Liebesbriefe vom Tod - Erwin Sittig - E-Book

Liebesbriefe vom Tod E-Book

Erwin Sittig

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Mann stürzt vom Dach. Der Fall wird geschlossen, da man von Selbstmord ausgeht. Der Täter legte jedoch eine Beichte ab. Der Pfarrer schweigt, da er dem Beichtgeheimnis verpflichtet ist. 14 Jahre später geschieht ein Mord, der mit dem alten Fall in Zusammenhang zu stehen scheint. Denn das Opfer ist der Vater eines Jungen, der mit Lara, der Pflegetochter des ersten Opfers, im gleichen Kinderheim aufwuchs. Ist hier ein Serientäter am Werk? Spätestens beim zweiten Mord ist man sich sicher. Am Tatort wird stets ein Brief vom Tod hinterlegt, der das Opfer der Misshandlung oder des Missbrauchs seiner Kinder beschuldigt. Alle Morde scheinen die Kinder zu rächen, die vor 14 Jahren im Heim eine Clique gebildet hatten. Schnell geraten die inzwischen selbst erwachsenen Kinder unter Verdacht. Aber auch der Pfarrer und die Psychologin, die sich um die Kinder bemüht hatten, führen die Riege weiterer Verdächtiger an. Die Presse spricht von einer Art Robin Hood, der den Kindern ihr Leben zurückgeben will. Doch die Ermittlungen treten auf der Stelle. Opfer und mögliche Täter werden auch psychologisch unter die Lupe genommen. Ein sensibles Vorgehen ist gefragt.

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Seitenzahl: 292

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Erwin Sittig

Liebesbriefe

vom

Tod

Kriminalroman

© 2020 Erwin Sittig

https://erwinsittig.de

Covergestaltung: Erwin Sittig

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN

Paperback: 978-3-347-52494-1

Hardcover: 978-3-347-52497-2

e-Book: 978-3-347-52509-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Prolog

Der Tod ist ein guter Freund.

Manchmal ist er für dich da,

wenn du ihn brauchst.

Hauptkommissar Schreiber sah schon von Weitem, wohin ihn sein Navigator führen würde. Er war sofort aufgebrochen, als die Meldung hereinkam. Eine aufgeregte Menschenmenge umringte die Leiche. Seine Kollegen hatten erst vor Kurzem begonnen, den Tatort abzusperren. Die sensationslüsterne Meute hielt jedes Detail auf dem Handy fest und musste gewaltsam zurückgedrängt werden.

„Die Spurensicherung können wir wahrscheinlich vergessen“, bemerkte Schreibers Kollegin Frau Grünwald. Alle nannten sie nur Waldi, was sie von ihrem Namen und ihren kurzen Beinen ableiteten. Sie hatte sofort gecheckt, dass es sinnlos wäre, sich darüber aufzuregen und machte den Spaß mit. Allerdings warf sie umso freudiger auch ihre Späße unter die Kollegen. Nur Schreiber blieb verschont.

„Die Hobbyreporter werden vor nichts halt gemacht haben. Im Netz werden wir mehr Hinweise finden, als hier.“ Schreiber grinste. Frau Grünwald imitierte ihn gern. Nicht nur, dass sie seine Gestik beim Sprechen perfektionierte, auch ihre rote Strickmütze war seiner nachempfunden, die jedoch grau war. Er sah zu ihr rüber und gab ihr innerlich Recht. Sie riss sofort die Wagentür auf und stürmte zum Ort des Verbrechens, um Schlimmeres zu verhindern. Sie war drahtig und mit ihren 28 Jahren noch ein Küken, während er mit seinen 49 und den hellgrauen Haaren den Gesetzten spielte. Sie ergänzten sich ausgezeichnet. Gelegentlich musste er sie jedoch bremsen, wenn ihre Emotionen mit ihr durchgingen.

Als er am Tatort ankam, hatte sie sich auf die Massen gestürzt und sie als Perverse beschimpft. Inzwischen kniete sie neben dem Opfer und versuchte, aus dem Spurensalat etwas Brauchbares herauszulesen.

Der Mann lag total verrenkt auf dem Straßenpflaster. Sein Schädel war geborsten und lag in einer breiten Blutlache.

Der Oberkörper war nackt und größtenteils tätowiert. Mehrere Einstiche am linken Arm zeigten Entzündungen und entlarvten ihn als einen Junkie. Er war schätzungsweise Mitte 30. Papiere hatte er nicht bei sich. Den umstehenden Personen war er unbekannt. Die Bewohner des Hauses hatten Logenplätze. Fast jeder Fensterplatz war besetzt, um ja nichts zu verpassen. Wie erwartet, fand die Spurensicherung keine neuen Hinweise.

„Offensichtlich hat sich der Mann aus dem Fenster gestürzt“, kommentierte die Spusi. „Wenn ihr herausgefunden habt, von wo er gesprungen ist, ruft uns.“

„Ich sehe kein offenes Fenster“, sagte Waldi. „Bleibt eigentlich nur das Dach. Ihr könnt ja schon mal dort nachsehen.“

„Und du glaubst, dass er gesprungen ist und nicht gestoßen wurde?“

„Passt gut. Junkies bilden sich ja gelegentlich ein, dass sie fliegen können. Außerdem hatte er diesen Zettel in der Hand.“

Sie reichte ihm eine Zellophantüte, in der ein Zettel steckte. Er war offensichtlich vom Packpapier abgerissen worden. Die Schrift wies ausschließlich Blockbuchstaben auf.

Schreiber musste die Tüte nicht öffnen, um den Text zu lesen. Die Mitteilung war kurz und knapp.

ICH HABE DIESEN TOD VERDIENT. ICH WAR EIN SCHEISS VATER. MEIN ENDE IST EIN NEUER ANFANG. VERGEBT MIR.

„Sieht nicht nach einem Abschiedsbrief eines Selbstmörders aus, mit Ausnahme der Bitte um Vergebung“, sinnierte Schreiber.

„Wer zugekifft ist, hat keine geistigen Höhenflüge. Das Schreiben strengt an. Also muss raus, was im zugedröhnten Kopf rumschwirrt.“

„Zugekifft schreibt man doch nicht so tiefsinnig ‚mein Ende ist ein neuer Anfang‘. Und warum machte er sich die Mühe, in Blockschrift zu schreiben? Hingeschmiert ginge es viel schneller. Sieht mir eher aus, als wolle jemand anonym bleiben.“

Die Spurensicherung kam von ihrem Ausflug vom Dach zurück und beendete die Diskussion.

„Nichts deutet darauf hin, dass oben ein Kampf stattgefunden hat. Andererseits wird es auch keine Spuren geben, falls er einfach nur hochgegangen und gesprungen ist. Wir könnten Spürhunde anfordern, die seine Anwesenheit auf dem Dach nachweisen.“

„Tut das. Am besten sofort. Wir befragen inzwischen die Hausbewohner. Wenn das Foto des verschandelten Gesichts nichts bringt, könnten unter Umständen die Tätowierungen Aufschluss geben“, sagte Schreiber und begab sich zum Haus. Waldi folgte. Sofort verschwanden alle Bewohner von den Fenstern.

Die Befragung brachte gleich im Erdgeschoss Erfolg. Der Tote war ein Herbert Knoop. Er wohnte in der obersten Etage. Was befremdlich war, der Mann hatte keine Familie, war wahrscheinlich kinderlos. Allerdings kannte ihn kaum jemand. Knoop lebte zurückgezogen. Er war erst vor einem halben Jahr hier eingezogen. Ein paar Anfragen bei den Behörden würden vermutlich schnell Klarheit bringen.

Siegfried Kernten war Pfarrer mit Leib und Seele. Er betrachtete es als Glücksfall, dass man ihm mit seinen 36 Jahren bereits eine eigene Pfarrstelle angeboten hatte. Für ihn war es, als wachse er in eine Familie hinein, die bei ihm Rat und Unterstützung suchte, aber auch Stütze für ihn war. Seine Gemeinden wiesen einen relativ hohen Anteil an Kirchgängern auf. Die Heilige Messe in diesem Städtchen zählte, in guten Zeiten, bis zu 160 Besucher. In dem einen Jahr, das er zunächst als Begleitung des alten Pfarrers absolviert hatte und seit zwei Monaten eigenverantwortlich führte, war es ihm gelungen, Nähe zu schaffen. Das galt auch für die umliegenden Gemeinden, für die er die Verantwortung trug. Es waren an die 4000 Seelen und 4 Kirchen, für die er zuständig war. Er wurde akzeptiert und sah seinen Schäfchen ihre Sorgen an der Nasenspitze an. Bei der heutigen Messe, die er las, hatte er viel Zuspruch gespürt.

Dementsprechend befand er sich in einer Hochstimmung, die er auskostete, indem er gemächlich durch die Kirche schlenderte und die Ordnung wiederherstellte. Er liebte es, wenn alles an seinem Platz und in gutem Zustand war. Als er sich am Altar zu schaffen machte, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Person in Jogginghose und Kapuzenshirt, die sich zielstrebig auf den Beichtstuhl zubewegte. Durch den straffen, schnellen Schritt und die tief ins Gesicht gezogene Kapuze, war es ihm nicht möglich, die Person zu identifizieren. Mit Sicherheit hatte sie dem Gottesdienst nicht beigewohnt. Es gab zwar feste Zeiten, in denen seine Gemeinde den Beichtstuhl in Anspruch nahm, doch es war für ihn selbstverständlich, dass er jederzeit für die Beichte zur Verfügung stand. Es gab Probleme, die nicht warten konnten. Wenn seine Hilfe nicht zur rechten Zeit käme, lagen unabsehbare Folgen im Bereich des Möglichen.

Also setzte er sich unverzüglich in Bewegung, nachdem sich der Vorhang geschlossen hatte.

Nur schemenhaft sah er das Kapuzenprofil des bzw. der Beichtwilligen. Es war ungewöhnlich, dass man in dieser Kabine, die ohnehin die Anonymität des Besuchers wahrte, so auffällig bemüht war, sich zu verstecken. Er rechnete instinktiv mit einem schwerwiegenden Problem und suchte nach beruhigenden Worten der Begrüßung. Vergeblich wartete er auf die üblichen Begrüßungsworte des Beichtwilligen. Gewöhnlich sagten seine Besucher:

‚Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.‘, oder Ähnliches und es folgte ein kurzes Gebet des Geistlichen. Doch nichts geschah. Darum setzte Pfarrer Kernten zu seinem Gebet an.

„Gott, der unser Herz erleuchtet,….“

„Ich will es kurz machen, Herr Pfarrer“, unterbrach ihn eine Stimme, die offensichtlich verstellt war. Sie versuchte, eine Tiefe vorzutäuschen, die gekünstelt wirkte. So wie er schon beim Erscheinen der Person gerätselt hatte, konnte er auch jetzt nicht sagen, ob eine Frau oder ein Mann seine Hilfe suchte.

„Mich belastet das. Wenn ich mit niemandem darüber rede, platze ich.“

„Reden Sie frei von der Seele. Gott unser Herr vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht.“

„Auch wenn ich einen Menschen getötet habe?“ Siegfried Kernten schluckte. Er hatte es geahnt. Hier würde sein Feingefühl von Nöten sein.

„Wenn Sie aufrichtig bereuen, wird er Ihnen auch das vergeben. Was ist geschehen?“

„Ich stieß einen Mann vom Dach.“

„Wie kam es dazu? Manchmal sind Gottes Wege für uns nicht durchschaubar. Geben Sie sich nicht die Schuld für dieses Missgeschick.“

„Nein. Diesen Mord habe ich geplant. Es ist das Ergebnis gründlicher Überlegungen. Dennoch belastet mich die Tat.“

„Das ist gut. Also bereuen Sie es zutiefst?“

„Nichts bereue ich. Jederzeit würde ich es wieder tun. Dieses Arschloch hat nichts anderes verdient!“

Die Erregung, mit der diese Worte gesprochen wurden, ließen keinen Zweifel an der Aussage.

„Versündigen Sie sich nicht erneut. Kehren Sie zurück auf Gottes Weg. Gott vergibt Ihnen nur, wenn Sie ehrliche Reue zeigen. Ich kann Sie nicht von Ihren Sünden lossprechen.“

„Dass Gott mir nicht vergeben wird, weiß ich selbst. Wenn ich aber Reue geheuchelt hätte, mit einer guten schauspielerischen Leistung, würden Sie mir die Absolution erteilen? Wäre ich dann wieder frei von Sünden?“

„Ich prüfe, soweit es in meiner Macht steht, immer die Echtheit des Reuebekenntnisses. Doch ich bin nur ein Mensch. Der Vertreter Gottes auf Erden. Auch ich kann mich irren. Aber Gott irrt sich nie. Die von mir erteilte Absolution wäre unwirksam. Gott höbe sie wieder auf.“

„Dennoch würden Sie dem Büßer das Gefühl geben, dass er nun frei von Sünde sei. Doch wie ist es mit Ihnen, Herr Pfarrer? Sprechen Sie, als Mensch, mich von meinen Sünden frei? Immerhin war der Mann ein Kinderschänder.“

„Es ist nicht an uns, zu strafen. Das obliegt allein Gott. Sie dürfen anklagen, aber nicht richten. Allein das staatliche Gericht ist für das irdische Leben zuständig und Gott für die Ewigkeit.“

„Niemand kümmert sich um das Schicksal dieser armen Würmer. Wenn wir nichts tun, bleiben diese verabscheuungswürdigen Taten ungesühnt. Sie werden doch nicht wollen, dass so ein Mensch unbehelligt weiteres Unheil über die Kinder bringt? Wer zuschaut, macht sich auch schuldig.“

„In der Bibel steht: Und vergib uns unsre Sünden, denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“

„Er tut es aber nicht! Niemand erlöst uns von diesem Übel. Die Strukturen zum Schutz der Kinder taugen nichts und die Zuständigen sind überfordert. Wir müssen es selbst tun.“

Bei diesem Gefühlsausbruch war die Stimme etwas höher gerutscht und dennoch war nicht erkennbar, ob Mann oder Frau vor ihm saß.

„Wollen Sie damit sagen, Sie wollen es wieder tun? Besinnen Sie sich. Sie können jedes Verbrechen zur Anzeige bringen. Aber für das, was Sie getan haben, kann ich Ihnen keine Absolution erteilen, wenn Sie nicht bereuen. Kehren Sie in sich. Sie sind auf dem falschen Weg. Lassen Sie sich helfen. Wir können über alles reden. Sagen Sie mir, wo wir uns treffen können.“

„Damit Sie mich ausliefern können? Hier sind Sie an das Beichtgeheimnis gebunden. Wenn wir uns woanders treffen, nicht mehr. Raffinierter Schachzug.“

Damit stürmte die Person aus dem Beichtstuhl und rannte, so schnell sie konnte, durch das Kirchenportal ins Freie. Geschockt starrte der Pfarrer hinterher. Hatte er sich richtig verhalten?

Es kam in allen Tageszeitungen groß raus. So mancher aus der schaulustigen Menge wird sein Bild an die Presse verkauft haben. Jede Zeitung hatte ihr individuelles Foto.

Natürlich erschien es auf Seite 1, so dass die Passanten mit der Nase darauf gestoßen wurden, wenn sie an den Kiosken und Tabakläden vorbeigingen. Auch Lara stolperte darüber. Sie war 8 Jahre alt. Wie erstarrt blieb sie stehen, als sie die toten Augen auf dem Foto anstarrten. Wenn das entstellte Gesicht sie hätte zweifeln lassen, diese Tätowierungen kannte sie nur zu gut. Ein Zittern erfasste ihren Körper. Alles kam wieder hoch. Diese fiese Fistelstimme, die sie aufforderte, ihm etwas Zuneigung entgegenzubringen, während er sich auszog und ihr den Weg abschnitt. Anfangs hatte sie gedacht, angekommen zu sein, endlich ein Zuhause gefunden zu haben. Ihre andauernde Aufsässigkeit, die auch dem Verlust der leiblichen Mutter geschuldet war, führte oft zu Spannungen mit der Pflegemutter. Herbert Knoop kümmerte sich dann immer liebevoll um sie und nahm sie in Schutz. Sie hatte schon fast etwas Vertrauen aufgebaut, bis es zum ersten Übergriff kam. Was war dieses Vertrauen wert? Es war ein Betrüger. Ekel schüttelte sie erneut, als die Bilder nicht verschwinden wollten. Mit fürchterlichen Drohungen hatte er sie zum Schweigen gezwungen, sowohl gegenüber ihrer Pflegemutter als auch gegenüber anderen. Wer so etwas tut, würde seine Drohungen wahrmachen, so schrecklich und unfassbar sie sich auch anhörten. Sie war damals 6 Jahre alt.

Durch Ausraster und Beschimpfungen versuchte sie, in den folgenden Wochen, Signale zu senden. Doch ihre Pflegemutter schnallte nichts. Der Pflegevater ergriff immer Partei für sie und zwinkerte ihr zu, was die Mutter noch mehr auf die Palme brachte. Zum Glück ging ihr das Rebellentum ihrer Tochter mit der Zeit so auf die Nerven, dass sie den Vertrag mit dem Jugendamt wieder löste. Herbert Knoop hatte mit allen Mitteln versucht, sie davon abzubringen, doch sie konnte nicht mehr.

Erst beim Abschied flüsterte Lara ihr andeutungsweise zu, was ihr Mann getan hatte.

Im Heim kam sie etwas zur Ruhe. Diese schrecklichen Momente, die sich jede Woche wiederholten, waren wieder da. Sie stand wieder in diesem Zimmer und atmete, wie gelähmt, die Ausdünstungen dieses Monsters ein. Sie empfand jede abscheuliche Berührung erneut. Ihr Mund wurde trocken und brannte, wenn sie daran dachte, was sie damit anstellen musste. Nie würde sie diesen teuflischen Geschmack loswerden. Warum war er jetzt wieder da? Würde sie ihn denn nie verlieren? Vielleicht hatte sie ab heute eine kleine Chance. Dieser aufgeplatzte Schädel gab ihr Hoffnung. Er könnte nicht mehr zurückkommen. Doch eigentlich wusste sie: Er war längst in ihr – eingewachsen, wie ein Geschwür.

Apathisch ergriff sie ihr Handy und wählte eine Nummer.

„Hallo, Mama? Hast du schon die Zeitung gelesen? … Er kann mir jetzt nichts mehr tun, stimmt‘s?“

Sie lauschte auf die Antwort am anderen Ende der Leitung und ihre Atmung normalisierte sich wieder. Doch für wie lange?

„Was haben wir im Fall Knoop?“, begann Hauptkommissar Schreiber die Besprechung.

Waldi fasste es in Kurzfassung zusammen.

„Die Hundestaffel hat gemeldet, dass tatsächlich die Spur Knoops bis aufs Dach geführt hat. Die Rechtsmedizin bestätigt, dass er unter Drogeneinfluss stand. Ziemlich hohe Dosierung. Er hat sich das Zeug gespritzt. Vor ca. einem Jahr wurde er geschieden. Sie hatten tatsächlich eine Pflegetochter. Mir unverständlich, wie man einem solchen Typen ein Kind anvertrauen kann. Oder fing er erst danach damit an? Wir sollten mit seiner Frau reden. Vielleicht kann sie den Schleier lüften, was seine Vaterrolle laut Abschiedsbrief bedeutet. In seiner Wohnung wurden keine weiteren Spuren gefunden, die auf einen Besuch schließen ließen. Das Packpapier, von dem der Zettel abgerissen wurde, haben wir sichergestellt. Auch der Edding, mit dem die Abschiedszeilen geschrieben wurden, weist Abdrücke seiner Hand auf. Er muss das Ding in der Faust gehalten haben, als er schrieb. Ein Hinweis darauf, dass er nicht ganz bei sich war und seine motorischen Fähigkeiten schon stark eingeschränkt waren.“ Sie legte eine kleine Pause ein.

„Momentan stehen alle Zeichen auf Selbstmord“, beendete sie ihre Einschätzung.

„Wir werden jetzt Frau Knoop besuchen und anschließend haben wir einen Termin mit dem Jugendamt vereinbart, das für die Betreuung von Lara, der Tochter, zuständig ist. Das Mädchen wollen wir vorerst raushalten, bis wir Klarheit haben. Los denn Waldi, der Tag wartet nicht.“

Unterwegs schwiegen sie. Jeder versuchte, sich seinen Reim auf den Abschiedsbrief zu machen. Sie hofften auf Antworten. Würde die ehemalige Partnerin eines Junkies zugänglich sein?

Es war später Vormittag. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die Nachricht vom Tod ihres Exmannes, Frau Knoop schon erreicht hatte. Waldi sollte die Befragung übernehmen, da sie die Signale einer Frau vermutlich besser dechiffrieren könnte. Sie wohnte in einem viergeschossigen Plattenbau. Die Haustür wurde beim ersten Klingeln geöffnet, ohne dass nachgefragt wurde, wer Einlass wünschte. Als sie im dritten Stock ankamen, stand die Wohnungstür schon einen Spalt breit offen. Sie sahen sich an und Waldi zog fragend den Mund nach unten.

„Frau Knoop?“

Sie stießen die Tür auf und traten ein.

„Ich bin im Wohnzimmer.“

Schreiber schloss die Tür. Er folgte Waldi, während er sich ausführlich umsah. Die Einrichtung der Wohnung war schnörkellos und spärlich. Ihm lag das Wort ‚lieblos‘ auf den Lippen. Frau Knoop saß am Tisch. Mit verheulten Augen sah sie zu ihnen auf. Die Zeitung lag ausgebreitet vor ihr.

„Entschuldigen Sie, Frau Knoop. Auch wenn Sie gerade erst vom Tod ihres Exmannes erfahren haben, dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Mir war sofort klar, dass sie kommen würden, nachdem ich diesen Schund in der Zeitung gelesen hatte“, sagte sie schluchzend.

„Irre ich mich, oder lieben Sie Ihren Mann noch? Verzeihen Sie mir die Direktheit, aber Sie haben sich scheiden lassen. Das hatte ich nicht erwartet.“

„Er war ein guter Mann. Nichts von dem Dreck stimmt, der da drin steht.“

Sie warf die Zeitung ein Stück von sich.

„Wir haben uns geliebt. Er war sehr einfühlsam und zuverlässig. Er war kein Junkie.“

„Nun, er hatte mehrere Einstichstellen und in seinem Blut wurde Heroin nachgewiesen. Das ist nicht unbedingt eine Einstiegsdroge.“

„Er hat höchstens mal gekifft, wie das alle machen.“

„Ich mache es nicht.“

Waldi wurde mit einem abwertenden Blick gestraft. Schreiber spürte, dass sie ihre Bonuspunkte als weibliches Wesen verspielt hatte. Er wandte sich etwas schärfer an Frau Knoop.

„So ganz kann das schöne Bild nicht stimmen, das Sie malen. Sie haben sich scheiden lassen, weil Sie sich lieben?“

Sie schaute unsicher mal auf ihn und dann wieder zu Waldi. Es schien, als sehne sie sich danach zurück, mit einer Frau zu sprechen.

„Sie hatten eine Pflegetochter, Lara. Es liegt nahe, dass ihre Trennung mit ihr zusammenhängt. Was war passiert? Ihr Exmann hinterließ einen Abschiedsbrief, von dessem Inhalt die Presse wenig weiß. Darin bezeichnet er sich als scheiss Vater. Und er schrieb: Mein Ende ist ein neuer Anfang. Da dieser Satz unmittelbar auf die Aussage zu seiner Vaterrolle folgt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sein Ende Lara einen neuen Anfang ermöglicht. Seine abschließende Bitte um Vergebung, lässt Schlimmstes befürchten. Also nochmal. Was ist passiert?“

Ihr Tränenfluss war versiegt. Fassungslos starrte sie Waldi an und drehte an ihrem Ehering, von dem sie sich, trotz Scheidung, nicht zu trennen bereit war. Die Wimperntusche war komplett verschmiert und dieses Werk setzte sie fort, indem sie sich erneut mit der Hand durchs Gesicht fuhr.

„Lara“, sagte sie versonnen. Ihre Gedanken schienen zu ihr zu schweben, als sie weitersprach.

„Eigentlich war das Mädchen schuld.“

„Woran?“

„An allem. Wir haben uns so sehr Kinder gewünscht. Obwohl wir es immer wieder versucht haben, in den drei Jahren, die wir zusammen waren, wollte es einfach nicht klappen. Wir einigten uns schnell darauf, beim Jugendamt einen Antrag auf Adoption zu stellen. Wir wollten ein Mädchen.“

Verträumt lächelte sie, als sie daran zurückdachte.

„Herbert sagte immer, ein Mädchen würde ihn immer an seine großen Gefühle für mich erinnern. Es würde unsere Liebe noch mehr wachsen lassen. Normalerweise war die Wartezeit ziemlich hoch, doch Lara war ein schwer vermittelbares Kind. Sie war störrisch und redete dauernd von ihrer leiblichen Mutter, die sich den Verstand weggesoffen hatte. Mutti hat dies und Mutti hat das und wir sollten nach ihren Vorstellungen springen. Ich ahnte, dass es Schwierigkeiten geben würde. Herbert hatte jedoch so einen Narren an dem Mädchen gefressen, dass er darauf bestand, sie zu nehmen. Zumindest mit Probezeit. Das Jugendamt hat uns überprüft und auch in der Nachbarschaft rumgehorcht. Sie hätten uns das Kind niemals gegeben, wenn Herbert nichts taugen würde. Er war kein Junkie, immer freundlich.“

„Und doch scheiterte ihre Ehe an dem Kind, wie Sie behaupten?“

„Das behaupte ich nicht nur. Lara war ständig aufsässig. Anfangs ging es noch und ich dachte, dass wir nun glücklich werden. Ihr ständiges Widersprechen gab sich. Herbert hatte sie besonders ins Herz geschlossen. Wenn wir stritten, nahm er sie in den Arm, streichelte und beruhigte sie. Ich nahm es in Kauf, dass ich die Böse und er immer der Gute war. Es brachte uns Frieden. Doch irgendwann lief es aus dem Ruder. Lara bekam richtige Tobsuchtsanfälle, wenn wir stritten. Immer häufiger gerieten wir aneinander. Nur Herbert konnte sie zur Räson bringen. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und bat das Jugendamt, Lara zurückzunehmen. Widerwillig stimmten sie zu und sie kam zurück ins Kinderheim. Doch seitdem war Herbert wie ausgewechselt. Er beschimpfte mich, drohte mir Schläge an und warf mir vor, ihm Lara weggenommen zu haben. Wir hatten keinen einzigen glücklichen Tag mehr und nach einem halben Jahr reichte ich die Scheidung ein. Lara hat uns auseinandergebracht.“

„Was verschweigen Sie?“, hakte Schreiber ein.

„Ich… ich verschweige nichts.“

„Halten Sie uns für blöd? Herbert der Gute hier, Herbert der Liebe dort. Nur Herbert hatte einen Draht zu dem Mädchen? Wie passt das zu einem scheiß Vater? Was hat er getan?“

„Vielleicht, weil er das Kind verlassen hat?“

„Quatsch! Er hat sie nicht verlassen. Sie haben das Mädchen entfernt. Ein Mädchen, das Hilfe brauchte. Wenn er vorher nicht auf Droge war, muss es etwas so Schwerwiegendes sein, dass er nach der Trennung die Kontrolle verlor. Er wollte vergessen und wurde in kurzer Zeit zum Junkie. Oder sind Sie schuld daran?“

„Ich? Sie geben mir die Schuld an seinem Tod?“

„Was soll es sonst sein, wenn er ein so guter Vater war? Sein Tod beruht eindeutig auf seiner Vaterrolle. War er ein schlechter Vater, weil er das Kind nicht vor Ihnen beschützt hat?“

Waldi sah Schreiber vorwurfsvoll an. Waren die Geschütze nicht etwas zu schwer, die er auffuhr?

Es tobte in Frau Knoop. Plötzlich lag die ganze Last auf ihr. Erst die Trauer, dann die Vorwürfe, eine schlechte Mutter gewesen zu sein und nun die Schuld am Tod ihres Mannes? Das hatte sie nicht verdient.

„Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Was Herbert getan hat, weiß ich nicht. Lara das Miststück hat uns auseinandergebracht. Als das Jugendamt sie abholte, hat sie mir diese Lüge an den Kopf geschmissen. Sie hat es in mein Ohr geflüstert, so dass nur ich es hören konnte. So feige war sie.“

„Was war es für eine Lüge?“

„Sie sagte, dass Herbert mit ihr schlimme Sachen gemacht hätte, als er nackt war.“

Nun war es raus. Frau Knoop sackte in sich zusammen. Leise erzählte sie weiter.

„Ich habe ihn darauf angesprochen. Doch er hat mir gleich gesagt, dass das Miststück lügt. Und ich habe ihm nicht geglaubt. Unser ganzes Glück habe ich zerstört.“

„Ihr Mann formulierte in seinem Abschiedsbrief keinerlei Schuldzuweisung an Sie“, vermittelte Waldi.

„Für mich sieht es eher so aus, als wenn nicht Lara das Miststück war, sondern Ihr Exmann.“

Waldi erhob sich.

„Sind wir fertig?“, fragte sie an Schreiber gewandt.

„Fertiger geht’s nicht“, antwortete er und bewegte sich zur Tür.

„Und was soll ich jetzt machen?“

Frau Knoop sah sie hilflos an.

„Hören Sie auf, das wahre Miststück anzubeten. Und vor allem, bemühen Sie sich nie wieder um ein Pflegekind. Die Kinder haben es schwer genug. Da brauchen sie nicht auch noch jemanden wie Sie!“

Wütend rauschte Waldi davon und schmiss die Tür ins Schloss, ohne auf eine Reaktion von Frau Knoop zu warten.

Als sie Schreiber eingeholt hatte, machte sie ihrem Ärger Luft.

„Wie hat es die blöde Kuh in die Riege der vertrauenswürdigen Pflegeeltern geschafft? Sind die alle blind beim Jugendamt?“

„Die Frage kannst du gleich selbst an die Frau bringen. Wir müssen uns ranhalten, wenn wir pünktlich bei Frau Ziske sein wollen.“

Frau Ziske begrüßte sie freundlich und bot ihnen einen Platz an.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee machen?“

„Nein, danke“, wehrte Schreiber ab. „Wir werden uns kurz fassen.“

„Sie wollen sich vermutlich in den Kreis der Kritiker einreihen. Warum haben wir ein Kind in die Obhut eines Junkies gegeben?“

„Das trifft es“, polterte Waldi los. Die Erregung stand deutlich in ihrem Gesicht.

Frau Ziske lächelte sie nachsichtig an.

„Es ist einfach, Frau Grünwald, sich auf ein Podest zu stellen und zu behaupten, man wäre unfehlbar“, wandte sie sich direkt an Waldi.

„Sie können mir glauben, dass wir intensiv recherchiert haben. Es gab nicht die geringsten Zeichen für Drogenkonsum und auch die Familie galt als umsichtig, freundlich und vertrauenswürdig. Selbst im Gespräch hatten wir alle den Eindruck, dass sie ihr Kind lieben werden.“

„Auf eine verstörende Art wurde das Kind ja auch geliebt“, unterbrach Waldi.

„Klären Sie mich auf. Was wird Herrn Knoop, außer seiner Sucht, vorgeworfen?“

„Lara wurde von ihm sexuell missbraucht.“

Frau Ziske verschlug es den Atem. Dann atmete sie tief durch und lief sichtlich bewegt zum Fenster.

„Herbert Knoop ist ein Typ, bei dem bei mir automatisch die Alarmglocken läuten würden“, behauptete Waldi.

Frau Ziske fuhr herum und fauchte sie an.

„Ach ja? Warum denn? Weil er tätowiert war? Haben Sie den Anschlusszug verpasst? Längst ist es eine Modeerscheinung geworden, die von Stars vorgelebt wird. Wollen Sie die alle unter Generalverdacht stellen? Ich habe die Nase voll von all den Klugscheißern, die alles besser wissen.“

„Hat niemand die Nadeleinstiche zur Kenntnis genommen? Frau Knoop gestand auch, dass beide gelegentlich gekifft haben.“

„Haben Sie nicht zugehört? Unsere Recherche war nicht oberflächlich. Zum damaligen Zeitpunkt gab es keine Einstiche. Und ich würde Ihnen, Frau Grünwald, heute vermutlich nicht ansehen, ob sie gestern gekifft haben. Auch das wird heutzutage von anerkannten Bürgern praktiziert, ohne dass es zur Sucht wird, ohne dass es verfolgt wird. Und was Lara betrifft, sie war immer rebellisch. Nichts deutete auf einen Missbrauch hin, als wir sie abholten, um sie wieder ins Kinderheim einzugliedern.“

„Werden keine Kinderpsychologen hinzugezogen, wenn Einsätze in Pflegefamilien gescheitert sind?“

„Sie kämpfen hartnäckig um Ihr vorgefertigtes Bild, eines gescheiterten Jugendamtes, nicht wahr? Sind Sie so fit, dass sie sofort erkennen, wenn ein Zeuge lügt und Ihnen etwas vorspielt? Schätzen Sie mal. Wie viele Unschuldige haben Sie schon ins Gefängnis gebracht, weil sie sich so sicher fühlten, das Richtige zu tun? Lassen Sie mich Raten. Keinen. So was kann Ihnen doch nicht passieren. Sie wurden ja schon bei der Geburt mit Weisheit gepudert. Arbeiten Sie nur eine Woche für das Jugendamt, um Ihre Unfehlbarkeit unter Beweis zu stellen. Beschämen Sie uns, wenn Sie können.“

„Dennoch gibt es Zeichen …“

„Es ist gut, Waldi.“

Schreiber sah sie streng an. Waldi senkte den Kopf.

„Entschuldigen Sie, Frau Ziske. Wir haben keineswegs die Absicht, Ihre Arbeit in Misskredit zu bringen. Es gehört zu unserer Arbeit, dass wir alle Aspekte abklopfen. Manchmal bringen erst hartnäckige Befragungen winzige Details hervor, die uns weiterbringen. Meine Kollegin war etwas forsch. Sie steckt wahrscheinlich emotional noch zu tief in dem Gespräch, das wir gerade mit Frau Knoop geführt hatten. Wir haben Hochachtung vor Ihrer Arbeit. Es ist nur schade, dass es uns in unserem Fall nicht erhellt.“

Er erhob sich. Waldi stand ebenfalls auf. Sie nickte Frau Ziske zustimmend zu.

„Danke. Wir werden natürlich sofort eine unserer Psychologinnen für Lara abstellen. Sie hören von mir, sobald sie Klarheit hat.“

„Da hast du dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert“, empfing er sie im Treppenhaus.

Für Schreiber war der Fall damit erledigt. Waldi lief wie ein begossener Pudel hinter ihm her. Die kühle Luft des Gebäudes nahm ihnen etwas die Anspannung.

„Jedenfalls erhärtet sich für mich die Selbstmordtheorie. Wenn uns auch das Jugendamt den Missbrauch bestätigt, sollten wir den Fall zu den Akten legen“, fuhr er fort.

„Mir würde auch schwerfallen, meine Zeit damit zu verplempern, den Mörder eines Sexualstraftäters zu jagen.“

„Nun ist langsam gut, Waldi. Du bist dem Gesetz verpflichtet. Mord ist Mord. Egal an wem. Wenn du das nicht so siehst, kannst du jederzeit den Dienst quittieren.“

Mit gemischten Gefühlen betrat Lara das Kinderheim. Hatte jemand ihren kleinen Ausflug in die Stadt registriert? Hinter diesen Mauern war sie sicher. Dachte sie zumindest. Aber dieses Ungeheuer wollte nicht draußen bleiben. Es kreiste immer noch in ihrem Kopf.

Durch die familienähnliche Struktur des Heimes gab es einige Rückzugsmöglichkeiten. Lara wählte selbst ihre Vorlieben und mit wem sie sich zusammentat. Natürlich war dies kein richtiges Zuhause. Viele Kinder, die alle mit den unterschiedlichsten Problemen belastet waren, brachten auch Unruhe mit sich. Kein Vergleich, mit der Geborgenheit, die sie bei ihrer Mutter empfunden hatte. Da gab es nur sie. Sie war der Mittelpunkt. Obwohl die Mutter am Ende nur noch Arbeit gebracht hatte, da der Alkohol sie mehr und mehr zerstörte, sie sogar Drogen nahm, wünschte sie sich dahin zurück.

Kira kam ihr aufgeregt entgegengelaufen.

„Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht. Alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob jemand hinter dir her ist.“

Normalerweise mochte sie Kira. Sie gehörte zu ihrer Clique. Doch heute ging ihr die Quasselstrippe auf die Nerven. Sie hatte bisher mit niemandem, auch nicht mit den Kindern ihrer verschworenen, kleinen Gruppe, über ihr großes Problem geredet. Es war, als riefe sie den Teufel herbei, würde sie das Thema ansprechen. Doch heute überlegte sie, ob sie ihre Last irgendwo abladen könnte. Kira war etwas kleiner als sie. Lara bewunderte Ihre Pfiffigkeit. Sie würde ihr zuhören und sie nicht verurteilen.

„Mein vorletzter Pflegevater ist tot. Er ist vom Dach gestürzt.“

„Der, wo du so fertig warst, als du wiederkamst?“

„Genau der.“

„Und bedrückt dich das?“

„Es hat die Geister in meinem Kopf geweckt. Sie quälen mich wieder.“

„Warum? Wenn er tot ist, kannst du sie doch wegschicken. Das Arschloch ist jetzt da, wo er hingehört.“

„Sie gehen aber nicht. Er hat mir etwas Schreckliches angetan.“

Sie flüsterte ihr ins Ohr, was sie in vielen Nächten um den Schlaf gebracht hatte. Kira hielt die Hand vor den Mund. Entsetzen weitete ihre Augen. Dann nahm sie Lara in die Arme und streichelte ihren Rücken.

Es war, als wäre Mama zurück und versprach ihr, dass nun alles vorbei sei.

„Wir müssen das in unserer Clique besprechen. Das wird uns noch mehr zusammenschweißen. Einverstanden?“

Lara zögerte.

„Aber nur mit einem Schwur, auf ewiges Schweigen zu anderen.“

Kira nahm die Hände vor den Mund, formte einen Trichter und gab einen durchdringenden grellen Schrei von sich.

Diesen Ruf hatten alle, bis zur Erschöpfung geübt. Es war das Signal, dass jemand von ihnen in Not ist. Es dauerte keine fünf Minuten und ihre Clique hatte sich erwartungsvoll um sie formiert.

„Kommt mit“, forderte Kira. „Wir gehen in unseren Beschäftigungsraum. Da sind wir ungestört.“

Sie setzten sich an einen der größeren Tische und warfen die zwei Kinder raus, die dort spielten.

„Ihr könnt in einer halben Stunde wiederkommen.“

Da saß sie nun, ihre Clique, die sich ewige Treue geschworen hatte. Alle schauten auf Kira.

Neben der brünetten Kira, die mit zwei lustigen Zöpfen schaukelte, saß Lara, die sich einen Teil der blonden, lockigen Haare zum Pferdeschwanz gebunden hatte. Dann folgte Tinchen, bzw. Martina, die kleinste von ihnen, die etwas an eine Asiatin erinnerte. Der Nächste war Tom. Eigentlich hieß er Thomas, doch er fand Tom cooler. Er trug die blonden Haare kurz, fast wie ein Igel. Er war der Jüngste von ihnen mit seinen 8 Jahren. Er trug einige Narben am Körper. Selbst sein Gesicht war von kleinen Narben übersät. Es rührte von einem Autounfall, wie er sagte.

Ihm schloss sich Ferdi an. Alle nannten Ferdinand so. Seine langen schwarzen Haare hingen glatt herunter. Er war als Einziger etwas korpulent, was jedoch niemanden störte. Jeden Abend stimmten sie sich ab, was sie anziehen wollten. Es waren gewöhnlich Jeans und ein T-Shirt. Sie bemühten sich, immer die gleiche Shirtfarbe zu tragen, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu zeigen. Es war auch eine gute Methode, sich zu schützen. Kaum einer wagte sich an sie heran, da jeder wusste, dass er sich mit der ganzen Clique anlegen würde.

„Hört zu“, begann Kira wichtigtuerisch.

„Unsere Freundin Lara hat ein Problem, das so schlimm ist, dass wir jetzt schwören werden, niemandem, also ohne Ausnahme niemandem, davon zu erzählen. Wenn wir echte Freunde sind, müssen wir alles übereinander wissen. Nur dann können wir uns helfen, falls wir in Not kommen. Wer den Schwur bricht, der soll in der Hölle schmoren und wir werden ihn meiden.“

„Ich weiß, dass wir alle Dinge erlebt haben“, übernahm Lara, „die kein Kind erleben sollte. Ich vermute, darum hat es uns zusammengeführt. Wir haben es gespürt. Bevor ich von meinen Erlebnissen erzähle, wird jeder von euch sein Geheimnis erzählen. Wer will anfangen?“

Alle drucksten herum. Man sah ihnen die Qualen an, als sie sich durch ihre Erinnerungen wühlten.

„Ich habe immer von einem schönen Leben geträumt“, versuchte es Lara erneut. „So wie es ganz früher mal mit meiner Mutter war.“ Tränen stiegen auf.

„Aber ich habe alle Kämpfe mit mir allein ausmachen müssen. Sogar euch wollte ich niemals etwas erzählen. Doch das ist falsch. Schon als ich Kira alles erzählt habe, fühlte ich mich leichter. Kira kann ich vertrauen. Wir alle können uns vertrauen, oder? Also, wer beginnt?“

Wieder eine lange Pause. Endlich raffte sich Tom auf.

Er sah dabei seine Hände an, die sich verkrampften. Nicht ein einziges Mal hob er den Blick.

„Es war kein Autounfall, von dem ich die ganzen Narben habe. Mein Vater hat das getan. Mein leiblicher Vater. Meine Mutter traute sich nie, etwas zu sagen, da er auch sie schlug. Er schlug immer wieder auf mich ein. Mal mit den Fäusten und manchmal mit einem Gegenstand, den er sich griff. Ich versuchte, mich mit meinen Armen zu schützen, doch er riss sie mir weg und machte weiter. Immer wieder und nochmal und nochmal und nochmal.“

Bei jedem ‚nochmal‘ zuckten die Kinder zusammen. Tom weinte inzwischen. Er zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel Rotz und Tränen aus dem Gesicht.

„Meine Eltern haben es immer als Unfall oder meine Ungeschicklichkeit hingestellt. Doch die Mitarbeiterin des Jugendamtes zweifelte daran und tauchte immer wieder auf. Sie hat mich gerettet.“

Die Kinder schwiegen. Sie mussten niemanden trösten. Sie selbst waren der Trost.

Jetzt war der Bann gebrochen. Der Reihe nach berichteten sie von ihren Schicksalen und ihren Peinigern. Fred war der Letzte. Er suchte lange die passenden Worte und musste mehrmals neu beginnen. Dann erst erzählte Lara ihre Geschichte.

Als sie fertig war, starrten immer noch alle auf den Tisch. Jeder hatte sich in jeden hineinversetzen können und sie wussten, dass sie etwas sehr Wichtiges und Richtiges getan hatten. Sie erhoben sich vom Tisch, stellten sich in einem Kreis auf, legten die Arme umeinander und die Köpfe berührten sich in der Mitte.

„Lasst uns unseren Schwur bekräftigen“, forderte Kira.

„Jeder hilft jedem, wenn er ruft. Bis zum Tod.“

„Bis zum Tod“, riefen alle gemeinsam.

Kurz darauf kam eine Erzieherin in den Raum. Die zwei Kinder hatten ihr gesagt, wo die Gruppe zu finden sei.

„Lara. Kommst du bitte mit, Frau Feluske möchte dich kurz sprechen.“

„Unsere Psychologin?“

„Genau die und ihr gebt den Raum bitte wieder frei. Er gehört euch nicht allein.“

Wissend schauten die Kinder auf Lara. Sie nickten ihr aufmunternd zu und Lara lächelte.

Drei Tage später saß Pfarrer Kernten vor seiner Zeitung und informierte sich über das Tagesgeschehen. Wie immer, gab es nicht viel Gutes zu berichten. Doch gerade das beabsichtigte er, sich herauspicken, um in seiner Predigt den Menschen Hoffnung zu geben. Was wäre wirksamer als ein gutes Beispiel. Die Bibel würde ihm die passenden Worte schenken, die seine Botschaft einkleideten. Sein Herz würde den richtigen Ton finden, um die Gemeindemitglieder zu erreichen.

Über einem kleinen Artikel verharrte er. Es war die abschließende Betrachtung eines Falls, der zuvor reißerisch aufgemacht worden war. Lapidar teilte man mit, dass es sich bei dem Sprung vom Dach, eines gewissen Herbert Knoop, um einen Suizid handelte. Ein Verbrechen war zweifelsfrei auszuschließen.