Wider Willen schön - Erwin Sittig - E-Book

Wider Willen schön E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Das Thema von Schönheitsoperationen, besonders bei Kindern, wird in diesem Krimi thematisiert. Was macht es mit ihnen, besonders unter dem Gesichtspunkt des Mobbing. Ist Rache dann der richtige Weg?

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Erwin Sittig

Wider Willen schön

Kriminalroman

© 2025 Erwin Sittig

https://erwinsittig.de

Covergestaltung: Erwin Sittig

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN

Paperback:

978-3-384-56775-8

Hardcover:

978-3-384-56776-5

e-Book:

978-3-384-56777-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

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Urheberrechte

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Wider Willen schön

Gegenwärtig 1

Die Stunden zogen sich quälend lang über den Tag. In jeder Sekunde hoffte sie, dass sich ihr Telefon mit seinem nervigen Klingelton melden würde. Dabei empfand sie den krähenden Hahn einst als originell. Doch seit ein paar Wochen war es für sie ein erbarmungsloser Weckruf, der ihr suggerierte, dass sie irgendetwas verschlafen hätte. Immer wieder fragte sie sich, seit ihre Tochter Coco entführt worden war, was sie falsch gemacht haben könnte. Dabei hatte die Polizei ihr gegenüber stets betont, dass es nichts gäbe, was sie hätte anders machen können. Zeugen hatten beobachtet, wie ihr Kind nach der Schule abgefangen und in einen metallicfarbenen Lieferwagen gezerrt wurde. Hätte sie ihr kleines Mädchen immer noch von der Schule abholen sollen? Sie war mit 14 Jahren selbstständig genug. Sie wusste, dass sie nicht in fremde Autos steigen durfte. Doch sie wurde nicht gefragt, nicht überredet. Einfach ergriffen, mit einem chloroformgetränkten Tuch betäubt und eingeladen wie ein wertloser Teppich. Ein Passant hatte sich zwar das Nummernschild des Fahrzeugs gemerkt, doch eine solche Kombination existierte nicht. Ein reines Fantasieprodukt.

Täglich hofften sie und die Kommissare Schwarzer und Dietz auf ein Lebenszeichen. Frau Larissa Dietz hatte ihr sogar eine psychologische Betreuerin angeboten, damit sie einigermaßen über die Runden käme. Sie hatte abgelehnt. Es wäre möglich, dass die Entführer auf eine Lösegeldforderung aus waren. Verena Täuber war wohlhabend.

Als Chirurgin in einer Klinik, die vordergründig Schönheitsoperationen anbot, verdiente sie exorbitant gut. Vielleicht hätten sie sich nicht diese protzige Villa bauen sollen, die unweigerlich Neider auf den Plan rief.

Bezahlte sie nun für ihre Geltungssucht? Wäre Coco noch bei ihr, wenn sie sich für ein bescheidenes Häuschen entschieden hätten? Doch warum gab es keine Lösegeldforderung? Selbst die Polizei war ratlos. Nach mehr als drei Wochen war ein solcher Schritt längst überfällig. Was kann man sonst von einem jungen Mädchen wollen? Das Gespenst eines Kinderhändlerringes geisterte durch ihre Gedanken. Aber dafür war ihr Mäuschen viel zu alt. Kinderlose Eltern wünschten sich Kleinkinder, noch besser wären Babys. Blieb die Möglichkeit, dass sie als Sexsklavin missbraucht oder getötet werden sollte.

Der Entführer war komplett schwarz gekleidet. Deutete das auf eine Gruppe von Satanisten hin? Unter all diesen grausamen Szenarien wünschte sie sich sehnlichst, dass es sich doch „nur“ zu einer Lösegelderpressung entwickeln würde.

Was könnte es aber für einen Grund geben, die Forderungen so spät zu stellen? Wollte man sie quälen? Sollte sie erkennen, wie wertvoll ihr Kind sei, um einen höheren Preis zu erzielen?

Es stimmte schon. Sie vernachlässigte Coco etwas, da ihr die Arbeit über den Kopf wuchs. Das Kind hatte sich nicht nur ein Mal beschwert, dass sie sich als letztes Rad am Wagen fühlte. Das viele Geld würde ihrer Mutter mehr bedeuten, als Zeit mit ihr zu verbringen. Es stimmte schon. Sie könnte kürzer treten und etwas Platz machen für eine weitere Chirurgin. Fürchtete sie um ihre Vormachtstellung?

Wer weiß, wem ihr Schätzchen von diesen Nöten berichtet hatte, weil sie nicht zuhörte. Welche Kräfte hatte sie auf den Plan gerufen?

Ihr Herz zersprang fast. Sie atmete nur noch oberflächlich, was ihre Angstzustände drastisch ansteigen ließ. Doch sie war in dem Gedankenkreislauf gefangen, der diese Fragen immer wieder umwälzte und in den Vordergrund schob. Da es keine Menschenseele gab, die ihr Antworten lieferte, trank sie sich seit zwei Tagen in einen Dämmerzustand. Sie hatte Urlaub genommen und war anfangs verwundert, dass man ohne sie auskam. Nicht ein Anruf. Niemand wollte ihren Rat hören.

Wenn Coco wieder bei ihr wäre, würde sie endlich klaren Tisch machen und für sich kürzere Arbeitszeiten einfordern. Die gewonnene Zeit würde sie ihrem Kind schenken.

Plötzlich krähte der Hahn. Der ungeliebte Klingelton könnte ihr die Erlösung bringen. Ihr Herzschlag schaltete noch eine Stufe höher. Panisch stürmte sie zum Tisch, auf dem ihr Handy lag. In der Hektik rammte sie den Oberschenkel gegen die Tischecke. Den Schmerz spürte sie kaum, da er unwichtig war. Doch der Zusammenprall hatte sie aus der Bahn geworfen. Sie taumelte und fiel zu Boden. Sie musste unbedingt mit dem Trinken aufhören. Nachdem sie sich aufgerappelt hatte, ergriff sie zitternd das Mobiltelefon, war jedoch nicht in der Lage, den Annahme-Button zu betätigen. Der Finger rutschte weg und schickte das Gespräch ins Nirwana. Sie fluchte vor sich hin und durchsuchte verzweifelt die entgangenen Anrufe. Hoffnung keimte auf, als sie die Nummer des Hauptkommissars Peer Schwarzer entdeckte. Vorsorglich hatte sie alle relevanten Kontakte abgespeichert, so dass ihr sein Name auf dem Display entgegenleuchtete. Ein befreiendes Lachen entfuhr ihr, bevor sie den Rückruf startete.

„Frau Täuber. Wir ….“

„Haben Sie meine Tochter gefunden?“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Leider nicht. Wir wollten uns nur erkundigen, ob sich die Entführer bei Ihnen gemeldet haben.“

„Wie hinterwäldlerisch sind Sie eigentlich? Meinen Sie nicht, dass ich mich augenblicklich melden würde, wenn dem so wäre? Warum machen Sie nicht Ihre Arbeit, statt die Leute mit Smalltalk zu belästigen?“

„Wir machen, was möglich ist. Es könnte ja sein, dass man sich bei Ihnen gemeldet hat und verlangt, nicht die Polizei einzuschalten. Davon möchte ich dringend abraten.“

„Geben Sie lieber die Leitung frei, damit mich jemand anrufen kann, der etwas Wichtiges zu sagen hat!“

Erbost legte sie auf, ließ sich auf die Couch fallen und nahm die Embryonalstellung ein. Dann wurde sie von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Wie lange würde sie ein Leben zwischen Hoffnung und Enttäuschung noch durchhalten? Sie blickte zu dem eingerahmten Foto ihrer Tochter auf, das sie seit der Entführung ständig auf dem Tisch stehen hatte. Sie war so ein hübsches Kind, das ihr durch den Tränenfluss nun weichgezeichnet erschien. Als befände sie sich in Auflösung. Die Angst griff erneut erbarmungslos zu und verstärkte ihren Druck.

Gegenwärtig 2

„Die Frau ist total fertig“, konstatierte Hauptkommissar Schwarzer.

„Ich hatte den Eindruck, dass sie betrunken war. Sie wird uns keine große Hilfe sein, wenn es hart auf hart kommt.“ Larissa Dietz sah ihn nachdenklich an. Ihr Kollege wirkte ausgelaugt. Sobald er nachdachte, ließ er seinen Schmerbauch entspannt hängen, während er sich ansonsten bemühte, ihn in Gegenwart von Frauen zu bändigen. Seine tiefgreifenden Geheimratsecken und sein faltiges Gesicht, ließen ihn älter wirken. Er sehnte bereits die Rente herbei, da er diesen Scheiß nicht mehr machen wollte. Dabei hatte er gerade erst die 60 erreicht. Besonders wenn sie in der Sackgasse steckten, zückte er gern die Rentenkarte.

Larissa war 25 Jahre jünger als ihr Chef, überragte ihn jedoch um fast 10 cm. Wenn sie dann noch hochhackige Schuhe trug, was sie ihm zuliebe nur selten tat, entwickelte der Mann ansatzweise Minderwertigkeitsgefühle. Ihre tadellose Figur, die ihr Befragungen in der Männerwelt leichter machten, verstärkte dies noch. Obwohl schlank und drahtig, spannte sich ihre Bluse über einem großen Busen. Die oberen Knöpfe musste sie offenlassen. Peer bezweifelte, ob es überhaupt möglich wäre, diese zu schließen. Er war ihr dankbar, wenn sie bei Unterhaltungen sitzen blieb, um den Größenunterschied nicht auszuspielen.

„Vielleicht sollten wir ihren Mann mit einbinden. Er könnte sie positiv beeinflussen“, schlug sie vor.

„Ein getrennt lebender Mann wird kaum Interesse an einer geltungsbedürftigen Exfrau haben, die kein gutes Haar an ihm lässt.“

„Kinder verbinden. Haben wir oft genug erlebt“, sagte sie im Brustton der Überzeugung, obwohl sie kinderlos war.

„Wenn der Kerl mal nicht selbst hinter der Entführung steckt, um ihr eins auszuwischen. Vielleicht sitzen die beiden jetzt entspannt am Pool und lästern über die herrschsüchtige Ex.“

„Bei der Befragung hatte ich nicht den Eindruck, dass er sonderliches Interesse an seiner Tochter hatte, wenn er auch ständig anruft, um Neuigkeiten zu erfahren.“

„Der zeigte eher an dir Interesse. Könnte sein, dass er damit von sich ablenken wollte“, bekräftigte Peer.

„Warum versteifst du dich so auf ihn?“

„Keine Lösegeldforderung, er ist ziemlich gelassen, wegen der Entführung und hat viel Zeit als verkappter Künstler.“

„Seine Bilder finde ich gar nicht so schlecht. Als Täter dürfte er weniger Talent haben. Ist viel zu weich. Diese Aktion hätte der bestimmt nicht durchziehen können.“

„Was haben wir denn sonst?“, fragte Peer mit ratlosem Blick.

„Nur, weil wir nichts haben, wird Frank Täuber nicht verdächtig, obwohl er groß ist, so wie der Entführer beschrieben wurde. Die Statur würde auch passen, aber unter einer lockeren Kleidung kann man viel verstecken oder aufbauen.“

Sie erhob sich und wanderte im Raum umher.

„Du denkst, dass man damit eine falsche Spur legen wollte?“, hakte Schwarzer nach.

„Wäre logisch, wenn man alle Eventualitäten klein halten will. Selbst der Lieferwagen weist darauf hin, mit seinem gebastelten Nummernschild“, erklärte Larissa.

„Da hast du allerdings Recht. Wir fanden den gestohlenen Wagen am Stadtrand im Parkverbot, als wenn wir ihn finden sollten. Die Nummernschilder waren abgebaut und der Innenraum des Wagens war praktisch clean. Es lag nur ein einziges Haar von Coco darin, wie für uns ausgestellt“, stellte der Kommissar fest.

„Genau und der eine Fingerabdruck am Rahmen war auch inszeniert. Hätte sich die Person dort abgestützt oder festgehalten, hätten mehrere Abdrücke entstehen müssen.“

„Wieso hat der Täter das gemacht?“, sinnierte Larissa. „Er hätte doch wissen müssen, dass der Abdruck nicht in unserer Kartei ist. Wenn also jemand belastet werden sollte, ging das gründlich schief. Außerdem ist der Abdruck so klein, dass er zu einem Kind passen könnte.“

„Oder zu einer zierlichen Frau“, steuerte Schwarzer bei. Sie standen beide am Fenster und schauten auf die Silhouette der Stadt, was sie häufig taten, um besser nachdenken zu können.

„Möglich, dass er noch Informationen nachschiebt. Aber warum wartet er so lange? Kann eigentlich nur bedeuten, dass das Mädchen bereits tot ist und er bei der Leiche weitere Hinweise hinterlegt hat.“

„Er hat uns das Fahrzeug auf dem Präsentierteller geliefert, aber es gibt keine Zeugen, die das beobachtet haben. Offenbar ein Nachtarbeiter. Was hindert ihn daran, das Gleiche mit dem Mädchen zu tun? Er will doch offenbar, dass seine Tat bekannt wird.“

Sie hüllten sich in Schweigen, während sie weiter nachdachten.

„Vielleicht wartet er auf einen bestimmten Termin“, überlegte Larissa laut. „Möglicherweise ein Geburtstag oder der Stichtag einer Tat, die er rächen will.“

„Du meinst, Cocos Mutter hat was auf dem Kerbholz, für das er sie bestrafen will?“

„Oder den Vater.“

„Also gut. Wühlen wir etwas in der Vergangenheit der beiden. Wir haben ja sonst nichts zu tun“, schloss sie das Thema ironisch ab.

Beide setzten sich an ihren Computer und starteten ihre Recherchen. Ihre Schreibtische stießen frontal aneinander, so dass sie stets Blickkontakt hatten. Sie verstanden sich gut. Sobald einer von ihnen eine zweifelnde Mimik zeigte, vereinten sie sich, um darüber zu reden. Doch all die Informationen, die sie fanden, waren nur tote Buchstaben. Welches Gewicht sie hätten, könnte nur die persönliche Begegnung offenbaren.

Darum würden sie sich die Eltern zeitnah getrennt vornehmen.

„Mir kommt da eine Idee“, verkündete die Kommissarin. Peer sah neugierig zu ihr auf.

„Was, wenn uns der Entführer zum Besitzer des Wagens führen will, den er stahl? Der hat den Diebstahl zwar gemeldet, doch wir sollten seine Fingerabdrücke überprüfen.“

„Nicht ganz ohne. Er hätte das Fahrzeug ja auch ausbrennen lassen können, um sämtliche Spuren zu beseitigen.“

„Worauf warten wir noch? Er wohnt hier im Ort. Das können wir schnell zwischenschieben.“

Gegenwärtig 3

Eric Schendel wirkte etwas gestresst, während sie sich als Kommissare vorstellten.

„Habt ihr endlich meinen Lieferwagen gefunden? Ich brauche ihn mehr als dringend. Musste schon eine Menge meiner Aufträgen absagen.“

„Wofür genau brauchen Sie das Fahrzeug?“, fragte Peer.

„Ich fahre eilige Medikamente aus.“

„Seltsam. Ihr Lieferwagen ist neutral silbermetallic. Müssen derartige Fahrzeuge nicht gekennzeichnet sein, damit sie nicht unnötig aufgehalten werden?“, wandte Larissa ein.

„Dafür habe ich magnetische Schilder, die ich nach erledigtem Auftrag wieder abnehmen kann. Ich zeige sie euch.“

Er ging mit ihnen in die Garage, wo mehrere Magnettafeln hochkant in einer Ecke standen. Die Kommissarin hockte sich davor und betrachtete die Schilder intensiv. Währenddessen interessierte sich Herr Schendel ungeniert für ihren einladenden Ausschnitt. Der Kommissar beobachtete dies amüsiert. Wie oft sich diese Szenen doch wiederholten. Selbst er erlag gelegentlich dieser Versuchung.

„Sie haben noch mehr Schilder?“

Er führte sie zu einer weiteren Lagerstätte und ermunterte sie, sich zu bücken, um sich näher ansehen zu können, was sie interessierte. Dabei postierte er sich so günstig, dass er einen vorteilhaften Einblick in die bevorzugten Zonen der Kommissarin genießen konnte. Sie bemerkte sein Interesse und richtete sich grinsend wieder auf. Dann ging sie in die Offensive.

„Sie interessieren sich für Polizeiarbeit?“

„Schon. Sieht man ja nicht alle Tage.“

Sie musterte ihn. Sein kurzes strohblondes Haar war gepflegt. Das volle Gesicht bot gleichmäßige feminine Züge. Mit einer anderen Frisur hätte er als Mädchen durchgehen können. Dennoch wirkte er energiegeladen mit wachen, fast stechend erscheinenden blauen Augen. Ein Mann, der ihr gefallen könnte, wenn er auch ihre Größe nur knapp verfehlte.

„Schön, dass sie uns unterstützen wollen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass man von diesen kleinen Transporten leben kann. Was machen Sie sonst so?“

„Sie haben die Magnettafeln doch durchgesehen. Oder?“ „Habe ich das?“

Er wurde unsicher und vermied es jetzt, in ihren Ausschnitt zu schauen, da sie ihn ununterbrochen anstarrte.

„Je nachdem, was gebraucht wird. Manchmal mache ich Sightseeingtouren, kleine Reportagen für Reiseveranstalter oder andere Hilfsdienste. Ach ja, nebenbei verkaufe ich meine Skulpturen. Ich habe auch ein Reisegewerbe.“ Noch so ein Künstler, dachte sie amüsiert.

„Können Sie uns ein paar Ihrer Arbeiten zeigen?“

„Natürlich, aber sagen Sie mir auch irgendwann, ob Sie meinen Lieferwagen gefunden haben? Deshalb sind Sie doch hier, oder? Ist er noch fahrtüchtig?“

Sie waren in einen Nebenraum gegangen, in dem er seine Werkstatt eingerichtet hatte.

„Er ist okay, aber von unserer Spurensicherung noch nicht freigegeben. … Sie erschaffen Fantasiemenschen aus Recyclematerial?“

Halb bewundernd, halb verwundert streifte ihr Blick über die skurrilen Werke.

„Zumindest versuche ich es. Ich möchte symbolisch, die Stärken von Mensch und Tier verbinden. Sozusagen eine Versöhnung widersprüchlicher Spezies.“

Seine Augen strahlten, als er seine Visionen erläuterte.

„Als Künstler kennen Sie doch bestimmt auch ihre Kollegen.“

„Für wen interessieren Sie sich?“

„Einen Frank Täuber.“

Sein Grübeln wirkte echt.

„Fertigt er auch Skulpturen an?“

„Nein. Er ist Maler.“

„Nie gehört. Sollte ich ihn kennen?“

„Seine Tochter wurde in Ihrem Wagen entführt. Sie heißt Coco. Kennen Sie das Mädchen?“

„Sagt mir erst mal nichts. Aber ich könnte in meiner Kundendatei nachsehen. Vielleicht hat die Familie ja eine Tour bei mir gebucht.“

„Es wäre schön, wenn Sie uns die Datei zukommen lassen“, mischte sich Peer zum ersten Mal ein. „Hier haben Sie meine Karte.“

„Eine Bitte noch. Wir benötigen Ihre Fingerabdrücke zu Vergleichszwecken.“

Peer packte die erforderlichen Utensilien aus und begann mit der Routinearbeit, die Eric Schendel so gut er konnte, unterstützte. Seine Finger waren so feingliedrig, dass sie sicher waren, eine Übereinstimmung mit dem Abdruck im Wagen zu finden.

Warum aber wollte der Entführer den Verdacht auf diesen Mann lenken?

Sie würden sein Leben nach Kontakten zur Familie Täuber abklopfen, falls seine Kundendatei keine Verbindung erkennen ließe.

Der Fingerabdruck war ein Volltreffer und sogar seine Kartei war hilfreich. Sie spuckte Frank und Coco Täuber als Kunden aus. Die hatten, zusammen mit anderen, eine Schlössertour gebucht. Hatte er Gefallen an dem Mädchen gefunden? Hielt er sie sich vielleicht als Haussklavin? Andererseits könnte der Mann fast jede Frau haben, ohne sich groß anstrengen zu müssen, hatte Larissa zu bedenken gegeben.

„Auch eine 14-Jährige?“, warf Peer ein.

„Ich denke, wir sollten sicherheitshalber einen Durchsuchungsbeschluss beantragen“, fügte er hinzu.

„Hast du aus der Vergangenheit der Täuberts etwas zutage gefördert, Peer?“

„Nur ein paar Spannungen zwischen Mutter und Tochter und auch zum Ex. Die Mutter scheint nur für ihre Arbeit zu leben. Keine Liebhaber. Die Tochter wollte zum Vater ziehen, doch das scheiterte am Widerstand der Mutter und dem Desinteresse des Vaters.“

„Also Motiv Fehlanzeige.“

„Da von heißer Liebe zur Tochter nichts zu spüren ist, könnte er sie vielleicht als Druckmittel einsetzen wollen, um seine Exfrau finanziell zu erleichtern. Momentan zahlt sie ihm Unterhalt, aber das wird ihm auf Dauer nicht reichen. Die Fingerabdrücke von Eric Schendel hätte er mühelos während ihrer gemeinsamen Fahrt nehmen können.“

„Dann überprüfen wir mal sein Alibi am Tag der Entführung.“

„Und das von Eric gleich mit. Den Wagen haben wir ihm übrigens gestern zugeführt.“

Gegenwärtig 4

Ihr Alkoholproblem hatte Verena Täuber inzwischen im Griff. Nicht auszudenken, wenn sie im entscheidenden Moment versagte. Seit einigen Tagen arbeitete sie wieder für ein paar Stunden, um sich abzulenken. Die Operationen hatte sie in die Nachmittagsstunden gelegt. Erschöpft kam sie abends nach Hause. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie früher einen ganzen Tag durchgearbeitet hatte. Was vier Wochen Faulheit anrichten konnten, erfuhr sie nun am eigenen Leibe. Sie legte sich kurz auf die Couch, warf einen letzten Blick auf ihr steriles pflanzenloses Wohnzimmer, den Tisch mit dem Bild der Tochter und schlief gleich darauf ein.

Die Hausklingel riss sie brutal aus dem Schlaf. Sie war wie gerädert. Wie lange hatte sie geschlafen? Es war schon dunkel draußen. Sie schaltete die große Beleuchtung ein und schlich matt zur Tür. Der Blick auf das Display der Überwachungskamera, die das Geschehen am Hauseingang abbildete, bot ihr ein schreckliches Bild. Zwei Frauen begehrten Einlass, deren Gesichter nicht sichtbar waren. Ihre Köpfe waren rundum bandagiert. An einem Verband war eine kleine Blutspur erkennbar.

Was sollte sie tun? Die Polizei rufen? Aber was wäre, wenn unter einer der Verkleidungen ihre Tochter steckte? Sie betätigte die Sprechanlage. Vor lauter Angst hatte sie vergessen, zu atmen, so dass die Frage keuchend aus ihr herausschoss.

„Was wollen Sie? Bei mir ist gerade die Polizei.“

„Erzählen Sie keinen Mist. Das wüsste ich. … Öffnen Sie endlich oder soll ich Coco wieder mitnehmen?“

Wurde sie vom Entführer überwacht? War das vielleicht eine Finte, um in ihre Wohnräume zu gelangen?

„Bist du das, Schätzchen? Sag doch was?“

„Bist du blind?“, maulte die Fremde. „Ihr Kopf ist eingewickelt. Sie kann nicht reden. Mach endlich diese beschissene Tür auf.“

Woher sollte sie wissen, dass dort wirklich Coco stand? Vielleicht war es eine weitere Falle, die nun ihr galt. Sie knallte ihre Fäuste gegen ihren Kopf, als könne sie die richtige Entscheidung herausprügeln.

„Wenn du jetzt nicht aufmachst, nehme ich die kleine Schlampe wieder mit und du hattest eine Tochter.“

Sie zögerte immer noch.

„Sofort!“, schrie die fremde Frau und instinktiv betätigte Verena den Türöffner. Das darauf folgende Summen zerriss sie fast, sagte es ihr doch, dass ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig zu machen war. Der Jargon des Mädchens hatte ihre Ängste verstärkt. Aber wer sonst, wenn nicht Primitive, wären fähig, Kinder zu entführen?

Die Fremde stapfte voran und schaute sich ungeniert im Haus um. Ihre Tochter, wenn sie es denn tatsächlich war, schlich ergeben hinterher. Während die Kopfbandage des Eindringlings Augen und Mund verschonte, verfügte die ihres Kindes lediglich über Atemöffnungen an der Nase. An den Augen zeigte sich ein schmaler Schlitz, der nur wenig von ihnen erkennen ließ. Etwas Blut drang im unteren Nasenbereich durch den Verband, was Verena beunruhigte. Sie traute sich nicht, das Wort zu ergreifen, wartete stattdessen auf eine Erklärung der mutmaßlichen Entführerin.

„Oh Gott“, begann diese. „Wie anstrengend muss es sein in einem solchen Museum zu leben. Was musste das arme Kind in all den Jahren ertragen?“

Sie wanderte durch den Raum, als hätte sie für die Besichtigung Eintritt bezahlt. Die Ärztin hielt sich zurück, um die übergriffige Tussi nicht zu provozieren. Deren Kritik schmerzte sie jedoch und machte sie wütend.

„Hast du etwas gegen das Leben? Schnippelst du darum an den Menschen herum? Würden dich Blumen daran erinnern, dass auch Menschen aufblühen wollen, was du erfolgreich verhinderst? Verbannst du sie deswegen aus deinem Haus, damit dein schlechtes Gewissen nicht erwacht?“

„Was wollen Sie noch hier. Geben Sie mir meine Tochter und verschwinden dann einfach“, schrie sie, wobei sie die verletzenden Worte auszublenden versuchte.

„Nein. So einfach ist das nicht. Ich möchte doch noch erleben, wie du das Geschenk auspackst. Setzen wir uns.“ Sie führte Coco zu einem Stuhl und setzte sich selbst auf den Gegenüberliegenden.

„Nun mach schon. Wickle es aus.“

Zögernd ging sie auf ihre Tochter zu. Die Finger zitterten leicht, während sie die Fixierung der auslaufenden Binde löste. Das Mädchen zuckte zusammen, als sie die Hand der Mutter spürte. Vorsichtig entfernte sie Bahn für Bahn. Als das erste Auge vollständig zum Vorschein kam, sah sie Tränen entweichen, die hoffentlich der Erleichterung geschuldet waren, dem Albtraum entkommen zu sein. Sie hielt inne. Das Auge fixierte sie. Was darin lag, konnte sie nicht deuten. Vorwurf, Liebe, Hass, Hoffnung? Vielleicht auch alles auf einmal. Dann setzte sie ihre Arbeit unter Tränen fort und legte die Blutergüsse und die Nähte frei. Entsetzt starrte sie auf dieses verstörende Bild. Diese Monster hatten ihr eine fremde Nase aufgepflanzt.

Doch damit nicht genug, diese war knollig und von kleinen roten Äderchen durchzogen, als gehörte sie einem Säufer oder alten Menschen. Die Mutter zuckte zurück.

„Was haben Sie …“, stammelte Verena. „Was haben Sie ihr angetan? Sind Sie irre?“

Coco reagierte entsetzt auf die Reaktion ihrer Mutter. Offensichtlich hatte man sie auf diese Neuerung nicht vorbereitet. Panisch wollte sie zum Spiegel im Bad rennen, doch die Fremde hielt sie mit eisernem Griff fest.

„Bleib‘ sitzen Schätzchen. Du wirst die kleine Überraschung noch lange genug bewundern können. Lass deine Mutter erst die Reste des Geschenkpapiers entfernen.“

Diese wurde wütend und machte Anstalten, sich auf dieses Miststück zu stürzen, das ihr Kind verschandelt hatte. Doch die Fremde zog eine Pistole und setzte sie ihr an den Kopf. Sie erstarrte und auch Coco erfasste ein Schaudern.

„Wir bleiben alle ganz ruhig. Setze dich neben deine Tochter!“

Sie folgte dem Befehl, wobei sie die Waffe nicht aus den Augen ließ.

„Was hast du nur? Die neue Nase ist doch wesentlich schöner. Es ist viel mehr Leben darin. Mit Sicherheit wird Coco ab jetzt etwas ganz Besonderes sein, von dem man kein Auge lassen kann. Wolltest du das nicht immer für deine Opfer? Oder sagt ihr Kunden dazu?“

„Ich operiere nur nach ästhetischen Gesichtspunkten. Niemand wird verstümmelt.“

„So verfährt mein Gönner auch. Er fand, dass ihr das Ding viel besser zu Gesicht steht. Aber du weißt ja. Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“

„Sie sind einfach nur krank“, schrie Verena sie an.

„Sie meinen vermutlich unbeachtet. Aber das ändert sich ja jetzt. Der Doktor hat mir netterweise die Nase ihrer Tochter geschenkt. Sie wird mir viel besser stehen als diesem Dreikäsehoch. Ich musste ihm als Gegenleistung lediglich einen kleinen Dienst erweisen - Ihre Tochter hier abliefern.“

„Wer ist dieser Verbrecher, der das Leben anderer Menschen kaputtmacht?“

„Er ist doch kein Verbrecher. Für mich ist er ein Gönner, für Sie ein Lehrer und für Coco ein Weiser, sollte sie beginnen, darüber nachzudenken.“

„Was hat dieser Irre davon, ein kleines unschuldiges Mädchen zu verunstalten?“

„Er dachte, dass er das Richtige tut. Zählen zu Ihren Opfern nicht auch Kinder, die nicht selbst darüber entscheiden dürfen, wie sie aussehen wollen?“

„Wenn, dann sind es benachteiligte Kinder, denen ich durch meine Arbeit ein unbeschwertes Leben ermögliche.“

„Auch Coco ist benachteiligt. Sie lebt in dieser Tristesse und kann sich fast jeden Wunsch erfüllen. Und dennoch fehlte es ihr bisher an Aufmerksamkeit, besonders durch Sie. Die wird sie ab jetzt zur Genüge bekommen. Richtig?“ Das ramponierte Mädchen verfolgte sprachlos die Diskussion.

„Ihr bestraft meine Mutter, indem ihr mich bestraft?“, resümierte sie fassungslos.

Die Fremde sah sie verständnislos an.

„Da liegst Du vollkommen falsch, Schätzchen. Wir bescheren euch eine intensive Zeit miteinander, wie ihr sie noch nie erlebt habt. Unser Geschenk wird euch zusammenschweißen. Die Bestrafung deiner Mutter hebt er sich für später auf. Erst wenn sie wieder glücklich ist, wird auch sie ein Geschenk von ihm erhalten.“

Verena Täuber erfasste erneut Panik, obwohl sie sich bereits in diesem Zustand befand. Ihr Puls beschleunigte sich weiter.

„Was will er mir antun?“, rief sie wimmernd.

„Dazu kann ich leider nichts sagen. Ich bin nur der Versanddienst. Meine Aufgabe hat sich hiermit erledigt. Und damit muss ich mich auch schon wieder verabschieden.“

Sie erhob sich und schlug den Weg zur Haustür ein.

„Ich werde die Polizei rufen. Man wird sie hinter Gitter bringen!“, schrie Verena erregt.

„Tun Sie das. Aber seit wann betraft man Lieferanten für das, was Ihnen andere schicken?“

Sie drehte sich nicht mehr um, als sie das Haus verließ.

Die Fremde war in absoluter Hochstimmung, als sie an der nächsten Kreuzung in ihr Auto stieg. Sie hatte sich auf dem Rückweg eine lebensnahe Maske über den Verband gestülpt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein paar Straßen weiter hielt sie an und entfernte die Binden, zog Schuhe und Kleid aus und stopfte es in einen Sack, den sie später verbrennen wollte. Sie betrachtete sich im Fahrzeugspiegel und war froh, dass sie ihre angeborene Nase noch besaß. Eine der wenigen Stellen ihres Körpers, an dem sie nichts auszusetzen hatte. Dagegen hatten ihr, neben anderen Mängeln, die Zähne eine verhasste Kindheit beschert.

Vor langer Zeit 1

Jeder Tag, an dem sie zur Schule musste, war ihr verhasst. Dabei hatte sie einen schönen Schulweg. Er führte sie an hübschen Häusern, gepflegten Gärten und einem prächtigen Park vorbei. Doch dafür hatte sie kein Auge. Das Grauen wartete auf sie, wie es dies jeden Tag tat. Sie lernte dennoch gern und hatte eine hervorragende Auffassungsgabe. Sobald sie ihren Platz in der Klasse eingenommen hatte und der Unterricht begann, fühlte sie sich einigermaßen sicher. Außer hässlichen Bemerkungen und beleidigendem Grinsen bei jeder ihrer Antworten hatte sie nichts zu befürchten. Doch sobald das Pausenzeichen ertönte, bemächtigte sich ihrer die Angst. Angst vor Pöbeleien, vor körperlichen Attacken und vor dem Gefühl der Hilflosigkeit.

Mit ihren struppigen Haaren, ihren vorstehenden Schneidezähnen und ihrer ärmlichen schmuddeligen Kleidung, fiel sie zwangsläufig auf.

Es war Sitte unter den Kindern, jedem einen Spitznamen zu verpassen. Die tonangebende Gang war der Meinung, dass sie es wie bei den Indianern handhaben wollten. Jeder musste sich seinen Namen verdienen.

Wenn man sie im Unterricht nicht mit ihrem richtigen Namen ansprechen würde, hätte sie ihn vermutlich längst vergessen. Für ihre Mitschüler war sie Pippi Dreckstrumpf. Was konnte sie dafür, dass ihre Eltern arm waren, sie vernachlässigten und nicht auf saubere Kleidung achteten. Auch ihr Zuhause war ihr verhasst. Selbst da machten sich Eltern, Tanten und Onkel über sie lustig. Sie verordneten ihr einen weiteren Spitznamen. Hasenzahn.

Der Schlimmste von den Schülern war Rambo.

Den Namen hatte er sich selbst ausgesucht und versuchte, seinen Helden in allem nachzuahmen. Er ließ sich die Haare lang wachsen und benutzte ein Stirnband. Heute hatte sie Glück. Sie beobachtete, wie er sich Dumbo, einen schüchternen, etwas korpulenten Jungen vornahm. Häufig begannen seine Attacken mit Rempeleien, wie auch jetzt. Dumbo bekam seinen Namen, weil er in Rambos Augen fett war und beachtliche Segelohren vorweisen konnte.

Mit gesenktem Blick stand der gedemütigte Junge wieder auf, nachdem er zu Boden gegangen war. Er wollte sich entfernen. Doch Wolf stoppte ihn und schubste ihn zurück in die Arme ihres Anführers. Wolfs Spitznamen hatte, wie bei den Meisten, Rambo festgelegt. Er war ausländischer Herkunft, doch niemand sprach darüber, weil er behauptete, Deutscher zu sein. Dabei war sein Name so offensichtlich fremdländisch, dass einige Syrien als sein Herkunftsland ansahen.

„Du wolltest doch nicht etwa wegfliegen, Dumbo?“, lästerte der Bandenchef.

„Nein. Wirklich nicht“, hörte Pippi seine klägliche Antwort. Die anderen versammelten sich um die Szene, da sie etwas Unterhaltung gebrauchen konnten.

„Dann kannst du mir doch sicher deinen Treibstoff geben. Wer nicht fliegt, braucht keinen.“

„Was meinst du?“, fragte er unsicher.

„Na deine Brotdose, du Hirni.“

Er gab sie ihm. Rambo klappte sie auf, nahm sich den Apfel und schüttete den Rest in den Dreck.

„Nun zisch ab Dickwanst.“

Dumbo war froh, dass ihm heute nur ein kurzer Auftritt beschert wurde, und verkroch sich in einer Ecke des Schulhofes.

Doch er wählte ausgerechnet das Versteck von Niemand. Niemand war ein kleiner schmächtiger Junge, der kaum auffiel. Nur weil es ihm gelang, sich unsichtbar zu machen, geriet er selten ins Visier der Bande. Jetzt, da sich Dumbo näherte, lief er Gefahr, entdeckt zu werden. Augenblicklich ergriff er die Flucht. Er gesellte sich fast nie zu einem anderen Kind. Vermutlich war er der Einsamste unter ihnen. Pippi lächelte, als sie Dumbo in Sicherheit sah. Sie mochte ihn. Das erregte jedoch die Aufmerksamkeit von Fettel. Die hatte sich der Bande angeschlossen, weil sie von Rambo akzeptiert wurde. Bei einem Unterwerfungsversuch hatte er festgestellt, dass sie ihm körperlich überlegen war. Er trat die Flucht nach vorn an und bot ihr an, bei ihnen mitzumischen. Doch da sie sehr dick war, hatte er ihr als Zeichen seiner Macht den Namen Fettel verpasst, was sie duldete, um ihren Frieden zu haben.

„Was freust du dich so, Dreckstrumpf“, blubberte sie. „Hey, Rambo. Die Kleine hat gerade Spaß. Möchtest du auch welchen?“

Fettel grinste fies, als sie die Angst ihres Opfers spürte.

„Vielleicht sind ihre Vorräte ja besser als Dumbos“, frohlockte er.

Gelangweilt riss er ihr die Brotdose aus der Hand und öffnete sie.

„Pfui Deiwel. Da kriechen ja schon Maden drin rum. Alles verkeimt. Wie kannst du den Dreck nur fressen?“

Auch ihr Doseninhalt landete im Schmutz des Schulhofes. Die Umstehenden lachten. Ihre ehemalige Freundin, die alle Pute nannten, stimmte nicht mit ein. Aber sie wendete sich ab und trat zurück. Seit sie größeren Ärger mit der Gang bekommen hatte, vermied Pute den Kontakt zu ihr.

Wenn sie sich mal im Plattenbau trafen, wo ihre beider Familien wohnten, taten sie, als sähen sie sich nicht. Die ehemaligen Freundinnen litten wechselseitig darunter. Doch keine konnte aus ihrer Haut. So vertiefte sich der Bruch zwischen ihnen unaufhörlich.

Pippi unterdrückte ihren Zorn gegen Rambo und starrte auf ihre Brote.

Plötzlich tauchte Niemand auf und reichte ihr demonstrativ sein eigenes Pausenbrot. Dann stellte er sich Rambo entgegen.