unruhe, die sich in den Gesichtern der Leute widerspiegelte. Die Händler priesen ihre Waren an, aber ihre Stimmen klangen gedämpft, fast verzweifelt. Die Kunden kamen, doch sie blieben nicht lange, beendeten ihre Einkäufe hastig und verschwanden wieder in ihren Häusern.

Am Brunnen in der Mitte des Platzes hatten sich ein paar Frauen versammelt. Sie trugen Wasserkrüge und Eimer, doch sie schienen wenig Interesse daran zu haben, diese zu füllen. Stattdessen standen sie beisammen und sprachen mit gedämpften Stimmen, ihre Köpfe dicht zusammengesteckt.

"Ich sage euch, es ist ein Fluch", sagte eine ältere Frau mit grauem Haar und tiefen Falten im Gesicht. "Ein Fluch, den Gott über uns gebracht hat, weil wir gesündigt haben."

"Was für eine Sünde soll das sein?" fragte eine jüngere Frau mit einem Säugling auf dem Arm. "Wir sind fromme Christen. Wir gehen zur Kirche, wir beten, wir geben den Zehnten."

"Vielleicht nicht alle", entgegnete die Alte mit einem bedeutungsvollen Blick. "Es gibt welche unter uns, die den Herrn vergessen haben. Die nur an ihren eigenen Vorteil denken."

"Ach was", schnaubte eine dritte Frau, eine korpulente Gestalt mit roten Wangen. "Das sind keine Strafen Gottes. Das sind einfach Ratten. Ungeziefer. So was gibt es überall."

"Aber nicht in dieser Zahl", widersprach die Alte. "Habt ihr nicht gesehen, wie viele es sind? Sie sind überall. In den Kellern, in den Ställen, sogar in den Kirchen! Bruder Augustin hat mir erzählt, dass sie letzte Nacht drei von ihnen in der Sakristei gefunden haben. In der Sakristei!"

Ein erschrockenes Raunen ging durch die Gruppe. Wenn die Ratten sogar in die heiligen Räume der Kirche eindrangen, dann war das in der Tat ein böses Zeichen.

"Und was sagt der Rat dazu?" fragte die junge Mutter. "Haben sie etwas unternommen?"

Die korpulente Frau schnaubte verächtlich. "Der Rat! Die sitzen in ihrem schönen Rathaus und diskutieren, während wir hier draußen zusehen müssen, wie unsere Vorräte aufgefressen werden. Was haben die schon getan? Nichts!"

"Das ist nicht ganz fair", wagte eine vierte Frau einzuwenden, eine schmächtige Person mit ängstlichen Augen. "Sie haben Fallen aufstellen lassen. Und die Stadtwache soll nach Löchern in der Mauer suchen."

"Fallen!" Die korpulente Frau lachte bitter. "Als ob ein paar Fallen etwas gegen diese Massen ausrichten könnten. Nein, es braucht mehr. Viel mehr."

Die Frauen schwiegen einen Moment, jede in ihren eigenen Gedanken versunken. Dann nahmen sie ihre Eimer und Krüge und füllten sie schweigend mit Wasser. Als sie den Platz verließen, warfen sie noch einen letzten, besorgten Blick zurück, als fürchteten sie, dass die Ratten jeden Moment aus den Schatten kriechen könnten.

Die Familie Müller

In der Münzergasse hatte die Familie Müller mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Heinrich saß in seiner Werkstatt und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Letzte Nacht hatte er sie gehört – das Kratzen, das Rascheln in den Wänden. Es hatte ihn wach gehalten, und mehr als einmal war er aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Doch jedes Mal, wenn er eine Kerze angezündet und die Ecken des Raumes abgesucht hatte, war nichts zu sehen gewesen. Nur das Kratzen blieb, unsichtbar und allgegenwärtig.

Anna, seine Frau, war noch besorgter. Am Morgen hatte sie in der Vorratskammer einen halben Laib Brot gefunden, der angenagt worden war. Und nicht nur angenagt – regelrecht zerfetzt. Die Kruste lag in Fetzen auf dem Boden, und das weiche Innere war herausgepickt worden wie von hungrigen Vögeln. Doch es waren keine Vögel gewesen. Das wussten sie beide.

"Wir müssen etwas tun", sagte Anna, während sie die Reste des Brotes in ein Tuch wickelte. "Wir können nicht einfach zusehen, wie unsere Vorräte vernichtet werden."

"Was sollen wir denn tun?" fragte Heinrich ratlos. "Ich habe Fallen aufgestellt. Drei Stück. Und was ist passiert? Alle drei wurden ausgelöst, aber keine einzige Ratte war drin. Es ist, als wären sie zu schlau für uns."

Anna schüttelte den Kopf. "Das ist nicht natürlich. Ratten sind Tiere. Sie können nicht denken."

"Vielleicht doch", murmelte Heinrich. "Vielleicht ist das hier etwas anderes."

Seine Frau sah ihn scharf an. "Was meinst du damit?"

Heinrich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich habe nur ein ungutes Gefühl. Als würde hier etwas nicht stimmen."

Bevor Anna etwas erwidern konnte, stürmten Johann und Grete in die Küche. Die beiden Kinder waren außer Atem, ihre Gesichter gerötet von der Hitze und der Anstrengung.

"Vater! Mutter!" rief Johann aufgeregt. "Ihr müsst das sehen!"

"Was denn?" fragte Heinrich stirnrunzelnd.

"Die Ratten! Am Weserufer! Es sind Hunderte!"

Heinrich und Anna tauschten einen besorgten Blick. Dann folgte Heinrich seinen Kindern zur Tür. Anna blieb einen Moment stehen, die Hände auf die Tischplatte gestützt, dann atmete sie tief durch und folgte ihnen.

Das Weserufer

Eine kleine Menschenmenge hatte sich am Ufer versammelt. Männer, Frauen, Kinder – alle starrten auf das gleiche Schauspiel. Am schlammigen Ufer der Weser, dort, wo das Wasser sich zurückgezogen hatte, wimmelte es von Ratten. Sie waren überall – auf den Steinen, im flachen Wasser, zwischen dem Schilf. Kleine, graue Körper mit langen, nackten Schwänzen, die sich wie eine lebende Decke über das Ufer ergossen.

Heinrich blieb stehen und starrte. Er hatte in seinem Leben schon viele Ratten gesehen, aber so etwas noch nie. Es waren nicht ein paar Dutzend. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende. Sie bewegten sich in Wellen, ein ständiges, unruhiges Fließen von Körpern und Schwänzen.

"Gütiger Himmel", flüsterte jemand neben ihm.

Ein älterer Mann, den Heinrich als den Gerber Matthias erkannte, trat vor. Er hielt einen Stock in der Hand und schlug damit gegen einen Stein, um Lärm zu machen. Die Ratten reagierten nicht. Sie bewegten sich weiter, als wäre der Mann gar nicht da.

"Sie haben keine Angst", sagte Matthias mit rauer Stimme. "Seht ihr das? Sie haben keine Angst vor uns."

Das war es, was Heinrich am meisten beunruhigte. Normalerweise flohen Ratten, wenn Menschen sich näherten. Aber diese hier taten es nicht. Sie ignorierten die Menschen vollkommen, als existierten sie nicht.

Ein Kind, ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren, löste sich aus der Menge und rannte auf die Ratten zu. Seine Mutter schrie auf und rannte ihm hinterher, doch sie war zu langsam. Der Junge blieb direkt vor dem Rudel stehen und starrte fasziniert auf die wuselnden Körper.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann, als hätten sie ein unsichtbares Signal erhalten, erstarrten die Ratten. Hunderte von Augen richteten sich auf den Jungen. Kleine, schwarze Knopfaugen, die im Sonnenlicht glänzten.

Die Mutter erreichte ihr Kind und riss es zurück, fort von den Ratten. Der Junge begann zu weinen, doch sie achtete nicht darauf. Sie trug ihn fort, so schnell sie konnte, fort von diesem alptraumhaften Anblick.

Die Menge begann sich aufzulösen. Einer nach dem anderen wandten die Menschen sich ab und gingen zurück in die Stadt. Doch sie alle nahmen das Bild mit sich – das Bild von Tausenden von Ratten, die am Ufer der Weser lauerten wie eine dunkle Armee.

Das Rathaus – Abenddämmerung

Bürgermeister Konrad Fehse saß an seinem Schreibtisch und rieb sich die Schläfen. Vor ihm lagen Dutzende von Beschwerden, Bittschriften und Berichten. Jeder einzelne handelte von den Ratten. Die Bäcker beklagten zerstörte Vorräte, die Bauern berichteten von angefressenen Getreidespeichern, und selbst der Abt des nahen Klosters hatte geschrieben, um seine Besorgnis auszudrücken.

Es klopfte an der Tür, und Gottfried von Wehlen trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Der Ratsherr sah müde aus, seine normalerweise so straffe Haltung war erschlafft, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

"Wir müssen handeln", sagte er ohne Umschweife. "Die Lage ist außer Kontrolle geraten."

"Ich weiß", antwortete Konrad leise. "Aber was sollen wir tun? Wir haben alles versucht. Fallen, Gift, Katzen – nichts funktioniert."

"Dann müssen wir etwas anderes versuchen", beharrte Gottfried. "Wir könnten Kammerjäger aus anderen Städten holen. Oder..."

"Oder was?"

Gottfried zögerte. "Es gibt Geschichten. Geschichten von Männern, die solche Plagen beenden können. Wanderer, die von Ort zu Ort ziehen und ihr Handwerk verstehen."

Konrad sah ihn skeptisch an. "Ihr redet von Scharlatanen. Von Betrügern, die verzweifelten Menschen das Geld aus der Tasche ziehen."

"Vielleicht", gab Gottfried zu. "Aber was haben wir zu verlieren? Wenn wir nichts tun, wird die Stadt im Winter verhungern. Die Vorräte schwinden mit jedem Tag."

Der Bürgermeister schwieg einen langen Moment. Dann nickte er langsam. "Gut. Schickt Boten aus. In die umliegenden Städte, nach Bremen, nach Hannover. Fragt, ob jemand von solchen Männern gehört hat. Und wenn ihr jemanden findet... bringt ihn her."

Gottfried nickte und verließ den Raum. Konrad blieb zurück, allein mit seinen Gedanken und dem flackernden Kerzenlicht. Draußen war es dunkel geworden, und durch das Fenster konnte er die Stadt sehen, die in der Nacht lag. Irgendwo dort draußen, in den Schatten und Ecken, lauerten die Ratten. Und mit jedem Tag wurden sie mehr.

Er fragte sich, ob sie überhaupt noch zu stoppen waren.

Kapitel 3: Die Angst wächst

Zwei Wochen später – Ende August 1284

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, doch die Hitze blieb. Die Sonne brannte weiterhin vom wolkenlosen Himmel, und die Luft über Hameln schien zu flimmern wie über einem Schmiedeofen. Doch es war nicht nur die Hitze, die die Stadt erstickte. Es war die Angst.

Was vor Wochen als lästige Plage begonnen hatte, war zu einem Alptraum geworden, der die Stadt Tag und Nacht heimsuchte. Die Ratten waren überall. Sie krochen aus den Kellern, huschten über die Straßen, wühlten sich durch die Vorräte. Und mit jedem Tag wurden sie dreister, zahlreicher, unerbittlicher.

Die Menschen von Hameln wagten es kaum noch, nachts zu schlafen. Sie lagen wach und lauschten dem Kratzen in den Wänden, dem Rascheln im Stroh, dem leisen Quietschen, das aus den dunklen Ecken kam. Manche versuchten, die Geräusche zu ignorieren, sich mit Gebeten oder Arbeit abzulenken. Andere wurden von der Angst aufgefressen, bis sie nur noch bleiche Schatten ihrer selbst waren.

Die Kirche St. Bonifatius

Pater Gregor stand vor dem Altar seiner Kirche und blickte in die Gesichter der Gemeinde. Es war Sonntagmorgen, und die Kirche war voller als seit Monaten. Die Bänke waren bis auf den letzten Platz besetzt, und sogar in den Seitenschiffen drängten sich die Menschen. Sie waren gekommen, um Trost zu suchen, um Antworten zu finden, um zu beten, dass Gott sie von dieser Plage erlösen möge.

Pater Gregor war ein Mann Mitte Vierzig, mit einem schmalen Gesicht und tiefliegenden Augen, die ständig zu brennen schienen. Er hatte sein Leben dem Dienst an Gott geweiht, und in den fünfzehn Jahren, die er nun in Hameln war, hatte er seine Gemeinde durch gute und schlechte Zeiten geführt. Doch das hier war anders. Das hier war etwas, das er nicht verstand.