Kein Fall von Normalität - Erwin Sittig - E-Book

Kein Fall von Normalität E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Die psychisch labile Marita lebt zurückgezogen. Schreckliche Erlebnisse in ihrer Vergangenheit lassen sie die Menschen meiden. Sie geht nur hinaus, wenn es unbedingt notwendig ist. Sie geht zwar einer geregelten Arbeit nach, doch auch hier gilt sie als sonderbar. Im Haus ist sie abergläubischen Anfeindungen ausgesetzt. Bei einem Unfall vor ihrem Mietshaus wird sie beschuldigt, diesen ausgelöst zu haben. Man spricht vom "Bösen Blick", was die Skandalpresse ausschlachtet. Die kleine Antonia fühlt sich von der Mutter vernachlässigt und baut eine freundschaftliche Beziehung zu Marita auf. Beim Versuch, ihr zu helfen, überschlagen sich die Ereignisse. Kommissar Fint, der gezwungen ist, den Fall zu untersuchen, glaubt nicht an übersinnliche Fähigkeiten. Auch er versucht, Marita zu helfen. Doch dann verschwindet Antonia. Sie hat sich viele Feinde gemacht, so dass ein Verbrechen nicht auszuschließen ist. Doch wem wäre ein Mord zuzutrauen? Dem übereifrigen Skandalreporter Kilian? Dem karrieresüchtigen Kollegen Keller oder der fürsorglichen Kollegin Frau Griesbach, die bei Marita gern die Mutterrolle übernommen hätte? Doch es gibt noch weitaus mehr Verdächtige. Die sogenannten normalen Menschen stellt Fint auf den Prüfstand. Doch wo hört die Normalität auf?

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Erwin Sittig

Kein Fallvon Normalität

© 2020 Erwin Sittig

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-11854-6

Hardcover:

978-3-347-11855-3

e-Book:

978-3-347-11856-0

Illustration:

Erwin Sittig

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kein Fall von Normalität

Marita starrte auf die Fensterscheibe. Der Regen hatte sie mit hunderten von Regentropfen übersät. Ein seltsames Rennen begann. Die Schwere der Tropfen zog diese hinunter. Auf halbem Weg trafen sie Gleichgesinnte, die scheinbar willenlos dem Gesetz der Schwerkraft folgten und zu fragen schienen, ob der Weg zu zweit nicht viel schöner wäre. Und als ob es tatsächlich so ist, beschleunigten sie nach der Vereinigung ihren Schritt, um die gleiche Frage ein weiteres Mal zu stellen, sobald sich ein Artgenosse in den Weg stellte.

Wer sagt, die Regentropfen hätten keinen Verstand, sie können ihren Weg nicht selbst wählen, irrt. Ohne ersichtlichen Grund änderten sie plötzlich abrupt ihren Weg, als ob der Partner linker Hand ein besserer wäre, als jener, der auf direktem Wege gewartet hat. Marita war fasziniert. Dieses Spiel wurde erst interessant, als der Regen aufgehört hatte. Jetzt entstanden Zeiträume für die Tropfen, die das Überlegen gestatteten. Kein Zwang mehr, schnelle Entscheidungen zu fällen, die aus der Not geboren wurden und doch nur im Sande versickern.

Die frischen Wölbungen der Tropfen hatten etwas Belebendes. Sie verteilten den Glanz in alle Richtungen, so dass auch Marita ihren Anteil bekam. Sie kroch näher an die Scheibe heran, um zu prüfen, ob sie ihr Spiegelbild im Regentropfen sehen könne, das sie in einer lustigen Verzerrung zeigen müsste. Sie war enttäuscht. Ihr erwählter Tropfen warf kein Bild zurück. Weder ein verzerrtes, noch ein realistisches. Sie war sich nicht einmal sicher, welches Bild ihr lieber gewesen wäre.

Die Sonne klomm an den Wolken empor und schob ihr freundliches Gesicht darüber hinweg. Sofort wurde die Landschaft der Scheibe zu einem funkelnden Teppich, der Freude in ihr Herz pflanzte. Vergessen waren die Ärgernisse der letzten Stunden, die, allein durch die lebendigen Wasserspiele vor ihren verzückten Augen, schon an Schärfe verloren hatten. Doch nun brannte die Sonne den letzten Rest der belastenden Erinnerungen weg und gab den Weg vollends frei, um alles Schöne in sich aufzunehmen. Die Tropfen wurden zu Kristallen und verteilten die Strahlen über ihr ganzes Gesicht, das sich überglücklich darstellte und nichts mehr wahrnahm, als dieses befreiende Schauspiel der Natur, von dem sie selbst ein Teil geworden war.

Diese Freude, hervorgerufen, durch eine Banalität, die viele Menschen nicht einmal wahrnehmen, beherrschte ihre Gesichtszüge und legte ein kindliches Grinsen hinein, das ihre Mitmenschen nicht anders, als abartig bezeichnet hätten.

Der offene Mund hatte sich zum Lachen entschlossen und verharrte auf halbem Wege, um auch dem Staunen noch etwas Spiel zu lassen. Die weit aufgerissenen Augen hatten sich geweitet und in Verbindung mit der zaghaft gefurchten Stirn mehr Fragen, als Antworten parat. Sie wiegte sacht den Kopf und tanzte sich in einen Tagtraum hinein, der sie endlich zu einem glücklichen Menschen machte, fernab von dem Bösen, von den Menschen.

Und genau in diesen verzückten, schwebenden Blick huschte ein Schatten hinein und zwang ihre Augen die Brennweite zu ändern, um diese Störung zu analysieren. Es war das Gesicht ihrer Nachbarin, Frau Jaffel.

Frau Jaffel starrte sie an, als hätte sie eine Geisteskranke entdeckt, der der Wahnsinn mit gewaltiger Kraft aus den Augen sprang. Sie las in Frau Jaffel Abscheu, Entsetzen und Unverständnis, wie es nicht intensiver sein könnte. Dieselbe Intensität, die Marita in die Betrachtung der Wasserspiele gelegt hatte, fand sich in Frau Jaffel’s Blick, als sie ihre Nachbarin betrachtete. Auch sie stand mit geöffnetem Mund da und vergaß, vor Überraschung, weiterzugehen. Marita war für sie der Wassertropfen, jedoch ein Tropfen, der nicht fließen wollte, der nicht in ihre Welt passte und glücklicherweise hinter dieser Scheibe steckte.

Erst als Marita sich dem Blick stellte und beide Frauen sich staunend ansahen, begriff Frau Jaffel, dass sie stehengeblieben war und diesem Wesen mehr Aufmerksamkeit bekundet hatte, als ihr lieb war. Irritiert lief sie weiter. Einem solchen Blick konnte sie nicht standhalten. Er war nicht vom Geist beseelt und drohte in sie einzudringen, um Besitz von ihr zu ergreifen.

Es war mehr eine Flucht, als ein Weitergehen.

Traurig weitete sich Maritas Blick und suchte ein Ziel in der Ferne, das sie niemals finden würde, nachdem diese Frau ihre Welt zerstört hatte. Sie hatte die Regentropfen zu normalem, bedeutungslosem Wasser degradiert, das hinunterfällt und im Einerlei verschwindet.

Marita hasste diese Wohnung, die ihr Leben der ganzen Welt präsentierte, weil sie sich zu ebener Erde an einer belebten Straße befand. Sie hasste es ebenso, die Verschläge zu schließen, um sich fremden Blicken zu entziehen. Das Licht benötigte sie mehr als die visuelle Abschirmung vor dem Bösen, vor den Menschen.

Sie hatte sich daran gewöhnt und würde sich doch nie daran gewöhnen, dass sie nicht ganz dazugehörte. Sie war eine Außenseiterin, die nach getaner Arbeit in ihre Zelle zurückwich. Nur, wenn es der Selbsterhaltungstrieb forderte, unternahm sie ein paar Gänge in dieser ihr fremden, bedrohlichen und rätselhaften Zone. Jeder Einkauf war eine Qual, jedes Gespräch eine Provokation, jede Bekanntschaft ein Angriff.

Marita hatte die 36 überschritten. Ihr Leben endete mit 17 und es begann mit 17 Jahren. So gesehen, war sie erst 19 Jahre alt.

Sie war nicht immer so. Sie war nicht immer so verschlossen, so misstrauisch. Sie war nicht immer so verängstigt, so irre. Sie war einmal ein ganz normaler Mensch.

Ein Verbrechen hatte für ihre Geburt gesorgt und ihr altes Leben ausgelöscht - von einer Sekunde auf die andere. Das Leben vor ihrer Geburt war für sie ein Traum, den sie schon erstickte, wenn sie ihn kommen sah. Er war unreal und darum nicht lebensfähig. Viel realer war hingegen ihr Geburtsvorgang. Er schickte sie in eine Welt, die sich krass von ihrem verlogenen, unterdrückten Traum abhob. Er schickte sie in die Welt des Bösen, zu den Menschen.

Frau Jaffels Herz pochte wie wild. Sie hatte in diese Augen gesehen - diese Augen, die versuchten, sie von innen aufzufressen. Welcher Teufel hatte sie getrieben, vor dem Fenster dieser wahnsinnigen Hexe stehenzubleiben? Sie hat den bösen Blick. Bei diesem Gedanken bekreuzigte sie sich. Sie war erleichtert, als ihr die Knoblauchzehen ins Blickfeld gerieten, die sie vorsorglich über die Eingangstür gehängt hatte. Sicherheitshalber kontrollierte sie ihr Kopfkissen, ob ihre Nähnadel noch an der Unterseite steckte, das dritte Auge, das sie vor dem Schlimmsten beschützen würde, da es Hexen irritiert.

Nie hatte Frau Jaffel verstehen können, dass so eine gemeingefährliche Person frei herumlaufen darf. Was hatte sie verbrochen, dass sie Tür an Tür mit ihr wohnen musste?

Anfangs hatte sie Marita für ein normales Mädchen gehalten. Sie war freundlich, aber abweisend. Irgendwann ertappte sie die junge Frau im Hausflur. Sie hielt einen Brief in den Händen und schaute durch ihn hindurch, ohne ihn zu öffnen. Heute war sich Frau Jaffel sicher, dass sie diesen Brief, so wie er war, gelesen hatte. Durch den geschlossenen Umschlag hindurch. Sie hatte nicht auf ihren Gruß reagiert, nur gestarrt. Sie hatte sich in ihn hineingebohrt mit ihrem Blick. Erst als Frau Jaffel ihren Gruß lautstark wiederholte, schreckte das Mädchen zusammen. Sie zerknüllte den Brief in ihrer Hand und jagte ihre Blicke wie ein gehetztes Wild durch den Hausflur. Ihr Kopf zuckte dabei herum, als würde sie aus immer neuen Ecken Stimmen hören, die sie zu orten suchte. Frau Jaffel war für sie nicht existent. Endlich rannte sie davon, steckte zitternd ihren Schlüssel in die Wohnungstür und verschwand hinter der hallend zuschlagenden, schweren Eichentür.

Die darauffolgende Stille war gespenstisch. Es war, als wären diese Stimmen zurückgeblieben, um sich auf Frau Jaffel zu stürzen. Die Stille hämmerte auf sie ein und trieb sie ebenso panisch voran, wie zuvor das junge Mädchen mit dem irren Blick.

Auch ihr Blick hatte etwas von der Unruhe angenommen und hätte einem zufälligen Besucher, eine gewaltige Portion Verwunderung aufgeladen.

Erneut knallte eine Eichentür und schwer atmend lauschte Frau Jaffel in den Flur hinaus, hoffend, dass diese Tür genug Schutz bietet.

Diese beängstigende Szene, war in diesem Moment auferstanden. Damals wurde Frau Jaffel bewusst, dass sie an der Schwelle eines neuen Lebens stand, eines Lebens voller Angst und Gefahren, die nach ihr greifen werden. Aber sie würde wachsam sein und darauf zu reagieren wissen.

Bisher war ihr das gelungen, nicht zuletzt wegen der Knoblauchzehen und des dritten Auges unter dem Kopfkissen. Doch dieser Blick heute, traf sie ungeschützt. Obwohl sie gehört hatte, dass Glasscheiben, für böse Blicke, unüberwindlich wären.

Seit diese Marita hier wohnt, hatte sich ihr Leben gewandelt. Ständig ereilten sie Missgeschicke und das Verhältnis zu ihrem Mann spannte sich mehr und mehr. War er etwa schon in ihrem Bann?

Erschöpft setzte sie sich. Sie hatte noch ihren Mantel an und stellte die Einkaufstaschen neben den Stuhl, ohne sie loszulassen. Der Mund hing apathisch herab und ihre Gedanken schweiften ab. Vergeblich hatte sie bisher versucht, die anderen Hausbewohner vor der drohenden Gefahr zu warnen. Sie war eher belächelt worden, als ernst genommen zu werden.

Irgendwann werden sie ihr nochmal dankbar sein, für ihre Wachsamkeit.

Wie viel Zeit vergangen war, wusste Frau Jaffel nicht. Ein Schlüssel drehte sich schreiend im Schloss. Ängstlich zog sie die Einkaufstaschen an sich und starrte auf die Tür, die bisher eine sichere Barriere für das Böse dargestellt hatte. Sie hörte das Schloss schnappen. Verzweifelt bereute sie, so tief in Maritas Augen gesehen zu haben. Dabei war sie bisher immer sehr vorsichtig gewesen. Sie grüßte Marita zwar, um sie nicht zu provozieren, aber sie sah nur flüchtig zu ihr hoch. Heute hatte sie die Kraft dieses Blickes gespürt, diese übernatürliche Kraft, die vielleicht sogar Schlösser bewegen kann.

Es gab genügend Beispiele, dass die Besessenen die Telekinese beherrschten. Sie war zu keiner Bewegung mehr fähig. Sie hatte die Taschen schon soweit unter das Kinn gezogen, dass sie ihren gesamten Oberkörper schützten. Die Augen weiteten sich und drückten ihr Falten in die Stirn. Langsam öffnete sich die Tür. Eine dunkle Gestalt schob sich herein und verharrte, sobald sie die Schwelle überschritten hatte.

„Was starrst du mich so an“, wunderte sich Herr Jaffel „ist dir ein Gespenst über den Weg gelaufen oder machst du Yogaübungen?“

Schlagartig entspannte sich Frau Jaffel und ging einem geschäftigen Treiben nach, indem sie die Taschen auspackte und ein paar Sachen in den Kühlschrank legte.

„Mache dich nur lustig“, empörte sie sich „wenn du aufwachst, wird es zu spät sein“.

Mit steigender Erregung wurden ihre Bewegungen hektischer.

„Ist dir etwa wieder unsere kleine Nachbarin begegnet, dass du so schlotterst?“

„Ich schlottere nicht. Ich bin nur vorsichtig, was ich dir übrigens auch raten würde. Du lässt dich doch nur von der hübschen Larve täuschen. Du scheinst überhaupt nicht zu bemerken, wie es bei uns immer kälter wird und dass alles von der Nachbarwohnung ausgeht. Oder tust du nur so?“ Sie hielt inne, um ihren Mann anzusehen.

„Die Kleine tut niemandem etwas an. Die Kälte bringst du hier rein, durch dein ewiges Misstrauen.“

„Sie hat dich schon völlig in ihrem Bann. Du bist blind Herbert. Du würdest nicht mal etwas bemerken, wenn sie, direkt neben dir, ihr Unheil über die Leute bringt.“

Herr Jaffel sah nachdenklich aus dem Fenster. Wie konnte er seine Frau nur zur Vernunft bringen? Alles drehte sich nur noch um ihre Nachbarin.

Er sah Marita aus dem Haus treten. Wie immer schaute sie sich unsicher um. Erst dann marschierte sie los, wobei sie nur selten den Kopf hob. Ein junger Mann betrachtete sie versonnen und sah ihr lächelnd nach.

Es war Marita nicht entgangen. Ihr Kopf flog herum und sah ihn erzürnt an. Ihre Lippen zitterten dabei. Das Lächeln im Gesicht des Mannes erstarb. Schüchtern wendete er sich ab und beschleunigte gleichzeitig seinen Schritt, um der peinlichen Situation zu entfliehen. Ihm blieb nicht genug Zeit, sich neu zu orientieren. Im letzten Moment konnte er einem Radfahrer ausweichen, indem er zur Seite sprang. Ein Auto erfasste ihn und schleuderte seien Körper empor, so dass er mit dem Kopf auf den Bordstein aufschlug. Sofort umringten ihn Menschen, um ihm aufzuhelfen. Herr Jaffel streckte sich besorgt, um mehr sehen zu können. Sein Blick wanderte zu Marita, die genüsslich lächelnd den Unfall beobachtet hatte und beschwingt ihren Weg fortsetzte, als sei nichts geschehen. Das Auto war weitergefahren. Die Sorge um den jungen Mann hatte das zweitrangig werden lassen. Der Mann erhob sich, von Passanten gestützt und hielt sich ein Taschentuch an die Platzwunde. Er schien die Helfer zu beschwichtigen, worauf sich die Ansammlung langsam auflöste. Leicht schwankend setzte er seinen Weg fort.

Wenn das seine Frau gesehen hätte, dachte Herr Jaffel, müsste er sich stundenlange Vorträge anhören. Und doch war ihm Maritas Blick noch gegenwärtig, der keine Spur von Mitleid aufgewiesen hatte. Bald hatte er den Vorfall vergessen und widmete sich seinen Tagesgeschäften.

Marita kannte solche Männer, die sie mit den Augen bedrängten und ihre unheilvollen Wünsche an den sabbernden Lippen hängen hatten, um sie bei nächster Gelegenheit an ihr abzuwischen. Dieser Kerl war nicht anders. Sie waren alle nicht anders. Sie freute sich über jede Strafe, die sie ereilte. Es meldete sich eine vage Hoffnung, dass es einen Hauch Gerechtigkeit gibt, als sie den Mann stürzen sah.

Beflügelt von dieser Vision schritt sie weiter voran. Ein schwerer Weg lag vor ihr. Es war ihr Arbeitsweg. Der Zwang, sich zu stellen, an einen Ort gefesselt zu sein, Menschen ertragen zu müssen, sich von ihrer vertrauten Welt zu lösen, ihr zu entsagen, für die Dauer vieler Stunden, das war es, was sie mit dieser Arbeit verband.

Ihr psychisch labiler Gesundheitszustand erlaubte es ihr nicht, einer Arbeit nachzugehen, die ihren Vorstellungen entsprach. Spätestens beim Einstellungsgespräch war ihr Traum zu Ende. Das hatte dafür gesorgt, dass sie noch abweisender, noch verschlossener wurde.

Eine Schwester der psychiatrischen Abteilung, wo sie in Behandlung war, hatte ihr diesen Job vermittelt. Sie war froh, dass sie die Schwester an ihrer Seite hatte, als sie sich beim Chef dieses Unternehmens vorstellte. Den überwiegenden Teil des Gesprächs hatte diese bestritten, so dass sie sich lediglich zu ihren fachlichen Kenntnissen äußern musste.

Es war keine Arbeit, die sie ausfüllte. In dem mittelständischen Handelsunternehmen hatte sie lediglich ein paar Hilfsarbeiten zu verrichten. Rechnungen und Mahnungen waren zu verschicken, unwichtige Korrespondenzen zu erledigen, die Wichtigen übernahm eine der Buchhalterinnen, Bestellung von Büroartikel, gelegentlich die Betreuung kleinerer Werbemaßnahmen und die Reinigung der Räumlichkeiten gehörten zu ihren Aufgaben.

Auch hier galt sie als sonderbar, verschlossen und etwas unheimlich, aber ebenso bezeichnete man sie als arbeitsam und zuverlässig, falls sie nicht gerade von einem ihrer Tagträume überfallen wurde.

Marita richtete es immer so ein, dass sie in der Mittagspause ihren Dienst antrat, um zunächst allein zu sein. Sie arbeitete halbtags, vom Mittag bis zum Abend. Da sie die Arbeitsräume zu reinigen hatte, verließ sie die Firma gewöhnlich als Letzte. Das Vertrauen, ihr den Schlüssel zu überlassen, brachte man ihr entgegen.

Ihre Kollegin Yvonne war die Erste, die von der Pause, die in einem der Nachbarräume abgehalten wurde, zurückkehrte. Sie begrüßte Marita mit einem Lächeln.

Marita lächelte zurück, wobei sie etwas den Kopf hob, um ihn gleich wieder zu senken.

Yvonne war 23 Jahre alt. Vor Kurzem feierte sie mit den Kollegen ihren Geburtstag. Auch Marita wurde eingeladen. Doch sie lehnte dankend ab, wie immer, wenn es Feierlichkeiten gab. Das Mädchen sprühte vor Lebensfreude. Früher, vor ihrer zweiten Geburt, war Marita ihr sehr ähnlich. Sie war stets gut gelaunt, kleidete sich sexy und freute sich, wenn es ihr gelang, den Jungs ein paar bewundernde Blicke zu entlocken. Und sie liebte die Discos, den Tanz und die Musik.

Besonders an Tagen, wenn Yvonne sich etwas gewagter kleidete, zogen die Erinnerungen an ihr früheres Leben auf. Sie floh dann in ihren bösen Blick, der ihre Stirn in Falten schlug, um nur noch ihre Arbeit zu sehen. Jedes Zurückweichen vor ihre letzte Geburt war schmerzhaft und ließ sich nur durch diesen Scheuklappenblick abwehren.

Mit einem Blick hatte Marita registriert, dass Yvonne heute einen besonders engen, großzügig ausgeschnittenen Pullover trug, der ihren üppigen Busen betonte. Sie sah sofort, dass sie keinen BH trug und ihr Minirock, beim Sitzen, Probleme bereitete.

Sie schob ihre Unterlippe etwas vor und löschte Yvonnes Anwesenheit aus ihrem Bewusstsein. Ihr schlimmster Albtraum trat jedoch gemeinsam mit den anderen Kolleginnen ein - der Hauptbuchhalter Harry Keller. Er war Mitte dreißig und obwohl verheiratet, ständig den Mädchen hinterher. Sein Lieblingsthema war Yvonne, die er besonders gern neckte, da sie vorzüglich dazu geeignet war, seine Blondinenwitze anzubringen.

Bereits beim Eintreten fixierte er Yvonne, was er vermutlich schon den ganzen Tag getan hatte und zog sie förmlich mit seinen Blicken aus. Nebenbei begrüßte auch er Marita, wobei er ihr nur ein paar flüchtige Worte zuwarf. Er wusste, dass sie eine lange Anlaufphase brauchte, um etwas aufzutauen. Später würde er ihr ein paar seiner albernen Witzeleien zukommen lassen, die ihn so unausstehlich machten.

Die Kollegen hatten es sich abgewöhnt, mit Marita eine längere Unterhaltung führen zu wollen. Die Aussicht auf Erfolg war minimal, wenn nicht unmöglich.

Nur Frau Griesbach versuchte es noch hin und wieder. Sie war etwas mollig und verkörperte den mütterlichen Typ, der sich jedoch trotz seiner 52 Jahre modern und farbenfroh kleidete.

Marita war die graue Maus in der Firma und kleidete sich vorrangig in den Farben grau und schwarz. Sie vermied es, Haut zu zeigen, und trug nur lange Röcke und hochgeschlossene Blusen und Pullis. Da auch sie eine Oberweite besaß, die Männer zum Träumen brachte, zog sie luftige Kleidung vor, so dass sie ihre Reize so gut wie möglich verbergen konnte.

Ihr blasser Teint und die halblangen, glatten, tiefschwarzen Haare ließen sie etwas kränklich wirken. Harry fragte sie einmal, ob sie ein Grufti sei und zu Hause mit einer Ratte wohne.

Dass dieser Spaß in die Hose ging, merkte er sehr schnell an dem Blick, der ihn traf. Maritas Kopf schnellte empor und aus ihren zu Schlitzen verengten Augen schoss ihm ein abgrundtiefer Hass entgegen, so dass ihm fröstelte. Er stammelte seine Entschuldigung, während Marita, ohne weitere Regung, ihren Kopf senkte und in der Arbeit das Vergessen suchte.

Heute hatte sie von Harry keine Sticheleien zu befürchten. Yvonne hielt ihn zu sehr in ihrem Bann. Bei jedem Gang durch den Raum folgten ihr seine sehnsüchtigen Augen. Durch den dünnen Rock zeichnete sich ihr Tanga ab und unterstrich die weichen Formen unter dem Gürtel. Sein Blick kreuzte auch Marita und, obwohl er durch sie hindurchging, stach er, als würde er durch eine Linse verstärkt, seinen Brennpunkt auf ihrem Körper finden.

Bilder aus dem Leben vor ihrer Wiedergeburt peitschten sie hoch. Ein schleimiger Blick rutschte auf ihr entlang und versuchte sich an die Klippe ihrer Brüste zu klammern, bevor er in tiefere Regionen abrutschte, um dort einen neuen Aufenthaltsort zu finden. Schwammige, schweißnasse Hände legten sich auf ihre sanften Rundungen, dicht unter die Gürtellinie, um sie im Discogewühl scheinbar beiseitezuschieben, um den Weg freizubekommen. Doch der abtastende Druck verriet die Absicht. Diese abstoßenden Hände würden ihr etwas später wieder begegnen.

„Was ist mit Ihnen?“

Eine leise Stimme drang zu ihr durch.

„Hallo, Marita! Fehlt Ihnen etwas?“

Mühsam drang Frau Griesbachs Gesicht durch den Nebel. Ihre Berührung an der Schulter ließ sie zusammenschrecken und gleichzeitig das Grauen aus dem alten Leben verschwinden. Ihre Lippen zitterten noch, ihre Augen waren noch angstgeweitet.

Yvonne starrte sie mitleidig an und Harry hatte seinen lüsternen in einen fragenden Blick verwandelt, der mit leicht angehobenen Augenbrauen auf ihr ruhte.

Irritiert hetzte ihr Blick durch den Raum, indem sie alle anwesenden Personen ruckartig anvisierte. Ein verstümmeltes Lächeln deutete an, dass sie in die Realität zurückgefunden hatte. Es war nur ein böser Traum.

„Es ist alles in Ordnung“, hauchte sie und stürzte sich wieder auf ihre Rechnungen, um sie zu sortieren und abzuheften. Frau Griesbach strich ihr mitfühlend über den Kopf und setzte sich wieder. Als wäre nichts geschehen, ließ sich Marita in ihre Arbeit fallen, ohne dass im Laufe des Tages das Problem nochmal angesprochen wurde. Es war nichts Besonderes. Sie hatten schon Schlimmeres erlebt.

Ein Bote vom UPS brachte eine Sendung herein. Es war immer der gleiche, der diese Strecke fuhr. Yvonne hatte schon herausbekommen, dass er Marcus hieß. Sein dunkles Haar war schon stark ergraut, nahm ihm aber nichts von seiner jugendlichen Frische. Er war, in etwa, in Harrys Alter. Obwohl Yvonne sich alle Mühe gab, mit ihm zu flirten, schien er nur Augen für Marita zu haben. Er versuchte zwar, sein Interesse hinter seiner Schüchternheit zu verbergen, aber ausgerechnet die verriet ihn. Er war froh, dass Marita für den Posteingang zuständig war und hoffte, dass sie ihm einen kurzen Blick und vielleicht ein paar nette Worte widmen würde.

Jedes Mal erfüllten sich seine Hoffnungen nicht, jedes Mal verschloss sich diese schlichte Schönheit hinter ihren Aufgaben und schien ihn nicht zu bemerken.

Es war ihm selbst ein Rätsel, was ihn an ihr faszinierte. War es ihre Art, sich zu kleiden? War es ihre Schlichtheit, die sich in ihrer Zurückhaltung, ja fast Unnahbarkeit ausdrückte und durch die Tatsache unterstrichen wurde, dass sie sich niemals schminkte?

Und doch wirkte sie sinnlich, aufreizend und anziehend. Er war wie in Trance, wenn er vor ihr stand. Er wagte nie ein persönliches Wort. Sein erster Versuch hatte ihm nur kaltes Schweigen und kurz aufblitzende Augen, die ein großes Stoppschild vorantrugen, eingebracht. Er hörte von ihr nie mehr als ein „Guten Tag“ oder „Danke“ oder „Bitte“ und dennoch war er dieser Stimme verfallen, deren Worte sanft und kühl über die sinnlich vollen Lippen schwebten. Schon bei ihrem ersten Wort überkam ihn ein deutliches Kribbeln, als wäre er an einer Schwachstrombatterie angeschlossen. Die Nackenhaare sträubten sich, als wollten sie sich einem leichten Windhauch entgegenstellen, um jede Vibration in sich aufzunehmen.

Yvonne fieberte diesem Schauspiel täglich entgegen und war enttäuscht, wenn sie keine UPS-Sendung erwarteten. Sie hatte kapiert, dass ihre Chancen nicht existent waren, und genoss die schüchterne Verliebtheit des Boten. Zu gern hätte sie erfahren, ob Marita überhaupt ahnte, was in diesem Mann vorging.

Marita registrierte das Zögern des Boten, der unendlich lange brauchte, um wieder zu verschwinden. Sie spürte seine gierigen Blicke und tiefer Abscheu überkam sie. Er konnte sie nicht täuschen, indem er tat, als könne er kein Wässerchen trüben. Es gab nicht den geringsten Unterschied zu all den anderen Monstern, die sich Männer nannten. Seit ihrer Wiedergeburt hatte sie nichts Männliches mehr an sich herangelassen und das war gut so. Das würde für immer so bleiben.

Sie hörte, wie sich seine Schritte schleichend entfernten. Diese lästigen Augen fühlte sie noch beim Hinausgehen. Sie beruhigte sich erst wieder, als sie die Tür ins Schloss fiel.

Marcus Wispa wusste sich keinen Rat, wie es weitergehen soll. Wenn sie wüsste, dass er alles Mögliche anstellte, um die Touren in diese Firma abzufangen, ob sie ihn dann erhören würde?

Sollte er sie einfach nach Feierabend abpassen, um ihr seine Liebe zu gestehen?

Sicher war, bei dem wenigen, was er von ihr wusste, das Wort „Liebe“ etwas verfrüht. Aber sein Gefühl hatte ihn gelehrt, dass er auch das Wort „Verstand“ vergessen kann, wenn er an sie denkt. Ihr Bild verfolgte ihn, wenn er aß, wenn er fuhr, wenn er schlief.

Obwohl er nicht schlecht aussah, so hatte er doch seine Schwierigkeiten, mit Mädchenbekanntschaften. Er spürte gelegentlich, dass auch er begehrt wurde, doch niemals von den Frauen, die ihn um den Verstand brachten. Oder war es diese unüberwindbare Grenze, die ihn elektrisierte? Er stieg in seinen braunen Lieferwagen und nahm Verbindung mit seiner Zentrale auf. Wie nebenbei erkundigte er sich, ob wieder etwas für das Handelscenter Kersik anlag.

Enttäuscht nahm er die abschlägige Antwort auf und zum wiederholten Male fragte er sich, womit die eigentlich handeln. Er kannte kein Lager, keine Aktivitäten irgendwelcher Speditionen für diese Firma und keine Produkte, mit denen sie handelten. Wen er auch fragte, sie teilten alle seine Unwissenheit.

Im Grunde wollte er es gar nicht wissen. Er hoffte vielmehr, dadurch ein Gesprächsthema zu haben, wenn er den gefürchteten Schritt wagen würde, Marita anzusprechen. Was blieb ihm sonst? Das Wetter? - ein Thema für Langweiler.

Essen, Musik? - ziemlich abgedroschen und bei ihr schwer einzuschätzen.

Er drehte den Zündschlüssel und war froh, dass ihn das Geräusch des Motors an seine Aufgaben erinnerte. Die nächste Adresse würde ihn in einen trostlosen Vorort der Stadt führen. Wie immer würde er mechanisch die Gänge einlegen, sich instinktiv von Verkehrsschildern und Ampeln leiten lassen, ohne darauf zu achten, was um ihn herum vorgeht. Er hatte sich schon oft gefragt, wie es möglich war, dass er plötzlich am Ziel angelangt war, ohne sich an den Weg dorthin zu erinnern. Er bremste zuverlässig, wenn ein Kind über die Straße lief, oder ein Rowdy ihm die Vorfahrt nahm, aber er war nicht dabei, er war bei Marita.

Der Tag war anstrengend. Harry Keller versuchte, durch seine flachen Witze Yvonne zu begeistern, während er sich durch ihren Pullover fraß. Sie tänzelte durchs Zimmer und führte lange, alberne Telefongespräche und Frau Griesbach belästigte Marita mit ihrer Fürsorglichkeit. Die anderen Kollegen ignorierten sie, was ihr am Liebsten war.

Sie atmete befreit auf, als sie endlich allein war, um die Reinigungsarbeiten auszuführen.

Heute wird sie nur ausfegen. Wischen war für den Freitag vorgesehen.

Sie stellte die Stühle hoch und bei jedem spürte sie den Menschen, der darauf gesessen hatte. Sie saugte muffige Gerüche ein, die aus den Polstern strömten und die sie an jahrelange Ausdünstungen erinnerten, und erholte sich bei wohligen Essenzen, die z.B. dem Stuhl von Yvonne entströmten. Sie hatte niemals primitive Körpergerüche an ihr ausgemacht, die auf mangelnde Körperhygiene schließen ließe. Der Duft war betörend und erinnerte sie abermals an das teuflische Leben vor ihrer Geburt. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Stuhl anstarrte und mit ihm erstarrt war. Ein Hauch von Exotik hatte sie erfasst und schlang seine gierigen Arme um sie. Die Versuchung, dem Drang nachzugeben, diese Erfahrung als angenehm zu empfinden, wurde übermächtig. Sie spürte diese Kraft und eine leise Melodie schlich sich hinein, die sie davontrug. Wie in Trance wiegte sie ihren Körper, als wäre dieser Stuhl der ideale Tanzpartner, der sie in ein schöneres Leben führen könnte.

Und plötzlich erwachte sie aus ihrem Traum und warf entsetzt den Stuhl auf den Schreibtisch, wo er pendelnd in seine vorbestimmte Lage floh.

Marita bannte ihn mit ihrem drohenden Blick. Ihre Atemfrequenz erhöhte sich, ihre Stirn umwölkte sich und ihre Hände verkrampften zu festen Fäusten, die ihre Nägel schmerzhaft ins Fleisch drückten. Doch das war ihr recht. Es war die Strafe für einen Moment der Schwäche. Zufrieden betrachtete sie die Spuren, die ihre Nägel im Handballen hinterlassen hatten. Sie waren das Zeichen des Sieges. Diese Welt, die böse Welt der Menschen, konnte ihr nichts anhaben, wenn sie es wollte.

Hasserfüllt wandte sie sich dem letzten Stuhl zu. Es war der von Harry. Die Polster waren vom Schweiß seiner Genitalien und von den stinkenden Winden seiner Gedärme durchtränkt, sie mussten es sein. Mit festen Händen packte sie das Bein des Rollstuhles, wobei sie streng darauf achtete, die Sitzfläche nicht zu berühren, und stampfte es angewidert auf Harrys Schreibtischplatte. Sie war sich sicher, dass das Furnier der

Schreibtischplatte schon längst vom Polster des Stuhles zerfressen worden wäre, wenn er nicht diese Plastikschreibunterlage dort deponiert hätte.

Übelkeit überkam sie. Sie riss alle Fenster weit auf. Ein erfrischender, kühler und immer noch etwas feuchter Wind, strich um sie herum. Gierig atmete sie die appetitliche Luft ein, die ihre Nahrung aus dem angrenzenden Park mit dem kleinen, künstlich angelegten Teich bezog. Sie schloss die Augen, um diesen Genuss nicht durch ungewollte Eindrücke trüben zu lassen. Sie wusste, dass zwei Etagen tiefer, Menschen durch diesen Park spazierten. Sie drückte ihre Lider etwas fester zusammen, um sicher zu sein, dass sie nicht zu ihr dringen könnten. Diese Luft war ganz allein für sie. Eine Entschädigung für die gewaltige Menge Gift, die sie gerade eingeatmet hatte.

Marcus konnte sich an diesem göttlichen Bild nicht sattsehen. Die Weinreben erklommen fast flächendeckend die Wand des vierstöckigen Hauses im Park. Sie drängten fordernd über Fensterrahmen hinweg und schlossen sie so in ihre Welt mit ein, ohne sie zum Fremdkörper werden zu lassen. Und mitten in dieser Wand klafften drei hell erleuchtete Löcher, wobei das Mittlere ein wunderschönes Gemälde präsentierte. In schwarzem Leinen gehüllte Arme stützten sich gespreizt an dem oberen Rahmen des Fensters. Ein von schwarzen Haaren umrahmtes, blasses Gesicht lag nach hinten gelehnt, als wolle es die letzten Sonnenstrahlen aufsaugen. Die Augen waren geschlossen und um den Mund spielte ein unruhiges, strahlendes Lächeln, als erzähle es dem Wind eine Geschichte, eine Geschichte vom Glück.

Marcus war froh, hier hergekommen zu sein. Allein dieser winzige Augenblick entschädigte ihn für seine unerwiderte Sehnsucht. Je mehr er diesen Anblick genoss, umso größer wurden seine Ängste, dass ein falsches Wort dieses Gemälde unwiderruflich zerstören könnte. Als sich die drei Fenster schlossen, entfernte er sich gesenkten Hauptes und schlenderte mit seinem heilen Traum nachhause.

Wie immer, wenn Feierabend war, machte sich Harry Keller auf den Heimweg. Er war nicht sonderlich glücklich darüber, wartete doch täglich das gleiche Einerlei auf ihn. Er war immer noch erregt von Yvonnes heutigem Auftritt und nur langsam wich die Spannung aus seiner Hose. Als Hauptbuchhalter hatte er sich im Griff zu haben, wenn die Karriereleiter nicht jetzt schon das Ende erreicht haben sollte. Er musste sich zwingen, seinen Scherzen Zügel anzulegen und seinen Begierden einen Schleier überzuhängen. Zu gern würde er heute mit Yvonne, oder einem anderen Mädchen durchbrennen und seinen Fantasien freien Lauf lassen. Doch da war sein Chef, der mit seinen verknöcherten Moralbegriffen die Linie vorgegeben hatte. Ein leitender Mitarbeiter braucht eine intakte Familie und hat Ausschweifungen jeder Art zu meiden. Harry hatte sich an seinen Lebensstandard gewöhnt und die Aussicht, diesen emporschnellen zu lassen, erleichterte manchen Verzicht. Aber das Leben versprach viel mehr. Es lockte mit süßen Versprechungen und machte ihm das Leben täglich schwerer. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, da er alles miteinander verbindet. Doch momentan schwoll die Lawine seiner Wünsche, Sehnsüchte und Lüste gefährlich stark an. Sie hämmerte in seinem Kopf, als wolle sie ihn sprengen. Sie drängte hinaus und durfte nicht. Die Zeit war noch nicht reif.

Ein letzter Blick auf die schwingenden Hüften Yvonnes, und das lockende, kleine Dreieck ihres Tangas und er warf sich in das Alltagsgewühl, um zu vergessen.

Für Yvonne hingegen begann ihr Leben erst jetzt. Nicht dass ihr die Arbeit zuwider wäre, aber sie war so eintönig, dass sie ihren Spaß woanders suchen musste. Und Spaß bedeutete Partys, Discos, Jungs und Tanz. Nicht unbedingt in der Reihenfolge aber es gehörte alles dazu. Sie hatte so viel Verstand, dass Drogen für sie nicht infrage kamen und Alkohol nur in kleinen Mengen. Nach diesen Prinzipien wählte sie ihren Freundeskreis.

Sie hatte schon ein paar „One Night Stands“, aber die große Liebe, lief ihr einfach nicht über den Weg. Anfangs hatte sie sich stark bemüht, Marcus, von diesem Paketdienst, anzubaggern, doch es war, als würde sie durch ihn hindurchreden. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass er in die verrückte Marita verknallt war. Es war tierisch lustig, die beiden zu beobachten, was immer noch besser war, als sich mit weiteren, vergeblichen Versuchen lächerlich zu machen, so wie es Marcus bei Marita tat. In jeder Pause war das ihr Thema. Es ging so weit, dass sie Wetten abgeschlossen hatten, wann es funken würde. Doch es gab niemanden, der darauf wetten wollte, dass es überhaupt einmal funken würde, und so gaben sie es wieder auf.

Aber was interessierte sie fremdes Leid. Manchmal war sie kurz davor, Marita einen Tipp zu geben, doch wenn sie dann in ihre Augen sah, verging es ihr wieder.

Yvonne war sich nicht sicher, ob Marita verrückt ist. Auf jeden Fall hatte sie einen Schuss weg. Es war ihr unvorstellbar, wie man in dem Alter schon zur Nonne werden konnte. Sie hatte Marita nie herzhaft lachen hören. Vielleicht sollte sie sie mal zur Disco mitnehmen. Aber, wie gesagt, was ging sie fremdes Leid an. Sie würde ihr nur den Abend verderben.

Yvonne genoss es bei jedem Schritt, dass Männerblicke über sie krabbelten und Frauen neidvoll Abscheu demonstrierten. Sie war stolz auf ihren Körper und wo sie auch hinging, für sie war es eine große Show. Es kam vor, dass sie vor dem Spiegel stand und allein, von ihrem eigenen Anblick, sexuell erregt wurde. Dann grinste sie zufrieden und ging optimistischer denn je ihrer Wege.

Auch heute Abend werden wieder unzählige Männer ihre schmachtenden Blicke aussenden, um sie zu erweichen. Ein winziges Zeichen würde genügen, um diese armseligen Kreaturen zu alberne Clowns, zu ergebenem Spielzeug werden zu lassen.

Aber sie suchte keinen Clown, kein Spielzeug. Sie suchte ihn, von dem sie nichts wusste, weder wie er aussieht noch wie er ist. Wenn er da wäre, würde sie es wissen.

Frau Griesbach lenkte ihre Schritte nachhause, an den heimatlichen Herd. Dort würde ihr Mann auf sie warten, während er bei Schnaps und Bier vor der Glotze sitzt. Sie wird sich kurz frisch machen, in den Supermarkt gehen und die schweren Taschen nachhause schleppen. Sie fragte schon lange nicht mehr, ob ihr Mann mitkommen möchte. Er hatte sich seine Ruhe, nach der schweren Arbeit auf dem Bau, verdient, während sie sich im Büro die Zeit vertrieb. Es machte ihr nichts mehr aus, den ganzen Haushalt allein zu bewältigen und jeden Abend ihrem Mann ein warmes Essen zu servieren. Sie war es gewohnt, wenn sie todmüde ins Bett fiel, ihrem Mann für die Freuden der Liebe zur Verfügung zu stehen. Eine Pflicht, die sie nicht mit Freuden verband. Sie hatte nie verstanden, dass dieses Ritual einer Frau Vergnügen bereiten könnte. In einer Männerwelt war es nur natürlich, dass in den Medien diese Illusion erzeugt wurde. Sie wusste es besser.

Dieser Mann war ihre erste Liebe. An ihm war sie hängengeblieben, da das erste und einzige Kind in ihr zu wachsen begann, das sich später von ihnen lossagen würde.

Die Gesellschaft kettete sie aneinander, sie machte den Mann zum Herren und sie zur Sklavin. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Oftmals beneidete sie die jungen Dinger, die den Männern das Zepter aus der Hand genommen hatten und sie wie unreife Bubis aussehen ließen. Für Frau Griesbach war es zu spät. Sie hatte die alte Schule durchlaufen, in der alles abgesteckt, alles vorherbestimmt war. Sie war zu alt, um die Welt, die sie nicht verstand, neu zu erobern.

Sie hasste ihr Leben, aber es war ihr Schicksal, eben vorherbestimmt.

Sie verabscheute die Männer, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie würde ihre Rolle gut spielen. Die Gesellschaft erwartet es von ihr. Dennoch erfasste sie immer wieder eine freudige Unruhe, wenn in den Medien von Unfällen auf dem Bau berichtet wurde, in der Hoffnung, dass es ihren Mann erwischt hat.

Das wäre eine saubere Lösung, die ihre Verhältnisse schlagartig verbessern würde.

Und jedes Mal wurde sie enttäuscht. Ihr Mann hatte ein Alkoholproblem, das nur durch ihre absolute Unterwürfigkeit einigermaßen erträglich war. Sie kannte andere Fälle und wusste, dass ihr Widerstand zu Gewaltausbrüchen führen würde. So gesehen, hatte sie es noch ganz gut getroffen.

Das alles schwirrte durch ihren Kopf, während sie die Bier- und Schnapsflaschen einpackte. Und obwohl ihr bekannt war, dass die meisten Trinker einen Schutzengel haben, hoffte sie, dass gerade diese Flasche ihren Mann zum Stolpern bringen würde. Sie klammerte sich an diesen Gedanken und packte, mit einem optimistischen Lächeln, eine Flasche Korn mehr ein.

In der Ahornstraße 13 schaute unterdessen ein zwölfjähriges Mädchen aus dem Fenster des zweiten Stocks. Ihr Zimmer lag zur Straße hinaus, so dass sie alles verfolgen konnte, was sich in der Gegend abspielte. Das Haus lag an einer großen, belebten Kreuzung und hatte schon viele Jahre auf dem Buckel. Der Putz begann sich vom Mauerwerk zu lösen und die Feuchtigkeit hatte die Kellergewölbe in muffige, gruselige Höhlen verwandelt. Antonia mied diesen Bereich des Hauses und war nur durch Drohungen der Mutter dazu zu bewegen, hinunterzusteigen, um Eingewecktes oder Kartoffeln heraufzuholen. Nicht nur einmal hatte sie eine Ratte hinweghuschen sehen, die sich durch den Geruch und die zum Teil fauligen Kartoffeln angezogen fühlten. Sie nahm stets eine Taschenlampe mit, da sie fürchtete, dass das flackernde Licht im Keller irgendwann seinen Geist aufgibt. Sie hasste es, wenn sie aus Versehen eine matschige Kartoffel anfasste, und wusch sich danach intensiv die Hände. Doch der Geruch war hartnäckig.

Obwohl sie sich bereits zum zweiten Mal gewaschen hatte, wollte der Gestank nicht weichen.

Der Gang in den Keller lag schon eine halbe Stunde zurück und immer noch klopfte ihr Herz so stark, als säßen ihr die Gespenster der Gruft im Nacken. Sie stellte sich vor, wie unheimliche Gestalten in den Wänden eingemauert sind, die durch einen dummen Zufall zum Leben erwachen. Die Jungs machten sich einen Spaß daraus, die Ängste der Mädchen zu schüren, und ergötzten sich an Gruselcomics und protzten damit, die Gruselfilme der Erwachsenen gesehen zu haben. Sie nahm an, dass nicht alles gesponnen war. Ein Stückchen Wahrheit wird schon drinstecken. Sie prahlten damit, wie sie unerschrocken und kaltblütig den Geistern entgegentreten und sie in die Flucht schlagen würden. Sie teilten ihr mit, dass diese dunklen, muffigen und feuchten Keller, wie sie in Antonias Haus zu finden wären, der bevorzugte Aufenthaltsort der grausigen Monster sind. Antonia war froh, dass sie wieder heil oben angekommen war. Den Weg zurück, rannte sie immer, während sie sich auf dem Hinweg nur langsam vortastete und in alle Ecken leuchtete.

Und jedes Mal stellte sie sich hinterher an das Fenster ihres Zimmers und beobachtete die Welt da draußen. Diese unbekannten Personen brachten sie in die heile Welt der Menschen zurück. Dort gab es Hilfe, wenn sie sie benötigt. Auf ihre Mutter war da weniger Verlass. Sie hatte nur selten für sie Zeit. Einer ihrer Freunde, der fast immer auch bei ihnen wohnte, war stets wichtiger. Antonia wurde da eher zum Störfaktor. Sie trauerte der Zeit nach, als ihr Vater noch zu Hause war. Es gab damals zwar auch Streitereien zwischen den Eltern, so wie heute mit den Freunden der Mutter, aber Antonia hatte etwas Liebe bekommen. Heute war von der Liebe nichts mehr zu spüren. Ein Teil wurde den Ersatzvätern geopfert und der Rest wurde von der Unzufriedenheit der Mutter gefressen. Die Leute da draußen, waren ihr inzwischen genauso nahe, wie ihre Mutter. Nein, sie waren ihr näher. Wenn sie diese Menschen zu Hilfe rief, wäre die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer, dass sie erhört wird.

In dieser Gewissheit wichen die Geister langsam von ihr.

Sie schaute sich gern die Menschen an und malte sich ihre Geschichten aus. Keiner glich dem anderen, niemand bewegte sich wie der andere. Sie hängte sich an eine Familie, die mit ihrem kleinen Sohn schmuste und allerhand Späße mit ihm veranstaltete. Keine Bewegung entging ihr. Sie versetzte sich in seine Lage und freute sich über jede Berührung, jedes Lächeln, über jedes nette Wort, das sie jedoch nicht verstehen konnte. Sie war dieser Junge und sie war froh darüber. Erst ein hupendes Auto zerstörte ihre Illusion und nahm ihr Lächeln mit sich fort.

Die seltsame Hausbewohnerin aus der unteren Etage bog um die Ecke. Auch heute war sie fast gänzlich in Schwarz gekleidet. Antonia fand, dass ihr Grau besser stünde. Wenn auch viele diese Frau für verrückt hielten, Antonia mochte sie. Sie hatte mit ihr viel gemeinsam.

Auch sie war allein, einsam und fühlte sich unverstanden. Auch sie hatte keinen, der sie in die Arme nimmt. Niemanden, der ihr Halt gibt.

Sie lief die hölzernen Treppen hinunter und riss die schwere Eichentür zur Straße auf.

Mit gesenktem Kopf kam Marita auf Antonia zu. Es war wie immer. Antonia himmelte die Frau an und grüßte freundlich. Die hob nur zur Hälfte den Kopf, präsentierte ein Lächeln, das sie, noch vor seiner Vollendung, abbrach und erwiderte den Gruß. Dabei beeilte sie sich, im Hausflur zu verschwinden. Aber diesmal hatte sich Antonia vorgenommen, die Frau anzusprechen.

„Frau Kümmel?“

„Ja?“

Marita wandte sich dem Mädchen zu, ohne ihr in die Augen zu sehen. Währenddessen durchsuchte sie ihre Handtasche nach dem Schlüssel.

„Darf ich zu Ihnen mit rein kommen?“

„Warum?“ Maritas Blick wanderte unruhig zwischen ihrer Handtasche und dem Mädchen hin und her. Der Wunsch Antonias verunsicherte sie, so dass sie sich nicht mehr auf die Schlüsselsuche konzentrieren konnte.

„Ich möchte Ihre Freundin werden!“

Das Mädchen sagte dies so bestimmt, wobei sie fest in Maritas Augen sah, dass ihr vor Schreck die Handtasche aus der Hand fiel. Deren Inhalt ergoss sich auf die Fliesen. Verstört sammelte Marita den Inhalt wieder ein, während sie immer wieder zu dem Mädchen aufsah.