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Viola wird hellhörig, als ihre Redaktion eine Reportage über die einst berühmte Wahrsagerin Mathilda Lehnert plant. Sie kämpft um diesen Auftrag, in der Hoffnung, den Selbstmord ihrer Mutter aufklären zu können. Diese erhängte sich, als Viola noch ein Kind war, nachdem sie von einem Besuch bei dieser Frau zurückgekommen war. Hat sie die Mutter in den Tod getrieben? Da der Seherin Einblicke in die Menschen nur durch körperlichen Kontakt möglich sind, meidet Viola jede Berührung. Sie befürchtet, keine Antworten zu bekommen, sobald ihre Identität offengelegt ist. Doch das bewegte Leben der alten Dame fasziniert sie. Zudem ist sie ihr ausgesprochen sympathisch. Zweifel kommen auf, ob nicht sie selbst zum Tod der Mutter beigetragen hatte. Was sie dann erfährt, stürzt Viola in tiefe Seelenqualen. Zugleich sieht sie sich einer gefährlichen Aufgabe gegenüber.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2024
Erwin Sittig
Liebe
ohne
Leben
Drama
© 2024 Erwin Sittig
https://erwinsittig.de
Covergestaltung: Erwin Sittig
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN
Paperback:
978-3-384-28990-2
Hardcover:
978-3-384-28991-9
e-Book:
978-3-384-28992-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Liebe ohne Leben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 56
Cover
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Liebe ohne Leben
1
Seit zwanzig Minuten schaute Viola Degen aus dem Fenster des Verlagsgebäudes ihres Nachrichtenmagazins. Sie ließ sich von dem atemberaubenden Panorama einfangen, das sich vor ihr ausbreitete. Die zwölfte Etage bot einen fast unverbauten Ausblick über weite Teile der Stadt. Nichts lenkte sie ab, denn die riesigen Fenster waren makellos klar. Die Skyline ihres Heimatortes war nicht gerade spektakulär, aber wenn man mitten drin saß und den Blick bis zum Horizont schweifen ließ, offenbarte sie ihren Zauber. Große Parkanlagen, idyllische Gewässer und eine harmonisch abgestimmte Architektur, vereinten sich zu einem betörenden Menü für die Seele. Die leise dahinplätschernde Geräuschkulisse der Redaktionssitzung, in der sie eingebunden war, lullte sie langsam ein.
Es war nichts Weltbewegendes, was heute besprochen wurde. Dementsprechend demotiviert hatte sie sich aus dem Redegewirr ausgeklinkt. Es war nicht das erste Sommerloch, das sie mit aufrüttelnden Artikeln zu füllen hatten. Irgendetwas würden ihre Kollegen schon an den Tag zerren, um das Defizit an relevanten Nachrichten auszugleichen. Sie würde sich irgendeines dieser belanglosen Themen herausfischen und es in einen fesselnden Artikel verwandeln. Es war ihr egal, was es sein würde. Ihr Herz würde ohnehin nicht daran hängen. Doch mit ihrer langjährigen Erfahrung und dem ihr bescheinigten außergewöhnlichen Talent, würde sie dennoch etwas zaubern, was die Menschen berührt.
Sie war jetzt 39 und hatte fast alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Ein zehnjähriger Sohn, ein liebevoller Mann, der stets bemüht war seiner Firma zu mehr Ansehen und Wohlstand zu verhelfen und ein Häuschen mit Pool waren der Stolz der kleinen Familie. Nicht, dass sie den materiellen Werten hinterherhechtete, aber es brachte Ruhe und Sicherheit in ihr Leben.
Während sie fasziniert einen Schwarm Amseln begleitete, der sich ständig umformierte, sie mit immer neuen Gebilden überraschte, schreckte sie ein Name auf. Mathilda Lehnert. Als hätte ein Schuss die Vögel vertrieben, war sie plötzlich hellwach und huschte mit ihren Augen über die inzwischen angeregt diskutierenden Kollegen. Wer hatte den Namen ausgesprochen? Konzentriert versuchte sie, zu erkunden, was sie verpasst hatte.
„Willkommen zurück, Viola“, begrüßte sie ihr Chef, dem nicht entging, dass sie nicht bei der Sache war.
Sie reagierte darauf nicht, sondern sah ihn nur vorwurfsvoll an, da er sie kurz in den Mittelpunkt gerückt hatte.
Chris Trenker nahm das angeschnittene Thema wieder auf. Er war ein stattlicher Mann, durchtrainiert, Kurzhaarfrisur, Dreitagebart und eine Brille, die seriös wirken sollte und ihm zuverlässig zu diesem ersten Eindruck verhalf. Sie mochte ihren Chef.
Seinen guten Ruf hatte er der Aufmerksamkeit und Fairness zu verdanken, die er jedem gleichermaßen zuteilwerden ließ. Doch bei seiner Arbeit war er auch fordernd und unnachgiebig. Viola dagegen genoss den Ruf, ihre Storys auf den Punkt zu bringen, gründlich zu recherchieren, einfühlsam und niemals verletzend zu sein.
„Vielleicht erinnert ihr euch, wie diese Frau vor vielen Jahren Schlagzeilen machte. Mathilda Lehnert verhalf damals der Polizei zu einem großen Schlag gegen die organisierte Kriminalität. Sie stieg für kurze Zeit zur bedeutendsten Seherin des Landes auf. Doch danach wurde es sehr schnell ruhig um sie. Sie verschwand förmlich über Nacht wieder von der Bildfläche. Meint ihr nicht, dass es die Leute interessieren könnte, was aus ihr geworden ist?“
„Auf jeden Fall hat eine Wahrsagerin immer etwas Mystisches an sich. Vor allem die ältere Bevölkerung wird darauf abfahren“, warf Herbert ein.
Der Junge hatte seine Akne immer noch nicht überwunden. Er war das Küken in ihrem Team und sehr ehrgeizig.
„Es ist keineswegs so, dass dieses Thema nur die Alten interessiert“, ergänzte Rita.
„Im heutigen Zeitalter ist Fantasy bei fast jeder Altersgruppe beliebt. Denkt nur an Harry Potter, der die Leute durch die Bank weg vom Hocker riss. Lasse mich den Artikel schreiben Chris. Das liegt mir, denke ich. Mathilda Lehnert wird durch mich neuen Ruhm erlangen.“
Jedes Mal wenn der Name dieser Frau fiel, zuckte Viola zusammen, als würde ihr jemand einen Dolch zwischen die Rippen treiben. Sie war verantwortlich für den Tod ihrer Mutter, wurde dafür jedoch nie belangt. Niemandem hatte sie davon erzählt. Nicht einmal ihrem Mann.
Es wäre verheerend, wenn Rita den Auftrag bekäme. Dann würde sie nie erfahren, was damals genau geschah. Sie schätzte ihre junge Kollegin als oberflächlich und sensationslüstern ein. Vermutlich würde sich ihre Geschichte wie ein Märchen lesen. Natürlich glaubten die Menschen zu gern an Märchen, die wahr werden könnten. Dafür ist das Sommerloch nahezu prädestiniert. Doch Viola musste die Frau kennenlernen, die auch über Leichen ging. Vor allem wollte sie erfahren, warum sie das tat.
„Es geht hier nicht um Ruhm und unglaubliche Geschichten. Wir sollten die Frau herauskehren, nicht die Seherin. Ihre Fähigkeiten dürfen nur Beiwerk sein. Gib mir den Artikel, Chris.“
„Bei dem großen Interesse muss die Geschichte ja ein Erfolg werden, Mädels. Allerdings tendiere ich zu Rita. Sie ist jung und hat noch die Fähigkeit zu träumen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie frischen Wind in das Thema bringt.“
„Der frische Wind könnte Mathilda Lehnert aus der Fassung bringen und blockieren. Wie alt ist sie? Sie müsste schon über 80 sein.“
„Mancheiner fühlt sich inspiriert durch die Jugend und entdeckt dann erst seinen Wunsch, sich mitzuteilen. Nutzen wir diese Chance“, unterstrich Chris.
„Du wirst hier nur eine einzige Chance bekommen, Chris“, erregte sich Viola.
Sie sprang auf und gestikulierte beim Reden mit den Händen. Alle sahen sie erstaunt an. So aufgebracht hatten sie ihre Kollegin selten erlebt.
„Wenn Du hier den falschen Ansatz wählst, werden wir diese Geschichte verlieren.“
Dann wendete sie sich direkt an ihre Gegenspielerin.
„Nimm es mir nicht übel, Rita, aber ich glaube nicht, dass du dich in einen so alten Menschen hineinversetzen kannst. Dafür benötigst du Feingefühl und Verständnis. Du musst dich im entscheidenden Moment zurücknehmen können und manchmal auch nur still sein. Kannst du das? Hast du nicht schon des Öfteren erzählt, wie anstrengend deine Oma sein kann? Willst du dir das wirklich antun? Wenn es dich anstrengt, wirst du deine Lockerheit verlieren, dich verkrampfen. Und vorbei ist es mit deinem Traum von einem Märchen, das du heraufbeschwören wolltest.“
Rita wirkte empört. Ihre Lippen versteiften sich zu einem spitzen Mund, was ihr schönes Gesicht entstellte. Sie kniff die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten. Man sah ihr an, wie sie ihren Groll zurückhielt, um ihn kurze Zeit später hinauszuschleudern, wie bei einem überreifen Vulkan.
„Meine Oma liebt mich und ich liebe sie auch.“
Rita hatte sich nun ebenfalls erhoben, so dass sie sich wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden.
„Obwohl sie gelegentlich anstrengend ist, haben wir nicht verlernt, miteinander zu reden. Dabei würde ich bezweifeln, dass sie mit so einer arroganten Person wie dir reden würde.“
„Sie redet mit dir, weil sie dich aufwachsen sah und all deine Macken aus Liebe toleriert. Aber die Lehnert hat dich nicht aufwachsen sehen. Sie sieht nur ein aufgestyltes Modepüppchen, dass nicht aussieht, als würde es zu ihrem Leben passen.“
„Ach. Du meinst, du findest den besten Zugang zu ihr, weil du dich auch wie eine Oma anziehst? Da kann ich natürlich nicht mithalten. Also gut. Schicken wir die Oma zu der Oma.“
Sie setze sich wieder und atmete so schwer, als müsse sie sich einen riesigen Vorrat Luft anlegen, um den langen Kampf durchzustehen.
„Außerdem kenne ich die Frau“, log Viola und setzte sich ebenfalls.
Auch sie atmete schwer und starrte ihre zittrigen Finger an.
„Noch nie habe ich so eine Schlacht um einen Zeitungsartikel erlebt. Es tut dem Team nicht gut, wenn ihr dermaßen aufeinander losgeht“, erklärte Chris.
„Ihr seid Journalistinnen. Beherrschung sollte zu einer Grundtugend in eurem Job zählen. Ich hoffe, ihr holt euch wieder ein und vertragt euch. Woher kennst du diese Frau, Viola.“
„Meine Mutter war ihre Kundin.“
Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als ihr die Mutter erzählte, dass sie einen Tag weg sein würde, weil sie eine Wahrsagerin besuchen wolle. Sie hatte sich damals gewundert, warum sie sich keine in der Nähe suchte. Aber man hatte ihr gesagt, dass sie die Beste sei. Zwei Tage später hatte sich ihre Mutter erhängt.
Er dachte nach, wobei sein Blick zwischen den beiden Frauen zu wandern begann.
„Wenn das so ist, sollten wir diesen Vorteil nutzen. Es ist immer leichter, einen Menschen zu öffnen, wenn es bereits eine Verbindung und Erinnerungen gibt. Also gut. Bereite dich vor. Du wirst Anfang nächster Woche da runter fahren und mindestens eine Woche dort bleiben. Vielleicht können wir sogar eine Artikelserie daraus machen.“
2
Immer noch aufgewühlt, hatte sie die Redaktion verlassen. Die Kollegen tuschelten und Rita würdigte sie keines Blickes. Die junge, elegante Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur und den schwarzen Strähnen darin, stand allein am Fenster. Den Blick hatte sie in der Ferne versenkt. Die Stare hatten sich irgendwo niedergelassen. Obwohl sie dieses Schauspiel verpasst hatte, wäre es für sie ohnehin nicht von Bedeutung gewesen. Die Wut hatte sie für derartige Nebensächlichkeiten blind gemacht. Aber sie hatte gelernt, auf ihre Chance zu warten.
Der Weg nachhause war heute viel länger. Wo sie die Zeit verloren hatte, wusste Viola nicht. Plötzlich tauchten Bilder auf. Sie sah ihre erhängte Mutter vor sich und verharrte. Obwohl sie damals noch ein Kind war, hatte sich dieses Erlebnis in allen Details eingebrannt. Es war schwer, zu erklären, wie diese verdrängte Erinnerung aus den unendlichen Tiefen ihres Gedächtnisses wie durch Magie wieder emporgestiegen war. Die Nennung dieses Namens, Mathilda Lehnert, hatte ausgereicht, um die alten Geister wiederzubeleben. Eine Wäscheleine hatte herhalten müssen, um dem Leid der Mutter ein Ende zu setzen. Sie hätte erwartet, dass eine Erhängte mit verzerrtem Gesicht daherkäme, das die Todesqual dokumentierte. Doch ihre Mutter wirkte entspannt. Als fühle sie sich willkommen, dort wo sie hingegangen war.
Warum hatte sie sie im Stich gelassen? Was hatte Frau Lehnert ihr gesagt? Befahl sie ihr womöglich, das zu tun? Der Tod der Mutter war zum Tabuthema geworden, um den Schmerz nicht immer wieder aufzuwühlen. Und tatsächlich war sie irgendwann darüber hinweggekommen, mit Hilfe einiger Psychologen und ihren Pflegeeltern, die sich aufopfernd ihrer annahmen.
Überrascht fand sie sich vor ihrer Wohnungstür wieder. Sie hätte nicht sagen können, welchen Weg sie gegangen war, wem sie begegnete und schon gar nicht, ob die Singvögel im Park ihren Gesang beigesteuert hatten, um sie aufzuheitern. Ihr war nicht einmal aufgefallen, dass sie der warme Sommerregen durchnässt hatte. Der Schirm verbrachte unterdessen sein nutzloses Dasein in ihrem kleinen Rucksack. Wie sollte sie ihrem Mann erklären, dass sie jenseits von Zeit und Raum gewandelt war? Sie hatte ihm nie von diesen Bildern erzählt, die sie wieder eingeholt hatten. Wie denn auch? Sie hatte bis heute ja selbst nichts davon gewusst. Natürlich hatte sie Albträume, in denen Tod und Verlust eine bedeutende Rolle spielten. Doch damit hatte sie ihn verschont. Es waren nur Träume. Und heute wurde einer davon wahr.
Ihr Mann Hendrik sah ihr sofort an, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Die regenschweren brünetten Haare, die wild herunterhingen und das Gesicht bedeckten, verstärkten den Eindruck.
Auch ihre Augen waren nicht die, die er kannte.
„Ist dir der Teufel begegnet, Schatz?“
Sie war noch nicht ganz bei sich und musste sich erst sammeln. Hier, in der Kühle des Hauses und in den schützenden Armen ihres Mannes, fielen die dunklen Schleier langsam von ihr ab.
„Ich muss euch verlassen“, kam geistesabwesend über ihre Lippen.
„Wie bitte?“, fragte ihr Mann ungläubig.
„Wie meinst du das?“
„Entschuldige. Ich meinte, ich muss verreisen.“
„Ein Auftrag?“
„Ja. Ich soll einen Artikel über eine Wahrsagerin schreiben.“
„Hat dich das so fertig gemacht?“
„Es ist die Frau, die meine Mutter auf dem Gewissen hat. Würde dich das nicht fertigmachen?“
„Du hattest mir nur erzählt, dass deine Eltern tot seien, aber nichts von einem unnatürlichen Tod. Hat sie deine Mutter aktiv getötet?“
„Meine Mutter war bei ihr und hat sich erhängt, als sie zurückkam. Weiß der Himmel, was sie mit ihr angestellt hat. Möglicherweise hat sie Mutter gesteuert und ihr gesagt, was sie machen soll.“
„Das ist ja schrecklich. Warum hast du mir das verschwiegen?“
„Ich hatte es erfolgreich verdrängt. Offenbar gute Arbeit der Kinderpsychologin.
Erst als der Name dieser Frau in der Besprechung fiel, war alles wieder da.“
„Immer mit der Ruhe, Schatz. Du darfst diese Frau jetzt nicht vorverurteilen. Niemand weiß, was damals geschah. Es gilt immer die Unschuldsvermutung. Gehe unvoreingenommen in die Gespräche. Vielleicht entwickelt sich alles von ganz allein in die richtige Richtung.“
„Was heißt hier Unschuld? Was für eine Erklärung soll es sonst geben, wenn die Ereignisse unmittelbar aufeinander folgen?“
„Du hast selbst gesagt, dass Du keine Erinnerung an diese Zeit hast. Vielleicht solltest du den Auftrag an einen Kollegen abgeben. Warum willst du dich damit quälen? Was soll dir die vermeintliche Wahrheit jetzt noch bringen?“
„Verstehst du das nicht? Solange ich da keine Klarheit habe, erdrückt mich vielleicht irgendwann die Frage, ob ich meine Mutter in den Tod getrieben habe? Wenn ich der Wahrsagerin den Spiegel vorhalte, gesteht sie vielleicht. Es wäre ohnehin verjährt.“
„Nun mache dich nicht verrückt. Ich verstehe ja, dass du das tun musst.“
„Also wäre das in Ordnung für dich, wenn ich mich für ein oder zwei Wochen komplett aus dem Familienleben ausklinke? Ich würde in dieser Zeit bei der Frau leben müssen. Am Montag wollte ich die Bahn nehmen.“
„Vernünftig, dass du nicht mit dem Auto fährst. Lasse mich ein paar Anrufe machen.
Ich denke, mein Chef wird sich darauf einlassen, dass ich kurzzeitig etwas kürzer trete.“
Er ging ins Arbeitszimmer, um zu telefonieren.
Ihr fiel ein Stein von der Seele. Ohne die Unterstützung ihres Mannes würde sie ihr Vorhaben vermutlich aufgeben müssen.
Sie folgte den Geräuschen, die aus dem Badezimmer drangen. Paul, ihr Sohn, war vor einem Monat 10 Jahre alt geworden. Nicht viel älter als sie damals, als sie ihre Mutter verlor. Ein Glück, dass er eine unbeschwerte Kindheit genießen konnte. Langsam wurde ihr klar, weshalb sie sich zu einer überfürsorglichen Mutter entwickelte. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, warum sie damit so übertrieb. Heute hatte sie die Antwort bekommen. Ihr Sohn war gut geraten. Sie lebten in Harmonie und konnten bisher alle Differenzen gütlich beilegen. Paul war gerade mit dem Zähneputzen beschäftigt, als sie zu ihm trat.
„Hallo Mum“, quetschte er hervor, während der Mund noch voller Schaum war.
Eigentlich mochte sie es nicht, wenn er sie mit dem englischen ‚Mum‘ betitelte. Warum deshalb einen Streit anfangen? Die Jugend hatte schon immer ihre eigene Sprache hervorgebracht.
„Hallo, Sunnyboy“, antwortete sie als kleine Rache für das ‚Mum‘.
Doch er grinste nur und putzte weiter.
Während sie im Wohnzimmer auf ihn wartete, hatte sie den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig. Sie wollte die kurze Zeit mit der Familie genießen, bevor sie sich in ein Abenteuer stürzte, dass ihr den Boden unter den Füßen wegreißen könnte.
Hendrik kam mit der freudigen Botschaft herein, dass sein Chef zugestimmt hatte, für die nächsten zwei Wochen ein paar Stunden weniger zu arbeiten. Er setzte sich neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dorthin, wo die Seele wohnt, behauptete er gelegentlich. Sie war sich nicht so sicher, wo ihre zu finden sei. Wenn sie etwas ganz tief berührte, spielte sich das in der Herzgegend ab. Manchmal jedoch auch im Magen. Darum vermutete sie, dass ihre Seele sich nicht entscheiden könne und bei Bedarf umzog.
Paul war inzwischen bettfertig, kam angesprintet und quetschte sich zwischen sie, um von beiden seine Kuscheleinheiten einzufordern.
„Was meinst du, mein Großer? Ich werde für zwei Wochen wegfahren. Bekommst du das hin, ohne mich zurechtzukommen? An den Wochenenden würde ich euch aber besuchen, um zu kontrollieren, ob du nicht unordentlich geworden bist.“
Sie streichelte lächelnd über seinen schwarzen Lockenkopf, den er vom Vater geerbt hatte.
„Ich glaube eher, dass du Papa kontrollieren willst. Aber habe keine Angst. Ich passe schon auf ihn auf.“
„Verstehe ich das richtig? Du möchtest mich am Wochenende gar nicht sehen?“
Sie kitzelte ihn, so dass er sich vor Lachen krümmte.
„Dann komme ich eben nicht nachhause.“
Sie setzte einen Schmollmund auf und lehnte sich scheinbar beleidigt zurück.
„Du kannst ja als Gast kommen“, lenkte er ein.
„Okay. Dann musst du mich aber auch bewirten. Haben wir einen Deal?“
„Nichts leichter als das. Ich werde Papa beauftragen, dass er uns Pizza bestellt.“
Sie war froh, dass ihr Sohn schon so selbständig und nicht übertrieben anhänglich war. Das machte ihr den Abschied leichter. Ein Arbeitstag lag jedoch noch vor ihr, bevor sie sich ins Wochenende stürzen konnte, dass sie vermutlich Mathilda Lehnert widmen würde.
3
Sie hatte ihre Jacke gerade an den Garderobenhaken gehängt, als auch schon ihr Chef seinen Kopf aus seiner Bürotür schob.
„Kommst du kurz zu mir, bevor du dich in die Arbeit stürzt?“
Eigentlich hatte sie wenig Zeit, denn der Artikel, an dem sie schon zwei Tage gearbeitet hatte, musste heute unbedingt fertig werden. Da sie am Montag ihre Reise antreten würde, stand ebenso die Übergabe ihrer anrecherchierten Themen auf dem Plan, die andere Kollegen fortführen müssten.
Chris saß schon an seinem Rechner, als sie eintrat. Was war so eilig, dass es nicht warten konnte? Er hatte bereits einen zweiten Stuhl neben sich gestellt, damit sie bequem seinen Ausführungen folgen könnte.
„Wir haben scheinbar mehr Glück als Verstand“, eröffnete er ihr lächelnd.
Sie sah auf seinen Bildschirm, der ein zweistöckiges Holzhaus zeigte, das direkt an einem Berghang erbaut worden war. Von der Terrasse hatte man einen freien Blick in den Abgrund. Viola erschauerte, als sie ihre Gedanken durch den Kopf gehen ließ, während sie den Namen von Mathilda Lehnert unter dem Foto entdeckte.
„Die Frau hat mit 70 ihren Job an den Nagel gehängt und betreibt seit dem in ihrem Haus eine Pension.“ Erwartungsvoll sah er sie an, doch in ihrem Gesicht las er eher Entsetzen statt Freude.
„Das Schönste daran ist, dass sie in den nächsten 14 Tagen einen Gast haben wird, der Viola Degen heißt.“ Viola reagierte nicht und betrachtete immer noch das Foto. „Gerade heute erhielt sie eine Stornierung, wegen Krankheit, so dass die Wohnung überraschend frei wurde. Ich hatte nach ihrer ursprünglichen Absage schon ein Ersatzquartier besorgt, doch heute früh rief sie an, ob wir noch Interesse hätten. Ich sagte sofort zu.“
Da das starre Gesicht seiner Mitarbeiterin weiterhin keine Freude erkennen ließ, fragte er nach.
„Das ist dir doch recht, Viola? Ich dachte, wenn du unmittelbar an ihr dran bist, ergeben sich viel mehr Gelegenheiten, hinter die Kulissen zu schauen. Von der Zeitersparnis wollen wir gar nicht erst reden.“
Sollte sie ihm sagen, dass sie Angst davor hatte, dass diese Frau rund um die Uhr Zugriff auf sie hätte? Wozu wäre sie fähig, wenn sie an den Punkt kämen, wo sie ihr den Tod der geliebten Mutter vorwerfen würde? Müsste sie dann um ihr Leben fürchten? Mit ferngesteuertem Geist wäre ein Fehltritt unverdächtig, der sie weitab vom Haus in den Abgrund stürzen ließe. Damit hätte sie einen unliebsamen Quälgeist ausgeschaltet. Was mochte ihre Mutter gewusst haben, das sie in einen überraschenden Selbstmord trieb.
„Natürlich ist es eine riesige Zeitersparnis. Doch verlieren wir dann nicht den Überraschungseffekt, wenn ich immer wieder neu unvorhergesehen auftauche?“
Endlich hatte sie sich vom Bildschirm gelöst und sah Chris in die Augen, in denen sie Verwunderung las.
„Wir wollen über ihr Leben berichten und sie nicht eines unmoralischen Lebenswandels oder eines Verbrechens überführen. Wobei das auch unwahrscheinlich wäre. Die Frau ist 79 Jahre alt.“
Wie kommt er plötzlich auf ein Verbrechen? Ihr Einsatz erschien ihr jetzt immer fragwürdiger. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Für ein Zurück war es jedoch zu spät.
„Alles in Ordnung. War nur so ein Gedanke. Hast Du gut gemacht. Wie ist der Service?“
„Alles etwas einfach. Aber du hast ein separates Bad mit Dusche und Toilette, was bei so alten Hütten nicht selbstverständlich ist. Radio, Fernseher und eine kleine Kochnische, obwohl du dort auch Vollverpflegung nachbuchen könntest. Die Frau macht alles allein, hat keine Angestellten.“
Keine Angestellten, keine Zeugen, dachte Viola, schalt sich jedoch gleich darauf wegen Ihrer immer wiederkehrenden Schwarzseherei.
„Warten wir mal ab, wie sie kocht.“
„Sie wirkt fit im Kopf und hat eine ziemlich jugendliche Stimme. Ich hätte keine alte Frau dahinter vermutet. Etwas schüchtern, aber auch schlagfertig.“
„Wie dem auch sei. Ich werde sie schon knacken.“
„Davon bin ich überzeugt, zumal du sagtest, dass deine Mutter ihre Kundin war. Aber ich konnte dir den Weg schon etwas ebnen.
Sie weiß, dass du Journalistin bist und ein oder zwei Artikel über ihr Leben schreiben möchtest.“
„Findest Du das klug? Vielleicht wäre sie offener, wenn ich mich als einfache Urlauberin ausgegeben hätte.“
„Da täuschst du dich. Sie sträubte sich zwar anfangs und meinte, dass ihr Leben zu unbedeutend sei, um daraus eine Geschichte zu machen, doch dann stimmte sie zu. Ich versprach ihr ein ansehnliches Honorar, falls die Geschichte gut einschlägt, was vermutlich zu ihrem schnellen Sinneswandel beigetragen hat.“
Sie schauten sich auf ihrer Internetseite ein paar weitere Fotos an. Mathilda selbst war nie in den Vordergrund gerückt. Kein Porträt in Großaufnahme. Das steigerte Violas Neugier.
Für heute war der Tag gut mit Arbeit gefüllt. Sie verschob ihre Vorhaben bezüglich der Seherin aufs Wochenende, wobei sie jedoch den Sonntag für die Familie reservieren würde.
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Sie stand früh auf. Hendrik und Paul schliefen noch. Das wollte sie ausnutzen. Was ihre Recherchen zu Mathilda Lehnert erleichtern würde, war ihre Zugriffsberechtigung auf diverse Zeitungsarchive. Zunächst beschränkte sie ihre Suche auf das Internet. Seltsamerweise gab es so gut wie keine Berichte zu dieser Frau, was ihre Zeit vor dem Hilfegesuch der Polizei betraf. Lediglich ein kurzer Artikel über die Eröffnung ihrer Praxis als Psychologin fiel ihr ins Auge. Darin war mit keinem Wort erwähnt, dass sie auch wahrsagerische Fähigkeiten besaß. Dagegen wurden ihre Erfolge bei der Aufklärung eines Mordes, der im Dunstkreis des organisierten Verbrechens geschah, groß ausgeschlachtet. Es war ersichtlich, dass die Polizei sich mit Informationen zurückhielt, so dass man nur Mutmaßungen anstellen konnte. Keinem einzigen Blatt war es gelungen, ein Interview mit Mathilda auf die Beine zu stellen. Frau Lehnert hielte sich bedeckt und sei zu Gesprächen nicht bereit. Mehr war über die Rolle der Wahrsagerin nicht zu erfahren. Man gab jedoch vor zu wissen, dass sie sich seit diesem Beweis ihrer wahrsagerischen Fähigkeiten einem riesigen Kundenansturm gegenüber sah. Die Reporter bemühten sich daraufhin, ihre Kunden zu interviewen, die ihre Praxis verließen. Die hielten sich aber erwartungsgemäß mit ihren Aussagen zurück. Zum einen, um ihre geschätzte Wahrsagerin nicht zu erzürnen, zum anderen, um nicht ihre Familie in den Mittelpunkt des Interesses zu schieben.
Die Fotos zeigten eine Frau mittleren Alters, die vor allem durch ihren kleinen Körperwuchs auffiel. Sie wirkte eingeschüchtert und bot niemals einen offenen Blick.
Zeit, sich den Zeitungsarchiven zu widmen. Viola lauschte den Geräuschen, die aus der Küche drangen. Hendrik bereitete mit Paul das Frühstück vor. Sie bewunderte ihren Mann dafür, wie es ihm immer wieder gelang, Paul für die normalen Dinge des Alltags zu interessieren und nicht mit Superlativen jonglieren musste, um ihren Sohn zu begeistern. Vermutlich war es nicht so einfach, einen Zehnjährigen dazu zu bringen, auf seine arbeitende Mutter Rücksicht zu nehmen. Hendrik gelang das mühelos, obwohl beide wussten, dass sie sich in zwei Tagen mit einer Fernbeziehung begnügen mussten.
Dankbar genoss sie das Frühstück, bei dem der neue Auftrag mit keiner Silbe erwähnt wurde.
Beim Abräumen und Abwaschen verzichteten die beiden ebenfalls auf ihre Hilfe, so dass sie sich gleich wieder in ihre Nachforschungen stürzen konnte. Hatten sie ihr angemerkt, wie ungeduldig sie ihrer Arbeit entgegenfieberte?
Schnell hatte sie sich in ihr erstes Archiv eingeloggt. Die Familie hatte sie augenblicklich ausgeblendet. Sie hatten sich geeinigt, dass sie sich heute allein beschäftigen müssten.
Die großen Zeitungen und Zeitschriften hatten für Mathilda Lehnert keine einzige Zeile übrig, was die Zeit vor ihrem Polizeieinsatz betraf. Sie widmete sich daraufhin den Regionalzeitungen. Dann leuchtete es vor ihr auf. Das Bild einer jungen Frau, auf dem sie lächelnd in die Kamera blickte. Ein weiteres Foto in diesem Artikel zeigte das Haus, in dem Viola demnächst Quartier beziehen würde. Eine reißerische Überschrift versuchte offenbar, auch damals das Sommerloch zu füllen.
„Seherin oder Scharlatanin?“
Der Artikel mühte sich redlich, die Wahrsagerin bloßzustellen. Unter dem scheinheiligen Deckmantel einer psychologischen Praxis versuche Frau Lehnert, den Leuten ihre Zukunft vorzugaukeln. Es sei nicht schwer, Prophezeiungen von sich zu geben, denn zu 50% würden sie immer zutreffen. Folglich glaubten nur 50% ihrer Kunden an ein Wunder. Doch was war mit den anderen, die etwas später den Betrug erkannten? Vielleicht hatten sie ihre Lebensplanung auf diese Lüge aufgebaut und alles verloren. Oder sie hatten ihre Familien zerstört, weil ihre Partner anders dargestellt worden waren, als man sie selbst sah.
Der Artikel begnügte sich mit dem ‚vielleicht‘, ohne der Sache auf den Grund zu gehen oder gar Beispiele anzuführen. Irgendwie erinnerte sie dieser Schreibstil an ihre Kollegin Rita. Die nahm es mit den Tatsachen auch nicht so genau und schwelgte gern in Vermutungen, wenn es sich besser verkaufen ließe.
Ein anderes Blatt war ihr mehr zugetan. Sie wurde als Quell der Hoffnung betitelt, was diesmal sogar mit den Aussagen zweier Kunden untermauert wurde. Sie hatten erfolgreich kleine Unternehmen aufgebaut, was sie wahrscheinlich ohne den Zuspruch Mathildas nicht getan hätten.
Seltsamerweise fand sich kein Journalist, der es für erwähnenswert hielt, dass sie ein abgeschlossenes Psychologiestudium vorweisen konnte und nebenbei in dieser Richtung tätig war. Hatte deren Mutter dafür gesorgt, die überschwänglich von ihrer Tochter schwärmte und sie als begnadete Seherin hinstellte?
Nach dieser kleinen Artikelserie in verschiedenen Zeitungen vergaß man die Wahrsagerin wieder. Erst mit einem kurzen Polizeibericht in der örtlichen Presse, der sich bei der Seherin Frau Lehnert für ihre Mitarbeit bedankte, die zur Aufklärung eines Mordes beigetragen hatte, wurde ein Karussell in Gang gesetzt. Jedes Blatt, ob groß oder klein, witterte ein lukratives Geschäft. Fast täglich erschien irgendein Bericht über die Seherin, die Unglaubliches zu leisten vermochte. Auch hier mangelte es an Fakten, so dass jeder Reporter seine eigene Fantasiegeschichte erdachte, um das Rad in Bewegung zu halten. Unzählige, heimlich geschossene Fotos füllten die Seiten. Immer Frau Lehnert auf ihrer Terrasse, aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen.
Dementsprechend körnig und unscharf kam das Bild auch rüber. Oder ein Foto von ihrem letzten Besuch bei der Polizei, das aber ein unvorteilhaftes Abbild dieser Person war, die versuchte, sich den Fotografen zu entziehen. Es musste doch unzählige Möglichkeiten gegeben haben, einen brauchbaren Schnappschuss von ihr zu erhaschen. Warum passte man sie nicht bei ihren Einkäufen, beim Arztbesuch oder auf Urlaubsreisen ab? Hatte sie sich etwa in ihrem Haus verkrochen?
Kurz darauf verlor man das Interesse. Es gab schlicht keine Neuigkeiten. Ein einziges Ereignis fand dann doch noch seinen Weg in die örtliche Presse. Die Eröffnung ihrer Pension. Aber so, wie ihr Chef schon bei seinen Recherchen zu der alten Dame gescheitert war, fand auch sie kein einziges brauchbares Bild. Mathilda Lehnert blieb für sie eine Black Box.
Dieser Umstand hatte ihre Neugier geweckt und sie freute sich langsam darauf, das Rätsel um die Seherin und um ihre Mutter, lösen zu können.
Sie hatte sich bei ihrer Suche total verkrampft und versuchte, sich durch ein paar Dehnübungen wieder zu lockern. Ihr Blick schweifte umher. Was bedeutete dieses Gewusel in ihrer Küche? Bereiteten sie schon das Abendessen vor? Die Stunden hatten sie mit sich fortgerissen. Das Gefühl für Zeit hatte sie verloren. Dass Paul und Hendrik den ganzen Tag unterwegs waren und außerhalb zu Mittag aßen, hatte sie nicht wahrgenommen.
Jetzt erst meldete sich ihr Magen mit einem gewaltigen Hungergefühl zu Wort, das ihr das verpasste Mittagessen bewusst machte. War sie bereits dem Einfluss dieser geheimnisvollen Frau erlegen, bevor sie diese kennengelernt hatte? Würde sie auch in ihr Leben eingreifen und weiteres Unheil über sie bringen? Warum tauchte in diesem Moment das Bild ihrer erhängten Mutter wieder auf? Sie riss sich mit Gewalt vom Rechner los und begrüßte ihre Familie. Paul gab einen begeisterten Bericht von seinem schönen Tag ab und sie versprach, dass sie für den kommenden Tag ein entspanntes Picknick am See ausrichten wolle.
Obwohl sie sich alle Mühe gab, jede Sekunde des Sonntags nur der Familie zu widmen, driftete sie in Gedanken immer wieder zu Mathilda Lehnert ab. Zum Glück saß Hendrik bei der einstündigen Fahrt zum See am Steuer. Doch selbst während des Badens, des Spielens mit ihrem Sohn und den Gesprächen mit Mann und Kind, war sie nie ganz bei der Sache. Nachdem Paul im Bett verschwunden war und sie ein paar letzte Worte mit ihm gewechselt hatte, gesellte sie sich zu ihrem Mann, der eine Flasche Weißwein für sie beide geöffnet hatte. Sie kuschelte sich an ihn und versprach, dass sie jeden Abend telefonieren würden.
5
Ihr Mann fuhr sie in aller Frühe zum Bahnhof. Paul wusste Bescheid und würde sich keine Sorgen machen, sollte er vor Hendriks Rückkehr erwachen.
Sie bat, den Abschied kurz zu halten, um es ihr nicht unnötig schwer zu machen. Lange hielten sie sich in den Armen. Ein Gefühl von Geborgenheit schob alles andere beiseite. Die sie durchdringende Wärme spürte sie erst, als sie sich lösten und der kühle Morgenwind ihr diese wieder raubte. Sie betrat mit ihrem Gepäck, das nur aus einem Koffer bestand, das Abteil. Kraftlos ließ sie sich sacken und sah ihrem Mann nach, der winkend im Bahnhofsgebäude verschwand. Das Gebäude war nicht im besten Zustand. Doch sie selbst fühlte sich auch nicht besser. Dabei war sie voller Elan gewesen, als sie um diesen Auftrag gekämpft hatte. Eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen setze sich zu ihr. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Was sie anfangs als Last empfand, entpuppte sich als Segen, denn die junge Frau war sehr erzählfreudig. Das lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab. Bald sah sie sich in ein angeregtes Gespräch über ihre beiden Familien verwickelt, was sie in eine sonnige Stimmung versetzte. Zudem war es eine herrliche Landschaft, die an ihnen vorbeischwebte, die, je näher sie dem Ziel kamen, immer hügeliger wurde, bis sie sich im Mittelgebirge wiederfanden. Die junge Frau war schon zwei Stationen früher ausgestiegen. Sofort übernahmen ihre alten Geister die Regie und sie malte sich aus, wie es sein würde, Wand an Wand mit ihrer Herbergsmutter zu leben. Eine, die ihr die eigene Mutter nahm. Sie war froh, die Bahn genommen zu haben. Ihre Ahnung hatte sie nicht getäuscht, dass sie ihre Quälgeister nicht würde bezähmen können.
Es warteten einige Taxis am Bahnhofsvorplatz. Der Fahrer, ein grauhaariger älterer Herr verlud ihren Koffer und bot ihr an, auf dem Beifahrersitz platzzunehmen. Bildete sie es sich ein oder verdrehte er die Augen, als sie ihm die Adresse nannte? Sie nahm mit dem Rücksitz vorlieb und beobachtete heimlich den Fahrer, der etwas beleidigt war, dass sie sein Angebot abgelehnt hatte. Aber sie wollte ungestört sein und sich auf die Begrüßung mit Mathilda vorbereiten.