Irrgarten der Seelen - Erwin Sittig - E-Book

Irrgarten der Seelen E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Gerd Paschek entdeckt, durch Studium des Taoismus, die Möglichkeit, andere Seelen zu bereisen. Fortan macht er es sich zur Aufgabe, in Not befindlichen Menschen zu helfen, indem er bei Tätern und Opfern, Manipulationen an ihrer Seelenwelt vornimmt. Während dieser Reisen verliert er die Kontrolle über seinen Körper, so dass er wiederholt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Er weiht die junge Ärztin Wiebke ein, die ihm fortan zur Seite steht. Gemeinsam gehen Sie Paschas Weg weiter. Überrascht stellen sie fest, dass ein Widersacher, mit gleichen Fähigkeiten und krimineller Energie, sein Unwesen treibt. Sie nehmen sich auch der Menschen an, die von ihm psychisch unter Druck gesetzt werden, um Geld zu erpressen. Durch diese neuen Erfahrungen wird ihnen bewußt, wie gefährlich ihre Arbeit ist und welche Macht sie durch die Manipulation einer Seele erringen können. Sehr bald erkennen sie, dass auch ihre Fehlentscheidungen Schaden anrichten. Irgendwann müssen sie die Frage beantworten: Ist ein durch sie ausgelöster Tod einem Mord gleichzusetzen? Durch eine weitere Fehlentscheidung wird eine kranke Seele freigesetzt, so dass es plötzlich nicht nur für sie ums nackte Überleben geht. Es stellt sich ihnen die Frage, ob man eine mordende Seele durch einen Mord, der nicht nachweisbar ist, einfach auslöschen darf. Jedes Zögern kann Menschenleben kosten. Doch der Gegner hat mehr Fähigkeiten als ihnen lieb ist. Die Geschichte lebt auch von den psychologischen Betrachtungen der Handlungen und Menschen.

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Erwin Sittig

Irrgarten derSeelen

© 2020 Erwin Sittig

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-12381-6

Hardcover:

978-3-347-12382-3

e-Book:

978-3-347-12383-0

Illustration:

Erwin Sittig

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Irrgarten der Seelen

Kapitel 1

Die Jalousette war leicht angewinkelt. Mit Macht zwängte sich die Sonne hindurch und verlieh dem Raum ein freundliches Schattenmuster. Eine Palme reckte dankbar ihre Wedel zum Licht. Sie drängte dem Bett entgegen, in dem teilnahmslos ein junger Mann lag. Diverse Schläuche und Elektroden versorgten und kontrollierten seinen Körper mithilfe komplizierter Apparaturen, die über einen Computer Kontakt zum Ärztezimmer hielten.

Seit vielen Monaten experimentierten die erfahrensten Ärzte an diesem Patienten herum.

Sein Krankheitsbild war einmalig. Die Literatur bot keinen vergleichbaren Fall, an dem man sich orientieren könnte.

Eigentlich brauchte der Mann unter der Palme diese Apparaturen nicht. Sie dienten der Forschung und sicherten einen eventuellen Notfall ab. Es war nicht das erste Mal, dass man Gerd Paschek in dieser Klinik versorgte. Immer waren es die gleichen Symptome.

Das Herz verringerte seine Schlagfrequenz auf ein Minimum, die Atmung war kaum wahrnehmbar und es wurden keinerlei Hirnströme gemessen.

Trotz des scheinbaren Hirntodes beobachtete man gelegentlich physische Körperreaktionen. Die heftigen Bewegungen der äußeren Extremitäten passten genauso wenig in dieses Krankheitsbild, wie die deutlich bewegte Physiognomie seines Gesichtes. Eine geheimnisvolle Kraft schien diesen Körper mit Energie zu versorgen.

Die Ratlosigkeit stachelte die Ärzte an. Sie hatten die Chance etwas Neues, ganz Großes zu entdecken. Sie würden es herausfinden und koste es das Leben des Patienten, der für sie schon lange tot war.

Gerd Paschek, den alle Pascha nannten, befand sich schon häufig in diesem Zustand, so dass in den Krankenhäusern der Umgebung haarsträubende Geschichten darüber erzählt wurden. Die Krankheit befiel ihn niemals daheim, nur wenn er unterwegs war.

Immer löste sich das Problem nach einer gewissen Zeit in Wohlgefallen auf, ohne dass die Wissenschaftler je eine Erklärung dafür fanden. Pascha kehrte jedes Mal überraschend ins Leben zurück und war nie bereit, darüber zu sprechen. Doch diesmal lag der Fall anders. Noch nie hatte Pascha bei einem Ausflug in den Tod, wie es die Ärzte nannten, diese Ausdauer an den Tag gelegt. Es waren bereits mehrere Monate vergangen, ohne dass sich etwas am Zustand des Patienten verändert hätte. Gewöhnlich begnügte sich Pascha mit einem Tag dieser Krankheit.

In ihrer Verzweiflung zogen die anwesenden Spezialisten einen operativen Eingriff in Erwägung, von dem sie sich Aufschluss über die Ursache dieses Zustandes versprachen, mit dem sie der Patient schon so lange in Atem hielt. In den nächsten Minuten würde die Entscheidung zur Vorgehensweise fallen.

Die Schwestern lösten Pascha von den medizinischen Geräten und schoben ihn in den Operationssaal.

Den Ausgangspunkt der operativen Forschung sollte das Gehirn bilden. Ein Eingriff, von dem Niemand vorhersehen konnte, was er bringen würde, zumal für einige Ärzte die Heilung eher sekundär war. Obwohl der Patient durch die Häufigkeit seiner Anfälle gewarnt sein müsste, hatte er für diesen Fall keine Vorsorge getroffen. Es lag kein Einverständnis zur Operation vor, so dass man die nächsten Verwandten aufsuchte, um dieses zu erwirken. Es war nur eine Frage der Darstellung, um den besorgten Eltern die Erlaubnis zu diesem Eingriff abzuringen. Die letzte Hürde war damit genommen, so dass nun ein hektisches Treiben voller Erwartungen losbrach, das alle Eventualitäten zu berücksichtigen versuchte.

Eine junge Ärztin hatte verzweifelt darum gekämpft, ihre Kollegen von diesem irrwitzigen Vorhaben abzubringen. Seit ihrem ersten Kontakt mit dem Patienten verfolgte sie seine Entwicklung, in der Hoffnung einem Rätsel auf die Spur zu kommen, das die Wissenschaft umdenken lässt.

Ausführliche, tiefgründige Gespräche mit dem „Pascha“ der Krankenhäuser, verhalfen ihr zu umfassenden Erkenntnissen bezüglich der Macht der Seele, die scheinbar imstande war, den Körper zu verlassen, ohne den Kontakt zu ihm zu verlieren.

Es hatte lange gedauert, bis Pascha sich ihr anvertraute. Ihm war bewusst, dass man ihn als Spinner verschreien würde, wenn er seine Erlebnisse der Öffentlichkeit mitteilte.

Die kleine zierliche Ärztin Wiebke hatte schon längst die Gewissheit, dass Paschas Berichte Hand und Fuß hatten. Sie glaubte an die Fähigkeit der Seele, auf Wanderschaft zu gehen, seit Pascha ihr im eigenen Körper einen Besuch abgestattet hatte, um es ihr zu beweisen.

Es war ein Erlebnis, das sie jede Regung ihres Inneren bewusster beobachten ließ. Ihr war, als ob sie erst seit diesem Augenblick erkannt hatte, was Leben ist.

Betrübt verfolgte sie die Vorbereitungen zur bevorstehenden Operation, die sie nicht verhindern konnte. Um sich zu beruhigen, überflog sie noch einmal ihre Aufzeichnungen über den Lebensweg des Gerd Paschek, genannt Pascha.

Paschas Kindheit war von Einsamkeit gezeichnet.

Die Natur hatte ihn nicht mit Schönheit beschenkt, so dass er schon dadurch selten mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht wurde. Er hatte sogar das Gefühl, dass sich seine Eltern seinetwegen schämten. Es waren nicht nur die Segelohren, die ihm zu schaffen machten. Ein Übermaß an Sommersprossen, eine leuchtend rote Haarpracht, ein hagerer Körper und eine kleine Hasenscharte, hielten seine Sorgen auf Trab. Er erfuhr frühzeitig, dass der Mensch in erster Linie nach dem Aussehen beurteilt wurde. Glücklicherweise lernte er schnell, damit umzugehen, ohne psychische Störungen davonzutragen.

Aus seiner Sicht beschränkte sich die Liebe seiner Eltern auf den Kauf von Geschenken, Kleidung und Nahrungsmitteln. Sie ließen ihn deutlich spüren, dass er ihnen lästig war.

Bis zum siebenten Lebensjahr fanden sich zwar gelegentlich Spielkameraden, doch mit zunehmenden Alter wurden Äußerlichkeiten immer mehr zum entscheidenden Grund für eine Freundschaft.

Es dauerte nicht lange und Gerd befand sich in besorgniserregender Isolation.

Da er ein Mensch ohne Aggressionen war, flüchtete er sich nicht in Wutausbrüche, sondern zog sich mehr und mehr in sich zurück. Er schaute in sich hinein und suchte dort den Sinn des Lebens. Zuflucht und Zwiegespräche fand er in den Büchern, die seine einzigen Freunde waren. Anfangs hätte er diese liebend gern gegen solche aus Fleisch und Blut getauscht.

Doch wer sprach schon seine Sprache, fühlte seine Gefühle und bemühte sich, mit seinen Augen zu sehen? Er war umgeben von egoistischen, hartherzigen und unbeherrschten Menschen, die sich nicht die Zeit nahmen, genauer hinzusehen und keinen Gedanken daran verschwendeten, was sie, mit ihren gleichgültigen oder aggressiven Worten und Handlungen, anrichteten. Selbst seine hilfeheischenden Vorwürfe, die er ihnen zaghaft nahe brachte, werteten sie als unberechtigte Kritik und Angriff, um danach ihre Attacken umso heftiger fortzusetzen.

Pascha hätte sich damit arrangiert, wenn dieses absurde Spiel, das ihm das Leben fast unerträglich erscheinen ließ, nur auf seine Altersgenossen, beschränkt geblieben wäre. Was bei den Kindern vielleicht noch entschuldbar war, fand seine Fortsetzung, in gefestigter Form, bei den Erwachsenen. Selbst seine Eltern verhielten sich ihm gegenüber nicht anders.

Gerd Paschek hatte berechtigte Gründe, mit den Menschen zu brechen, doch er hatte die Gabe, auf das Gute zu hoffen und zu verzeihen.

Mit ca. acht Jahren fiel ihm durch Zufall ein Buch in die Hände, das ihn sofort faszinierte. Lesen hatte er schon vor dem Schulbeginn gelernt, so dass ihm diese Literatur keine Schwierigkeiten bereitete.

Gerd studierte das Tao-System. Aus dem Wissen heraus, dass Körper und Geist eine Einheit sind, befasste er sich damit, beides bewusst zu steuern. Der Taoismus beherrschte von nun an seine gesamte Freizeit. Wer ihn bei seinen eigenartig anmutenden Übungen überraschte, hielt ihn für verrückt und sorgte dafür, dass die Hänseleien, denen er ohnehin schon ausgesetzt war, eine Steigerung erfuhren.

Die Jahre vergingen.

Gerd, der inzwischen mit den taoistischen Übungen weit vorangeschritten war, störten die Attacken seiner Mitmenschen nicht mehr. Er hatte seinen inneren Frieden gefunden. Er beherrschte es, nicht nur seine Körperfunktionen gezielt zu steuern, so dass er jede aufkommende Krankheit im Keim erstickte, er setzte seine geistige Energie auch so ein, dass er zu einem erfüllten Leben fand.

Die philosophischen und gesellschaftlichen Theorien des Taoismus bestimmten sein Denken und verschafften ihm mit der Zeit Anerkennung. Diese wurde ihm jedoch nur vom Lehrkörper der Universität zuteil, wo er erfolgreich ein Studium der Biologie absolvierte.

Doch das kostbare Gut einer Freundschaft, blieb ihm verwehrt.

Gerd analysierte jede menschliche Regung, um auf ihre Ursachen zu stoßen. Die strengen Regeln, die er sich selbst auferlegte, versuchte er auch anderen nahe zu bringen. Doch er stieß nur auf Spott.

Während dieser Zeit büßte Gerd Paschek seinen Familiennamen ein. Aus Paschek entstand sein Spitzname „Pascha“.

Da Pascha von sich behauptete, den erleuchteten Geist zu haben, schritt er auf seinem Weg zum Außenseiter weiter voran. Niemanden der Studenten bewegte er dazu, sich mit seinen taoistischen Ideen auseinanderzusetzen. Sie passten nicht in die mit Stress und Hektik gespickte Leistungsgesellschaft.

Pascha schöpfte seine Kraft aus der Ruhe. Selbst bei größten Anforderungen fand er einen Moment, in dem er sich abkapselte und tief in sich drin für Ordnung sorgte.

Nichts erschütterte ihn. Er wurde sein eigener Meister.

Schließlich kam dieser denkwürdige Tag in seinem Leben. Pascha hatte sich in seiner Studentenbude zur Meditation zurückgezogen, um seine Übungen zur „Reinigung des Gehirns“ durchzuführen. Dadurch werden die Energien im Körper vermehrt und bestehende Krankheitszustände erkannt. Er lenkte seine Energieströme durch alle Meridiane des Körpers. Dabei saß er vor dem geöffneten Fenster und hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, den Blick auf ein anmutiges, jugendliches Mädchen geheftet. Sie saß in einem Zimmer auf der anderen Straßenseite vor dem Spiegel und kämmte versonnen ihr langes, schwarzes Haar.

Pascha spürte, wie sein Geist durch den Körper glitt. Unmerklich verschob sich seine Konzentration auf dieses faszinierende Bild. Er hatte das Gefühl, dass sein Geist zu dem Mädchen drängte. Immer mehr gewann er den Eindruck, dass sein Körper schwebte. Plötzlich stürzte er in eine undefinierbare Tiefe. Wie im freien Fall schoss Pascha durch einen schummrigen Tunnel, an dessen Ende ein bizarres Licht loderte.

Von diesem Ereignis überrascht, entfuhr ihm ein greller Schrei, der die Nachbarschaft aufhorchen ließ.

Dann tauchte er weich in eine ihm unbekannte Welt ein. Er landete in einem Raum, dessen Wände mit Glitter behaftet waren und der von sanfter, melodisch-mystischer Musik erfüllt war. Leichte Nebel schwebten zwischen zarten Häufchenwolken und eine angenehm helle, diffuse Lichtquelle warf ihre Strahlen wohltuend in diese Dekoration. Allmählich hob sich der Umriss eines menschlichen Wesens ab, das tanzend durch die Luft zu schweben schien.

Pascha schritt langsam, wie gebannt, auf diese Erscheinung zu. Die Konturen des Gesichtes wurden deutlicher und er erkannte das Mädchen, das er eben noch vor einem Spiegel im Nachbarhaus wahrgenommen hatte. Mit staunenden Augen sah sie ihn an.

Eine wütende Schimpftirade aus einem angrenzenden Raum brachte die Musik zum Stocken.

Furcht beherrschte plötzlich die Augen des Mädchens. Wie von einem starken Sog wurden Wolken und Nebel fortgerissen und ließen einen kahlen Raum zurück, dessen Glitterwände nun völlig kalt wirkten, da sie ihrer stimmungsvollen Lichtquelle beraubt worden waren.

Das Mädchen stürzte hart auf den Boden und setzte sich vergeblich dem Sog zur Wehr, der auch sie erfasste.

Während sich ihre verzweifelten Blicke an ihn hefteten, entfernte sie sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Ihr durchdringender Hilfeschrei bohrte sich durch die Leere des Raumes und vervielfachte sich in einem Echo.

Dieses „Hilf mir, bitte hilf mir!“, setzte sich in seinem Kopf fest und ließ ihn nicht mehr los.

Der Sog erfasste auch Pascha. Er bräuchte sich nur fallen lassen und würde dem Mädchen folgen.

Doch alles in ihm wehrte sich dagegen. Er befand sich an einem Ort voller Ungewissheit. Instinktiv kämpfte er gegen den Sog an und arbeitete sich dorthin zurück, von wo er gekommen war.

Stück für Stück gelang ihm dies, bis er in eine kleine Nebelwolke eintauchte.

Es folgte der freie Fall in die entgegengesetzte Richtung und Pascha schreckte hoch, als er in seinen Körper zu sich kam.

Sofort lief er ans Fenster und presste seine Nase an die Scheibe, als könne er auf die Art seinem Ziel ein Stück näher kommen.

Das Mädchen hatte aufgehört, ihr Haar zu kämmen. Im Nachbarzimmer schlug ein betrunkener Mann, der offenbar ihr Vater war, auf sie ein. Ihre Mutter versuchte, ihn weinend von diesen Grausamkeiten abzuhalten. Vergeblich. Es brachte ihr ebenfalls ein paar Schläge ein.

Endlich ließ er von ihnen ab und verließ torkelnd die Wohnung. Schluchzend lagen sich Mutter und Tochter in den Armen.

Plötzlich hob das Mädchen den Kopf und schaute intensiv und ausdauernd zu Paschas Fenster hinüber.

Pascha kam es vor, als höre er wieder ihre Hilfeschreie.

Lange konnte er den Blick nicht abwenden. Wie sollte er dieses Vorkommnis einschätzen? Gab es eine logische Erklärung dafür?

Pascha war geübt, in der Analyse von Ereignissen. So unwahrscheinlich es auch klang, es gab nur eine Schlussfolgerung: Paschas Seele hatte sich auf Wanderschaft befunden und war in die eines anderen Menschen eingetaucht.

Ihm war bewusst, dass es für immer sein Geheimnis bleiben müsste, um nicht als vollständig verrückt abgestempelt zu werden.

Um seine letzten Zweifel zu beseitigen, war es zwingend erforderlich, das ungewollte Experiment, das mit seiner Meditation eingeleitet worden war, zu wiederholen. Er würde dieses Mädchen noch einmal besuchen. Doch vorher galt es zu überlegen, welchen Sinn diese Aktion haben könnte.

Wieder drängten sich ihm die Hilfeschreie auf und erneut sah er das Bild vor sich, wie der Blick des Mädchens sein Fenster suchte.

Sein Entschluss war unumstößlich. Gleich am nächsten Morgen würde es geschehen.

Die Nacht plagte ihn mit Träumen. Teile seiner Erlebnisse, kehrten wieder und mahnten zur Eile. Der morgendliche Blick durchs Fenster sagte ihm, dass die Wohnung verlassen war.

Das erinnerte ihn daran, dass ein langer Tag an der Uni auf ihn wartete.

Lustlos schlang er sein Essen hinunter und begab sich auf den Weg zur Vorlesung.

Er hätte sich diesen Tag an der Uni sparen können. Obwohl er früher niemals seine Selbstbeherrschung verloren hatte, ertappte er sich nun dabei, wie er vollkommen unkonzentriert, den Ausführungen des Dozenten folgte. Er nahm es zwar akustisch wahr, doch kein Wort erreichte ihn wirklich. „Hilf mir!“, hallte es in seinem Kopf und alle Gedanken arbeiteten nur noch in diese eine Richtung. Auf welche Art und Weise war eine Hilfe für dieses Mädchen realistisch?

Pascha beschloss seine sinnlose Anwesenheit im Hörsaal, die heute nur der Statistik diente, zu beenden. Er packte seine Mappe zusammen und schlenderte in den Stadtpark. Die frische Luft, am kleinen Bach hinter der Wiese, belebte ihn. Pascha konstatierte, wie sich sein Gehirn beruhigte.

Gesetzt der Fall, seine Theorie stimmt, so war erwiesen, dass eine akustische Verständigung mit der Kontaktperson möglich ist. Weiterhin fühlte er sich darin bestätigt, dass sein Eindringen in die fremde Seele nachhaltige Spuren hinterlassen hatte. Was sonst hatte das Mädchen dazu bewegt, den Blickkontakt zu ihm zu suchen.

Die Tatsache, dass ein Ebenbild des Mädchens, in ihrer Seele scheinbar physisch existierte, sprach dafür, dass sie den Kern aller Empfindungen darstellte. Am eigenen Körper, bzw. an der eigenen Seele, hatte er gespürt, dass der Sog, der durch die Bedrohung vom Vater, heraufbeschworen worden war, bei ihm körperliche Wahrnehmungen ausgelöst hatte. Das verdeutlichte ihm, wie verletzlich die Seele war.

Hier sollte Pascha einsetzen. Das Mädchen hatte sich in seine heile Traumwelt geflüchtet, als er bei ihr eindrang. Um ihre Seele zu schützen, hätte er ihr folgen müssen, als das bedrohliche Ereignis einsetzte. Doch da er noch keine Erfahrung mit den Gesetzen der Seelenwelten besaß, konnte er nur abwarten und der Situation entsprechend reagieren.

Es war für Pascha nicht nachvollziehbar, was einen Menschen zu derartigen Gewaltausbrüchen treiben konnte. Sicher wurden auch ihm als Kind kleine Prügeleien aufgezwungen, doch ein Erwachsener hatte nie Hand an ihn gelegt.

Seine eigenen Probleme erschienen ihm vergleichsweise unbedeutend. Wie könnte ein unerfahrener Mensch, wie er, hier helfen? Wenn er schon nicht verstand, wie es zu solch extremen Reaktionen kommen konnte, wie will er dann einen gewaltbereiten Menschen davon abhalten?

Durch seine taoistische Lebensweise war Hass für ihn ein Fremdwort. Wieso hatte der sich dort eingenistet? Oder war es gar kein Hass? War es Hilflosigkeit? Lag die Schuld unter Umständen bei diesem Mädchen? Welcher Anlass könnte so etwas rechtfertigen?

Je länger Pascha darüber nachdachte, umso verwirrter wurde er. Die erlebte, friedvolle Atmosphäre im Innern des Mädchens bestärkte ihn in der Überzeugung, dass von ihr keine Ursache für die Ausschreitungen gesetzt worden war.

Er verabscheute ungelöste Probleme. Seine Überlegungen sagten ihm, dass er bei der Begegnung mit unbekannten Menschen, auf alles gefasst sein müsse. Eine gründliche Vorbereitung war unumgänglich.

Pascha sehnte den Abend herbei. Schon am frühen Nachmittag setzte er sich ans Fenster, um die Wohnung des Mädchens zu beobachten. Der Vater war noch nicht zuhause.

Zusammen mit ihrer Mutter bereitete die Kleine das Abendessen vor. Zwischen beiden schienen keine Spannungen zu bestehen. Die gemeinsame Angst vor der zu erwartenden Heimkehr des „Hausherren“ war vermutlich ein starkes Bindeglied.

Die Seelenwanderung wollte Pascha erst einleiten, wenn der Vater zuhause eingetroffen wäre.

Die Wartezeit war kurz. Der Vater öffnete die Tür und begrüßte seine beiden Hausfrauen mit einem flüchtigen Kuss. Dann ergriff er eine Flasche Bier und ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Mutter und Tochter deckten den Tisch.

Nachdem alle Platz genommen hatten, beschloss Pascha, die Reise anzutreten. Er kannte die Situation, die anwesenden Personen und würde nun Ereignisse zuordnen können.

Er setzte sich in entspannter Haltung vor das Fenster und leitete die Meditation ein. Die angespannte Erwartungshaltung erschwerte es ihm, den richtigen Einstieg zu finden. Doch dann spürte er, wie gewohnt, seine Energie durch die Meridiane fließen und er verlagerte seine Konzentration auf das Mädchen.

Das Schwebegefühl wechselte wiederum in einen ausgedehnten freien Fall. Diesmal unterdrückte Pasche den Schrei. Er war darauf vorbereitet.

Er hatte erwartet, die gleiche Umgebung vorzufinden, wie beim letzten Besuch.

Doch er täuschte sich gewaltig. Die Landung erfolgte auf einem kleinen Felsvorsprung.

Vor ihm tat sich ein riesiger Abgrund auf, über den ein breites Drahtband führte, so dass er bequem zwei Füße nebeneinandersetzen könnte. In der Tiefe brodelte eine rote Flüssigkeit, die kochend heiß zu sein schien. In gewissen Abständen platzten gewaltige Blasen, deren dampfende Spritzer fast bis zum Drahtband emporgeschleudert wurden.

In einiger Entfernung entdeckte er das Mädchen, das sich ängstlich auf dem Band, über dem Abgrund, vorwärtsbewegte, um das rettende Ende zu erreichen. Pascha rief nach ihr, doch die zischenden und grollenden Geräusche aus der Tiefe übertönten ihn.

Was hatte das zu bedeuten?

Eine kurze Analyse war nötig, bevor er handelte.

Der erste Besuch hatte ihm eine romantische, fast kitschige Traumwelt geboten, als er das Mädchen allein vor dem Spiegel angetroffen hatte. Diese Welt wurde bei Eintreffen des betrunkenen Vaters sofort durch eine chaotische, gefährliche Umgebung ersetzt, die er nicht zu erforschen gewagt hatte.

Diesmal war ihm bekannt, dass die Familie am Tisch sitzt und sich über die Gefühlswelt des Vaters nicht im Klaren ist. Der Mann schien nicht betrunken zu sein, aber offenbar rechneten sie mit seinem Jähzorn. Von diesem Gefühl der Ungewissheit wurde die Seele des jungen Mädchens geplagt. Sie versuchte, alles zu tun, um einen Absturz zu vermeiden. Übertragen auf die Situation hieß das, nichts Falsches zu tun und nichts Falsches zu sagen. Jeder Schritt musste wohl bedacht sein.

Sie hatte die Mitte des Bandes erreicht. Um mit ihr zu reden, müsste er ihr folgen. Jetzt erst entdeckte Pascha am anderen Ende des Bandes einen schlafenden Hund, der eine Kreuzung zwischen Rottweiler und Orang-Utan darstellte. Vermehrte Aktivitäten der brodelnden Lava, waren immer mit einer Unruhe im Schlaf des Hundes verbunden.

Pascha verstand nicht, warum sich das Mädchen ausgerechnet in diese Richtung bewegte. Zitternd tastete er sich vor. Jetzt erst lernte er das Gefühl der Geborgenheit, in seiner eigenen Seele, zu schätzen.

Wie war es möglich, dass ein Mensch täglich diese Ängste erträgt? Er sah dem Mädchen an, dass es eine gewisse Routine bei diesem Balanceakt aufwies. Pascha nahm allen Mut zusammen und beschleunigte seinen Schritt. Bald hatte er an die 20 Meter zurückgelegt. Der Mut kehrte zurück.

Plötzlich erfuhr das Drahtband eine Veränderung. Es schrumpfte merklich.

Die Breite des Bandes bot nur noch für einen Fuß Platz, so dass Pascha unwillkürlich in die Knie ging, um sich abzustützen. Dabei zitterte er so intensiv, dass er das Band zum Schwingen brachte. Diese Welle übertrug sich spürbar auf das Seil und erreichte das Mädchen. Überrascht drehte sie sich um. Sie erkannte ihn sofort.

Freudestrahlend kam sie auf ihn zu. Doch ein erneutes Schrumpfen verwandelte das stabile Drahtband in ein dünnes Seil, so dass beide abrutschten und sich mit Händen und Beinen hangelnd weiter bewegten. Er verdrängte die Frage, was bei ihrem Absturz geschähe.

Pasche durchfuhr der Gedanke, dass seine Anwesenheit Schuld an der gefährlichen Situation war. Durch die Freude über seinen Besuch wird das Mädchen eine Unbedachtheit begangen haben, die den Vater reizte. Zu dumm, dass er die Vorgänge im Zimmer nicht wahrnehmen konnte. Nicht einmal die Worte drangen ins Innere. Jeder Impuls schien in ein bildhaftes Symbol umgewandelt zu werden.

Beide Seelen kamen sich immer näher. Das Mädchen hatte sich gefangen. Das Drahtband nahm wieder die ursprüngliche Dimension an. Ja, es schien so, als ob es sogar breiter geworden war.

Unter ihnen brodelte es weiter. Die emporgeschleuderten, rot glühenden Blasen nahmen die Form von Krokodilköpfen an, die nach den Seiltänzern schnappten.

Das Mädchen ließ sich dadurch nicht irritieren und strebte zügig vorwärts.

Dann standen sie sich gegenüber. Pascha überlief eine Gänsehaut. Das Mädchen hatte eine Vielzahl von Narben davongetragen, die ihr Gesicht und andere Körperteile verunstalteten. Ihm fiel eine frische Wunde an deren Hals auf, die noch nicht vollständig verkrustet war. Vermutlich eine Folge der Ereignisse um den gestrigen Strudel.

Es war eine arg geschundene Seele, der sich nun die Sehnsucht nach Trost und Beistand bemächtigte. Beide lagen sich in den Armen und Pascha spürte, wie sich ihr kalter Körper langsam erwärmte. Aber auch für ihn war diese Begegnung wohltuend, da er zum ersten Mal der Einsamkeit entronnen war, die seine Seele so ausgebleicht hatte. Ein Hauch von Röte legte sich über seine Haut. Doch dies blieb ihm verborgen.

Pascha hatte viele Fragen und das Mädchen stand dem nicht nach. Es wurde eine lange Unterhaltung auf dem Drahtseil, das in seiner Breite weiterhin unbeständig war.

Auf diese Weise erfuhr Pascha ausführlich vom harten Leben der Kleinen.

Nur die alkoholarmen Tage des Vaters brachten etwas Ruhe in ihren Kampf gegen die Angst. Da ihre Mutter nicht die Kraft fand, sich von ihm zu trennen, war ein Ende dieser Tragödie nicht abzusehen.

Pascha würde es nie gelingen, diese Horrorwelt, in der sich die Seele des Mädchens bewegte, zu zerstören. Die Ursache dafür, lag außerhalb von ihr.

Ein großartiger Gedanke bemächtigte sich seiner. Warum nimmt er diese gemarterte Seele nicht mit, in seine Welt?

Langes Reden war nicht nötig, um sie zu überzeugen. Nach kurzer Zeit hatten sie den Rand des Abgrunds erreicht, der der Übergang in eine vielversprechende Zukunft sein könnte. Ein letztes Mal schnappten die lodernden Krokodilköpfe nach ihnen und erwischten Pascha leicht am Bein. Er nahm den Schmerz nur unbewusst wahr.

Der freie Fall brachte beide in Paschas Körper. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er sofort, dass etwas Ungewohntes in ihm war. Ein Blick aus dem Fenster gab ihm Gewissheit.

In der Wohnung des Mädchens herrschte große Aufregung. Sie lag regungslos neben dem Tisch, während sich ihre Eltern ratlos um sie bemühten.

Pascha beherrschte zwar ein wohliges Gefühl, aber ebenso der ständige Drang aus dem Fenster zu sehen. Dies wurde sicher durch den Wunsch des Mädchens ausgelöst, ihren Körper zu schützen. Pascha hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen ein längerer Ausflug der Seele hat. Da die Gefahr bestand, dass die Seele der Kleinen ihren Körper verlieren könnte, entschloss er sich, das Mädchen zurückzuschicken.

Sein Tunnel schoss vor und nach einer kurzen Ankopplung und einem herzlichen Abschied zog er sich sofort wieder zurück.

Gleich darauf sah er, wie sich der Körper des Mädchens erhob. Ihm fiel ein Stein von der Seele. Vermutlich hätte er seinen inneren Frieden nie wieder gefunden, wenn ihr etwas passiert wäre.

Eine neue Frage drängte sich auf. Was hatte sie erlebt?

Zu gern hätte Pascha erfahren, mit welchen Räumlichkeiten seine Seele das Mädchen empfangen hatte.

Es war wieder mal spät geworden. Im Zimmer gegenüber sah er das schüchterne Winken des Mädchens, als sie Blickkontakt aufgebaut hatten. Ihr makelloses Gesicht hatte einen Hauch von Glück aufgelegt. Von Narben gab es keine Spur. Dann löschte sie das Licht.

Pascha schaute noch lange zum dunklen Fenster hinüber.

Wollte er dem Mädchen helfen, müsste er in die Höhle des Löwen. Doch was würde ihn erwarten, wenn er die Seele eines gewalttätigen Alkoholikers besucht? Bestehen für ihn Gefahren, die seine Seele vernichten können? Die Narben der Tochter ließen es vermuten.

Die gepeinigte Seele des Mädchens gab ihm mehr Mut, als er sich zugetraut hatte. Es gab für ihn nur diesen Weg.

Pascha schaute weiterhin zum Fenster des Mädchens. In ihrem Zimmer war die gleiche, verschwiegene Dunkelheit wie vorhin. Eine Welle von wohltuender Wärme durchströmte Paschas Körper, wenn er daran dachte, dass er den dunklen Räumen auf der anderen Seite zu etwas Licht verholfen hatte. Dieses Licht hieß Hoffnung. Die Blicke des Mädchens hatten diese Hoffnung getragen und wiegte sie nun in einen befreienden Schlaf. Zum ersten Mal war ein Mensch auf ihn angewiesen. Zum ersten Mal spürte er die Kraft der menschlichen Wärme, die ihren Weg durch dicke Mauern und über ungastliche Straßen fand. Zum ersten Mal war das Leben lebenswert, weil er fremdes Leid teilte. Zum ersten Mal erfasste auch ihn begründete Hoffnung, dass es Menschen gibt, für die es sich zu leben lohnt. Aber es war nur ein Gefühl, das Bestätigung suchte. Dort drüben lebte eine Leidensgefährtin. Zog es ihn darum zu ihr hin?

Sind vielleicht nur die Menschen zu echten Gefühlen fähig, die selbst den Weg des Leids beschritten hatten? Wie dem auch sei, es war ein bewahrenswertes Gefühl, eine Seele kennengelernt zu haben, die in ihm etwas Stolz auf das Wesen Mensch erwachen ließ.

Am nächsten Tag schlenderte Pascha durch die Straßen. Es war Wochenende. Fast alle Studenten nutzten es, um zu ihren Familien zu fahren. Dieses Verlangen quälte ihn nicht. Was würde er dort schon verpassen? Streitereien der Eltern und Vorhaltungen über seine Albernheiten, wie sie seine taoistischen Übungen nannten, hatte er nicht auf seinem Wunschzettel. Also blieb er hier.

Hinzu kam das Gefühl, gebraucht zu werden. Gab es einen besseren Grund, die Heimfahrt auf später zu verschieben? Als er zuhause anrief, um sein Ausbleiben anzukündigen, war seiner Mutter deutlich die Erleichterung anzumerken. Oder bildete er es sich nur ein?

Pascha hatte dieses Gespräch bald wieder vergessen. Erneut sann er über die letzten Ereignisse nach.

Nie hätte er gedacht, dass eine Seele so verunstaltet werden kann. Diese bewegenden Bilder, im Innern des Mädchens, machten ihm erneut bewusst, wie empfindsam eine Seele ist.

Auch jetzt, während er durch die Straßen schlenderte, fiel ihm auf, wie gedankenlos die Menschen miteinander umgingen. Der barsche Ton dominierte das Leben vieler von Ihnen.

War es die Angst, Gefühle zu zeigen, die andere in den Schmutz ziehen könnten? War es die Befürchtung, als Nächster seinen Job zu verlieren, oder auch nur, nicht geachtet zu werden? Der Mensch versteckt sich hinter einer eisernen Maske. Eine Maske, die ihn vor scheinbaren Gefahren schützen soll und doch die Seele verkümmern lässt.

Pascha wäre gern in den einen oder anderen hineingehuscht, um zu sehen, wie es tatsächlich in ihm aussähe, doch er durfte sich nicht verzetteln. Vorrang hatte sein Mädchen.

Wie es der Zufall ergab, lief ihm der Vater des Mädchens über den Weg. Er hatte sich herausgeputzt und steuerte zielstrebig auf eine Gaststätte zu. Frühschoppen war angesagt.

Pascha folgte ihm unauffällig und suchte sich einen Tisch in der Nähe des Mannes und seiner Stammtischrunde.

Während Pascha ein paar Säfte trank, versuchte er dem Gespräch der Männer zu folgen. Jeder berichtete von der Arbeit und den häuslichen Ereignissen. Es war ein gemeinsames Band, das alle zusammenhielt. Die übermäßigen Pflichten, denen sie nicht entrinnen konnten, schien sie zu ersticken. Stress und Mobbing im Betrieb und ein Privatleben, das durch Ansprüche der Familie eingeschränkt wurde, machten das Maß voll. Die Autorität, die sie in der Firma nicht waren, wollten sie mit Gewalt in den heimischen vier Wänden erkämpfen.

Der Alkohol steigerte ihr Mitteilungsbedürfnis. All ihren Frust redeten sie heraus. Da jeder den anderen dabei zu übertrumpfen versuchte, gab es bald die ersten scharfen Worte. Nur die unermüdlichen Beschwichtigungsversuche des Wirtes verhinderten Schlimmeres.

Angewidert beobachtete Pascha die Szene. Das hagere Gesicht des Vaters zeichnete sich in so scharfen Konturen ab, dass es ein Abbild seiner Seele sein musste, grob und unnachgiebig.

Das Verständnis, das die Männer anfangs füreinander aufgebracht hatten, war vollkommen verschwunden. Niemand von ihnen ertrug es, dass seine Probleme geringer, als die eines anderen sein sollten. Niemand von ihnen erwähnte auch nur andeutungsweise, dass ihre Frauen und Kinder ebenfalls Probleme haben könnten. Sie zerflossen im Selbstmitleid und ersetzten ihre Hilflosigkeit durch Aggressionen.

Es war beeindruckend, welche Macht der Wirt über sie hatte. Ihm waren sie hörig. Seinen Worten folgten sie. Er war der Herr ihres letzten „gemütlichen“ Zufluchtsortes. Ohne ihn hätten sie gar nichts mehr.

Pascha stellte sich vor, wie dieser Tag, nach der Heimkehr des Vaters, für sein Mädchen werden wird. Es war abzusehen, dass heute neue Wunden an ihrer Seele entstünden. Wollte er ihr das ersparen, musste er sofort handeln.

Es fiel ihm nicht schwer, zu meditieren, wenn andere Menschen um ihn herum waren, und so beschloss er, seinen Plan sofort in die Tat umzusetzen. Er konzentrierte sich auf die Zielperson und tauchte bald in den bekannten schummrigen Tunnel ein, der ihn ans Ziel bringen würde.

Pascha merkte nicht mehr, wie sein Körper zusammensackte und in den komaähnlichen Zustand fiel. Einige Zeit später geriet die ganze Kneipe in Aufruhr. Auch der Vater des Mädchens sorgte sich um ihn.

Es dauerte nicht lange und der herbeigerufene Rettungswagen brachte Pascha in ein Krankenhaus. Die Ärzte bemühten sich redlich und standen vor einer unlösbaren Aufgabe. Die verantwortliche Ärztin, Wiebke, gab nicht auf. Stunden verbrachte sie damit, die Ursache für dieses Krankheitsbild herauszufinden.

Inzwischen war Pascha in die Seele des Vaters eingetaucht.

So wie er vermutet hatte, sah es in diesem Menschen nicht gastlich aus.

Ein großer, freier Platz empfing ihn. Kühler, heftiger Wind fegte allerhand Unrat über ihn hinweg. Am Rande des Platzes stand eine Reihe überquellender Mülltonnen, gefolgt von einem Fabrikgelände, dass sich hinter, mit Stacheldraht bewehrten Zaunfeldern, versteckte.

Am Rande des Platzes bewegte sich ein kleines Wesen, das sich bequem hinter einer dieser Mülltonnen verstecken könnte. Beim Näherkommen bemerkte Pascha, dass diese Person im Groben die Gesichtszüge des von ihm besuchten Vaters trug. Bekleidet war es mit zerrissenen Jeans und einem beschmierten Boxershirt.

Der Körper sah dem eines Bodybuilders täuschend ähnlich, was ihm, durch seinen Zwergenwuchs, ein kurioses Aussehen verlieh.

Pascha war noch nicht bemerkt worden. Aufgeregt lief das Männchen hin und her. In seiner Hilflosigkeit wirkte es noch kleiner. Wie Pascha später erfuhr, war es der Moment, als sich der Mann eifrig um den zusammengebrochenen Körper von Pascha bemühte.

Er sprach das Männlein an und im gleichen Augenblick schlugen zwei Hunde an, die das Fabrikgelände sicherten. Dabei sprangen sie erregt am Gitter hoch und versuchten, die vermeintlichen Störenfriede zu verjagen.

Entsetzt starrte das Männchen auf die kläffenden Tiere und stürzte übereilt davon. Pascha folgte ihm durch unzählige, verwinkelte Gassen.

Nachdem der Krankenwagen gerufen worden war, verließ der Vater die rauchdurchzogene Kneipe. Leicht schwankenden Schrittes strebte er seiner Wohnung entgegen. Ein aufkommendes Hungergefühl ließ ihn die Vorkommnisse in der Gaststätte bald vergessen.

In der Wohnung angekommen, stellte er mit einem Blick fest, dass er noch eine geraume Zeit auf sein Essen zu warten hatte. Seine Frau und seine Tochter arbeiteten fieberhaft daran. Sie hatten oft genug erlebt, was eine Verzögerung bei der Erfüllung der Wünsche des Vaters bewirken konnte. Dabei spielte es keine Rolle, dass er, durch sein verfrühtes Auftauchen, nicht im Zeitplan lag. Eine Welle von Drohungen und Beschimpfungen stürmten über seine schwere Zunge.

Pascha war dem Männchen in eine dunkle Seitengasse gefolgt.

Ein langsam anschwellender Ton durchdrang die Luft und vermischte sich mit dem Heulen des stärker werdenden Windes. Das Männchen kauerte sich hin und hielt sich die Ohren zu.

Ängstlich wendete es seinen Blick nach oben und schien etwas zu erwarten.

Plötzlich senkten sich Nebelschwaden hernieder und nahmen die Form zweier riesiger Aasgeier an, die sich gierig auf ihn stürzten. Die Muskeln des Männchens spannten sich zum Zerreißen und wie betäubt schlug er wild um sich, bis sich die Nebelschleier in formlose Schwaden zersetzt hatten.

Das Männchen rannte weiter, während ihm die Schwaden langsam folgten.

Völlig erschöpft setzte er sich. Trübsinnig starrte er vor sich hin. Aus seinem Mund floss unkontrolliert der Sabber. Der schwellende Ton hatte sich zu einem gleichmäßigen Akkord stabilisiert, während die Nebelschwaden in unruhigem Spiel über ihm verweilten.

Der Vater hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Eine übergroße Müdigkeit erfasste ihn.

Er hasste die Blicke von Frau und Tochter, die ihn vorwurfsvoll verfolgten, wenn er sich nach verzechten Stunden dem Müßiggang hingab. Also riss er sich widerwillig hoch und holte sich seine halb leere Flasche Whisky. Ein wohltuend wärmender Schwall des köstlichen Getränks bahnte sich den Weg in seinen hungrigen Magen. Er spürte, seit seinem Kneipenbesuch, etwas Fremdes in sich, das er nicht definieren konnte. Unweigerlich kam ihm der junge Mann aus der Gaststätte wieder in den Sinn.

Die Frau deckte den Tisch und bat ihren Mann, beim Abräumen der herumliegenden Sachen zu helfen. Im gleichen Moment bereute sie diese kindische Forderung.

Er folgte ihr wutentbrannt in die Küche, um wie ein Besessener herumzutoben. Letztlich endete sein kurzer Auftritt im Herunterstoßen des Gemüsetopfes, was ihn veranlasste, noch wütender zu werden.

Erst als die beiden Frauen völlig eingeschüchtert zu Boden blickten, um ihre Unterwerfung zu bekunden und emsig die Schweinerei beseitigten, zog er sich schimpfend ins Zimmer zurück.

Langsam erhob sich das Männchen wieder. Pascha konnte beobachten, wie eine Veränderung in ihm vorging. Sein Körper pumpte sich auf und ließ seine Muskeln weiter wachsen, während er dabei seine zwergenhafte Gestalt beibehielt. Was mochte diese Wandlung der Seele verursacht haben? War es der Alkohol, der sich im Körper verteilte?

Jetzt erst entdeckte das muskelstrotzende Männchen Pascha. Sein Anblick löste eine neue Aggressionswelle in ihm aus. Mit zorngeschwelltem Gesicht und geballten Fäusten unternahm der entschlossen wirkende Zwerg, einen Angriff auf Pascha. Der war so überrascht, dass er spontan zur Flucht ansetzte. Im selben Moment nahm er wieder den anschwellenden Ton wahr, der mit dem Auftauchen der Aasgeier einherging. Ein Blick zurück bestätigte seine Vermutung. Die Schwaden formierten sich erneut. Diesmal wirkten die Geier noch gefährlicher. Aus ihren Augen schossen dünne Strahlen grellen Lichtes auf den Muskelprotz, der schützend die Arme vor seine Augen hielt.

Zielstrebig flatterten die Nebelgeier herab und hackten auf ihn ein. Doch ihre Aktivitäten brachten dem Männchen keinerlei Verletzungen bei. Trotz der offensichtlich harmlosen Attacken schlug er hektisch auf die Nebelgestalten ein. Die Schläge zerteilten partiell den Nebel, so dass sich die Gestalten wiederum deformierten.

Paschas Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. War das die Gelegenheit, die es zu nutzen galt? Eine Kraftprobe beider Seelen schien angebracht.

Mit geröteten Augen, die die letzten Rinnsale der Tränen erkennen ließen, servierte die Frau die Speisen. Die Tochter folgte mit dem Rest. Nachdem alle saßen, kehrte eine schreiende Stille ein. Die Nerven lagen blank. Jedes Wort könnte eine Katastrophe auslösen. Der Vater widmete sich dem Essen, was gleichzeitig das Startsignal für die anderen war.

Die Kritik, dass das Gemüse fehlt, wurde schweigend hingenommen. Das gemeinsame Mahl wurde zur Qual.

Der Vater hielt mit dem Essen inne. Er verharrte in angespannter Ruhe und schien in sich hineinzuhorchen. Kurz darauf senkte er seinen Blick, der auf dem liebevoll gefertigten Mittagsmahl hängenblieb. Er rang zwischen Schuldgefühlen und Trotz. Der Blick auf Frau und Kind brachte ihm schließlich die ganze Tragweite seines Benehmens ins Bewusstsein.

Zögernd und unsicher schob er seine Hand zu der seiner Frau und legte sie behutsam auf sie. Es fiel ihm unsagbar schwer, Worte der Entschuldigung hervorzubringen.

So sagte er nur: „Dein Essen schmeckt ausgezeichnet“, was übersetzt hieß: „Ich liebe Euch“. Sein feuchter Blick wanderte weiter zu seiner Tochter und bettelte um Verzeihung. Schluchzend stürmte sie in seine Arme und blieb, vor Freude, eine Weile dort liegen. Es wurde seit sehr langer Zeit die erste Mahlzeit, die auch den beiden Frauen wieder schmeckte. Dankbar sah das Mädchen zu Paschas Fenster hinüber. Sie fühlte, dass es nur diese Erklärung gab.

Das Männchen bemerkte nicht, wie sich Pascha näherte. Seine Faustschläge zerrissen pfeifend die Luft, um seinen Feind, den Nebel zu vernichten. Er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Das Männchen hielt atemlos inne und starrte ihm in die Augen.

„Warte und pass auf“, sagte Pascha. Er streckte beide Arme den Nebelgeiern entgegen und verformte sie mithilfe seiner Energie. Dabei ließ er es so aussehen, als streichle er sie. Er wusste selbst nicht, ob es einen Sinn ergab, ob es etwas bewirken würde.

Er versuchte, dem Männchen zu zeigen, dass von diesem Nebel keine Gefahr ausging.

Mit weit geöffnetem Mund beobachtete der kleine Mann jede Bewegung Paschas und die der Nebelgeier. Die Flügelschläge der Geier wurden ruhiger. Langsam zogen sich die Nebelschwaden zusammen und ließen die unansehnlichen Tiere schrumpfen. Der Hals wurde kürzer, der Schnabel spitz und der Körper kleiner.

Während dieser wundersamen Verwandlung schlugen die Vögel weiterhin mit den Flügeln, bis sie schließlich, als nebelhafte Tauben, auf Paschas Arm landeten. Die weißen Nebelschwaden wurden dichter und erweckten den Eindruck, als säßen echte Tauben auf der Hand. Er setzte die Tauben behutsam auf die Schulter des Männchens. Doch dieser wich zweifelnd zurück.

„Hab‘ keine Angst“, sagte Pascha leise. „Es sind nur Tauben. Die Geier sind fort. Überzeuge dich selbst.“

Das Männchen ließ es geschehen. Verunsichert schaute er auf seine Schulter zu den Vögeln. Sobald diese Kontakt zum Männlein bekamen, verwandelten sie sich endgültig in schneeweiße Tauben, die gurrend Kopf und Gefieder an seinem Kopf entlangstrichen.

Seine gedrungene Seele genoss diese Streicheleinheiten unübersehbar. Wer weiß, wie lange es das Gefühl, geliebt zu werden, schon entbehrt hatte.

Behutsam erklärte ihm Pascha, worin die Ursachen für seine Erscheinungen lagen.

Er nahm ihm das Versprechen ab, vom Alkohol zu lassen, und erinnerte ihn daran, dass nur derjenige Liebe empfängt, der sie auch gibt.

„Es gibt viele solcher Geier, die eigentlich nur Tauben sind und nie eine Chance bekommen, dies zu zeigen.“

Andächtig folgte der kleine Mann Paschas Worten.

Es war Zeit, sich zu verabschieden. Das Männchen bat Pascha, bei ihm zu bleiben. Es fürchtete, dass die Ungeheuer vielleicht doch wiederkehren.

„Das liegt an dir allein“, sagte Pascha. „Du schaffst das schon“. Er drehte sich um und marschierte über den großen Platz, der nun windstill vor ihm lag, um heimzukehren.

Pascha spürte, dass etwas Ungewöhnliches vorgegangen war.

Die Nähe seines Körpers fehlte ihm. Er hatte zwar noch Kontakt, aber es schien, als wäre er in weite Ferne gerückt. Egal, er musste den Absprung ins Ungewisse wagen.

Pascha stürzte in einen Tunnel, der kein Ende zu haben schien. Er bekam Angst, dass er den Rest seines Daseins in dieser Röhre verbringen würde. Doch dann kam er endlich in seinem Körper an.

Wiebke beobachtete wiederholt das Gesicht des jungen Mannes, der vor ihr im Krankenbett lag und in einem Zustand zwischen Leben und Tod schwebte. Seit seiner Einlieferung hatte sie unzählige Tests durchgeführt. Keiner hatte sie weitergebracht. Zuckungen an Händen und Beinen, sowie Gesichtsausdrücke von Angst bis Staunen hatten sich abgewechselt.

Wie war dies zu deuten? Wie waren derartige Reaktionen möglich, ohne dass die geringsten Hirnströme gemessen wurden? Sie trennte sich keine einzige Minute von ihrem Patienten. Ihr Blick ruhte auf Paschas Gesicht. Er lächelte. Das erste positive Zeichen des Körpers. War es ein Ausdruck des Heilprozesses?

Pascha schreckte, einige Minuten später, im Bett hoch.

An seinem ganzen Körper waren Elektroden befestigt. Mit einem Blick erfasste er, wo er gelandet war. Er hatte schon so etwas befürchtet. Auch das Mädchen war damals zusammengebrochen, als die Seele ihren Körper verlassen hatte.

Pascha ließ sich von Wiebke ausführlich erklären, was mit ihm geschehen war. Er hütete sich jedoch davor, ihr von den tatsächlichen Vorgängen zu erzählen. So verlief er sich in Ausflüchten und heizte damit die Neugier Wiebkes an.

Pascha blieb zur weiteren Überwachung im Krankenhaus. Erst wenn alle Körperfunktionen, über 24 Stunden stabil wären, dürfte er nachhause.

Die Familie des Mädchens hatte endlich Gelegenheit dazu, sich ausführlich auszusprechen. Langsam wich der Dunst des Alkohols aus dem Blut des Vaters, so dass es ein langes, erbauliches Gespräch wurde. Er sprach von den Gefühlen und Ängsten, die in ihm kämpften, und äußerte die Vermutung, dass der junge Mann, der in der Gaststätte zusammenbrach, damit im Zusammenhang stehen würde. Seine Tochter wurde hellhörig und fand ihre Hoffnung bestätigt. Ohne ihre eigenen Erlebnisse zu schildern, schlug sie vor, den Jungen im Krankenhaus zu besuchen.

Sie fanden schnell heraus, wo Pascha zu finden war. Am Morgen des nächsten Tages standen alle drei an seinem Bett. Sie bauten sich vor ihm auf, überreichten einen Blumenstrauß, sprachen einstimmig und freudestrahlend ihr „Dankeschön“ und verließen ihn sofort wieder, ohne das Gespräch zu suchen.

Wiebke hatte alles beobachtet. Sie bat die drei Besucher um Aufklärung des Falls, da sie den untrüglichen Eindruck hatte, sie stünden mit dem Zustand des Patienten in Zusammenhang. Überrascht und etwas ängstlich, wie es Wiebke schien, sahen sie zuerst sie und dann sich selbst an, bevor sie, ohne zu antworten, eilig das Krankenhaus verließen.

Kurze Zeit später wurde Pascha entlassen.

Zuhause stellte er die Blumen in eine Vase und platzierte sie auf dem Fensterbrett.

Seine Augen suchten das Fenster des Mädchens. Er musste sie ein letztes Mal besuchen.

Diesmal endete der Tunnel in einer ausgedehnten Blumenwiese. Das Mädchen lag lang ausgestreckt darin und hatte die Augen nach oben gerichtet. Ein Lächeln verzierte ihr Gesicht.

Pascha hoffte, dass die unzähligen Narben auf dem Körper der Seele mit den Jahren verschwinden würden. Doch das wird sicher viel mehr Zeit in Anspruch nehmen, als ihr Entstehen.

Über ihr vollführten bunte Singvögel einen Freudentanz und ließen die Luft mit ihrem melodischen Singsang flimmern. Es waren typische Mädchenfantasien.

Es war Pascha peinlich, dieses ungetrübte Glück zu stören. Bevor die Kleine ihn bemerken konnte, zog er sich zurück.

Die Seele eines Menschen ist schon eigenartig, dachte Pascha. Nichts Greifbares von ihr, dringt nach außen, wenn sich die Person verschließt. Es ist ein Schatz, der so empfindsam ist, dass man, für den Umgang mit ihr, eine Art Fahrerlaubnis einführen sollte.

Vielleicht wird die Seele des Vaters wieder wachsen, wenn er gelernt hat, dass sie die Größe des Menschen ausmacht.

Es war sehr unwahrscheinlich, dass der kurze Besuch beim Vater des schwarzhaarigen Mädchens eine dauerhafte Besserung bei ihm bewirken würde. Also schaute er wiederholt bei ihm hinein, um sich davon zu überzeugen. Nur selten gab er sich zu erkennen, um helfend einzugreifen.

Nach etwa einer Woche war sich Pascha sicher, dass es keinen Rückfall mehr geben wird. Ihm war bewusst, dass er es hier mit einem leichten Fall zu tun gehabt hatte.

Die Stammtischrunden hatte der Mann durch Treffs in einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker ersetzt.

Der Erziehungsprozess, der sonst langwierig und kompliziert verlaufen wäre, wurde durch die direkte Einflussnahme auf die Seele offensichtlich beschleunigt. Seine Fähigkeit, bestehende Symbole einer fremden Seelenwelt, kraft seines Willens, zu verändern, war ein unschätzbares Werkzeug.

Doch würde das bei jeder Seele möglich sein?

Die überwältigenden Ergebnisse seiner Bemühungen, im Falle der kleinen Familie, prägten sein weiteres Leben.

Er wollte sein Studium so schnell wie möglich beenden und sich dann dem seelischen Innenleben seiner Mitmenschen widmen. Mit einer psychologischen Praxis würde er seinen Vorstellungen am ehesten gerecht.

Doch je länger er darüber nachdachte, umso mehr Zweifel kamen ihm.

Kein Mitglied der Familie, die er gerade aus der Hölle geholt hatte, wäre freiwillig bei einem Psychologen erschienen. Wer eine solche Praxis aufsucht, hat sein Problem bereits erkannt. Viel bedürftiger sind die verängstigten Seelen, die den Punkt der Hoffnung schon weit hinter sich gelassen haben. Dort sollte seine Hilfe ansetzen.

Die vergangenen Tage hatten ihn kostbare Zeit gekostet. Wichtig war, dass er sein Studium nicht vernachlässigte. Die Ausflüge zu anderen Seelen mussten warten. Doch wie würde er reagieren, wenn plötzlich so ein gequältes Wesen vor ihm stünde und diesen stummen Hilfeschrei im Blick hätte? Sollte er sagen, warte noch, bis ich mein Studium beendet habe?

Sein schlechtes Gewissen würde wahrscheinlich dazu führen, dass er im Studium nicht mehr die notwendige Konzentration aufbringen könnte, sollte er seine Hilfe verweigern. Dies hatten die Erlebnisse mit seinem Mädchen deutlich werden lassen. Auch hier kam er erst zur Ruhe, als er das Problem gelöst hatte.

Er musste einen Weg finden, beides zu vereinen.

Kapitel 2

Es folgten ein paar Tage, die ihn wieder in seinen normalen Lebensablauf zurückfinden ließen. Gelegentliche Kontrollblicke in die gegenüberliegende Wohnung gaben ihm die Gewissheit, dass sein helfendes Eingreifen von dauerhaftem Erfolg gekrönt war.

Das gab ihm die nötige Ausgeglichenheit.

Innerhalb kürzester Zeit hatte er den versäumten Lehrstoff aufgeholt.

Gelegentlich bedrängte ihn jedoch der Wunsch, wieder mal einen abenteuerlichen Ausflug in eine fremde Seele zu unternehmen. Es gelang ihm, dieses Begehren erfolgreich abzuschütteln.

Der Alltag nahm Pascha mit all seinen Pflichten voll in Anspruch. Er registrierte gar nicht, wie die Zeit verging. Zu seiner großen Überraschung standen die Semesterferien vor der Tür deren Kommen er gar nicht bemerkt hatte. Diese Zeit fürchtete Pascha am meisten. Das Wohnheim der Universität schloss für den Zeitraum der Ferien seine Pforten, so dass er zwangsläufig nachhause fahren musste.

Die Aussicht darauf bereitete ihm Qualen. Nun gut, es überkam ihn gelegentlich ein Anflug von Liebe zu seinen Eltern, aber er war sich nie sicher, ob es nicht doch nur Pflichtgefühl war. Nie zeigten sie ihm das, was er sich unter Liebe zu den eigenen Kindern vorstellte. Liebkosungen wurden als albernes Geknutsche abgetan. Gute-Nacht-Lieder oder -Geschichten hatte es nie gegeben. Gunstbeweise erhielt er durch gutes Essen und Geschenke. Er war dankbar dafür. Aber lieber wäre es ihm gewesen, einer der vielen Fernsehfilme über liebevolle, glückliche Familien, würde für ihn Wirklichkeit werden.

Da Pascha nie etwas anderes kennengelernt hatte, war es für ihn Normalität. Die Streitigkeiten zwischen den Eltern waren so normal und zwingend wie die unangenehmen Anfeindungen der anderen Kinder. Er hatte sich oft heimlich gefragt, ob seine Eltern glücklich waren, oder ob sie ohne ihn glücklicher wären. Er fand nie eine Antwort. Die stummen Signale seiner Eltern wusste er nicht zu deuten. Zumindest hatte sich die Erfahrung manifestiert, dass sie seine Abkapselung von der Familie als angenehm empfanden.

Sein Zimmer war sein Reich der Träume. Hier reduzierten sich die Störfaktoren auf ein Minimum. Hier hatte er seine Freunde, die Bücher und reiste mit ihnen durch die Welt und durch das Leben. Sie gaben ihm das, was er als Kind von anderer Seite bekommen sollte: Spaß, Freude, Spannung, Entspannung und jede Menge Wissen.

Nun war er wieder zuhause. Minuten stand er vor der Wohnungstür und scheute den Gang in die „Folterkammer“. Dann atmete er tief durch und drückte die Türklinke.

Seine Eltern begrüßten ihn kühl.

„Na, lässt du dich auch mal wieder sehen?“, vernahm er seinen Vater. Das war`s auch schon. Seine Mutter gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verdrehte die Augen, als sie den großen Berg schmutziger Wäsche sah, den er mitgebracht hatte.

Pascha spürte deutlich die Spannung, die zwischen seinen Eltern lag. Es schien gerade ein Gewitter über sie hinweggezogen zu sein. Doch das war Alltag, wie er ihn kannte. Pascha hatte nie verstanden, warum seine Eltern sich nicht scheiden ließen. Sie lebten nebeneinander her und betrachteten ihren Sohn lediglich als zusätzlichen Streitpunkt. Seine Eltern hatten kirchlich geheiratet und seinerzeit den Bund fürs Leben geschlossen. So gehörte sich das. Oft genug hörte er sie schimpfen, wenn von hohen Scheidungsraten zu hören war. Sie nahmen dann gern das Wort „Unmoral“ in den Mund.

In ihren Augen war es den Kindern gegenüber verantwortungslos.

Wie gerne hätte Pascha eine „verantwortungslose“ Mutter gehabt, die ihm dafür eine unbeschwerte Kindheit geschenkt hätte. Wie viele Kinder mögen durch den täglichen Streit daheim, selbst aggressiv geworden sein? Er kannte genug Beispiele.

Jeder Streit der Eltern endete immer wieder in einem Schweigekrieg. Sie fraßen die Probleme in sich hinein, was sie noch mürrischer werden ließ.

Es gab aber auch Zeiten der Versöhnung. Das waren Momente, in denen selbst Pascha ein paar Streicheleinheiten abbekam. Es war wie ein Tropfen auf viele heiße Steine.

Heute war wieder einer der Tage, wo es knisterte. Diese Spannung setzte sich am Mittagstisch fort. Unwillkürlich fiel Pascha das Mittagsmahl des Mädchens ein, das er auf dem Drahtseil miterlebt hatte.

Er suchte die Augen seiner Eltern. Sie waren stur auf den Teller gerichtet.

Vor ihm saßen zwei Menschen, die mit ihren Problemen nicht fertig wurden. Warum war ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Eltern auf seine Hilfe angewiesen sein könnten?

So oft kreisten seine Gedanken um seelische Konflikte der Menschen, die er lösen wollte, und nie sah er die eigenen. Es war für ihn ein normaler Zustand. Doch das hier, war alles andere als normal.

Pascha fühlte sich hilflos. Wie sollte er beginnen. Niemand wusste so viel über seine Eltern, wie er und doch wusste er nichts.

Seine Mutter war eine energische Frau. Trotzdem hatte er sie gelegentlich dabei überrascht, wie sie weinte. Das war dann jedes Mal Grund genug, ihn anzuschreien. Sie schämte sich der gezeigten Schwäche.

Sein Vater war ebenfalls energisch und zu stolz, um einmal nachzugeben.

Was genau in den Eltern vorging, blieb ihm verborgen.

Die Mutter war eine schöne Frau. Sie hätte viele Männer haben können. Sie hatte ihrem Gemahl ewige Treue geschworen. Das ist etwas, was Wert hat. Seinem Vater erging es nicht anders. Sie waren aneinandergekettet bis ans Ende ihrer Tage. Pascha war erwachsen. Er fiel als Grund weg, um die Verbindung länger aufrecht zu erhalten. Da musste mehr sein. Seine Eltern redeten zwar noch miteinander, aber sie hatten das Zuhören verlernt. Oft kam es ihm vor, als verpufften ihre Worte, als wären sie nie gesagt worden.

Das Hirn war mit den vorbereiteten Argumenten vollgestopft, die man sich an den Kopf zu schleudern gedachte, so dass niemals Platz war, Worte des Partners aufzunehmen. Das Gefühl des Nichtverstandenwerdens, trieb die Lautstärke derart in die Höhe, dass Pascha in seinem Zimmer jedes Wort verstand.

Doch diese Stille war schlimmer. Die Blicke schraubten sich in den Teller, um sich nicht ansehen zu müssen. Die Wut hatte den Verstand getötet. Pascha war, als Zeuge dieser Reibereien, unerwünscht. Folglich schwiegen sie. All die Jahre hatte dieses Schweigen, in seiner Gegenwart, Schuldgefühle in ihm ausgelöst. Der Verstand sagte ihm, dass er nicht die Ursache sein konnte, doch das Gefühl setzte sich durch.

Aber was war die Ursache? Was entzweite seine Eltern, was nahm ihm seine Familie?

Er wollte dieses Problem heute aus der Welt schaffen.

Um kein Aufsehen zu erregen, wartete Pascha bis nach dem Essen.

Er lehnte sich in einen Sessel, damit er nicht umfiel, wenn sein Körper seelenlos zurückblieb, und lauerte auf eine günstige Gelegenheit.

Da er seine Mutter für emotional bewegter hielt, startete er seinen Versuch mit ihr.

Nach dem Abwasch setzte sie sich zu ihnen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, während der Vater dem Fernsehprogramm folgte.

Es war eine ideale Gelegenheit.

Der Tunnel war sehr kurz. Die Ausdehnung schien maßgeblich von der Entfernung beider Körper abzuhängen.

Der Eintritt in die Seelenwelt seiner Mutter war ein kleiner Schock für ihn.

Er trat in eine faszinierende, zweigeteilte Welt ein.

Auf der rechten Seite, auf der er gelandet war, erstreckte sich eine lange, weiße Mauer. Sie verlief in einem großen Bogen und wurde von vielen kleinen, ebenfalls weiß getünchten Nischen, durchbrochen. In diesen Vertiefungen tummelten sich Kruzifixe, Heiligenbilder und eine Vielzahl von brennenden Kerzen, deren Talg an ihnen hinunterlief. Die Mauer schien einen Raum einzuschließen, der auszugsweise die Wohnräume der Eltern kopierte.

In diesem Raum bewegte sich ein seltsames Wesen. Es war eine Frau, die nur aus einer Hälfte bestand. Ihr Körper war wie durchschnitten. Sie war streng und ordentlich gekleidet und hatte annähernd die Frisur seiner Mutter. Als sie sich umdrehte, erkannte er sie. Sie war es tatsächlich. Wie in Trance wiegte sie ihren Körper nach den Klängen moderner Orgelmusik und schickte einen sehnsuchtsvollen Blick zur gegenüberliegenden Welt, die durch einen offensichtlich unüberbrückbaren Graben von ihr getrennt war. Dabei hätte ein kleiner Sprung genügt, um über diesen Spalt hinwegzuspringen. Doch das flackernde Licht aus seiner Tiefe, das sich durch aufsteigenden Nebel bahnte, hielt sie davon ab.

Es war eigenartig, dass in allen Seelen immer dieser Nebel auftaucht. Es muss an der Angst vor Ungreifbarem und Unüberschaubarem liegen.

Die geschilderte Welt hob sich extrem von der, auf der anderen Seite des Grabens ab.

Wild wachsende Gebilde, die an eine Tropfsteinhöhle erinnerten, bestimmten den überdachten Grenzbereich des Grabens. Dieser ging nahtlos in eine farbenfrohe Landschaft mit makellos blauem Himmel über. Büsche, einzelne Bäume und eine blühende Wiese prägten die Ebene, die sich in einem weit entfernten Gebirgsmassiv verlor.

Ein prächtiges Spiel der Wolken, die durch kräftige Winde dirigiert wurden, vervollständigte den krassen Gegensatz zur Welt jenseits des Grabens. Souverän zog ein Adler seine Kreise, zu dem eine wild anmutende wunderschöne Frau bewundernd aufsah. Ihre Haare flatterten im Wind und passten sich wohltuend dem aufregend geschnittenen Kleid an, dass ebenfalls ein Gespiele des Windes geworden war.

Doch diese Frau bestand ebenso nur aus einer Hälfte. Als sie sich ihm zuwandte, erkannte er auch in ihr seine Mutter.

Pascha überraschte die Erkenntnis, dass sie mit einer gespaltenen Seele lebte.

Die Tatsache, dass er sich auf der Seite der streng geordneten Verhältnisse aufhielt, sagte ihm, dass es die dominierende Seelenhälfte war.

Die andere war offenbar ein Spiegelbild unterdrückter Sehnsüchte. Der Zwang der Gesellschaft ließ, für eine Frau in ihrem Alter, die Verwirklichung ihrer Träume nicht zu. Nie hätte Pascha geahnt, dass der christliche Gedanke so stark in seiner Mutter verwurzelt war. Nie hätte er gedacht, dass dies gleichermaßen der Grund für die Seelenqualen war, die diese arme Frau plagten. Es war nicht das christliche Gedankengut, das sie einengte, sondern die Zwänge, die sie sich aus falschem Verständnis heraus, selbst auferlegte.

Pascha nahm sich vor, die Szene etwas länger zu beobachten, bevor er sich einmischen würde.

Das Grundproblem war erkennbar, doch das konnte nicht alles sein.

Plötzlich erhob sich aus der Mitte des Grabens eine Gestalt. Es erweckte den Eindruck, als würde sie der Hölle entsteigen. Das rötliche Licht im Nebel gab ihr ein gespenstisches Aussehen. Bei genauerer Betrachtung bestand eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem Vater.

Er lockte mit verführerischer Stimme.

„Kommt mit, Ihr Schönen“, wobei er auf ein Zelt in der Ferne deutete. Die modernere Damenhälfte schäumte vor Begeisterung über. Ausgelassen sprang sie hin und her. Besser gesagt, sie schwebte, da sie nur über ein Bein verfügte. Es geschah das Unwahrscheinliche. Sie sprang über den Graben und vereinigte sich spontan mit der zurückhaltenden Hälfte.

Für kurze Zeit waren sie eins. Die wiedervereinte Seele bot ein kurioses Bild. Während die eine Seite strahlte, standen der anderen Gesichtshälfte Sorgenfalten auf der Stirn.

Die Stimmung wogte hin und her. Mal bewegten sie sich in Richtung Graben, um den Sprung zu wagen, dann zogen sie sich zurück, bis sich letztendlich beide Hälften bekämpften.

Es endete damit, dass sie sich erneut teilten. Der Eindringling wurde vertrieben.

Das alte Bild wurde wieder restauriert, während die vaterähnliche Figur weiterhin seine verlockenden Angebote unterbreitete.

Auf der ungestümen Seite pulsierte das Leben. Aus der Ferne klangen Discofetzen herüber, die auf ein stimmungsvoll angestrahltes Zelt aufmerksam machten. Die wilde Dame zauberte einen kurzen Pfiff zwischen den Fingern hervor. Im nächsten Augenblick trabte ein rabenschwarzes Pferd mit rauschender Mähne heran und bäumte sich vor ihr auf, bevor es zum Stehen kam. Ein kräftiger Sprung beförderte die halbierte Schönheit auf den Rücken des feurigen Tieres. Mit Freudenjuchzern spornte sie es an und flog förmlich dem lockenden Ziel entgegen. Während sich die Reiterin dem Zelt mit seinen ausgelassenen Gästen näherte, beobachtete Pascha, wie der traurige Blick der sittsamen Hälfte sehnsuchtsvoll der davonrasenden Stute folgte.

Aufgelöst versuchte sie, dem entschwindenden Pferd zu folgen, doch der Graben brachte ihr sofort die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens ins Bewusstsein.

Erschreckt zuckte sie vor der drohenden Tiefe zurück. Als sie das strafende Schimpfen des Satans hörte, der sich darin zurückzog, begab sie sich demutsvoll an ihren Tisch hinter die Mauer. Sie hatte widerstanden.

Der Vater sah seiner erschöpften Frau zu, wie ihr entspanntes Gesicht auf die Sessellehne zurücksank. Ihm kam ihre Jugendzeit in den Sinn. Aus dieser Anwandlung heraus fragte er seine Frau, ob sie nicht Lust habe, heute mit ihm zum Tanz zu gehen.

Sie öffnete nicht einmal die Augen, als sie antwortete. Nur an der sich stärker hebenden Brust bemerkte er ihre Erregung. Die negative Antwort ließ ihn vermuten, dass diese aus der Wut heraus geboren worden war.

„Ich verstehe nicht, wie du vom Feiern reden kannst. Es liegt noch so viel Arbeit herum. Wenn plötzlich Besuch kommt, werden sie einen schönen Eindruck von uns haben. Außerdem sind wir schon zu alt für die Discos, die man heutzutage veranstaltet.“

Ein weiterer zaghafter Versuch, sie zu überreden, schlug ebenfalls fehl. Er kam aber nicht auf die Idee, seine Hilfe im Haushalt anzubieten, um die eingesparte Zeit für ein paar fröhliche Stunden nutzen zu können.

Die Mutter stand auf und widmete sich wieder der noch unerledigten Arbeit.

Die schlichte Frauenhälfte sinnierte ein paar Minuten am Tisch. Ein heftiges Vibrieren brachte, die vom Kerzenschein erleuchtete Seite, in einen chaosähnlichen Zustand. Große Mengen Staub stürzten herab und brachten einen Teil der Kerzen zum Erlöschen.

Emsig beseitigte die pflichtbewusste Seelenhälfte die Unordnung und zündete die Kerzen wieder an. Kein Zeichen des Murrens war erkennbar.

Versonnene Blicke zum Zelt, in dem sich die unerreichbare Hälfte ihrer Seele aufhielt, begleiteten ihre Handlungen.

Nach getaner Arbeit kehrte sie erschöpft an ihren hölzernen Tisch zurück.

Dann kündigte ein pulsierend herausgestoßener Nebelschwall das Nahen des Grabenbewohners an. Starke Unruhe erfasste die Seelenwelt. Alles war in Aufruhr.

Aus der Ferne näherte sich, wie alarmiert, die reitende Halbheit.

Am Tisch bäumte sich seine Mutter inzwischen auf. Sie wand sich in Krämpfen.

Pascha glaubte zu träumen. Aus ihrem Leib löste sich ein Embryo, das die Größe eines Kleinkindes hatte. Es rutschte unaufhörlich dem Graben entgegen. Die Mutter war zu keiner Regung fähig. Das Kind hielt sich im letzten Moment am Rande des Grabens fest und drohte, jeden Augenblick vom Schlund verschluckt zu werden. Dann verlor es den Halt.

Der Schrei beider Seelenhälften, die sich dem Graben bis zum Rand genähert hatten, hallte durch die Scheinwelt.

Ohne es zu merken, hatten sich beide Seelenhälften vereint und starrten als friedliches Ganzes hilflos in die Tiefe.

Der aufsteigende Vater hob das embryohafte Kind empor und legte es zu Füßen der Frau nieder. Er hatte sein schreckliches Aussehen verloren und beide sorgten sich um das ungelenk zappelnde Etwas.

Hätte Pascha es nicht selbst beobachtet, so hielte er dies nicht für möglich. Seine Eltern liebten ihn doch.

Ihm war unklar, warum sie es nie zeigten, aber die Zeichen waren nicht anders zu deuten.

Was hier vor sich gegangen war, rief seine ganze Aufmerksamkeit auf den Plan.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatten seine Eltern bemerkt, dass Paschas Seele den Körper verlassen hatte. Er hätte gern dieses Bild für längere Zeit erhalten. Nie sah er seine Eltern so einträchtig beieinander.

Es war jedoch nicht in seinem Sinne, Vater und Mutter unnötige Sorgen aufzubürden, obwohl ihm dies Beispiel zeigte, dass auch Sorgen zusammenschweißen.

Einen Augenblick noch, sagte er sich. Ein ungewohntes Glücksgefühl nahm ihn in Besitz und es war ihm nicht möglich, seine Augen von dieser Szene zu lösen. Beim Bemühen um das Stückchen Leben mit Paschas Gesichtszügen, hatte der Vater langsam seine satanischen Züge verloren. Es waren jetzt ungetrübt Vater und Mutter, die von einer gemeinsamen Sorge getragen wurden. Wie schön wäre es, wenn er dieses Bild nach draußen tragen und seinen Eltern anheften könnte.

In diesen Augenblicken kam es ihm vor, als sei er neu geboren worden, als hätte er gerade eben seine Eltern bekommen.

Er hatte zu lange darauf warten müssen. Vermutlich hätte er eine glücklichere Kindheit verlebt, wenn ihm dieses Wissen mitgegeben worden wäre.

Doch mit dieser frischentdeckten Liebe kehrten auch die Sorgen um seine Eltern zurück.

Er musste seine Wanderung unterbrechen, um ein Lebenszeichen nach außen zu senden.

Pascha kehrte in seinen Körper zurück, ohne dass die Mutter seine Anwesenheit in ihrer Seelenwelt mitbekommen hätte.

Da seine Mutter in unmittelbarer Nähe war, gestaltete sich sein Rückweg abermals kurz.

Pascha erwachte im Rettungswagen, der ihn zum Krankenhaus der nächsten Stadt brachte.

Seine Mutter saß auf dem Beifahrerplatz in der Fahrerkabine, während sich der Notarzt redlich um sein Leben bemühte.

Dieser staunte nicht schlecht, als sich Pascha, ohne die geringsten Merkmale einer Krankheit, erhob. Sein Wunsch, wieder nachhause gebracht zu werden, wurde ihm nicht gewährt. Eine Weile sollte er zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.