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Immer wieder ändern sich Lebensumstände eines Menschen. Besonders, wenn wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, neigen wir dazu, die Dinge überspitzt zu sehen. Ebenso geht es Judith, die von ihrem Mann verlassen wurde und in einer abgeschotteten Waldsiedlung ein neues Zuhause findet. Obwohl sie freundlich aufgenommen wird, stösst sie auf seltsame Ungereimtheiten, die sie zum Teil ängstigen. Sie sieht ihre 9-jährige Tochter Amelie bedroht und muss nun herausfinden, ob an ihren Befürchtungen etwas dran ist. Als der Hütehund Oswald im Beisein ihrer Tochter in der Siedlung ein Skelett freilegt, verstärken sich ihre Ängste. Man will sie davon überzeugen, dass nicht alles so ist, wie es den Anschein hat. Nebenbei erfährt der Leser einiges über Kräuter des Gartens und des Waldes.
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über den Autor
Der 1953 in Güstrow geborene Autor lebt heute mit seiner Frau in Ludwigsfelde. Sein Studium an der TU Dresden schloss er 1977 als Dipl.-Ing. für Informationstechnik ab.
Neben seiner Arbeit widmete er sich dem Schreiben und der Fotografie. Mit Erreichen des Rentenalters arbeitete er sein Lebenswerk auf und begann mit der Veröffentlichung seiner Bücher.
Es macht ihm Spaß, sich in allen Bereichen der Belletristik auszutoben. So schrieb er neben Kinder- und Jugendbüchern auch Kriminalromane, Abenteuerromane und Fantasygeschichten.
Bei einigen Büchern gestaltete er sein Cover selbst.
Näheres unter https://erwinsittig.de/
Erwin Sittig
Die Geburt der Träume
Drama
© 2024 Erwin Sittig
https://erwinsittig.de
ISBN Softcover: 978-3-384-40632-3
ISBN Hardcover: 978-3-384-40633-0
ISBN E-Book: 978-3-384-40634-7
Covergestaltung: Erwin Sittig
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Über den Autor
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Weitere Werke des Autors Erwin Sittig:
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Die Geburt der Träume
1
Ein kleines Mädchen befand sich auf Entdeckungstour in jenem Wäldchen, das vor einiger Zeit ihr Zuhause geworden war. Sie liebte es, durch die Natur zu streifen und jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Die Luft war mild und verwöhnte ihre Nase mit den unterschiedlichsten Düften. Die Sonne drang sporadisch durch das Laubdach und schien auf einige der Pflanzen ihr Scheinwerferlicht zu richten. Obwohl sie sich anfangs dagegen gesträubt hatte, ihrer Mutter in das kleine Häuschen zu folgen, war sie nun glücklich, sich in ihr Schicksal gefügt zu haben. Das Leben hier empfand sie wesentlich aufregender als das in der Stadt, wo sie ihre Freunde zurückgelassen hatte. Immer wieder begegnete sie neuen Pflanzen und Tieren, die sie faszinierten. Anfangs wurden ihre Spaziergänge von einer gewissen Ängstlichkeit geprägt. Doch die befürchteten gefährlichen Situationen blieben aus, so dass sie ihre Umgebung immer entspannter durchforstete. Heute hatte sie ihren Hund dabei, der ohne Leine lief und dennoch stets in ihrer Nähe blieb. Er hatte schon eine beachtliche Schulterhöhe von 53cm. Das gab ihr zusätzliche Sicherheit. Dass er sie gegen alles und jeden verteidigen würde, stellte sie nicht in Frage. Gelegentlich hatte ihr Begleiter jedoch seinen eigenen Kopf. Er lief weit voraus und ignorierte ihre Rufe, dass er zurückkommen möge.
Als sie ihn endlich eingeholt hatte, war er mit einem kleinen Fleckchen dunkler Erde beschäftigt, das unbewachsen war. Er beschnüffelte neugierig das Umfeld seines Fundes und begann schließlich intensiv zu graben. Sie befahl ihm, aufzuhören, was ihn jedoch nicht im Geringsten beeindruckte. Selbstverständlich hatte er auch eigene Interessen. Der Erdhaufen war bereits beachtlich angewachsen, als sie am Ort des Geschehens eintraf. Sie zerrte an seinem Halsband, doch das Tier war von seiner Beschäftigung nicht abzubringen. Sie diskutierte mit ihm, als könnten ihre Worte ihn davon abbringen, sein Vorhaben fortzusetzen.
Nach weiteren qualvollen Minuten setzte das Knurren ein und sein Gebell forderte sie auf, den Fund zu bewundern. Das Mädchen näherte sich mit gemischten Gefühlen der kleinen Grube, die er ausgehoben hatte. Sie starrte hinein und gab einen spitzen Schrei von sich. Ihr Herz galoppierte förmlich durch ihren Körper. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als das Unfassbare zur Gewissheit wurde. Vor sich erblickte sie einen menschlichen Schädel. Durch ihren Schrei angelockt, näherte sich ein Mann, den sie vorher nicht bemerkt hatte. Panisch lief sie davon. Der Hund folgte ihr, da sie offensichtlich seinen Schutz benötigte. Sie hörte das Knacken hinter sich, das von den Schritten des Mannes hervorgerufen wurde, der sie offenbar verfolgte. Sie hatte sich nicht getraut, ihn in Augenschein zu nehmen. Sie wollte einfach nur weg.
„So warte doch“, schrie der Mann.
„Ich tue dir doch nichts.“
Aber sie lief weiter in der festen Überzeugung, dass dieser Mann etwas mit der Leiche zu tun hatte. Sie war jetzt eine Zeugin. Der Täter würde nicht wollen, dass sein Geheimnis bekannt wird. Ihre ganze Hoffnung lag in dem Hund, der sich hoffentlich dem Verfolger entgegenstellen würde, wenn der sie eingeholt hätte.
2
Sieben Monate zuvor
Das Wetter war heute genau so trübsinnig, wie das Leben, das vor ihr lag. Amelie schaute aus dem Fenster ihrer Vierraumwohnung, die im dritten Stock eines Neubaublockes lag, der jedoch schon in die Jahre gekommen war. Ein kräftiger Landregen sorgte dafür, dass die Leute nur das Haus verließen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Pfützen hatten sich sogar über den Gullydeckeln gebildet, die die riesigen Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnten. Die Autos erzeugten einen Wasserschwall, wenn sie durch sie hindurchfuhren und bespritzten nicht selten einen der wenigen Fußgänger, die sich krampfhaft an ihren Regenschirmen festhielten. Es schien offensichtlich, dass die schöne Zeit vorbei war. Gestern hatte noch die Sonne geschienen. Doch es zogen bereits dunkle Wolken auf, als Mutter verkündete, dass sie hier wegziehen würden. Nicht in eine andere Straße, sondern ganz weg. Sehr weit weg. Angeblich konnten wir uns die Wohnung nicht mehr leisten, besonders jetzt, wo die Miete von einem allein zu tragen war und die Strom- und Gaspreise beachtlich seien. Als Vati noch bei ihnen war, gab es keine Probleme. Sie waren zwei Verdiener. Doch er hatte eine neue Frau gefunden und sie vor einem Jahr verlassen. Inzwischen wohnte er bei ihr und hatte sich seit dem nicht ein einziges Mal gemeldet. Er hatte jetzt neue Kinder, ihre Kinder, die nun auch seine waren. War das ein Grund, seine eigene Tochter einfach zu löschen?
Nicht ein Anruf, nicht eine Zeile war ihm seine alte Familie wert. Mutti hatte anfangs nur geweint. Selbst den Unterhalt überwies er nicht, nachdem die Scheidung endlich durch war. Der hätte sie möglicherweise vor dem Umzug bewahrt. Amelie sah mit ihren neun Jahren ein, dass sie hier ausziehen müssen. Aber doch nicht in eine andere Stadt am Ende der Welt. Hätten sie nicht einfach eine kleinere Wohnung nehmen können? Mutti sagte, dass die genau so teuer wären. Weil die sehr gefragt waren. Danke, Vati, dass du mir damit auch meine Freunde gestohlen hast. Gestern hatte sie sich bereits unter Tränen verabschiedet. Sie versprachen Kontakt zu halten, denn sie hatten alle schon eigene Handys. Aber Vati hatte auch versprochen, dass sie sich weiterhin regelmäßig sehen würden. Wie leicht den Erwachsenen solche Lügen über die Lippen kamen. Als Kind steckte man das nicht ohne Weiteres weg.
Muttis Freundin Evelin hatte ein günstiges Angebot übers Internet gefunden. Eine kleine Siedlung im Wald, hunderte Kilometer entfernt. Sieben winzige Blockhütten mit etwas weniger Komfort, hatte Mutti gesagt, aber gemütlich. Mit wem sollte sie sich im Wald austauschen? Mit den sieben Zwergen, wovon sie einer sein würde? Sie hasste ihre Mutter dafür, dass sie sie aus einem behüteten, vorausschaubaren Leben riss. Durfte sie das einfach ohne sie entscheiden? Sie hasste sie nicht wirklich, doch sie wollte es sie glauben machen, damit sie ihren Entschluss nochmals überdenken könnte.
Zum Glück würde sie etwas Halt bei ihrer treuen Freundin, der Schildkröte Elsa, finden. Elsa durfte sie mit ihrem Terrarium begleiten. Sie hatte ihr den Namen der Eiskönigin gegeben, da sie hoffte, dass sie damit auch die Zauberkräfte übernehmen würde. Mit Elsa konnte sie sich stundenlang unterhalten, wenn sie Probleme hatte. Etwas erinnerte sie das kleine Tier an die uralte Schildkröte Morla aus der unendlichen Geschichte. Die war weise und hatte immer einen Rat parat. Langsam löste Amelie ihren Blick von dem Sauwetter, das ihre Stimmung weiter hinunterzog und ging zu Elsa hinüber. Neugierig streckte die ihr das kleine Köpfchen entgegen, in Erwartung eines längeren Gespräches. Dankbar stürzte sie sich auf das Salatblatt, das sie gereicht bekam.
„Mir ist es ein Rätsel, was in dieser Abgeschiedenheit besser sein soll. Hier habe ich Freunde, ein schickes Städtchen mit Sportstätten, Kino und einem Park. Ich bin hier zuhause. Dort werde ich eine Fremde sein. Dich stört das gar nicht?“
Die Schildkröte ließ sich bei ihrem Schmaus nicht stören. Amelie nahm ihr erbost den Rest des Salatblattes wieder weg.
„Ich habe dich etwas gefragt!“
Verwundert sah das Tier sie an und streckte den Kopf hervor.
„Ach so. Du meinst, es ist genug, wenn ich dir immer zu essen gebe? Hast du keine Angst, dass ich dich auch verlassen könnte?“
Hatte sie den Kopf geschüttelt? Jedenfalls wendete sie sich ab und wollte damit das Gespräch beenden.
Amelie schaute sich in ihrem Zimmer um. Es war genau nach ihren Wünschen eingerichtet worden, wobei die Farbe Rosa dominierte. Ihr Vater hatte ihr diese Unruhe an die Decke geschraubt, an der Fische und eine Meerjungfrau kreisten. Die würde sie hierlassen. An ihn wollte sie keineswegs erinnert werden.
Wie ginge es jetzt weiter? Ihre Koffer waren gepackt. Ein Umzugsunternehmen war organisiert und Evelin würde für sie die alte Wohnung auflösen. Der Abschied von ihren Freunden war zwar tränenreich verlaufen, doch sie trösteten sich damit, dass sie nicht den Planeten wechseln würde.
Ihre Mutter kam herein, sah ihre betrübte Miene und bemühte sich, sie aufzumuntern.
„Nun mach mal nicht so ein Schlechtwettergesicht, mein Liebling. Du wirst sehen, dass es dir dort gefallen wird.“ Sie setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Das Küsschen auf die Wange ließ sie fast ihren Schmerz vergessen. Sie hatte das Glück, dass ihre Mutter auch ihre beste Freundin war. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Und doch hatte sie plötzlich diese Wand vor ihr errichtet, von der sie nicht wusste, was sich dahinter befand.
„Ich habe Angst, dass ich mich dort langweilen werde.“ Sie machte einen Schmollmund und besah sich ihre Fußspitzen.
„Sieh mal. So weit im Wald, wie du denkst, werden wir nicht sein. Die Siedlung befindet sich am Waldrand. Eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt. Mit dem Fahrrad wärest du in zwanzig Minuten im nächsten Dorf. Versprochen, dass wir viel miteinander unternehmen werden.“
„Trotzdem würde ich lieber hier bleiben.“
„Wenn du dich dein Leben lang nicht bewegst und immer am gleichen Fleck bleibst, kannst du dich nicht weiterentwickeln. Manchmal findet man sein Glück dort, wo man es am wenigsten erwartet. Und du wirst mitten in der Natur sein. Die Luft ist viel gesünder und du wirst mehr Bewegung haben. Außerdem erwarten dich dort jede Menge Tiere. So und nun gehen wir schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind.“
Der Schlaf wollte nicht kommen. Der Nebel in ihren Vorstellungen löste sich einfach nicht auf. Ungewissheit war etwas Schreckliches. Woher wusste ihre Mutter, dass hinter der Nebelwand die Sonne scheinen würde? Sie ging ins Zimmer ihrer Mutter, die ebenfalls noch ihren Gedanken nachhing. Diese war sich keineswegs sicher, das Richtige entschieden zu haben. Judith Deckert hob ihre Bettdecke und Amelie schlüpfte darunter. Jetzt sah die Welt schon viel freundlicher aus, für beide. Sie erinnerte sich an die Mail, die ihr die Bewohner der Waldsiedlung geschickt hatten. „Wir freuen uns auf Euch.“
Angehängt war ein Bild mit lauter sympathischen Menschen, die in die Kamera lächelten.
Sie hoffte so sehr, dass alles echt wäre, was sie darauf sah.
Amelie hatte sich für den Tag der Abreise besonders hübsch gemacht. Sie war mit ihren 1,25m Körpergröße etwas kleiner als die meisten Mitschülerinnen. Aber ihre Mutter war auch nicht sehr groß. Die Mütter ihrer Schulkameradinnen überragten sie mit ihren 1,62m. Amelies Markenzeichen war ein Mittelzopf am Hinterkopf, den ihr die Mutter jeden Morgen flechten musste. Dafür revanchierte sie sich, indem sie hin und wieder das Gleiche mit deren Haaren versuchte.
Ihr Lieblingskleid war rot und ging ihr knapp über die Knie. Ein weißer Kragen schloss es nach oben hin ab und winzige weiße Blumen verteilten sich auf dem Stoff. Ihre Füße steckten in weißen Kniestrümpfen und diese wiederum in roten Ballerinaschuhen. Mutter hatte sich ebenfalls in Rot gekleidet, um Amelie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln, wenn sie unter all den Fremden aufschlugen.
Die Entscheidung für die Waldsiedlung hatte sie aus der Not heraus getroffen, ohne je dort gewesen zu sein. Ihre Freundin Evelin hatte dies für sie erledigt und sogar die Möbel ausgewählt, die im neuen Haus Platz finden würden und bereits mit dem Umzugsunternehmen unterwegs waren.
Man würde unter ihrer Anleitung alles aufbauen, so dass die beiden keine Arbeit mehr mit dem Einrichten hätten. Auch die Fahrräder würden schon auf sie warten.
Evelin war eine Frohnatur und von den Bewohnern der Siedlung freudig überrascht. Sie war sicher, dass alle bestens miteinander auskommen würden.
Elsa hatte gefordert, mit ihrem Terrarium neben Amelie auf der Rückbank zu sitzen. Das hatte sie glaubwürdig zu verstehen gegeben. Jetzt, da es losging, waren alle drei etwas aufgeregt. Elsa verweigerte das Futter, Amelie war enttäuscht, dass keiner ihrer Freunde oder Freundinnen so früh aufgestanden war, um ihr hinterher zu winken, und Judith fühlte sich nicht wohl dabei, bei Regenwetter fahren zu müssen. Glücklicherweise zwängte sich nach zwei Stunden Fahrt endlich die Sonne durch die Wolken, was die Schildkröte veranlasste, sich über ihr Futter herzumachen und Amelie ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. War das ein gutes Zeichen? Als das Navi schließlich verkündete, dass sie in 20 Minuten ihr Ziel erreichen würden, hatte die Sonne endgültig die Herrschaft übernommen. Ihre Mutter strahlte vor Glück, da auch sie dies als gutes Omen sah.
Im Schritttempo bogen sie in den Waldweg ein, der nach 200 Metern am kleinen Parkplatz vorbeiführen würde, der zur Waldsiedlung gehörte. Amelie grinste überrascht, als sie den für sie vorgesehenen Stellplatz belegten. Alle 9 Plätze waren mit einem Schild gekennzeichnet, auf dem ‚Privat‘ stand. Darunter der Name des Eigentümers. Niebuhr, Polster, Wichert, Burmeister, Swoboda und Rosenbaum. Nur ihr Schild tanzte aus der Reihe, da auf ihm der Name Amelie zu lesen war. Evelin hatte diese Idee. Sie kam sofort angelaufen, als sie das Motorengeräusch ihres Wagens gehört hatte. Zusätzlich gab es noch zwei Besucherparkplätze. Es ging ein leichter Wind, der Evelin Schuberts rötlichen Haare beschwingt wippen ließ, als wollten sie ihren Gruß erbieten. Mit Judiths Freundin war für Amelie ein Stück Vertrautheit in diese fremde Welt eingezogen, die jedoch sehr bald wieder verschwinden würde. Nach der ausführlichen Begrüßung mit viel Tamtam und Umarmungen geleitete sie die Freundin zu ihren neuen Nachbarn, die bereits an einem festlich gedeckten Tisch auf sie warteten. Strahlende, erwartungsvolle Gesichter blickten sie an. Die Neuankömmlinge stachen mit dem intensiven Rot der Kleidung von den Alteingesessenen wie eine Orchidee auf einer Gänseblümchenwiese hervor. Während Judith diesen Umstand etwas peinlich fand, war Amelie vollkommen damit ausgelastet, die unterschiedlichsten Charaktere dieser geheimnisvollen Waldbewohner zu analysieren. Ganz vorn saß Hannes Wichert, der als ehemaliger Rechtsanwalt vorgestellt wurde. Er war drahtig und wies noch keinen Bauchansatz auf, wie das bei Männern seines Alters häufig vorkam. Seine 67 Jahre sah man ihm nicht an. Er verfügte über wache Augen, eine kahle, weit nach hinten gezogene Denkerstirn und präsentierte eine runde Brille auf der Nase. Er hatte das gleiche freundliche Lächeln aufgesetzt, wie die anderen auch. Amelie erfasste unwillkürlich der Gedanke, dass jemand ein Foto schießen würde und alle auf das Kommando ‚Cheese‘ reagiert hätten.
Neben dem Professor, wie sie ihn innerlich empfand, hockte ein weißer flauschiger Hund, der sie mit heraushängender Zunge fest im Blick hatte. Auch er wurde vorgestellt. Er hörte auf den Namen Oswald und war ein Polski Owczarek Podhalanski, ein polnischer Hütehund, den man auch Tatrahund nannte. Wobei Owczarek eigentlich Schäferhund bedeutete. Oswald beschützte die Hühner, die sich der Anwalt hielt und war mit ihnen zusammen aufgewachsen. Der stattliche Hund schien zu spüren, dass er vorgestellt wurde. Er ging langsam auf Amelie zu, schnupperte an ihren Händen und nahm dann seinen Platz wieder ein. Im Hintergrund gackerten die Hühner, die ebenfalls weiß waren, um bei der Vorstellung nicht vergessen zu werden. Sie hatten schwarze Schwanzspitzen und einen schwarz gesäumten Hals. Angeblich würden sie sehr leckere braune Eier legen. Sussex hieß diese Rasse. In dieser abgelegenen Gegend empfand Judith es ungewöhnlich, dass er sich nur Rassetiere hielt. Als Nächstes stellte sich die grauhaarige Omi vor, die sich neben den Anwalt gestellt hatte. Sie war die Kleinste von ihnen. Ihr Name war Ursula Burmeister. Die Haare hingen ihr lang und zottelig bis auf die Brust hinunter. Auch sie trug eine Brille.
Das Gesicht war etwas füllig, besser gesagt pausbäckig. Ihre Falten hatte sie im Griff. Lediglich zwei tiefe Furchen führten von der Nase am Mund vorbei, der relativ schmale Lippen aufwies. Sie kleidete sich jugendlich. Ihre offene Jeansjacke gab den Blick auf einen blauen Keramikanhänger frei. Sie sagte von sich selbst, dass sie hier die Kräuterhexe sei, wobei der Schalk aus ihren hellblauen Augen sprang. Falls sie ihren Rat zu Heilmitteln oder leckeren Rezepten benötigen würden, wären sie bei ihr willkommen. Danach ergriff Raffael Rosenbaum das Wort. Er war der Älteste in der Runde. Obwohl schon 76, hatte er noch volles kräftiges Haar, das schneeweiß leuchtete. Die Kurzhaarfrisur stand ihm. Er hatte ebenfalls ein volles Gesicht, jedoch von vielen feinen Fältchen durchzogen. Sein Auftreten war etwas reservierter, obwohl er freundlich sprach. Er wäre ihr Mann, falls es mal klemmen würde. Man sagte ihm nach, Reparaturen aller Art ausführen zu können. Rita Swoboda wies auf ihren 7-jährigen Sohn Kai, als sie ihre Namen nannte. Er würde im September eingeschult werden. Er sei zwar Epileptiker, könne aber eine normale Schule besuchen. Die Lehrer und Kinder würden informiert werden, wie sie sich zu verhalten hätten, falls er mal einen Anfall bekäme. Kai sah verlegen zu Boden und schien froh zu sein, dass sich das Ehepaar Ramona und Hendrik Polster zu Wort meldeten.
„Ich arbeite von zu Hause aus“, erklärte Hendrik, „und mache in Ernährungsberatung und Fitness.“
„Du versuchst es“, korrigierte ihn seine Frau, die nicht ganz so fit wirkte wie er, aber hübsch anzusehen war.
„Was heißt hier ‚versuchen‘. Ich bin sehr erfolgreich, bei dem, was ich tue.“
„Wenn du die Messlatte für Erfolg tief genug hängst, könntest du Recht haben.“
„Jedenfalls erwirtschafte ich mehr, als du mit deinen albernen Zeitungsartikeln. Sie arbeitet für so ein kleines Schmierblatt“, ergänzte er.
„Ich kann mir aber in die Augen sehen, während du mit deinen fragwürdigen Nahrungsergänzungsmitteln, die du den Leuten aufschwatzt, schön still sein solltest.“
Sie standen sich wie zwei Kampfhähne gegenüber. Während sie erregt ihre langen, strähnig blonden Haare hin und her schmiss, als sie ihn anschrie, bewahrte er Ruhe, da er wusste, dass sie das am schnellsten auf die Palme brachte. Seine mittelblonde Kurzhaarfrisur unterstrich sein geschäftsmännisches Gebaren.
„Und falls ihr mal Computerprobleme habt, damit kenne ich mich auch etwas aus“, schloss Hendrik seine Vorstellung ab, ohne auf die Vorwürfe seiner Frau einzugehen.
„Ha ha“, lachte diese gekünstelt. „Du kannst …“
„Richtig. Er kann sehr gut Gitarre spielen und wenn seine Frau dazu singt, haben sie uns schon oft die Sorgen aus dem Hirn vertrieben“, unterbrach sie Nicolas Niebuhr, der vermutlich als Streitschlichter Erfahrung hatte.
Die beiden sahen ihn dankbar an und gönnten sich selbst ein Lächeln.
Nicolas nahm den Faden wieder auf, um auch etwas über sich zu sagen.
„Es ist Zufall, dass ich heute hier bin. Meistens bin ich unterwegs, da ich als Schauspieler arbeite. Ich genieße einfach diesen Rückzugsort, wenn ich mal hier sein darf. Mich werdet ihr also gar nicht bemerken. Ich habe eine Tochter, Diamante, die 11 Jahre alt ist. Manchmal besucht sie mich. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen“, wandte er sich an Amelie. „Ich selbst habe keine besonderen Fähigkeiten, so wie meine Nachbarn, von denen ihr profitieren könntet.“
„Nun stapele mal nicht zu tief. Er ist ein guter Zuhörer“, warf Ursula ein. „Und nicht selten hat er auch einen guten Rat für uns, den man dann aber auch unbedingt befolgen sollte.“
Es entstand eine Pause, in der alle erwartungsvoll auf die beiden Neuzugänge in Rot starrten. Judith begriff, dass sie jetzt an der Reihe waren.
„Oh. Ja. Das ist meine Tochter Amelie, die ihre Schildkröte Elsa mitgebracht hat. Ich hoffe, dass ihr beide mögen werdet. Elsa hat Amelie auch schon so manchen guten Rat gegeben.“
Sie wurde mit einem gemeinschaftlichen Lachen belohnt. Derart ermutigt, fuhr sie fort, suchte aber Halt bei ihrer Tochter, der sie den Arm um die Schulter legte.
„Ich bin Judith Deckert. Mein Geld verdiene ich als Sachbearbeiterin in einer Heizungsfirma. Das heißt, ich fange erst nächste Woche damit an, habe aber auch dort, wo ich herkomme, schon auf dem Gebiet gearbeitet. Also auch ich kann nichts Besonderes für die Gemeinschaft beitragen. Aber ich kann mich auch gern im Zuhören versuchen. Und meine beste Freundin Evelin kennt ihr ja schon, die mich hoffentlich ab und zu besuchen kommen wird.“
„Wir werden schon herausbekommen, was deine heimlichen Künste sind“, ergriff Ursula erneut das Wort, die hier anscheinend die ungekrönte Leitfigur war.
„Bringt erst mal eure Sachen rein, packt kurz aus und dann würden wir uns freuen, wenn ihr danach zu uns kommt, um noch gemütlich beisammen zu sitzen.“
Evelin war dabei behilflich, die wenigen Sachen des persönlichen Bedarfs ins Haus zu bringen. Oswald folgte ihnen und schaute neugierig durch die Tür, ohne die Schwelle zu übertreten. Die Freundin wies sie kurz ein. Der Kühlschrank war gut gefüllt und die meisten Schränke waren auch schon eingeräumt. Amelie hatte unterm Dach ihr eigenes Reich, das sie sofort inspizierte. Sie bezogen ihre Betten und beschlossen danach, sich zu ihren Nachbarn zu gesellen. Sie hörten bereits die Gitarrenklänge, die den Abend vermutlich auflockern würden. Evelin verabschiedete sich. Es lag eine lange Rückfahrt vor ihr.
Amelie hatte das Gefühl, erneut ein Stück Sicherheit zu verlieren. Allerdings gefielen ihr die meisten Bewohner der Waldsiedlung. Besonders freute sie sich auf Oswald, der sie offensichtlich ins Herz geschlossen hatte. Als sie das Haus verließen, um Evelin zu ihrem Auto zu bringen, lag der Hund vor ihrer Tür. Er erhob sich augenblicklich, um ihnen an Amelies Seite zu folgen. Zum ersten Mal streichelte sie ihn. Es war ein herrlich wuscheliges Fell, das sie am liebsten den ganzen Abend gestreichelt hätte.
Nachdem Evelin aufgebrochen war, setzten sie sich an den langen Tisch, um sich zunächst den Bauch vollzuschlagen. Es gab für jede Geschmacksrichtung etwas. Judith bezweifelte, dass bei der Zusammenstellung der Speisen Hendrik als Ernährungsberater aktiv geworden war. Frisches Brot, Butter, verschiedenste Käsesorten, die vermutlich Ursula mit ihren Kräutern garniert hatte, Obst, Gemüse in ebensolcher Vielfalt und vieles mehr. Sie würden das niemals aufessen können. Es gab Wein und Bier zur Auswahl, aber auch Apfelsaft und Wasser. Hendrik unterbrach natürlich während des Essens sein Gitarrenspiel. Die Gesangsstimme seiner Frau hatten sie schon genießen können, als sie sich dem Tisch genähert hatten. Sie war voller Gefühl und hatte eine angenehme Klangfarbe. Beim Essen wurde nicht viel gesprochen. Hendrik hatte zwar versucht, unter den missbilligenden Blicken seiner Frau, ein Gespräch mit Judith zu beginnen, aber Ursula unterband dies.
„Lasst unsere Mädchen doch genießen, was sie zu sich nehmen. Sie bekommen ja einen ganz nervösen Magen, wenn sie nicht abschalten können. Das solltest du als Ernährungsberater wissen.“
Für Ramona war dessen Zurechtweisung ein Triumph. Sie grinste ihn hämisch an und freute sich, dass er sich darüber ärgerte. Als die Gespräche zwischen den Erwachsenen Fahrt aufnahmen, bat Amelie Kai, dass er ihr die kleine Siedlung zeigen solle, um ihr ein paar Tipps zu geben, was man hier anstellen könne. Freudig ging er auf ihre Bitte ein. Doch Oswald begleitete sie unaufgefordert, was der Junge offenbar nicht so gerne sah. War er eifersüchtig? Folgte der Hund vorher ihm?
Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass jede Parzelle hinter dem Haus einen kleinen Garten hatte, der lediglich durch 50cm hohe Zäune aus schmalen Latten begrenzt wurde. Wohl eher eine symbolische Grenze. Nicht jeder baute Nutzpflanzen an. Es gab einen Wildgarten, bei Herrn Niebuhr, dem Schauspieler. Vermutlich die pflegeleichteste Variante, wenn man sich nur selten drum kümmern kann. Doch er sah sehr schön aus. Etwas hügelig angelegt, mit verschiedenfarbigen Blumenstauden und Gräsern. Ein Weg aus Bruchsteinen führte verschlungen hindurch und ab und zu lugte eine Skulptur durch die Gewächse. Hinter den Gärten setzte sich der Wald fort. Amelie war auf den Garten von Frau Burmeister neugierig. Sie war überrascht, als Kai einfach über den Zaun stieg und sie herumführte.
Er bemerkte ihren irritierten Blick.