Im Taumel des Lebens - Erwin Sittig - E-Book

Im Taumel des Lebens E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Ein erfolgreicher Architekt, dem es an nichts fehlt, stellt sein Leben infrage, nachdem er sein Haushälterin Christina einstellt. Er spürt durch sie, dass er am Leben vorbei gelebt hat. Den nahenden Tod seiner Mutter nimmt er zum Anlass, sich auf einen Selbstfindungstrip in die Heimat zu begeben. Doch dort lauert die Vergangenheit mit einem despotischen Vater und einer Mutter, die ihn im Stich gelassen hatte. Selbst zu seinem Bruder hatte er verbittert den Kontakt weitestgehend abgebrochen. Viele Begegnungen wecken ihn auf. Die Erkenntnis, dass er in die Vergangenheit hinabsteigen muss, die für ihn die Hölle war, macht ihm Angst. Als er dann noch auf ein altes Familiengeheimnis stößt, zerbricht sein altes Weltbild vollends. Nichts ist so, wie es schien. Die Wahrheit ist nicht die, die er in Erinnerung hat. Als dann noch die Liebe mit gleich mehreren Angeboten in sein Leben tritt, ist seine Verwirrung vollkommen. Er begreift, dass sein Leben erst beginnt. Doch die dunklen Mächte der Vergangenheit arbeiten gegen ihn.

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Seitenzahl: 358

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Über den Autor

Der 1953 in Güstrow geborene Autor lebt heute mit seiner Frau in Ludwigsfelde. Sein Studium an der TU Dresden schloss er 1977 als Dipl.-Ing. für Informationstechnik ab.

Neben seiner Arbeit widmete er sich dem Schreiben und der Fotografie. Mit Erreichen des Rentenalters arbeitete er sein Lebenswerk auf und begann mit der Veröffentlichung seiner Bücher.

Es macht ihm Spaß, sich in allen Bereichen der Belletristik auszutoben. So schrieb er neben Kinder- und Jugendbüchern auch Kriminalromane, Abenteuerromane und Fantasygeschichten.

Bei einigen Büchern gestaltete er sein Cover selbst.

Näheres unter https://erwinsittig.de/

Lebensfreude kann man lernen, wenn man bereit ist, sich anstecken zu lassen.

Erwin Sittig

Erwin Sittig

Im Taumel des Lebens

Drama

© 2023 Erwin Sittig

https://erwinsittig.de

ISBN Softcover: 978-3-347-93969-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-93970-7

ISBN E-Book: 978-3-347-93971-4

Covergestaltung: Erwin Sittig

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", an der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

Weitere Werke des Autors Erwin Sittig:

Im Taumel des Lebens

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Danksagung

Im Taumel des Lebens

Cover

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Im Taumel des Lebens

Kapitel 1

Bedroht dich das Geschwür des Selbstzweifels, ziehe in den Kampf.

Wann kommt man an den Punkt seines Lebens, der in eine Sackgasse führt? Ist das altersabhängig? Das Schild „Sackgasse“ ist für mich schon deutlich erkennbar. Wenn ich jetzt nicht wende, könnte es zu spät sein.

Ich bin Karl Theodor Freienstein. Mit meinen 51 Jahren sollte ich die Gefahren einer Midlife-Crisis längst überstanden haben. Dennoch befällt mich der übermächtige Wunsch, mir eine Auszeit zu nehmen. Als Architekt, der es zu beachtlichem Ruhm und Ehre gebracht hat, gelang es mir, ein beruhigendes finanzielles Polster anzulegen. Es wäre folglich kein Problem, mal ein Jahr oder mehr in die Welt auszuschwärmen, um mich selbst zu finden.

Obwohl ich durch meinen Beruf die Fähigkeit erwarb, Strukturen zu erkennen, die miteinander Symbiosen entwickeln, versagte ich bei der Architektur des eigenen Lebens. Es gelang mir stets, jedem Bauwerk ein stabiles Fundament, eine harmonische Fassade, eine statische Stabilität zu schenken. Warum übersah ich diese Gesichtspunkte bei der Konstruktion meines Lebens? In unzähligen Momenten denke ich, dass in Kürze alles zusammenstürzen wird, weil etwas Entscheidendes fehlt. Doch was, erschließt sich mir nicht.

Mir kommt es vor, als wäre mein Leben ein Würfel, der in einer Kugel steckt. So viele unausgefüllte Räume, die für mich nicht erreichbar sind. Mein Würfel ist überaus scharfkantig von der Umwelt abgegrenzt. Zudem sitzt er fest, da sich seine Ecken an der Wand dieser Kugel verklemmen. Er beraubt mich jeder Möglichkeit, auszuschwärmen. Wie soll ich da die unerforschten freien Räume erreichen, die seit einiger Zeit eindringlich nach mir rufen?

Das Leben meines Bruders Lars steckt ebenso in einer Kugel, die ihm seine Grenzen aufzeigt. Er geht darin auf, ein Künstlerdasein zu führen, das ihn mehr schlecht als recht ernährt. Sein Leben meistert er wie ein kleiner Krake, der durch die weiten Räume seiner Kugel irrt und sich immer wieder neu ausprobiert. Keinerlei Stabilität, eine Rastlosigkeit ohne System. Er gibt sich nie zufrieden mit dem, was er hat. Manchmal hängt er mit seinen Saugnäpfen an der Wand der Kugel und begehrt zu wissen, was dahinter auf ihn wartet. Ein Phantast, für den die Absicherung seiner Grundbedürfnisse ein lästiges Übel ist.

Beide Zustände sind für mich nicht akzeptabel.

Ich sehne mich danach, dass es mir gelingt, meinen Würfel in eine kleinere Kugel zu deformieren, um wieder beweglich zu sein. Ich möchte diese Kugel in die Weiten schleudern, um an die Grenzen meiner Welt zu stoßen. Dort darf mich die Reflexion immer wieder in neue Gefilde schicken, bis ich in der Lage bin, das Problem zu lösen.

Mein Bruder hat dabei einen großen Vorteil. Als Krake kann er sich in jede beliebige Richtung abstoßen, gewissermaßen selbstbestimmt sein Leben durchsuchen. Da ich nicht weiß, wohin ich meine Fühler strecken muss, unterwerfe ich mich gern dem Reflexionsgesetz. Auch der Zufall hat das Zeug zu einem guten Therapeuten.

In dieser Situation kam der Anruf meines hilflosen kleinen Bruders genau richtig. Er teilte mir aufgelöst mit, dass Mutter im Sterben läge und ich mich beeilen müsse, wenn ich sie noch einmal sehen wolle. Sie sei inzwischen nur selten ansprechbar.

Da ich keine neuen Aufträge mehr angenommen hatte, stand einem sofortigen Aufbruch nichts im Wege. Augenblicklich machte ich mich daran, die Vorbereitungen für meine Reise ins Ungewisse zu treffen.

Das Schicksal gab mir den richtigen Weg vor. Ich muss das Problem an der Wurzel anpacken. Die Familie stellt für die meisten Menschen das Fundament ihres Lebens dar. Darum werde ich untersuchen, ob meines tragfähig ist. Euphorisch erhebe ich mich vom Liegestuhl, meiner Terrasse, der mir einen beneidenswerten Blick auf den Kiessee gewährt. Wasser ist eine Seltenheit im Süden des östlichen Deutschlands. Um so glücklicher war ich, dieses Häuschen in Coswig ergattert zu haben, das mir eine direkte Wasseranbindung vorgaukelt. Nur eine schmale Straße und eine grüne Barriere muss ich überwinden, um meine Füße ins erfrischende Nass tauchen zu können. Als jemand, der am Meer aufgewachsen ist, hielt sich in mir die Sehnsucht zum Wasser. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich diesen See entdeckte. Er ist eingebettet in das satte Grün der Wiese, die zum Ufer führt und in das bewegte Leben der Baumgruppen, die ihn an den Seiten einrahmen. Erst jetzt bemerke ich die frische, würzige Brise, die aufkommt, um den Sturm anzukündigen. Hoffentlich wird er mir den Weg ebnen, alles beseitigen, was mir den Blick versperrt.

Im Dorf genieße ich ein gewisses Ansehen, da sich die Medien alle Mühe gegeben hatten, mich in schillernden Farben darzustellen. Vom Wunderkind war die Rede, obwohl sich schon das Grau unaufhaltsam in mein Haupthaar vorkämpft. Vermutlich war es Kalkül, da auch die Region von meinem Ruhm profitiert. Intensive Bindungen zu den Menschen der näheren Umgebung entwickelten sich nicht.

Man will diesen Einsiedler, der ohne Frau hier draußen wohnt, nicht belästigen. Zudem gelte ich als unnahbar, da kaum jemand ein Gespräch mit mir als angenehm empfindet. Es ist eine andere Welt, in der sie leben. Die belanglosen Unterhaltungen mit ihnen langweilen mich. Wir haben keine Gemeinsamkeiten. Eigentlich reden wir nur, ohne etwas Bedeutendes zu sagen. Eine Ausnahme stellt Christina Kunert dar. Man schickte sie mir als Haushaltshilfe. Sie kommt regelmäßig, um ein Grundmaß an Ordnung zu erhalten. Obwohl sie nur 5 Jahre jünger ist als ich, entwickelten sich auch zu ihr keine erfüllenden Gespräche. Sie ist lieb und nett, doch vermutlich freue ich mich nur auf sie, da sie Leben in meine einsame Hütte bringt. Als es klopft, weiß ich, dass sie es ist. Ich hatte sie um ein paar Besorgungen für die Reise gebeten. Wie immer, hat sie alle Aufträge wunschgemäß erfüllt. Sie steht strahlend vor mir, obwohl beide Arme von schweren, voll bepackten Taschen heruntergezogen werden. Als ich ihre Hände berühre, um die beachtliche Last zu übernehmen, wird sie rot und lächelt verlegen.

„Ich hole noch schnell den Rest“, flötet sie und rennt, wie ein junges Mädchen, hinaus. Ihr hellblaues Kleid, das knapp über den Knien endet, flattert im Wind. Er ist erwartungsgemäß stärker geworden. Wenn Christina zum Saubermachen erscheint, trägt sie immer Jeans und ein verwaschenes Shirt. Für die Übergabe der Einkäufe wählt sie aber stets frauliche Kleidung, die sie weicher und jünger wirken lässt. Ihr brünettes halblanges Haar wippt auf ihren Schultern, als sie beschwingt mit drei weiteren Taschen eintritt. Sie kann zupacken, wovon auch die Muskeln zeugen, die unter dem Gewicht der Einkaufstaschen deutlich hervortreten. Dennoch entwickelte sie in letzter Zeit leichte Speckansätze, was sich besonders im Hüftbereich bemerkbar macht.

Doch es steht ihr. Ich mag ohnehin nicht diese Hungerhaken, bei denen man befürchten muss, sich an ihren vorstehenden Knochen zu verletzen.

Dennoch kommen nie Gefühlsregungen auf, wenn ich sie betrachte. Sie ist eine Haushaltshilfe und so sehe ich sie auch. Sobald ich sexuelle Bedürfnisse entwickele, so steht eine Kollegin aus alten Tagen bereit, die wie ich, keine feste Bindung wünscht. Als Architekt will man schließlich vorwärtskommen, sich einen Namen erarbeiten. Wir leben für die Arbeit und hassen alles, was sie dabei behindert. Freizeit ist Luxusware. Doch das wird sich jetzt ändern.

Wir packen gemeinsam das Mitgebrachte aus.

„Für wie lange werden Sie verreisen?“, fragt sie vorsichtig.

„Seien Sie unbesorgt. Ich bezahle Sie weiter, wenn ich weg bin. Schließlich möchte ich, dass Sie mein Haus in Schuss halten.“

„Deswegen frage ich nicht. Wäre nur schön, wenn ich die nächste Zeit planen könnte.“

„Zunächst fahre ich zu meiner Mutter, die im Sterben liegen soll und danach will ich mich etwas treiben lassen, um zu sehen, wie mein Leben weitergeht.“

„Das tut mir leid. Sie haben nie von Ihren Eltern erzählt.“

„Ich habe auch schon lange keinen Kontakt mehr. Das Übliche. Überwerfungen mit meinem Vater. Ein ewig anhaltender Konkurrenzkampf. Er ist ein Diktator.“

„Deswegen durften Sie aber nicht ihre Mutter bestrafen.“ Sie sieht mich nicht an, während sie antwortet. Stattdessen wandert ihr Blick über meine schlicht eingerichtete Küche, die so offensichtlich eine weibliche Hand gebrauchen könnte.

„Wieso sollte ich sie bestraft haben?“

„Sagten Sie nicht, dass sie schon lange keinen Kontakt mehr haben? Ihre Mutter hätte Sie sicher gern gesehen.“

„Das glaube ich weniger. Sie hat immer gelitten, wenn ich mit Vater aneinandergeriet. Und das würde sich nicht ändern.“

„Sie hätten für sie zurückstecken können. Dem Streit aus dem Wege gehen.“

„Man kann absurde Behauptungen nicht einfach stehen lassen. Das wäre ja eine Kapitulation vor der Dummheit.“

„Ist es nicht genauso dumm, der Mutter die schönen Momente zu rauben. Muss man da nicht abwägen, was wichtiger ist?“

Sie wagt es immer noch nicht aufzuschauen. Dennoch spürt sie meinen empörten Blick, der auf ihr ruht. Sie erschrickt.

„Oh, Verzeihung. Es steht mir nicht zu, Sie zu kritisieren.“

Unsere Augen treffen sich. Ihr ist anzusehen, dass sie die Worte am liebsten wieder eingesteckt hätte.

Es erstaunt mich, wie mutig sie aufgetreten war. Sie hatte mir bisher niemals widersprochen.

„Das ist Unsinn“, erwidere ich scharf. „Was für eine Meinung soll meine Mutter von mir haben, wenn ihr Sohn immer einen Rückzieher macht, sobald der Alte kräht? Sie selbst hat sich diesem Despoten immer klaglos untergeordnet. Wodurch soll sie sonst lernen, dass man auch ihm Paroli bieten muss?“

„Diese alten Geschlechterrollen zerstört man nicht durch Gewalt. Das Unterordnen ist ihre Alternative zu einem endlosen Krieg. Sie sehnt sich bestimmt nach Frieden, den Sie von Ihnen erwartet hat. Sie hätten Größe bewiesen, hätten Sie ihn ihr gegeben.“

Es war bisher unvorstellbar, dass diese Frau zu tiefgründigen Diskussionen fähig ist. Mit offenem Mund starre ich sie an. Mir fehlen die Worte.

„Das verstehen Sie nicht“, platzt es aus mir heraus. „Sie sind in einer anderen Welt aufgewachsen.“

„Tatsächlich? Sie sind ein Außerirdischer?“

Was war nur mit ihr los? Wer hatte mir meine friedliche Haushaltshilfe geraubt? Sie steht vor mir, mit durchgedrücktem Kreuz, als müsse sie jetzt Rückgrat beweisen. Was war eigentlich der Auslöser? Sie wirft mir fehlende Sensibilität für meine Mutter vor? Fühlt sie sich dadurch als Frau zurückgesetzt?

„Meine Mutter versteht das. Sie hat uns da reinwachsen lassen. Sie hätte alle Zeit der Welt gehabt, uns Kinder in eine andere Richtung zu erziehen. Sie ließ uns nie spüren, dass sie mit Vater unzufrieden war.“

„Eine starke Frau, die vorausschaute. Was hätte eine Dauerkonfrontation für ihre Kinder bedeutet? Sie hat Sie geschützt.“

„Lassen wir das!“, sage ich ärgerlich. „Sie sind kaum in der Position, unser Familienleben zu bewerten. Sie wissen nichts über uns.“

„Sie haben Recht. Ich weiß nur das, was Sie mir erzählt haben. Das, was Sie für wichtig erachteten. Die schönen Seiten verschwiegen Sie. Gab es keine?“

„Gehen Sie jetzt!“, sage ich schärfer als gewollt. „Wenn noch etwas sein sollte, melde ich mich.“

„Ja. Ist wohl besser so. Bisher habe ich Sie sehr gemocht. Nun ja, wir haben auch nie richtig miteinander gesprochen. Das sollte man unbedingt tun, bevor man sich eine Meinung bildet.“

Beim Hinausgehen würdigt sie mich keines Blickes mehr. Sie lässt die Tür offen. Eine schöne Tür, eine schöne Frau, die gerade etwas Farbe verloren hat.

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Wie kann ich mich so getäuscht haben? Das kleine Dummchen ist zur Kämpferin mutiert.

Warum passiert das ausgerechnet in diesem Moment? Jetzt, da ich im Begriff bin, zu meiner Selbstfindung aufzubrechen. Ich werde darüber nachdenken, wenn ich zur Ruhe gekommen bin.

Christinas Wagen entfernt sich. Der scheint genauso wütend zu sein, wie diese Frau. Zumindest lässt dies ihr ungewohnter Fahrstil vermuten. Sie nimmt den Frust mit, der mich erfasst hat. Mein Weltbild normalisiert sich langsam wieder.

Kapitel 2

Alles Neue hat die Hoffnung im Gepäck.

Nach reiflicher Überlegung entschließe ich mich, das Auto stehen zu lassen, und buche bei der Bahn einen Platz erster Klasse. Die Reise im Zug wird entschleunigend wirken, wodurch ich mich voll auf meine Gedanken konzentrieren kann. Zu schade, dass Christina verärgert war und mich überstürzt verlassen hatte. Eigentlich wollten wir den Koffer gemeinsam packen. Sie hat ein Händchen dafür. Wer weiß, woran ich nicht gedacht habe. Doch es gibt nichts, was man nicht neu besorgen könnte. Wichtig ist, dass Laptop und Handy einsatzbereit sind, die ich vollständig aufgeladen habe. Ich freue mich schon auf das Abteil, das in der ersten Klasse ausreichend Komfort, wie mehr Platz und schnelleres WLAN bietet. Auf dem Weg zum Bahnhof bin ich erstaunlich ausgeglichen. Ich weiß noch nicht, was mich erwarten wird, doch ich nehme mir vor, für alles offen zu sein.

Der Zug steht bereits auf dem Gleis. Die Wagons der ersten Klasse sind auffällig gekennzeichnet. Sie sind nicht übermäßig gefüllt. Ich kann mir aussuchen, welcher Sitznachbar zum Gesprächspartner werden wird.

Da mit Besteigen des Zuges mein Selbstfindungsprozess Fahrt aufnehmen soll, schaue ich mir die Fahrgäste gründlich an. Die Garderobe vieler Reisender weist auf Geschäftsleute hin. Diese werde ich meiden. Sie würden mich mental in die stressige Arbeitswelt zurückkatapultieren. Da ich das schockierende Erlebnis mit meiner Haushaltshilfe noch nicht überwunden habe, entscheide ich, neben einer weiblichen Person Platz zu nehmen. Die Spezies Frau scheint eine mir verschlossene Welt in sich zu tragen, die ich durchaus zu verstehen gewillt bin.

Die wunderbare Erfindung eines Zuges ermöglicht es, an Menschen für längere Zeit gekoppelt zu sein, ohne dass sich diese ihrem Gegenüber entziehen können. Es sei denn, es gibt unüberwindbare Hindernisse im Geiste. Zunächst muss ich mir Gewissheit verschaffen, wie man eine Selbstfindung erfolgreich ins Ziel führen könnte. Mein Plan ist, möglichst viele Menschen zu ihren Lebensplänen zu befragen, um herauszufiltern, wie ich nicht werden will. Was übrig bleibt, darf in mein neues Ich einfließen. Ich werde von einer Euphorie getragen, die mich gegenüber jedem Menschen öffnen sollte.

Erst, nachdem ich ihr Einverständnis, Platz nehmen zu dürfen, erhalte, bemerke ich, dass die elegante Dame ein kleines Mädchen von circa 6 Jahren mit sich führt. Obwohl dies meinem Vorhaben nicht dienlich scheint, nehme ich notgedrungen Platz. Wir stellen uns vor. Frau Marquardt ist mit ihrer Tochter Lulu unterwegs, in die Ferien, wie sie betont. Ihr Mann sei nicht abkömmlich, was beide nicht bedauern. Wie sich später im Gespräch herausstellt, ist der Gatte, ein Banker, schon ein älteres Semester, während sie erst 34 Lenze zählt. Sie gibt unumwunden zu, dass ihr Gemahl eine Spaßbremse ist und ihre Ferien nicht bereichern würde. Die Familienverhältnisse interessieren mich nur am Rande. Ich suche Antworten auf die Frage, was die Menschen erfüllt, was ihr Leben vollkommen macht. Die Partnerschaft bringt hier nicht die Befriedigung, was mich darin bestärkt, mir keine Partnerin suchen zu müssen. Bevor ich dazu komme, ein paar Fragen an die Frau zu bringen, eröffnet sie das Feuer. Ob ich denn als Architekt meine Erfüllung gefunden hätte. Kann sie Gedanken lesen? Ich versuche auszuweichen.

„Die Erfüllung in der Arbeit zu finden, ist nur Mittel zum Zweck. Das vollkommene Glück vermute ich im Zusammenspiel von Beruf und Seelenheil.

Für mich ist ein Leben erstrebenswert, bei dem man sich auf jeden neuen Tag freut, ohne zu wissen, was er bringen wird. Doch mit der Gewissheit, dass er etwas Begehrenswertes bereithält.“

„Können Sie sich denn das Leben eines Playboys leisten?“

Kurz überlege ich, ob es das ist, worauf ich zusteuern möchte und ob meine Aussage diese Vorstellung provoziert hat. Warum trieb es sie zu diesem Missverständnis? Weil es ihr Leben ausfüllt, sich alles leisten zu können, was sie begehrt?

„Sie verstehen mich falsch. Ich begehre keinen Besitz, obwohl er das Leben enorm erleichtert. Mir schwebt eher vor, glücklich zu werden, indem man mich mag, weil man schätzt, was ich tue und weil es hilfreich ist, was ich bewerkstellige.“

„Also plagt Sie kein Streben nach Liebe?“

„Von welcher Liebe sprechen Sie?“

„Suchen Sie es sich aus. Die seelische, die körperliche oder die uneigennützige Liebe. Welche bevorzugen Sie?“

„Gibt es nicht alle drei im Kombipack? Aber wir schweifen ab. Ihre Tochter ist hierfür kaum die richtige Zuhörerin.“

„Ich weiß alles, was man über die Liebe wissen muss“, mischt sich das Töchterchen ein. „Fragen Sie mich etwas.“

„Wen liebst du denn am meisten“, hake ich halbherzig ein, um der peinlichen Situation zu entgehen.

Nie hätte ich gedacht, dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickelt. Beschwor es vielleicht eines meiner verdeckten Probleme herauf?

„Papa liebe ich, weil er mir alles kaufen kann, Mama, weil sie immer Zeit für mich hat und meinen Freund Marcel liebe ich, weil er mir zeigt, dass ich wichtig bin. Alle drei zusammengenommen liebe ich.“

Etwas irritiert sehe ich sie an. Ihre Mutter erzeugt in ihr offensichtlich nicht das Gefühl, dass sie von Bedeutung sein könnte.

„Nur einen dieser drei könntest du nicht lieben?“

„Nein. Dann wäre mein Leben nicht vollständig“, antwortet sie etwas altklug.

„Du könntest also niemanden lieben, der arm ist?“

„Mama und Marcel sind auch arm.“

„Sie sind reich, denn sie leben in einer wohlhabenden Familie. Nehmen wir mal an, Marcel wäre ein armes Waisenkind, würdest du ihn dann immer noch lieben?“

„Ich habe Geld für uns beide.“

Das arme Kind ist so auf Wohlstand fixiert, dass sie diesen untrennbar mit Liebe verbindet.

„Wenn dein Vater aber kein Vermögen hätte, deine Mutter arbeiten gehen müsste und wenig verdient und Marcel ebenso arm wäre, wie sähe es dann mit deiner Liebe aus?“

„Glauben Sie etwa an Märchen? Was Sie beschreiben, gibt es nicht.“

Die Mutter lächelt und streichelt ihre wenig kindliche Tochter anerkennend.

Hier bin ich zweifelsfrei falsch. Wenn auch interessante Probleme angeschnitten wurden, Antworten auf meine Fragen würde ich hier nicht finden. Möglicherweise liegt die Lösung in einem anderen Waggon. Ich sollte in die zweite Klasse wechseln, wo die Sichtweisen auf das Leben etwas realistischer ausfallen dürften. Vielleicht finde ich dort einfache Menschen, wie Christina. Aber selbst sie hatte meine Welt nicht verstanden. Momentan sieht es so aus, als gäbe es mindestens drei verschiedene dieser Welten. Ich verabschiede mich unter einem belanglosen Vorwand und danke ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

Der Weg in die zweite Klasse ruft mir in Erinnerung, dass mich dort etwas reduzierter Komfort erwartet. Zwar gibt es auch Steckdosen für meinen Laptop, aber das WLAN ist hier nicht so leistungsfähig. Außerdem bietet sie weniger Platz. Schmalere Gänge und mehr Sitze nebeneinander, die zudem nicht so angenehme Bezüge aufweisen.

Meine Euphorie hat einen kleinen Dämpfer erhalten. Jetzt bin ich unter Erfolgszwang. Nichts wäre bedauerlicher, die vier Stunden Fahrt vergeudet zu haben, wenn sie keinerlei neue Erkenntnisse bescherte. Welche Ausführung eines Menschen wäre meinen Ansprüchen am ehesten dienlich. Mich darauf zu versteifen, eine Frau zu interviewen, könnte unter Umständen kontraproduktiv sein.

Die Konzentration auf die mir entgegenblickenden Personen lässt mich den Komfortverlust schnell vergessen. Ein paar Jugendliche, die lautstark schwatzen und herumblödeln, werden mir vermutlich keinen Lebensentwurf anbieten können, der akzeptabel wäre. Oder verrenne ich mich da schon wieder in meiner Voreingenommenheit, die ich eigentlich ablegen will? Ein attraktives junges Mädchen von Mitte zwanzig lächelt mir zu. Sie sitzt allein. Als ich einen Schlenker in ihre Richtung andeute, erstirbt ihr einnehmendes Lächeln und sie wendet den Blick ab. Ratlos verharre ich, um mich neu zu orientieren. Vielleicht sollte ich mein Glück im nächsten Waggon versuchen.

„Na, junger Mann“, spricht mich ein Greis von mindestens 80 Jahren an.

„Sie wissen wohl nicht wohin mit sich? Wenn Sie möchten, können Sie bei mir Platz nehmen.“

Er weist auf den gegenüberliegenden Sitz. Das junge Mädchen bleibt in meinem Blickfeld, jedoch auf der anderen Seite des Ganges.

Neugierig beobachtet sie mich, wie ich zögerlich Platz nehme. Womit hätte ich auch die Einladung des alten Herrn überzeugend ablehnen können. Ich hoffe, dass mir das Schicksal mit dieser Entscheidung ein paar Asse zugesteckt hat, da mein Verstand überfordert ist.

„Sie sehen etwas gestresst aus. Sind Sie auch unterwegs zum Meer, um sich die Gehirnwindungen reinigen zu lassen?“

„Es ist korrekt, dass ich an die Ostsee reise, doch der Grund dafür ist meine Mutter, die im Sterben liegt.“

„Das tut mir leid. Aber auch dafür hält das Meer ein paar Medikamente bereit.“

„Wie meinen Sie das?“

„Egal, womit die Seele belastet ist, dem Meer gelingt es immer, Ihnen etwas davon abzunehmen. Wenn ihre Mutter am Meer lebt, werden Sie das kennen. Der Wind, die salzhaltige Luft, das Rauschen der Wellen, alles Teil einer einzigartigen Therapie.“

Ich betrachte den Mann ausführlicher. Er ist hager und hat schneeweißes Haar. Tiefe Falten bestimmen sein Gesicht und dennoch besitzt er freundliche, junge Augen. Seine Kleidung, eine schlabbrige Stoffhose und ein weißes Hemd, das größtenteils unter einer schwarzen Jacke verborgen ist, sind zwar sauber, doch etwas zerknittert. Die Hände, die von einem Leben mit harter Arbeit sprechen, hat er vor dem leichten Bauchansatz verschränkt. Die junge Frau wendet sich uns wieder zu, da sie offenbar zu interessieren scheint, was sie aufgeschnappt hat.

„Ich finde nur selten die Zeit, mein Elternhaus zu besuchen. Das Meer war eher ein Fluchtort, um den Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen. Dort ist die Liebe eine Fremde. Darum beschränkte ich meine Besuche auf ein Minimum.“

„Die Liebe ist doch kein Einsiedler. Sie dehnt sich in alle Richtungen aus. Wenn man keine empfängt, kann man sie senden. Und glauben Sie mir, sie ist ansteckend. Tragen Sie denn Liebe in sich?“

Schon wieder zielt man auf einen wunden Punkt. Darauf finde ich keine Antwort. Was ist los mit diesem Zug, der mir penetrant das Thema Liebe aufzudrängen versucht? Meine Zweckgemeinschaft mit der Kollegin ist Sex und nicht Liebe. Ich sehne mich nicht nach ihr. Bis zum heutigen Tage war ich ein Workaholiker, dem es ausgereicht hat ein angenehmes, sorgenfreies Leben zu führen. Verschämt schaue ich zu der jungen Frau, die meinem Blick standhält, bevor ich antworte.

„Was Liebe ist, habe ich nie erfahren. Sie sagen, dass sie ausstrahlt und ansteckend ist? Dann war ich nie in ihrer Nähe.“

„Das ist unmöglich“, erregte sich der Alte. „Welcher Ihrer Sinne ist lebensunfähig geworden? Sie können mir nicht erzählen, dass Sie von keiner Seite Zuneigung gespürt haben. Aber auch außerhalb Ihrer Familie ist es unwahrscheinlich. Es ist nicht nur Gerede, dass zu jedem Topf ein Deckel passt. Hat nie ein Mensch Ihre Nähe gesucht?“

Da fällt mir seltsamerweise nur Christina und mein Bruder ein. Aber warum sollte ich aus dieser banalen Tatsache auf Liebe schließen?

„Es hängt davon ab, was man unter Liebe versteht“, warf die junge Frau ein. Sie starrt vor sich hin, als hätte sie diese Worte nicht an uns gerichtet.

„Was wollen Sie damit sagen“, wendet sich mein Gesprächspartner nun an sie.

„Dass unter Umständen die erlebte Liebe so selbstverständlich geworden ist, dass sie im Alltagsdurcheinander nicht erkennbar ist und als etwas anderes erscheint? Es soll Menschen geben, die es für Liebe halten, wenn sie jemanden besitzen und die Person, aus Gewohnheit oder Angst, immer bei ihnen bleibt.“

„Sprechen wir von Ihnen oder von seinen Eltern?“

„Ist es Liebe, wenn man Demütigungen und Gemeinheiten, ja sogar Gewalt, hinnimmt, weil man eine Person mag?“, antwortet sie, ohne darauf einzugehen, wer gemeint sei. Dabei sieht sie den Mann herausfordernd an.

„Sie reden nicht von Liebe, sondern von Dummheit. Die Person würde ihnen all dies nicht antun, wenn wahre Liebe im Spiel ist.“

„Wer sagt, dass Liebe immer erwidert wird. Es gibt auch die einseitige, unerwiderte Liebe. Oder sind Sie bei Ihren Forschungen noch nicht so weit vorgedrungen?“

„Sie reden von der blinden Liebe, die alles, was dagegen spricht, unter den Teppich kehrt. Das ist kein gesundes Gefühl, wenn man dafür die Liebe zu sich selbst aufgibt.“

„Wahre Liebe denkt nicht an sich selbst. Sie hat nur das Wohl des anderen im Auge. Echte Liebe ist meistens blind.“

Langes Schweigen. Der Frau laufen Tränen über das Gesicht. Sie wendet sich wieder ab. Mitleidig sieht der Alte sie an. Auch ich, der von Liebe keine Ahnung hat, krame mein Mitgefühl hervor.

„Haben Sie sich von Ihrer großen Liebe gelöst und endlich erkannt, dass die Liebe zu sich selbst nicht auf der Strecke bleiben darf?“

„Was die Eigenliebe betrifft, so geht es mir inzwischen wie ihm.“ Sie nickt mit dem Kopf in meine Richtung. „Wenn Eigenliebe ausstrahlt und ansteckend ist, erscheint es logisch, dass ich darüber nicht verfüge. Hätte er mich sonst nicht auch lieben müssen?“

„Sie haben sicher vergessen, zu signalisieren, dass sie etwas wert sind. Es ist schon eigenartig. Da treffe ich gleichzeitig auf einen Menschen, der leidenschaftlich liebt, dabei die Eigenliebe begräbt und auf einen, dem das ein Fremdwort ist, der aber offensichtlich ausreichend Eigenliebe besitzt. Sie lieben zumindest sich selbst, oder täusche ich mich?“, womit er mir wieder den Ball zuspielt.

„Das fragen Sie jemanden, der ihnen erklärt hat, dass er Liebe nie kennengelernt hat?“

„Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?“

„Bisher war ich es. In meinem Beruf bin ich glücklich und erfolgreich. Die angenehmen Seiten des Lebens kann ich mir leisten. Ich bin anerkannt und in dessen Folge ausgeglichen. Dennoch kommt in letzter Zeit Unzufriedenheit auf. Ich habe das Gefühl, dass ich noch nicht alles erreicht habe und mir selbst im Wege stehe. Diese Reise will ich dazu nutzen, mich selbst zu finden.“

„Wie wollen Sie sich selbst finden, wenn Sie die Liebe nicht in Ihr Leben lassen? Zweifelsfrei ist es das, was Sie noch nicht erreicht haben und Sie unzufrieden macht. Alles, was Sie aufzählten, zeigt, dass Sie sich achten und stolz auf sich sind. Von den Menschen in Ihrem Umfeld berichteten Sie nur, dass sie Ihnen Anerkennung signalisieren. Doch wie steht es mit der Achtung, der Wertschätzung für Andere? Ich meine nicht die berufliche Ebene. Bringen Sie Anderen in privater Hinsicht Interesse und Mitgefühl entgegen?“

Warum katapultiert mich diese Frage ausgerechnet in die letzte Unterhaltung mit meiner Haushaltshilfe Christina zurück? Zum ersten Mal hatten wir ein tiefgründiges Gespräch auf Augenhöhe geführt. Ich war überrascht, da es für mich nicht im Bereich des Möglichen lag. Warum hielt ich sie, ebenso wie alle anderen Bewohner des Dorfes, für Menschen, die zu niveauvollen Diskussionen nicht in der Lage seien. War ich so überheblich und blind, weil ich Ihnen keine Achtung entgegenbrachte, sie gewissermaßen als minderwertig ansah? Mitgefühl hatte ich nicht anzubieten.

Ich bin mit dem Vorsatz losgezogen, mich zu öffnen, andere Menschen anzuhören, um mich selbst zu finden, zu erkennen, was mir fehlt. Und plötzlich stehe ich als jemand da, der es nicht wert ist, dass man ihn liebt, was immer das sein mag.

Da ich in meinen Gedanken hängenbleibe, nutzt der Alte die Zeit, um die junge Frau wieder in unser Gespräch einzubinden. Sie spielt nervös in ihren langen, lockigen Haaren und sieht mich immer noch erwartungsvoll an.

„Was für einen Eindruck macht er auf Sie“, fragte der Mann mit sanfter Stimme. „Wäre er jemand, dem Sie vertrauen würden? Spüren Sie Wärme in ihm?“

„Bei dem, was ich gerade hinter mir habe, scheint jeder Mensch mehr Wärme auszustrahlen, als mir in den letzten Jahren zuteil wurde. Zumindest scheut er sich nicht, ehrlich zu sein. Das wäre eine gute Voraussetzung für Vertrauen. Meine Erfahrungen werden jedoch keines zulassen. Das muss man sich erkämpfen. Er versteckt seine Gefühle. Kann zumindest nicht darüber reden. Darum nein. Ich würde ihm nicht vertrauen.“

Ihre Worte treffen mich hart. Es ist wahr, dass ich mit meinen Gefühlen nie hausieren gehe. Niemand hat es mir vorgelebt. In der Frage bin ich ein Rohdiamant. Vielleicht etwas hoch gegriffen. Ich bin ein Holzklotz, aus dem diese Feinheiten erst herausgearbeitet werden müssen, um für den Rest der Welt sichtbar zu werden. Scham erfasst mich. Jede Zelle meiner Seele, die ich vielleicht gerade zu entdecken beginne, fordert eine Rechtfertigung.

„Halten Sie mich bitte nicht für ein seelenloses Monster.“ Seltsamerweise richte ich jene Worte an die Frau, die den Stab über mich gebrochen hat. Zumindest empfinde ich es so, da ich verletzt bin. Wie sie mich sieht, möchte ich nicht sein.

„In meinem Elternhaus gab es äußerst selten Umarmungen oder andere Liebkosungen. Wir mussten als Kind funktionieren. Es zählte nur, was wir erreichten. Wurden wir nicht gescholten, war dies für uns schon ein Lob. Bereits damals stand fest, dass ich Architekt werden würde, wie mein Vater. Da waren Gefühlsduseleien fehl am Platz. Sie lenkten vom großen Ziel ab. Damit möchte ich sagen, dass diese Erziehung mich geprägt hat. Das vorgelebte Leben war nicht erstrebenswert für mich, darum verleugnete ich die Existenz von Liebe. Gefühle zu zeigen, muss ich erst lernen. Mein Vater lehrte mich, dass man sie niemals auspacken dürfe, da man sonst darauf herumtrampeln würde. Vielleicht gelingt es mir, mich zu ändern. Ob ich damit Erfolg haben werde, kann ich noch nicht sagen.“

„Und ihre Mutter?“, fragt sie sichtlich gerührt.

„Sie ordnete sich unter. Mein Vater duldete keine Einmischung in unsere Erziehung. Jeden Versuch erstickte er im Keim.“

„Darum denken Sie, dass auch Ihre Mutter sie nicht liebte?“, übernahm der Alte wieder.

„Ich weiß es.“

„Große Worte. Sie sind schnell im Verurteilen. Finden Sie heraus, warum das so ist. Sprechen Sie mit dem Meer, wenn Sie meinen, angekommen zu sein. Es wird Ihnen ganz andere Sichtweisen ermöglichen.“

Niemals hätte ich mit so einer geballten Ladung an neuen Denkanstößen gerechnet. Nun sitze ich gerade mal eine Stunde im Zug und habe mehr Belehrungen ertragen, wie ich verkraften kann. Hat sich mein Würfel bereits zu verformen begonnen? Ist es ihm schon möglich, seinen Weg in die unerforschten Zonen der Kugel anzutreten? Ich bin momentan überfordert.

„Entschuldigen Sie“, setze ich fast unterwürfig an.

„Gestatten Sie mir, dass ich Sie verlasse? Ich möchte jetzt gern allein sein. Sie beide haben mir eine Menge Gepäck aufgeladen, das ich erst mal sortieren muss.“

„Das ist schon in Ordnung, junger Mann. Aber bedenken Sie, wenn Sie Ihr Leben durchleuchten: Der erste Blick taugt nicht fürs Siegertreppchen. Auch in Ihrer Kindheit gab es Liebe. Finden Sie heraus, wo sie versteckt war.“

Ich verabschiede mich. Bevor sich die Tür des Wagons schließt, höre ich, wie die junge Frau den Alten bittet, sich zu ihm setzen zu dürfen.

Kapitel 3

Ein unbequemer Freund, der mich antreibt, ist mir lieber, als ein angenehmer, der mich einlullt.

Wie in Trance betrete ich den nächsten Wagon. Für die Leute habe ich noch keinen Blick. Dort, wo eine ganze Reihe freier Sitze auf mich wartet, lasse ich mich fallen. Vorerst ist mir die Lust auf weitere Gespräche vergangen. Zu viel wurde in mir losgetreten, das unkontrolliert durch meinen Kopf schießt. Die letzte und einzige Aussprache mit Christina drängt sich dazwischen. Sie hat schon die Weitsicht besessen, meine Mutter anders zu sehen. Ich hatte sie einfach weggeschubst, weil mir ihre Wahrheit nicht gefiel, ich sie nicht annehmen konnte. Doch es geschah noch mehr. Sie hatte mich erkannt, meine Arroganz, meine Unfähigkeit, andere Personen auf meine Stufe zu heben, ihnen zuzuhören. Sie fühlte sich als Mensch und als Frau abgewiesen. ‚Bisher habe ich Sie gemocht‘, hatte sie gesagt. Und dass sie sich zu früh eine Meinung gebildet habe. Wenn ich sie verlöre, würde mir etwas fehlen. Die Wärme, die sie ins Haus gebracht hatte, wurde für mich bereits nach kurzer Zeit zur Selbstverständlichkeit. Ein kalter Schauer zieht über mich hinweg, wenn ich daran denke. Sollte das jetzt Vergangenheit sein? Bitte nicht. Ich wandere weiter zurück. Nach vielen vergeblichen Versuchen, eine Haushaltshilfe zu finden, niemand schien bei so einem arroganten Schnösel arbeiten zu wollen, stand eines Tages Christina in der Tür.

„Guten Tag, Herr Freienstein. Mein Name ist Christina Kunert. Ich bin Ihre neue Haushaltshilfe.“

Sie schaute mich unsicher und schüchtern an und als ichsie längere Zeit taxierte, wurde sie rot. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich herausgeputzt hatte, um Eindruck zu schinden. Sogar geschminkt hatte sie sich, was sich bei ihren nächsten Besuchen nie wiederholte. Sie schaute zu Boden und wartete auf meine Reaktion.

„Was macht Sie so sicher, dass Sie die Stelle bekommen werden?“

„Verzeihen Sie. Ich hoffe, Ihre neue Haushalthilfe zu werden, wollte ich sagen.“

„Was haben Sie denn für Referenzen?“

„Keine.“

„Sie haben noch nie als Haushaltshilfe gearbeitet?“

„Doch. Zuhause.“

„Das hat doch nichts mit einer Haushaltshilfe zu tun.“

„Sie haben Recht“, jetzt sah sie mich fest an. „Ich habe mir nicht geholfen, ich schmeiße den Laden ganz allein.“

„Das befähigt sie wohl kaum zur Haushaltshilfe. Wer sagt mir, dass Sie sich auf die Menschen einstellen können, denen Sie dienen.“

„Ich diene nicht, sondern helfe. Man muss schon ein richtiger Stinkstiefel sein, um mit mir nicht zurecht zu kommen. Und das sind Sie doch nicht, oder?“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ein einnehmendes Lächeln. Warum sah ich sie nicht damals schon als Frau? Keine Nähe zulassen, gehörte zu meinen Lebensprinzipien. Ihre kleinen Zeichen von Koketterie, wie Streichen durchs halblange, brünette Haar, Schwingen der Hüften und immer wieder dieses Lächeln, verpufften. Ich sah sie nicht.

„Wer hat mich Ihnen empfohlen?“

„Das ganze Dorf. Man meinte, es wäre eine echte Herausforderung und Sie würden mich bestimmt großzügig entlohnen.“

„Was soll daran eine große Herausforderung sein, an dem bisschen Putzen, Abwaschen, Wäsche waschen und Bügeln?“

„Ach, ist es so wenig, dass Sie es selbst machen könnten?“

„Natürlich. Wenn ich Zeit hätte.“

„Zeit ist sehr wertvoll. Hätten Sie so viel davon übrig, dass Sie mich hereinbitten könnten, um alles zu besprechen?“

„Wenn ich mich dazu entschließe, Sie einzustellen, gern. Doch Sie haben mich noch nicht überzeugt.“

„Sie mich leider auch noch nicht. Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg, bei der weiteren Suche.“

Sie drehte sich um und lief schwungvoll die Stufen hinunter.

„Warten Sie. Kommen Sie herein.“

„Eine weise Entscheidung. Wir wissen beide, dass ich die einzige Bewerberin bin und es auch bleiben werde. Wie lange suchen Sie schon?“

Damals hatte sie mich beeindruckt, mit ihrem Verhandlungsgeschick, wobei sie den Preis hochgetrieben hatte. Wenn sie etwas erreichen wollte, zeigte sie Biss. Doch gleich darauf wurde sie zum Inventar. Dieser positive Eindruck geriet in Vergessenheit. Dabei hatte mein Unterbewusstsein registriert, dass sie mich mochte, vielleicht sogar begehrte. Das wird mir allerdings erst jetzt bewusst. Sie versuchte ständig, Smalltalk zu betreiben, während sie arbeitete. Wie eine Teenagerin, die mehr über ihren Star erfahren will. Ich hörte nur halbherzig zu und war nicht gewillt, irgendetwas Privates von mir preiszugeben. Was böte sich sonst noch als gemeinsames Thema an: Haushalt und Dorftratsch?

Bei unserem Abschiedsgespräch hatte sie mich eines Besseren belehrt. Sie war mir durchaus ebenbürtig, was ihre geistige Reife betraf. Ihr Intelligenzquotient würde jedoch im unteren Drittel anzusiedeln sein. Keine gute Basis für anregende Unterhaltungen. Jetzt denke ich darüber nach, welchen Stellenwert ein Intelligenzquotient besitzt. Der meines Vaters war sicher hoch. Doch ein Zusammenleben mit ihm ist unvorstellbar.

Die Umwelt habe ich noch immer ausgeblendet. Keine Ahnung, welchen Anblick ich bei meinen Überlegungen geboten hatte. Eine Kinderstimme zerrt mich wieder ans Licht.

„Bist du traurig?“

Neben mich hatte sich ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren gesetzt. Seine großen Augen sehen mich mitfühlend an.

„Kann schon sein“, gab ich kläglich zu. „Was machst du hier? Wo sind deine Eltern?“

„Das ist unser Platz. Wir fahren in den Urlaub, ans Meer. Mutti kommt gleich. Ist nur kurz Pipi machen.“

Mein Blick streift das Gepäcknetz. Sieht nach einem längeren Urlaub aus.

„Dann werde ich mir mal einen anderen Platz suchen.“

„Brauchst du nicht. Ein Platz ist noch frei.“

„Fährt denn dein Papa nicht mit in den Urlaub?“

„Papa wohnt nicht mehr bei uns. Mit ihm fahre ich das nächste Mal irgendwohin.“

„Da bist du bestimmt traurig, dass dein Vati nicht dabei ist, oder?“

„Bist du traurig, weil deine Frau nicht mitgekommen ist?“

„Ich habe keine Frau.“

In diesem Moment steuert seine Mutter auf uns zu. Eine stämmige Frau, der man ansieht, dass der Urlaub längst überfällig ist.

Ihre schwarzen Haare stehen wirr vom Kopf ab. Ich frage mich, ob das so gewollt ist, oder ob ihr die Motivation für Ordnung abhandengekommen ist. Erste graue Strähnchen machen sich bemerkbar. Trotz ihrer Erschöpfung schenkt sie mir ein Lächeln, das auf halbem Wege stirbt.

„Warum bist du dann traurig?“, setzt der Kleine sein Verhör fort.

„Lasse den Herrn in Ruhe, Jonas. Du redest auch nicht gern, wenn du traurig bist.“

„Doch. Wenn du mir etwas Schönes erzählst.“

„Ist in Ordnung. Ihr Sohn stört mich nicht. Es ist gut, wenn Kinder neugierig sind. Es zeugt von Mitgefühl.“

Habe ich das jetzt wirklich gesagt? Aus meinem Munde, der Mitgefühl nur als schwer fassbare Vokabel kennt, klingt es wie Hohn. Natürlich stört mich die Fragerei des Jungen. Mein altes Problem. Worüber unterhält man sich mit einem Kind, das nichts von der Welt versteht?

Als ich mich in der Arbeitswelt verkrochen hatte, war das Leben vorhersehbar. Jetzt befinde ich mich erst ein paar Stunden auf meinem Selbstfindungstrip und schon fliegt es mir um die Ohren.

Jonas sieht mich immer noch fragend an. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass er auf eine Antwort wartet. Es wäre sinnlos, ihm etwas von meinen Problemen zu erzählen. Das würde einen Fünfjährigen nur verwirren. Ich könnte ihm von Mutter berichten, die im Sterben liegt, doch auch dieses Thema würde ihn überfordern. Eine abgeschwächte Variante könnte die Lösung sein.

„Meine Mutter ist krank. Ich mache mir Sorgen.“

„Sei nicht traurig“, sagte er, wobei er seine kleine Hand auf die Meine legt.

„Sie wird bestimmt wieder gesund. Mutti macht mir immer eine Hühnerbrühe, wenn ich krank bin. Das könntest du ja auch für deine Mutti machen.“

Erteilt mir der Kleine gerade eine Lektion in Sachen Mitgefühl? Habe ich das eigentlich für meine Mutter, die mich den Kampf mit meinem Vater allein ausfechten ließ? Hätte sie das verdient? Christina behauptete es und selbst der alte Mann hatte mich aufgefordert, in meiner Kindheit nach versteckter Liebe zu suchen. Doch die Zeit habe ich jetzt nicht. Jonas setzt mich unter Druck. Er will die Antwort sofort. Dennoch drängt sich mir das Bild meiner Mutter auf, die streng das vom Vater bestimmte Regime aufrecht erhält. Ihre Haare wurden von Lockenwicklern immer wieder in eine Form gezwängt, die eine Perfektion vortäuschen sollte, die nicht vorhanden war. Das Leben hatte ihr Lachfalten verwehrt. Stattdessen zogen tief eingegrabene Wangenfalten am Mund vorbei, um ihre Unnachgiebigkeit zu unterstreichen. Hat sie meine Fürsorge verdient? Ich schaue aus dem Abteilfenster. Ein Versuch dieses Bild nachträglich weichzuzeichnen. Die karge Brachlandschaft verhindert das.

„Das wird das Erste sein, was ich tun werde, wenn ich bei ihr ankomme.“

„Weißt du denn, wie man die macht?“

„Nein. Aber ich schaue im Internet nach.“

„Mutti kann es dir sagen. Stimmt’s Mutti?“