Radabar - Teil 2 - Erwin Sittig - E-Book

Radabar - Teil 2 E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Radabar, der im ersten Teil der Buch-Reihe Katharina Biesing entführt hatte, um ihre Liebe zu stehlen, bekam die Chance, bei ihrer Familie einzuziehen. Im Laufe des letzten Jahres, hatte er sich gut in seine Wahlfamilie eingelebt. Ratturius, ein böser Zauberer, der noch eine Rechnung mit Radabar offen hatte, war ihm in die Menschenwelt gefolgt. Nachdem er erkennt, dass Radabar bei den Menschen glücklich ist, beschließt er, seinen Widersacher zu vernichten. Er stiehlt, mit Hilfe einiger Menschen, Radabars Amulett, das ihm Unsterblichkeit verleiht. Dadurch lockt er ihn in seine unterirdische Welt, wo er mit seiner Begleiterin Tarantilli, eine tödliche Falle vorbereitet hat. Katharinas Söhne Mark und Claas folgen Radabar heimlich, um ihrem Opa zu helfen. Sehr bald erkennen sie, dass es diesmal kein Spiel ist und geraten selbst in große Gefahr. Doch auch ihre Mutter und die magische Katze Claudia dringen in diese Welt vor, um die Kinder und Radabar zu retten. Welche Rolle spielen aber ihre Freunde und die Lehrerin der Kinder, die sich offensichtlich auf die Seite von Ratturius gestellt haben? Wiedereinmal muss ihre Liebe zueinander beweisen, ob sie stark genug ist, um böse Zauber zu besiegen.

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Erwin Sittig

Radabar

Das Amulett

© 2021 Erwin Sittig

https://erwinsittig.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-17113-8

Hardcover:

978-3-347-17114-5

e-Book:

978-3-347-17115-2

Illustration: Sascha B. Riehl

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Radabar – Das Amulett

Glückliche Zeiten

Der Blick aus dem Küchenfenster hatte, nach Einbruch der Dunkelheit, etwas Beruhigendes. Ein weiter Hof lag vor dem Haus, der von einer breiten Straße abgeschnitten wurde. Das warme gelbe Licht der Straßenlaternen flatterte über den sandigen Platz, wie ein großes dünnes Tuch im Wind. Ein unruhiges Spiel von Licht und Schatten, als balgten sich die beiden in genussvollem Kampf um die Vorherrschaft.

Erst die Morgensonne würde die Kontrahenten zur Ordnung rufen, um ihnen die verdiente Tagesruhe aufzuzwingen.

Radabar hatte sich einst wie dieses Licht gefühlt. Sein Kampf war allerdings ernster Natur. Die Gewissheit, dass eine schützende Hand über ihm schwebt, hatte er dabei nicht. Es war für ihn ein Kampf um Leben und Tod.

Seine Kräfte schwanden mehr und mehr, obwohl er ein großer Zauberer war. Sie flackerten genau, wie die kleine Laterne. Damals hatte er die Kraft der Liebe entdeckt, die ihm wieder Energie gegeben und sein flackerndes Lichtlein voll zum Leuchten gebracht hatte.

Lächelnd schlenderte er von der Küche in die Wohnung, um lautlos die Tür zum Kinderzimmer zu öffnen. Das helle Mondlicht legte sich auf die Gesichter der beiden Jungs, die friedlich in ihren Betten schliefen. Er hatte die Kinder einst gehasst. Von ihrer Mutter hatte er sich die Lebenskraft versprochen, die ihn am Leben erhalten sollte. Er bewunderte sie, da sie diese beiden Teufel, die ihr das Leben zur Hölle gemacht hatten, so sehr liebte. Er wollte sich diese Liebe mit Gewalt nehmen und durch einen Zauber auf sich übertragen. Aber es war nicht seine eigene Kraft, nur eine gestohlene Liebe. Hatte sie darum nicht lange vorgehalten? Doch bei der Mutter, Katharina Biesing war diese Liebe, trotz mehrfachen Raubes, immer wieder nachgewachsen.

Erst als er die Jungs auf eine harte Probe gestellt hatte, die sie um ihr Leben fürchten ließ, hatte er erkannt, dass es eine Liebe war, die zur Mutter zurückfloss.

Und wie durch ein Wunder erwachte in ihm eine eigene Liebe zu dieser Frau und ihren schrecklichen Kindern, die sich morgen früh mit Sicherheit wieder in den Haaren liegen würden. Erneut lächelte Radabar und das alte wohlige Gefühl stieg in ihm auf, dass ihm neue Lebenskraft verliehen hatte, jedoch eine ganz gewöhnliche Liebe war, die erwidert wurde.

Radabar hatte, seit er aus der Zauberwelt geflohen war, keine Freunde mehr gehabt.

Jetzt hatte er beides – Freunde und eine Familie - seine Familie.

Es störte ihn nicht, dass sie nicht verwandt waren. Er war trotzdem der Opa.

Radabar spürte, wie eine Hand seine Schulter streichelte. Er wusste, dass es Katharina, die Mutter der Kinder war und er lächelte sie glücklich an.

Obwohl er sie vor anderthalb Jahren entführt hatte und ihre Kinder sie vor ihm retten mussten, verziehen sie ihm. Nach einer langen Zeit der Probe, hatten sie sich entschlossen, auch auf Drängen der Kinder, dass er bei ihnen wohnen sollte. Er wurde offiziell als Opa vorgestellt, der bei ihnen einziehen musste, weil seine Frau gestorben war, was jedoch in keiner Weise stimmte.

Die Kinder hatten die Zeit in seiner unterirdischen Zauberwelt toll gefunden. Nachdem die Gefahr vorbei war, hatten sie im Stillen gehofft, dass das Leben mit einem alten Zauberer aufregend werden würde.

Diese Illusion hatte ihnen ihre Mutter schnell genommen. Knallhart konfrontierte sie ihn mit der einzigen Bedingung, dass Radabar auf keinen Fall zaubern dürfe, solange er bei ihnen wohnt. Mit langen, enttäuschten Gesichtern fügten sich Claas, der Kleinere und Mark, der Größere. Claas wurde bald 11 und Mark ging auf die 14 zu. Ein schwieriges Alter, sagte die Mutter. Radabar wusste es besser. Jedes Alter der Kinder war ein Schwieriges, da sie die Kinder ohne Vater aufzog.

Insofern kam ihr, trotz aller Zweifel, der alte Zauberer gerade recht. Sie lernte ihn, nach einiger Zeit, als guten Menschen schätzen. Er hatte praktisch die Vaterrolle eingenommen. Sie war jedoch der Meinung, dass er viel strenger sein müsste. Aber er tat den Kindern gut und ihr Leben war wesentlich stressfreier geworden. Die Hetzerei der vergangenen Jahre war vorbei. Sie konnte nun, ohne schlechtes Gewissen, mal etwas länger auf Arbeit bleiben und sich beim Einkauf mehr Zeit lassen. Es war Verlass auf Radabar, der sogar immer schon den Abwasch fertig hatte, wenn sie kam oder den Abendbrottisch gedeckt hatte. Und wer hätte es gedacht, sogar die Kinder halfen ihm freiwillig dabei, was früher nie denkbar gewesen wäre. Radabar schloss die Tür und ging mit Katharina ins Wohnzimmer. Sie hatte eine Flasche Wein aufgemacht, um noch etwas mit Radabar zu erzählen.

Claudia, die imposante Katze, die Radabar mitgebracht hatte, setzte sich sofort auf Katharinas Schoß, um sich kraulen zu lassen. Der Zauberer hatte sie selbst erschaffen. Es war eine Fantasiegestalt zwischen Frau und Tier, die sein Auge verwöhnen sollte. Claudia ist schon in der Zauberwelt Katharinas beste Freundin gewesen. Claudia selbst und auch die Jungs, waren etwas traurig, als Radabar ihr das Aussehen einer ganz normalen Katze mit gelb-braunem Fell gab. Sie wäre sonst in der Menschenwelt aufgefallen. Doch inzwischen hatten sie sich daran gewöhnt. Nur die Augen erinnerten noch etwas an die eines Menschen. Am meisten trauerte Claudia jedoch, weil Radabar ihr die Flügel nehmen musste. Es schränkte ihre Bewegungsfreiheit enorm ein. Aber sie konnte bei Katherina und den Kindern bleiben und das war das Opfer wert.

Die größte Sorge hatten die Biesings wegen des geringen Platzes in der Wohnung. Es war eigentlich nicht möglich, Radabar aufzunehmen. Dass die Kinder in ein gemeinsames Zimmer ziehen, um eines der Kinderzimmer für Radabar frei zu machen, wollte Katharina nicht. Die Kinder sollten nicht eingeengt leben. Aber dann hatte Claas die rettende Idee. Zur Tarnung stellten sie ein zusammenklappbares Feldbett auf, dass angeblich dem Opa zum Schlafen diente. Radabar hatte sich jedoch, unter einem der Kinderbetten, eine eigene Zauberwelt einrichten dürfen, in die er sich zurückzog, um allein zu sein, oder um zu schlafen. Natürlich hatte es wieder Streit gegeben, da beide Kinder die Zauberwelt unter ihrem Bett haben wollten. Also entschied das Los. Wie es dort aussah, war Frau Biesing egal. Es war ihm verboten, die Kinder dort mit hineinzunehmen. Es war der einzige Zauber, der ihm erlaubt war.

Immer wieder hatten Claas und Mark unter das Bett gesehen, aber es war nichts zu erkennen. Ein perfekter Zauber. Zu dumm, dass sie Radabars kleine Zauberwelt nicht als Abenteuerspielplatz nutzen durften.

Sie kannten nur zu gut seine Fähigkeiten und tollen Ideen, mit denen er ihnen damals Angst zu machen versuchte. Aus heutiger Sicht fanden sie es aufregend, doch als sie es erlebten, hatten sie sich zu Tode geängstigt. Nur die Tatsache, dass von ihrem Mut die Rettung der Mutter abhing, hatte sie ihre Ängste überwinden lassen. Und zum Schluss hatte sie Radabar mit einem irren Vergnügungspark belohnt, den er sich selbst ausgedacht hatte. Zu schade, dass sie niemandem davon erzählen durften. Man hätte sie ausgelacht und sie als idiotische Spinner abgestempelt.

Katharina genoss es, wenn Radabar ihren Worten lauschte, sie tröstete, wenn sie traurig war, sie aufbaute, wenn sie niedergeschlagen wirkte und sie aufheiterte, wenn sie Schwierigkeiten hatte. Heute war sie einfach nur froh, nicht allein zu sein. Sie bedankte sich, dass er für sie da war, und sie sprachen über die alten Zeiten. Sie lachte sogar über das, was er damals angestellt hatte, obwohl sie ihn in die Hölle gewünscht hatte, als es passiert war.

Er hatte ihre Kinder in Gefahr gebracht, sie eine Prüfung bestehen lassen, an der mancher Erwachsene gescheitert wäre. Sie hatte ihre Kinder erst dabei richtig kennengelernt und war nun sehr viel stolzer auf sie, als vor Radabars Auftritt.

Sie gingen sehr spät schlafen. Katharina machte sich im Bad bettfertig und Radabar wartete auf sie. Er freute sich über jedes Geräusch, das sie von sich gab und war schon gespannt darauf, sie zu sehen, wenn sie ihm „Gute Nacht“ sagen würde, obwohl er sie vor ein paar Minuten erst gesehen hatte. Die Kinder konnten froh sein, eine solche Mutter zu haben und die Mutter sicher auch, dass diese Teufelsbraten an ihr hingen. Als er endlich im Bad war und sich selbst für die Nacht zurechtmachte, sah er sich lange an.

Er war nun fast 760 Jahre alt, sehr jung für einen Zauberer. Wenn er sich mit seinem Spiegelbild vor zwei Jahren verglich, so wirkte er viel frischer und jünger. Diese kleine Familie hatte ihn geheilt. Mit ihren Streitereien, ihren Fehlern und ihren Kämpfen hatten sie ihn erobert, weil er hinter die Kulissen schauen durfte. Er kannte jeden Einzelnen von ihnen, wie sie wirklich waren. Die rauen Schalen der Jungs hatte er zerplatzen sehen und es kamen liebevolle Kinder darunter hervor, die sich nur davor geschämt hatten, weich zu sein. Die Welt erwartete etwas anderes von ihnen, dachten sie zumindest. Und die Mutter? Man hatte ihr die Zeit gestohlen, die Liebe zu ihren Kindern zu pflegen, und doch hielt sie an ihr fest und kämpfte täglich darum, auch wenn sie eigentlich nicht mehr konnte. Aber diesen Punkt hatte Radabar bereinigt. Er besaß sehr viel Zeit. So viel, dass er sie verschenken konnte. Und für jede Sekunde bekam er mehr zurück, als er je erwartet hatte - Zuneigung.

Radabar schlief ruhig und tief. Er war zuhause. Hier fühlte er sich sicher.

Er ahnte nicht, dass ein alter Widersacher aus dem Zauberreich, sich vor Wut die Haare raufte, weil er sah, dass Radabar glücklich und zufrieden war.

Ratturius hatte eine alte Rechnung mit Radabar offen. Etwas, was er ihm nie verzeihen würde. Sie hatten sich schon immer gehasst und sich das Leben schwer gemacht, wo sie nur konnten. Es war ein ständiger Kampf zwischen den Zauberern, Hexen und Kobolden. Jeder wollte beweisen, dass er der Beste sei. Radabar kehrte diesem Leben eines Tages den Rücken. Doch auch das schlechte Gewissen plagte ihn, denn er hatte, vor langer Zeit, einen Fehler begangen, der ihn nicht mehr losließ. Er wurde zum komischen Sonderling, der jedem Streit auswich. Ratturius hatte es Spaß gemacht, Radabar das Leben zu erschweren. Er schmiedete immer neue Rachepläne.

Doch eines Tages war Radabar einfach abgehauen. Es hatte Ratturius viel Mühe gekostet, herauszufinden, dass sich Radabar bei den Menschen versteckte. Alle Bewohner des Zauberreiches mieden die primitiven Menschen. Sie waren uninteressant, keine echten Streitpartner, da sie fast wehrlos gegen die Zauberkünste waren. Die passten zu dem widerlich liebenswürdigen Radabar. Richtig eklig war das. Während Ratturius stolz auf seinen Namen war, der ihm verliehen wurde, weil er sich gern mit dem niederen Getier verbündete und die Dunkelheit liebte, war es Radabar egal. Er war einer der wenigen, der seinen Geburtsnamen behalten hatte. Ratturius beobachtete seinen Gegner in der Menschenwelt ununterbrochen. Er war damals froh, dass Radabar zu kränkeln anfing und seine Kräfte schwanden. Er machte sich vor Lachen fast in die Hose, als er Radabars Versuche beobachtete, Menschen zu entführen, um seine Kräfte aufzufrischen.

Und dann besaß dieser Verrückte doch tatsächlich die Frechheit, sich in eine Menschenfamilie einzunisten. Das konnte nicht gut gehen. Doch es ging schon sehr lange gut und Ratturius spürte seine Wut wachsen. Je glücklicher Radabar wurde, umso wütender, umso unglücklicher wurde er selbst. Er hatte schon viel zu lange zugesehen und er schmiedete einen teuflischen Plan. Bei diesem Gedanken fühlte er sich wieder stark, wie in alten Zeiten.

Die Entdeckung der Unsterblichkeit

„Ich gehe zuerst ins Bad.“

„Nein ich“, protestierte Mark und Radabar hörte, wie sie um die Wette rannten und mit gewaltiger Wucht gegen die Badtür krachten. Radabar war früh aufgestanden und schon wieder im Bad. Er brauchte nicht mehr so viel Schlaf. Er grinste, als die Badtür, wie bei einem Erdbeben, zu zittern begann. Kurze Zeit später sprang die Tür auf und Claas fiel durch die sich öffnende Tür, um vor Radabars Füßen zu landen. Radabar schloss die Badtür nur selten ab. Er grinste immer noch, als er sah, wie Claas sich den Ellenbogen rieb und Mark giftig anschrie.

„Du hast mir wehgetan, du Idiot. Ich war vor dir an der Tür. Hättest mich nicht schubsen brauchen.“

Mark nahm es gelassen.

„Ich hab nur die Türklinke runtergedrückt. Wenn du zu schlapp bist, dich auf den Beinen zu halten, ist das dein Problem, du Kleinkind.“

„Ich zeig dir gleich, wer schlapp ist“, krähte Claas und rappelte sich auf, um, sich auf Mark zu stürzen.

Doch Radabar packte ihn unter den Armen und ließ ihn in der Luft zappeln.

„Nicht so wild, kleiner Tiger“, beruhigte er ihn. „Ich würde mich freuen, erst mal ein ‚Guten Morgen’ zu hören. Ließe sich das vielleicht einrichten, meine Herren?“

Claas beruhigte sich wieder.

„Da hast du nochmal Schwein gehabt, Mark. Aber immer wird dir ein Zauberer nicht helfen.“

Nun grinste auch Mark.

„Wann bist du endlich fertig Radabar, wir müssen zur Schule.“

Er ließ Claas herunter.

„Ja, ich beeile mich. Ich weiß ja, dass ihr nicht die Schnellsten seid.“

Sie unterdrückte ihren Protest. Stattdessen sahen sie Radabar zu, der die Reste vom Rasierschaum aus dem Gesicht wischte und etwas davon, auf seinen kugelrunden Bauch kleckern ließ. Die Jungs schauten sich an und kicherten heimlich. Sie mochten Radabars Bauch. Doch am meisten mochten sie seine Neckereien, für die er momentan keine Zeit hatte. Er war etwas spät dran und eigentlich schon immer fertig, wenn die Jungs oder Katharina aufstanden. Also legte er etwas Tempo zu.

Er beugte sich übers Waschbecken, um mit viel Wasser die Reste seiner Rasur wegzuspülen. Und da sahen sie es zum ersten mal - das Amulett. Bisher hatten sie immer gedacht, es wäre eine dünne Goldkette. Dass da etwas dranhängt, wie bei den Ketten, wie sie Frauen zu tragen pflegen, war ihnen nie aufgefallen.

Radabar sah ihren neugierigen Blick. Er drehte sich zu ihnen um und freute sich, dass sie seine Kette bestaunten.

„Warum trägst du eine Frauenkette?“, posaunte Claas heraus, was ihm einen Klaps von Mark eintrug und sofort Gegenwehr auslöste.

„Es ist keine Frauenkette“, antwortete Radabar fast beleidigt.

„Es ist ein magisches Amulett.“

Sofort hörten sie auf zu balgen. Ihre Neugier war geweckt. Sie hatten ihn noch nie ohne die Kette gesehen.

Wahrscheinlich war sie sehr wichtig.

„Es ist mein Leben. Dieses Amulett verleiht mir Unsterblichkeit.“

„Du wirst nie sterben?“

„Doch. Irgendwann wird jeder mal so alt, dass er die Kette verliert, oder sie zerreißt, ohne dass man es bemerkt. Oder sie wird gestohlen oder verzaubert, wenn man Feinde hat. Dann würde mein Leben, genau wie das eines Menschen, nach einigen Jahren zu Ende gehen.“

„Würde sie mir auch Unsterblichkeit verleihen“, bohrte Mark nach.

„Nein. Sie ist mit einem Code versehen, der auch in mir ist. Nur wenn diese Codes übereinstimmen, wirkt sie. Das mit dem Amulett ist ähnlich, wie mit dem Bonusheft für den Zahnarzt, das ihr Menschen haben müsst, um später mal ein preisgünstiges Gebiss zu bekommen. Verliert ihr es und könnt die Stempel darin nicht wieder besorgen, sind alle Vorteile weg und ihr habt dafür zu bezahlen. So ist es bei mir auch. Es betrifft jedoch nicht das Gebiss, sondern mein Leben.“

„Dann brauchst du ja keine Angst haben, dass es dir jemand stiehlt, wenn keiner was damit anfangen kann.“

„Sag das nicht. Es gibt viel Hass auf dieser Welt.“

Da er bei diesen Worten nachdenklich wurde, ahnten die Kinder, dass Radabar das Amulett schon mal verteidigen musste, um sein Leben zu schützen.

„Doch auch in der Menschenwelt gibt es Diebe, die es für wertvoll halten könnten“, worauf er ein Lächeln auflegte, das sorgenvoll wirkte.

„Ihr seid doch Zauberer. Könntet ihr nicht ohne dieses Amulett Unsterblichkeit erlangen?“, fragte Mark.

„So war es früher einmal. Doch wir haben gemerkt, dass man das Leben nicht mehr so achtet, wenn man sich dessen sicher ist. Darum wurde das Amulett eingeführt. Wir sollen uns dadurch jeden Tag vor Augen halten, wie wertvoll das Leben ist und dass man etwas tun muss, um es zu bewahren.“

„Wir werden dich beschützen“, prahlte Claas und beide starrten das Amulett voller Bewunderung an.

Es glitzerte im Halogenlicht der Badezimmerlampe. Durch die Unterteilung in viele Segmente entstand ein interessantes Muster, das einer gezackten Spirale nahe kam und rätselhafte Schriftzeichen erahnen ließ. Diese Spirale schien sich zu drehen. Wenn man allerdings genau hinsah, sich voll konzentrierte, sah man, dass es nicht so war. Im unteren Teil des Amuletts befand sich, etwas vertieft, ein kleiner Tropfen, der pulsierte, als sei es ein Herz. Und plötzlich verdunkelte sich dieser lebende Tropfen. War es ein Schatten? Nein, eher nicht. Radabar hatte sich nicht bewegt, folglich auch keinen Schatten erzeugt.

Mark fragte, was es zu bedeuten habe, wenn der Tropfen seine Farbe ändere.

„Hat sie sich geändert?“, fragte Radabar beunruhigt.

„Ja, der Tropfen war ganz dunkelblau. Aber nur ein paar Sekunden.“

Radabar umschloss das Amulett mit seiner Hand und schaute besorgt drein. Nur ganz kurz, bevor er wieder sein Lächeln hervorholte.

Mark war dies nicht entgangen.

„Was bedeutet das?“

„Ach, nichts Besonderes.“

Doch Mark wusste es besser. Radabar verließ übereilt das Bad. Mark überließ Claas das Bad.

Er hatte etwas in Radabars Augen gesehen. Es war Furcht. Und nun hatte Mark sie auch. Nicht um sich, aber um Radabar, der für sie ein echter Freund geworden war. Mark beschloss, wachsam zu sein. Wenn er es geschickt anstellte, könnte er Radabar vielleicht sein Geheimnis entreißen.

Während die Jungs mit dem Fahrrad zur Schule fuhren, saß Radabar allein auf dem Balkon. Katharina war schon vor den Kindern, mit dem Bus zur Arbeit gefahren, so dass er keine Störung zu befürchten hatte. Wenn er allein war, zauberte er hin und wieder, um in Übung zu bleiben, aber jetzt starrte er auf sein Amulett. Er wartete.

Er wartete auf das, was Mark gesehen hatte. Sein Leben verlief inzwischen so sorglos, dass er sein Amulett bestimmt schon ein Jahr lang nicht mehr betrachtet hatte. Früher hätte dies ein tödlicher Fehler sein können, als er noch in der Welt der Zauberer und Kobolde lebte. Aber er hatte sich von dieser Welt losgesagt. Keine Faser seines Körpers sehnte sich danach zurück und er war sich sicher, dass auch kein Bewohner des Zauberlandes die Mühe auf sich nehmen würde, um ihn zu verfolgen, geschweige denn zu vernichten. Nun ja, er hatte mit einigen der streitsüchtigen Wesen harte Auseinandersetzungen, da er sich nicht ihrem Willen unterordnete, und immer etwas Gemütlichkeit für sich beanspruchte. Aber es gab niemanden, für den er selbst eine Gefahr darstellte. Warum sollte ihm jemand etwas Böses wollen?

Und ausgerechnet jetzt verdunkelte sich der pulsierende Tropfen in seinem Amulett. Es war nicht nur ein dunkles Flackern, es war ein Anschwellen von einem hellen Grau, bis zu einem gleichbleibenden tiefen Blau.

Radabar wusste aus Erfahrung, dass diese Farbstufe eine beachtliche Bedrohung seines Lebens darstellte.

Zu dumm, dass die Veränderung nichts darüber aussagte, ob die Gefahr bereits neben ihm lauerte, oder nur ein entstehender Plan im Kopf eines Gegners war. Es müsste dann aber schon ein konkreter Plan sein, der von einem festen Willen gesteuert würde und endgültig wäre. Langsam beruhigte sich der Tropfen des Amulettes, was wahrscheinlich nur bedeutete, dass sein Gegner an etwas anderes dachte, oder eingeschlafen war.

Radabar beschloss, ab sofort das Amulett über seiner Kleidung zu tragen, so dass ihn auch seine Familie auf Farbveränderungen hinweisen könnte. Seine Familie – er lächelte, als er das dachte, aber es war schön so.

Mark dachte ständig an das Amulett, mit dem lebendigen Tropfen, der sich verfärbt hatte. Radabars Sorgen könnten auch ganz schnell ihre werden. Er würde ihn nochmal danach fragen. Bestimmt würde die Angst um seine Mutter, Radabar die Wahrheit entlocken. Nie würde der alte Zauberer zulassen, dass seine Familie in Gefahr käme. Als aber sein Blick ein paar Bankreihen nach vorn wanderte, sah er Saskia. Ihre braunen, langen Haare hingen wie feine, sich kräuselnde Spagettis an ihr herab und bauschten sich zu einer gewaltigen Löwenmähne auf.

Irgendwie spürte sie seinen Blick und sah zu ihm herüber. Sie lächelte, als sie den Kopf wandte. Doch als sie Marks verträumten Ausdruck in den Augen sah, mit dem er sie anhimmelte, drehte sie sich wieder schnippisch zur Tafel. Mark senkte enttäuscht den Kopf. Sie ließ ihn bei jeder kleinen Gelegenheit spüren, dass sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Aber er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Er hatte keinen Einfluss darauf. Die anderen Mädchen tuschelten schon und kicherten, wenn sie auf dem Schulhof standen und ihn beobachteten. War Saskia deshalb so abweisend, weil es ihr peinlich war, dass über sie geredet wurde?

Vielleicht sollte er sie mal alleine treffen, ohne die anderen Fratzen um sie herum. Saskia war genauso alt wie Mark, aber sie wirkte körperlich schon wie eine junge Dame, war sogar geschminkt, was nicht alle Mädchen durften. Auch die Jungs der älteren Klassen starrten sie an, was Mark etwas eifersüchtig werden ließ, da die viel größer waren, als er. Wies sie ihn ab, weil er eine klitzekleine Spur kleiner war als sie? Es waren doch höchstens drei Zentimeter, ein Klacks.

Anfangs hatte Mark überlegt, ob er Radabar um einen Zaubertrank bäte, der ihn größer machte. Aber dann fiel ihm ein, wie wütend seine Mutter reagiert hatte, als sie herausbekam, dass Radabar gezaubert hatte. Dabei waren sie beide schuld, Mark und Claas. Sie hatten Radabar solange genervt, sie mal mitzunehmen, wenn er in seiner Zauberwelt unter dem Kinderbett verschwand, bis er nachgegeben hatte. Es war ein tolles Erlebnis. Extra für sie hatte er einen klitzekleinen Vergnügungspark entstehen lassen, wie er es schon mal getan hatte, als sie in seiner Welt unter dem Waldboden waren. Schlangen, die sich in ihren Schwanz bissen, waren die Sicherheitsgurte. Manchmal bestand der Sitz der Gondel aus einem echten Riesenaffen und einmal stürzten sie mit ihrer Bahn in einen feuerspeienden Drachen, wobei das Feuer aber nicht heiß war. Das merkten sie jedoch erst, als sie es erreicht hatten. Sie liebten diesen Wechsel von Angst und Lachen. Es war immer ein kleiner Zweifel dabei, ob alles wirklich harmlos wäre, wenn sich Radabar etwas ausdachte. Und auch er schien seinen Spaß daran zu haben, wenn er ihnen einen Schauer der Angst über den Rücken jagen konnte. Ausgerechnet, als sie von ihrem kleinen Vergnügungsausflug unter dem Bett hervorkamen und sich wieder vergrößerten, war ihre Mutter ins Zimmer gekommen.

Es war furchtbar, wie sie Radabar zusammengestaucht hatte. Sie erinnerte ihn an ihre Abmachung und drohte sogar, ihn wieder rauszuschmeißen. Radabar hatte wie ein kleiner Schuljunge ausgesehen, den man beim Klauen erwischt hatte. Mühsam kam seine Ausrede heraus, dass er den Kindern nur mal sein kleines Zimmer unter dem Bett gezeigt hätte, damit sie sich keine Sorgen um ihn machten. Er war den Tränen nahe und hat danach nie wieder gezaubert, zumal es bereits sein zweites Vergehen gewesen war.

An diesem Abend hatten sie ein ganz schlechtes Gewissen, Radabar überredet zu haben.

Aber sie hatten bei der Gelegenheit auch erfahren, dass Radabar einen Zaubertrank benutzte, um sie und sich zu verkleinern. Es wäre ihm zu mühsam, jedes Mal den langen Spruch aufzusagen, hatte er behauptet, und sich darum diesen Trank gezaubert.

An den folgenden Abenden hatten sie sich schlafend gestellt, um herauszubekommen, wo er seinen Trank versteckte, nachdem er ihn getrunken hatte. Fünf Minuten hatte er Zeit, bevor er zu wirken begann.

Es war immer die gleiche Stelle, wo er ihn versteckte: Im vorderen Bein des Bettes war von hinten eine verdeckte Ausbuchtung eingearbeitet, die jedoch nicht erkennbar war. Wenn man daran drückte, gab es einen leichten Widerstand, der die Mini-Höhle schützte. Doch erhöhte man den Druck, gab die Abdeckung nach und man kam an die Flasche heran.

Mark und Claas hatten sie schon oft in der Hand gehalten und überlegt, ob sie es einfach mal ausprobieren sollten, um jemanden zu necken, oder die Lehrer vor der Klassenarbeit auszuspionieren. Die Angst war jedoch zu groß, da sie das Geheimnis nicht kannten, wie sie wieder auf ihre normale Größe kämen.

Gern hätte Mark auch Saskia etwas in ihr Getränk geträufelt, als Strafe dafür, dass sie ihn wie Luft behandelte.

Die Lehrerin ermahnte ihn zur Aufmerksamkeit, als er ihre Frage nicht beantworten konnte, woraufhin er knallrot wurde. Das Grinsen auf Saskias Gesicht ließ sie plötzlich hässlich erscheinen.

Der Fremde

Für Claas hingegen war die Welt in Ordnung. Er interessierte sich nicht für die albernen, meist gackernden Mädchen, die nur blödes Zeug spielten und im Unterricht die fleißigen, ordentlichen Vorzeigekinder sein wollten. Sein Freund Chris war da schon aus anderem Holz geschnitzt. Sie hatten sich zwar auch manchmal in der Wolle und sprachen dann nicht mehr miteinander, aber zur Zeit vertrugen sie sich prächtig.

Chris hatte nur etwas doof getan, als er ihm von seinem Opa erzählte, der nicht sterben würde, weil er ein Zauberamulett besäße. Fast hätten sie sich da wieder gestritten, da Chris es nicht ausstehen konnte, wenn ihn Claas verscheißerte. Claas war beleidigt, da ihm sein bester Freund nicht glaubte, doch er ließ es darauf beruhen. In der Pause war Claas wieder etwas rausgerutscht, als er behauptete, dass sein Opa unterm Bett geschlafen hatte. Er wollte es eigentlich nicht sagen, aber Chris hatte ihn provoziert, indem er von seiner Oma erzählte, die im Garten gern in der Hängematte schlief, sobald es Sommer wurde. Der soll sich man nicht so mit seiner Oma dicke tun, dachte sich Claas und wupps, war es draußen. Chris zischte sofort beleidigt ab, als er den Spinner Claas vom Opa unterm Bett erzählen hörte. Claas war wiederum eingeschnappt, weil ihn sein Freund zum Spinner erklärt hatte, und so übten sie sich mit allergrößter Ausdauer im Beleidigtsein, obwohl sie sich gerade erst versöhnt hatten. Ein Glück, dass er nicht vom Verkleinerungstrank erzählt hatte.

In der nächsten Pause trieb sich Chris mit den anderen Jungs herum und Claas gesellte sich zu seinem Bruder Mark. Seit sie die aufregenden Erlebnisse um die Entführung ihrer Mutter durch Radabar hinter sich hatten, hockten sie öfter zusammen. Sie hatten ein Geheimnis, das sie teilten. Sie unterhielten sich, ohne auf ihre Worte aufpassen zu müssen und als Aufschneider oder gar Spinner beschimpft zu werden. Das war wohltuend. Sie standen, seitdem, mehr füreinander ein. Selbst der kleine Claas nahm sich die großen Jungs der höheren Klassen vor, wenn sie seinen Bruder bedrohten oder ganz einfach nur verarschten, weil er zum Beispiel der blöden Saskia nachgaffte, wie ein verliebter Gockel. Doch wenn sie wieder allein zuhause wären, würde Claas seinen Bruder, genau wie die anderen, wegen Saskia auslachen.

Der Hausmeister, Herr Pinkas, den alle Schüler Pinki nannten, nur weil es sich besser anhörte, läutete die große Schiffsglocke, die er spendiert hatte, um zur Pause oder zum Unterricht zu läuten. Es wäre nicht nötig gewesen, diese Glocke an den großen Pfahl zu montieren. Es wäre gar keine Glocke notwendig gewesen, denn die Schulklingel verrichtete zuverlässig ihren Dienst. Doch die Schulleitung ließ dem Hausmeister seinen Spaß, da sich die meisten Kinder, jedoch vorrangig die Jungs, daran erfreuten. Mit seiner Matrosenmütze und seinem stoppeligen Bart passte Pinki zu dieser Zeremonie und er strahlte übers ganze Gesicht, wenn er die Pause mit seinem Seemannsgeschwafel beendete und die Kinder in die Kojen trieb.

Niemand hatte das Rätsel gelöst, was Pinki unter dieser Seemannsmütze trug. Hatte er volles Haar, Geheimratsecken oder gar eine ausgeprägte Glatze? Bis zum Mützenansatz gab es schon Haare, die die Erwachsenen wohl als grau meliert bezeichnet hätten, aber das hatte nichts zu sagen. Schon einen Zentimeter höher könnte alles anders aussehen.

Heute stand ein fremder Mann an Pinkis Seite, mit dem er vor ein paar Minuten noch ein intensives Gespräch geführt hatte. Besser gesagt, es sah eher so aus, als ob der Mann nur auf Pinki einredete. Pinki redete nie viel. Claas war nicht wohl dabei, da der Kerl manchmal zu ihm und Mark herübersah. Sein Bruder meinte, er würde sich das einbilden, aber der bekam ohnehin nichts anderes mehr mit, als seine bescheuerte Saskia.

Der Mann hatte blondes, um nicht zu sagen, weißes Haar, das eindeutig dominierte. Von beiden Farben waren Strähnen da. Er trug einen weißen Mantel, über den die langen, glatten Haare fielen. Irgendwie erinnerte er ihn an einen wilden Westernhelden.

Obwohl man ihm das Alter ansah, wirkte er fast jugendlich und seine Augen funkelten frech und lustig. Und trotzdem stachen sie, als würden sie ihm drohen. Auch sein Vollbart wirkte verwegen. Vielleicht sorgten die helle Kleidung, die hellblauen Jeans und das weiße bauschige Hemd für den Eindruck, dass es ein freundlicher Mann sein müsse. Er hörte Stimmen, wie: „Guck mal da, der fetzt“ oder „Hoffentlich ist das ein neuer Lehrer. Bei dem würde es bestimmt Spaß machen“ und schon erhöhte sich sein Unbehagen, diesem Mann gegenüber. Warum, könnte Claas nicht sagen. Vielleicht, weil heute alle doof waren. Vielleicht, weil heute erst Dienstag war. Claas trabte an Mister Schneeweiß, wie er ihn innerlich nannte, vorbei und entdeckte unter dem hageren, eingefallenen Gesicht eine goldene Kette, ähnlich, wie die, die um Radabars Hals hing und sein Leben festhielt. Er stellte sich vor, dass auch daran der pulsierende Tropfen zuckte und er war plötzlich neidisch auf Radabar und vergaß den weißen Mann.

Frau Luna hatte sich ebenfalls an dem interessant aussehenden Mann festgesehen. Sie war neugierig, was der auf dem Schulhof zu suchen hatte. Schließlich hatte sie heute die Pausenaufsicht. Sie würde gleich ihren Biologieunterricht eröffnen, so dass nicht mehr viel Zeit zur Verfügung stand. Doch für ein kurzes Gespräch würde es reichen. Der Hausmeister begab sich sofort ins Schulgebäude, als er Frau Luna kommen sah und ließ seinen Gesprächspartner stehen, was ihr sehr gelegen kam. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und näherte sich graziös dem Ziel ihrer Neugierde.

„Ich hoffe, unser Herr Pinkas konnte Ihnen helfen Herr…?“

„Schulze ist mein Name, einfach Schulze, wie Müller oder Meier.“

„Guten Tag Herr Schulze, ich bin die aufsichtsführende Lehrerin, mein Name ist Luna, Lilo Luna.“

„Angenehm, Frau Luna“, säuselte er und küsste ihre Hand, wie sie es nur aus Kitschromanen kannte. Es war ihr peinlich. Die pure Verlegenheit stand deutlich in ihrem Gesicht. Jeder, der es beobachtete, schmunzelte.

„Wir sind in diese Gegend gezogen“, fuhr er fort, wobei er ihre Verlegenheit höflich übersah „und ich bin nun auf der Suche nach einer geeigneten Schule für unsere Kinder.“

„Und, wie ist ihr erster Eindruck?“

„Oh, ich bin positiv überrascht. Wenn sie mir erlauben, dass ich mich in den nächsten Tagen mit meiner Frau etwas genauer umsehe, wäre ich ihnen sehr verbunden.“

Seine Freundlichkeit hüllte sie ein, wie eine warme Dusche, so dass sie ohne zu zögern, die Genehmigung erteilte.

„Es ist schon verständlich, wenn man seine Kinder gut aufgehoben wissen will“, entgegnete sie. „Entschuldigen Sie mich bitte. Der Unterricht beginnt. Vielleicht kann sie Herr Pinkas noch etwas herumführen.“

Zufrieden sah ihr Herr Schulze nach. Frau Luna, der Name passte zu ihr, da ihr Gesicht annähernd so rund wie der Mond war. Sie verstand es allerdings, die Gesichtsform durch die Frisur etwas in die Länge zu ziehen, so dass sie nicht dick wirkte. Was ihre Kleidung betraf, so wirkte sie streng, womit sie die große Portion Liebenswürdigkeit aus dem Gesicht nahm, die ihr so gut stand.

Herr Schulze hatte immer noch seine Augen auf sie geheftet, seinen Gesichtsausdruck jedoch rapide geändert. Die Augen waren zu Schlitzen verengt und er schien angestrengt nachzudenken.

Die nächsten Tage lösten etwas Verwunderung bei den Schülern aus. Man hatte ihnen gesagt, dass Herr Schulze und seine Frau sich gelegentlich in der Schule umsehen würden, da sie ihre Kinder hier unterzubringen gedachten, wenn es ihren Vorstellungen entspräche. Falls die Herrschaften Fragen hätten, so bat man die Schüler, höflich Auskunft zu erteilen. Die anfängliche Sympathie für Herrn Schulze nahm, nach dem Erscheinen von Frau Schulze, etwas Schaden. Sie war sehr reserviert und im krassen Gegensatz zu ihrem Mann, schwarz gekleidet. Glatte, schwarze Haare umrahmten das Gesicht.

Trotzdem wirkte sie elegant. Das Kleid war auf Taille geschnitten und etwas verspielt, während von ihrem kleinen, schwarzen, runden Mützchen ein feiner Schleier herabhing, der kurz vor den knallrot geschminkten, vollen Lippen aufhörte. Trotz dieses Schleiers brachen eisige Augen durch, die mit dem scharfen berechnenden Blick den Schleier jeden Moment zerreißen müssten. Den meisten lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter und kaum einer beneidete die Kinder, die von dieser Mutter großgezogen würden.

Nur Chris war beeindruckt. Sie wirkte auf ihn, wie ein Filmstar. Ein Magnet, der selbst die anzog, die sich abgestoßen fühlten. Und tatsächlich starrten auch die Mädchen sie ständig an, die sie, ohne mildernde Umstände, verurteilten. Kein Lächeln passte in dieses makellose Gesicht, das vermutlich gewohnt war, alles zu bekommen, was es begehrte. Chris behauptete, dass er der Einzige war, den sie angelächelt hatte, und er war so stolz darauf, dass er mindestens ein Dutzend unerwünschte Wiederholungen dieser Behauptung von sich gegeben hatte.

Das Ehepaar Schulze war in den nächsten Tagen Gesprächsthema Nummer eins. Nur Mark wären sie wahrscheinlich nicht aufgefallen, wenn er nicht Saskia im angeregten Gespräch mit ihnen beobachtet hätte.

Der Diebstahl

Die Farbentwicklung auf Radabars Amulett war erschreckend. Fast nur noch dunkle Töne beherrschten den zappelnden Tropfen. Es war schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Schlafgewohnheiten veränderten sich. Es gab keine ruhige Nacht mehr. Ständig schreckte er hoch, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung wäre. Der Schlaf kam nur noch, wenn er völlig übermüdet war. So sehr er sich aber anstrengte, irgendetwas Bedrohliches zu entdecken, es war vergebens. Hatte sein Tropfen einen Defekt? Man hatte noch nie von einem solchen Fall berichtet. Quatsch. Also weiter aufpassen. Aber worauf?