Lilli - Erwin Sittig - E-Book

Lilli E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

Wir begleiten über die Jahre 1955 bis 2017 mehrere Personen in Ostdeutschland, deren Schicksale miteinander verflochten sind. Da gibt es Josef, der an einer verlorenen Liebe zerbricht und sich zum mürrischen Greis entwickelt. Martha und ihre Geliebte, die ihre Beziehung geheimhalten müssen, bis ihnen die gesellschaftlichen Bedingungen den Weg frei machen. Jutta, die als Kind ausgesetzt wird, eine Pflegefamilie findet und wegen eines Verbrechens erneut die Eltern verliert. In der Folge durchlebt sie Kinderheim, Jugendwerkhof und geschlossenen Jugendwerkhof. Das Paar Egon und Brunhilde, das sein Familienglück in einer Adoption sucht. Dann ist da die junge Frau Sabine, die viele Jahre im Kinderheim der Nachwendezeit verbrachte und später mit ihrer kleinen Tochter Lilli ihr Leben einigermaßen in den Griff bekommt. Melanie, die ihrem Samaritertrieb folgt, sich an einen psychisch instabilen Mann bindet und dann doch ihre beiden Kinder ohne ihn großzieht. Der Detektiv Peter Hahn, zu einer Familienzusammenführung beauftragt, recherchiert in diesen Leben, worauf alles in der kleinen Lilli zusammenläuft, die sich mit Humor, Unvoreingenommenheit und Warmherzigkeit als Seelenheiler versucht. Ihr Frohsinn und ihre Unbefangenheit, mit einer Portion Weisheit, stecken an. Ein langer Weg, mit tragischen Entscheidungen und Einblicken in zum Teil chaotische Gefühlswelten der Akteure aus vier Generationen.

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Seitenzahl: 306

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Erwin Sittig

Lilli

Eine Perle im Schnee

© 2020 Erwin Sittig

https://erwinsittiq.de

Umschlag, Illustration: Sacha B. Riehl

Umschlag, Foto: Erwin Sittig

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-07507-8

Hardcover:

978-3-347-07508-5

e-Book:

978-3-347-07509-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Wer nur sieht, was ihm das Schicksal verweigert,wird nie sehen, was es ihm schenkt.

Verfasser unbekannt

Obwohl der Roman Bezüge zu realen Orten und zurZeitgeschichte aufweist, sind die Ereignisse und Figuren fiktiv.Ähnlichkeiten zu existierenden Personen wären rein zufällig.

Josef 1955

Ein wunderschöner Sommertag mit einem angenehmen Mix aus Sonne, traumhaften Wolkenformationen und frischem, unaufdringlichem Wind zog über den Weststrand auf dem Fischland Darß-Zingst. Der wilde Strand mit seinen einzeln stehenden Bäumen, deren Wipfel sich vom Sturm abwenden, mit dem feinen, hellen Sand und dem breit gefächerten Strandgut hatte es Josef angetan. So wie ihn zog er das ganze Jahr über immer wieder Menschen an, die die Naturbelassenheit zu schätzen wissen, ja geradezu süchtig nach ihr sind.

Die ausgebleichten Hölzer angeschwemmter Baumteile, die durch ihren langen Aufenthalt im Wasser und die Arbeit von Salz, Sonne und Wind ihren unnachahmlichen Charakter aufgedrückt bekamen, verleiteten viele Strandbesucher zum Burgenbau. Kleine, runde, durchlässige Mauern aus Holz entstanden, die ein privates Reich absteckten, bei Bedarf vor neugierigen Blicken schützten und nebenbei Angriffe des Windes etwas milderten, wenn dieser zu aufdringlich wurde.

Eine dieser Burgen beanspruchte Josef für sich. Jedes Jahr hatte er Stück um Stück daran weiter gebaut. Er genoss das Flair des FKK-Strandes, der Menschen jeglicher Couleur vereinte. Scham, Voyeurismus und Imponiergehabe waren hier Fremdworte. Nackt zu sein, war ein Bedürfnis, gleichgültig, ob dick, dünn, makellos oder deformiert, all das war nicht von Belang. Im vorigen Jahr hatte die Staatsführung der DDR die FKK-Bewegung verboten, doch das ignorierten sie. Aufgrund der massiven Proteste wird man im kommenden Jahr diese Entscheidung zurücknehmen, was Josef jedoch nicht ahnen konnte.

Seit Kurzem hatte sein geliebter Weststrand eine kaum bezahlbare Aufwertung bekommen. Er hatte seiner großen Liebe Gabi dieses idyllische Fleckchen Erde vorgestellt. Da sie seine Begeisterung teilte, begleitete sie ihn, sobald es Josef hier her zog. Sie hätten gern häufiger den Weststrand besucht, wenn die Zeit es zuließe und der Weg nicht so weit wäre.

Josef hörte das behutsame Flüstern des Seegrases in den Dünen. Schau, wie schön sie ist, wie anmutig sie sich im Wasser bewegt, wie kindlich verspielt sie mit den Wellen tanzt, die mit ihr im Zwiegespräch zu stehen scheinen und sie wiederholt aufbrausend streicheln. Er war nicht fähig, seine Augen von Gabi zu lösen, die vom warmen Licht der Sonne stimmungsvoll angestrahlt wurde. Immer wieder aufs Neue verwunderte es ihn, dass die Natur im Stande war, einen so perfekten Körper hervorzubringen. Ein größeres Wunder war hingegen, dass diese Frau zu ihm gehörte, sich in ihn verliebt hatte. Über ein Jahr waren sie schon ein Paar und seine Liebe hatte kein Deut nachgelassen. Allein der Gedanke an sie ließ sein Herz galoppieren und seine Sinne verrücktspielen.

„Nun komm schon rein oder bist Du aus Zucker?“, hörte er ihre klare, ausgelassene Stimme.

Gabis langes, blondes Haar wehte leicht im Wind und ihre sonnengebräunte Figur hob sich, wie das Meisterwerk eines Künstlers, vom Meer ab. Die brausende Gischt erweckte den Eindruck, als stünde Gabi auf einem in Bewegung befindlichen Sockel.

Er benötigte eine Weile, um aus seinem Traum herauszutreten. Und das Seegras flüsterte: Beeile dich. Sie wartet.

Er lief auf sie zu und rief lachend: „Finde es selbst heraus!“

Gabi floh kreischend ins Meer, doch er holte sie schnell ein und stürzte sich mit ihr in die behutsamen Wellen. Sie balgten sich, wie die kleinen Kinder, bespritzten sich mit Wasser, stuckten sich unter. Josef nahm seine Meernixe auf die Arme und warf sie durch die Luft, was sie mit erneutem Kreischen belohnte.

Des Spielens müde, liefen sie zu ihrer Burg und legten sich keuchend auf ihre Badetücher.

Diese Momente mit seiner Gabi empfand er so unbeschwert, dass ihn alle Sorgen verließen.

Es war kein Platz dafür da. Ihre sanfte Stimme wehte über die vollen Lippen und betörte ihn. Ihre schmeichelnden Blicke umhüllten sein Gesicht und ihre zärtlichen Hände verzauberten seine Haut. Es war wie im Paradies.

Wohltuend erschöpft lagen sie am Strand und ihre Augen streiften über Meer und Leute. Gabis Blick blieb an einer kleinen, schwarzhaarigen Frau hängen, die, wie zur Dekoration, ihren wohl geformten Körper der Sonne darbot. Auf Josef wirkte sie etwas kantig und die kurzen Haare erzeugten einen burschikosen Eindruck.

„Kennst du sie?“, fragte er, da Gabis Blick sich dort verankert zu haben schien.

„Nein. Sie wirkt auf mich nur etwas traurig und einsam. Das fiel mir vorhin schon auf.“

Sie drehte sich wieder zu ihm und legte den Kopf auf seine Brust.

In dieser milden Nacht waren sie am Meer geblieben, hatten sich hinter ihrer kleinen Burg in eine Decke gemummelt und sich, nachdem alle den Strand verlassen hatten, leidenschaftlich geliebt. Josef ahnte nicht, dass dies ihre letzte Begegnung sein würde, sonst hätte er Gabi festgehalten und nie mehr losgelassen.

Martha 2016

Heute war ihr Glückstag. Die junge Frau Sabine mit Ihrer Tochter Lilli hatten nach wochenlanger Überlegung zugesagt, Marthas kleines Häuschen zu mieten. Morgen werden sie dort einziehen. Sie hatten ihre alte Wohnung endlich aufgegeben, alle Möbel verkauft und Marthas Angebot angenommen. Sie waren letztendlich ihrer Überredungskunst erlegen, zumal sie sehr überzeugend sein konnte. Das Glück stand ihr bei, indem Mutter und Tochter momentan nicht so glücklich mit ihrem gegenwärtigen Leben waren.

Martha wusste sofort, dass die beiden die Richtigen sind. Sie hatte monatelang nach ihnen gesucht. Sabine hatte schon länger über einen kompletten Neuanfang nachgedacht. Für ihre Tochter Lilli empfand sie den besonders wichtig.

Martha brauchte das Haus nicht. Sie nutzte es ohnehin kaum, da sie sich vor ein paar Jahren die Eigentumswohnung in der Stadt gekauft hatte.

Sie war schon über 80, was man ihr nicht ansah. Das Tönen der mittellangen, naturgelockten Haare fiel ihr immer schwerer. Wäre es nicht besser, endlich ihr Grau herauswachsenzulassen? Einfach gesagt, wenn die Eitelkeit lautstark dagegen rebelliert. Einmal hatte sie es ausprobiert, doch auf halbem Wege schlappgemacht, da sie sich als so alte Frau im Spiegel nicht ertragen konnte. Martha legte gesteigerten Wert auf ihr Äußeres. Stets hatten die Kleidung mit Schmuck und Accessoires perfekt abgestimmt zu sein. Fürs Schminken plante sie ausreichend Zeit ein, sobald abzusehen war, dass sie das Haus verlassen wird. Selbst das fiel ihr immer schwerer.

In die beiden, Mutter und Tochter, hatte sie sich sofort verliebt. Sie strahlten eine ansteckende Herzlichkeit aus. Immer wenn sie sich begegneten, fühlte sie sich verjüngt und ihre Zipperlein gaben etwas Ruhe. Besser gesagt, sie wurden ihr nicht mehr bewusst, da sie voll in der Begegnung mit den beiden aufging und kein Gedanke für ihre Gebrechen übrig blieb.

Gleich in der Früh beabsichtigten sie, sich zu treffen. Das Haus hatte sie ihnen nur einmal gezeigt. Einen ganzen Nachmittag lang schauten sie in jeden Winkel des Gebäudes und nebenbei kurz in den Garten, der durch sein liederliches Aussehen lautstark die mangelnde Pflege beklagte.

Beschämt hatte sich Martha entschuldigt, dass ihr Zeit und Kraft fehlten, um ihm zu geben, was ihm zustand.

Sabine hatte sich nach dem alten Herrn erkundigt, der emsig in seinen Beeten wirtschaftete. Er wird ihr neuer Nachbar werden. Während ihres Besuches hatte er sie keines Blickes gewürdigt und arbeitete in seinem Garten, meist mit dem Rücken zu ihnen, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Martha beruhigte sie. Der Mann heißt Josef Gramlow und ist ein halber Einsiedler, der zu niemandem im Ort Kontakt hat und es auch nicht wünscht. Ihr werdet ihn gar nicht spüren. Er redet nicht und macht keinen Lärm. Am besten ihr lasst ihn links liegen. Er reagiert immer mürrisch, wenn man ihn anspricht.

„Ich werde euch hin und wieder besuchen kommen, bis ihr euch eingelebt habt. Und wenn ihr Unterstützung braucht, könnt ihr mich jederzeit anrufen“, versprach Martha.

Sie hoffte sogar, dass sie öfter ihre Hilfe in Anspruch nehmen werden, denn sie fühlte sich etwas einsam und hasste es, nur mit Leuten ihres Alters ihre Zeit zu verbringen. In der Stadt gab es genug Kontaktmöglichkeiten, doch sie zog die Gesellschaft der Jugend vor, da sie dadurch frischer blieb, der Lebenssaft spürbarer durch ihre Adern floss. Aber sie blühte auch auf, wenn ihre Erfahrungen geschätzt wurden, die sie gern teilte.

So ein Leben, wie es Josef Gramlow führte, wäre für sie ein schleichender Selbstmord.

Josef 2016

Bewegungslos saß der alte Mann vor seinem Häuschen. Die Jahre und das Leid waren in sein Gesicht gemeißelt. Viele tiefe Falten, die in unzählige Kleine mündeten, erweckten Ehrfurcht beim Betrachter. Unterstützt wurde dies durch sein volles, schneeweißes Haar und die Wetterbräune, die selbst durch die kurzen Bartstoppeln drang. Dem fahlen Mondlicht gelang es, diese eindrucksvolle Faltenlandschaft weiter zu vertiefen. Doch sein rundes Gesicht bemühte sich erfolgreich, sein Alter von 84 etwas abzumildern. Der breitkrempige Hut war sein Markenzeichen. Er trug ihn zu jeder Jahreszeit und war schon zünftig speckig.

Sein Blick, der dem Mond zugewandt war, schien nach innen gekehrt. Ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass er am Leben war. Die Statur wirkte stämmig, jedoch nicht dick.

Er saß schon lange hier und hatte auf diese Minuten gewartet - die Abenddämmerung.

Ein lautloses Flattern regte seine Lebensgeister an und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er dem Flug der Fledermaus folgte.

Das war das Signal, dass der Reigen eröffnet ist und nacheinander der Rest seiner Horde unter der Holzverkleidung des Dachvorsprungs hervorkriechen würde, um die Jagd aufzunehmen. Josef beobachtete die kleinen Fledermäuse schon viele Jahre und mied den Dachboden, seit er bemerkt hatte, dass sie bei ihm Quartier bezogen haben. Es war ohnehin nur nutzloses Gerümpel dort zu finden. Jeden Abend saß er auf seiner Bank und zählte seine Untermieter. Gestern waren es 129. Eine recht große Kolonie, wie er recherchiert hatte.

Das leichte Bewegen seiner Lippen verriet das lautlose Zählen. Heute kam er nur auf 127, was unter Umständen daran lag, dass er nicht in der Lage war, alle zu erfassen, wenn viele von ihnen gleichzeitig davon flogen. Möglich, dass er sich die Zahl unbewusst schönrechnete, in Ermangelung an Konzentrationsfähigkeit.

Er genoss noch ein paar Minuten die angenehme Stille mit den leisen Atemzügen der Natur und erhob sich dann ächzend von seiner rustikalen Holzbank. Das Alter steckte schon rebellierend in seinen Knochen und so streckte er sich erst mal und ließ seinen Blick über die kleine Siedlung schweifen.

Als er vor ca. 10 Jahren das Häuschen gekauft hatte, wusste er, dass er hier sein Leben beenden würde. Sein Grundstück war das letzte im Ort und lag erhaben auf einem kleinen Hügel, der an ein Feld grenzte, das meistens mit Getreide bestellt wurde. Zur Linken breitete sich ein Wäldchen aus, in dem sich momentan seine Fledermäuse den Bauch vollschlugen. Nach unten hin reihten sich, immer weiter abfallend, die Parzellen der anderen Dorfbewohner. Sie zeigten sich beidseitig des Weges, der über einige Biegungen bis zu einem kleinen idyllischen See führte. Josef lächelte ein letztes Mal, als er an die beste Entscheidung seines späten Lebens dachte, sich hier niederzulassen.

Der einzige Wermutstropfen war, dass seine große Liebe Gabi, die er 1953 kennengelernt hatte und die 2 Jahre später spurlos verschwand, nicht bei ihm war.

Mit diesen trübsinnigen Gedanken setzt er sich, wie jeden Tag, schlürfend in Bewegung, um sich bettfertig zu machen.

Er war rechtschaffen müde, so dass ihn der Schlaf schnell zu sich nahm.

Wie ein Engel schwebte sie vor ihm und vollführte einen Tanz, als wolle sie ihn verführen. Mit leichten, fast durchsichtigen Tüchern, bewegte sie sich graziös auf einer Waldlichtung. Immer wieder schickte sie ihm kokette Blicke zu und die Sonne präsentierte ihr schönstes Gegenlicht, um für Josef den perfekten Körper seiner geliebten Gabi in Szene zu setzen. Bei so viel Schönheit wagte er es nicht, sich zu rühren. Doch dann kamen diese Wilden aus dem Wald geprescht und stürzten sich auf das Mädchen. Diese floh entsetzt ins Dickicht, weg von ihm. In Todesangst kreischte sie und schrie seinen Namen. Josef, hilf mir Josef. Warum kommst du nicht. Er sah die flatternden Tücher zu Boden fallen und die wilden Kerle liefen ihr hinterher und nahmen ihm letztendlich den Blick auf seine Gabi, die immer verzweifelter brüllte. Doch er blieb wie angewurzelt stehen, ebenso entsetzt über den Verlust, wie über seine Hilflosigkeit. Als er an sich herabsah, waren seine Beine zu Wurzeln mutiert, die tief in den Boden führten und ihn festhielten. Gabis Schreie wurden in der Ferne immer leiser, bis es totenstill war. Josef hatte zu lange gewartet. Doch hatten sich die Wurzeln seiner bemächtigt, oder entsprangen sie seinem Körper?

Nicht ein Vogel sang sein Lied. In ihm dröhnte eine schreiende Leere, die immer weiter anschwoll, bis er schließlich schweißgebadet aus seinem Albtraum erwachte. Es kam häufig vor, dass er von Gabi träumte und selten waren es erfreuliche Geschichten. Sein Herz raste wie wild und er empfand es wie ein Wunder, dass seine Träume nie zu einem Herzinfarkt geführt hatten.

Als wäre der Albtraum nicht genug, schmerzte höllisch sein rechter Arm, auf dem er vermutlich zu lange gelegen hatte. Es fiel ihm heute ausgesprochen schwer, seine Morgenwäsche hinter sich zu bringen. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass gegen Schmerzen Bewegung die beste Medizin ist.

Josef freute sich schon auf sein Frühstück im Freien, die frische Luft, die Gesellschaft trällernder Vögel, zirpender Grillen und den Blick auf seinen gepflegten Garten. Das boten ihm weder Radio noch Fernsehen.

Er hatte nicht lange an seinem Frühstückstisch gesessen, als ein Auto vorfuhr. Es war seine Nachbarin. Die Alte, die immer versucht, sich auf jung zu trimmen. Er glaubte, zu wissen, dass sie Martha heißt. Ihr Alter taxierte er auf ca. 70 Jahre. Sie war einigermaßen rüstig, schnaufte aber schon, sobald sie den Hügel zu ihrem Haus emporstieg. Kein Wunder, wenn man sich soviel Winterspeck anfrisst, dachte er bei sich. Er hatte nie mehr als 4 bis 5 Worte mit ihr gewechselt. Das fehlte noch, dass dieses Geschnatter ihm den Tag vermiest. Er hoffte, dass sie bald wieder wegfahren würde.

Misstrauisch beobachtete er sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Sie schleppte allerhand Krimskrams ins Haus hinein. Josef befürchtete Schlimmstes. Nicht dass sie den Sommer hier verbringen will. Bisher waren es immer nur gelegentliche Wochenendbesuche. Ihre schleimigen Gesprächsversuche hatte er stets im Ansatz abgewürgt, so dass sie sich beleidigt zurückzog. Das Problem war ein für alle Mal geklärt. Er hatte jetzt absolute Funkstille.

Gerade wollte er sich wieder seinem Frühstück zuwenden, als er beobachtete, wie Martha unbeholfen ein Kinderfahrrad aus dem Auto zerrte. Höchst alarmiert blieb ihm der Mund offen stehen und seine Augen fraßen sich an der Alten fest. Die schickte ihm einen um Hilfe flehenden Blick empor, aber Josef schaute demonstrativ weg. Mit großem Geschepper hatte sie es dann doch geschafft. Ihr lautstarkes Gefluche verkündete ihm, dass sie sich ein paar Kratzer im Autolack zugezogen hatte. Was kümmert's ihn. Ein Kinderrad hatte hier nichts zu suchen. Selbst schuld. Inzwischen war sie hinter ihrer Tür verschwunden und Josef widmete sich, wenn auch weiterhin beunruhigt seinem Frühstück. Der Kaffee wird jetzt fertig sein. Langsam schlurfte er ins Haus, um ihn zu holen.

Martha 1960

Sie hatte lange nicht mehr so ein Kribbeln im Bauch verspürt. Ihre neue Freundin brachte all das mit, wovon sie, schon seit Ewigkeiten, geträumt hatte: Witz, Charme, Eleganz, Frische, Leichtigkeit, Intelligenz und ein blendendes Aussehen. Ihre Verliebtheit ließ sie kaum schlafen, sobald ihre Süße, so nannte sie sie immer, nicht bei ihr war. Sie liebte vor allem die Einfühlsamkeit, das blinde, wortlose Verstehen, diese Weichheit des Körpers mit den vielen betörenden Rundungen und den unbeschreiblichen Duft, der sie verrückt machte.

All das hatte ihr nie ein Mann gegeben. Es belastete sie, dass sie ihre Liebe nicht in die Öffentlichkeit tragen durften. Die gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem die Moralvorstellungen der Mitbürger, waren besonders in kleineren Orten, extrem feindlich gegen alles, was nicht der Norm entsprach. Sie hatten beide Angst geächtet zu werden und träumten davon, auch außerhalb ihrer Wohnung, ein akzeptables Leben zu führen.

Sie zahlten einen hohen Preis, indem sie sich diesem psychischen Druck aussetzten. Sie lebten in ständiger Angst, entlarvt zu werden. Zum Glück sahen sie es beide so und keine wollte den rebellischen Weg einschlagen und der ganzen Welt die Stirn bieten. Zwar waren seit dem Jahr 1957 in der DDR lesbische Handlungen nur strafbar, wenn man jünger als 21 war, doch die Menschen unterschieden da nicht. Im Nachbarland, der BRD, blieb es weiterhin eine Straftat, so dass sie zumindest glücklich waren, aus dieser Richtung nichts mehr zu befürchten. Dennoch wären die psychischen Strafen, wenn sie sich outeten, wie ein ständiger Dolch in ihrem Rücken, der zwar schon drin steckte, an dem sich aber jederzeit jemand betätigen kann, um das Leid zu vervielfachen.

'Lieber ein kleines Glück, als keines', sagten sie sich immer und hatten sich damit arrangiert.

Für die anderen waren sie Cousinen, die in einer Wohngemeinschaft lebten, um die Kosten zu teilen. Um ein Alibi zu haben, trafen sie sich gelegentlich mit Männern, gingen jedoch nie über das Austauschen von Küssen hinaus.

Martha hörte, wie sich ihre Süße hinter der Badezimmertür auf die Nacht vorbereitete. Sie freute sich schon auf das allabendliche Kuscheln, um den Tag ausklingen zu lassen.

Lächelnd kam ihre Geliebte auf sie zu und vollführte einen kleinen Endspurt, um zu ihr ins Bett zu springen. Sie drängten sich sehnsüchtig aneinander, um mit der Wärme ihrer Körper die Kälte des Tages zu verbannen.

Während sie sich liebkosten, erzählten sie von den Ereignissen des vergangenen Tages, um immer im Bilde zu sein, wie es der anderen erging.

Eine Kollegin von Martha hatte von einem Mädchen berichtet, die ihr Kind weggab, da sie sich nicht in der Lage fühlte, die Mutterrolle auszufüllen. Die Behörden sahen es ähnlich und hatten zugestimmt. Marthas beiläufige Bemerkung „ ich könnte das nicht“ brachte ihre Süße auf die Palme.

„Was weißt du denn schon. Meinst du wirklich, du könntest dir eine Meinung darüber erlauben? Weißt du, wie es ihr geht, in welchem Umfeld sie lebt, wer ihr zusetzt?“

„Ich könnte das nicht“, setzte sie nach, indem sie Martha nachäffte.

„Meinst Du, ihr ist das leicht gefallen?“

Plötzlich brach sie in Tränen aus, versenkte den Kopf in ihren Armen und ließ das Weinen in ein kräftiges Schluchzen und Winseln übergehen.

Martha war bestürzt, was so ein beiläufig gesprochener Satz für Auswirkungen hatte.

Sie nahm ihre Süße in den Arm, streichelte sie und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.

„Erzähle. Was steckt dahinter. Hat Dich Deine Mutter auch weggegeben?“

Eine lange Pause entstand. Martha gab ihr Zeit. Da saß etwas so tief, dass es sich qualvoll hervorbrach. Endlich erzählte sie ihre Geschichte. Martha staunte mit jedem Wort mehr, dass sie nie darüber gesprochen hatte und trotzdem mit dieser scheinbaren Unbeschwertheit das Leben meisterte.

„Ich war auch schon mal schwanger. Lange habe ich überlegt, ob ich abtreiben soll, doch ich konnte es nicht. Aber ich konnte ebenso wenig eine Mutter für das Kind sein. Mit aller Macht hatte ich für mich entdeckt, dass ich Frauen liebe. Immer würde mich das Kind an den Jungen erinnern, dem ich keine Frau sein wollte. Mich in ein Leben zu quetschen, mit so genannter heiler Familie, einem Mann, den ich nur mag, aber nicht liebe und einer Mutterrolle, die mir ein Leben verbaut, wie es meiner Natur entspricht, das war mir nicht möglich. Und was wäre, wenn ich als Lesbe entlarvt werde, ins Gefängnis komme und mein Kind ertragen muss, dass es eine Mutter hat, für die es sich schämen muss?“

Beim Erzählen war der Tränenfluss langsam versiegt. Nur gelegentliches Schluchzen erinnerte an ihren Gefühlsausbruch. Die mitfühlenden Streicheleinheiten von Martha hatten sie wieder beruhigt.

„Ich muss oft daran denken, wenn ich allein bin. Dafür schäme ich mich und würde es doch wieder tun.“

„Hast Du versucht, herauszubekommen, was aus Deinem Kind geworden ist?“

„Natürlich. Doch es war nicht so einfach. Die Adoptiveltern stellt man unter Schutz. Niemand wollte mir Auskunft geben. Ich musste mich wieder erniedrigen. Um die Auskunft zu bekommen, habe ich mit einem jungen Behördenmitarbeiter geschlafen. Auch dafür schäme ich mich. Ein Grund mehr, warum ich mit Männern nichts mehr zu tun haben will. Ihr kleines Gehirn scheint in den Genitalien zu stecken. Jedenfalls habe ich die Adresse bekommen. Ich habe sie aufgehoben.“

„Hast Du Kontakt aufgenommen?“

„Nein. Wie hätte ich erklären sollen, woher ich es weiß? Vermutlich wäre ein riesiger Ermittlungsapparat in Gang gesetzt worden. Ich wollte nur wissen, ob es liebevolle Eltern sind und das waren sie. Sie waren richtig vernarrt in mein Kind.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sie müde wurden und schliefen in dem Bewusstsein ein, sich mal wieder näher gekommen zu sein.

Sabine und Lilli 2016

„Mami, wann fahren wir endlich?“

„Hast Du Deine Sachen schon alle zusammengepackt?“

„Klaro. Du weißt doch - ich bin die Hexe Lilli.“

Grinsend spielte sie mit ihren rotblonden Zöpfen, die ihre Mutter heute Morgen kunstvoll geflochten hatte und schaute sie verschmitzt mit schief gehaltenen Kopf an.

Sabine konnte nicht widerstehen und erwiderte das Lächeln.

„Ich habe dir nicht wegen der Hexe Lilli deinen Namen gegeben, sondern weil Du schön wie eine Lilie bist.“

„Aber du hast auch mal gesagt, dass ich magisch bin.“

Ihr Töchterchen war eine Frohnatur und verstand es immer, sie anzustecken, selbst wenn die Probleme ihr manchmal über den Kopf wuchsen. Mit ihren 8 Jahren schien sie alles im Griff zu haben.

Ein Blick in das runde Gesicht mit den beiden Grübchen an den Wangen und sie schmolz dahin.

Lilli wurde ihr nie zur Last. Sie war aufmerksam, hilfsbereit und entschärfte durch Ihre Art viele Situationen, wenn sie sich mal zuspitzten. Davon profitierte gelegentlich auch ihre Mutter. Sie war schon 41 Jahre alt. Lillis Vater hatte sie kurz vor der Geburt ihres Kindes verlassen, da sie sicher war, dass es mit ihm nicht funktionieren wird. Sie vermisste ihn nicht.

„Und du bist nicht traurig, dass Du Deine Freunde zurücklassen musst? Wir sind nicht gleich um die Ecke. So schnell wirst Du sie nicht wiedersehen.“ Sabine schaute sie fragend an.

„Es bleiben ja meine Freunde und dort finde ich bestimmt auch Neue. Und so werden es immer mehr.“

Wieder schloss sie den Satz mit einem verschmitzten Lächeln ab.

„Und außerdem ist es toll für eine Hexe, die Betonklötze hier mit ganz viel Natur zu tauschen. Vielleicht entdecke ich dort sogar Feen und Kobolde.“

„Da bin ich mir sicher, mein Schatz. Auch wenn sie jetzt noch nicht dort sind. Wenn Du da bist, werden dich alle begrüßen kommen.“

„Meinst Du, ich kann die Kinder schon kennenlernen, bevor die Schule wieder anfängt?“

„Das kann ich Dir nicht versprechen. Wie viele Kinder aus dem Dorf in deiner Klasse sein werden, weiß ich gar nicht. Die Schule befindet sich ungefähr 10 km entfernt, im nächsten Dorf. Die Entscheidungen kamen alle so schnell, dass wir uns etwas überraschen lassen müssen.“

„Du meinst, wir bekommen ein Überraschungsei? Was Spannendes, was zum Spielen und Schokolade?“

„Ja mein Schatz, genau das bekommen wir.“ Sie schloss Lilli lachend in ihre Arme und drückte sie fest an sich.

„Nicht so doll, du bringst meine Frisur durcheinander. Wir müssen doch schick sein, wenn wir zu Oma Martha fahren.“

„Sag bloß nicht Oma zu ihr. Ich weiß nicht, ob ihr das gefallen würde.“ Sie zwinkerte Lilli zu.

„Na gut, sie kann sich ihren Namen aussuchen.“

„Das ist die Lösung. Nun aber los mit uns zum Überraschungsei.“

Lilli nahm ihren Rucksack und ihren Beutel und zog ihn hinter sich her. Er war schwerer als gedacht. Doch zurücklassen wollte sie davon auch nichts.

Josef 2016

Mit seiner Kaffeekanne in der Hand näherte sich Josef wieder seinem Frühstückstisch. Auf halbem Weg hatte er schon registriert, dass ein zweites Auto vorgefahren war. Die Befürchtungen seiner Vorahnung kamen ihm nun lächerlich vor, in negativem Sinn. Wenn ihn nicht alles täuschte, zog hier eine neue Familie ein. Ein Schock.

Da erschien ihm Marthas Präsenz der vergangenen Jahre wie ein Glücksfall. Hatte er jetzt doch das Paradies gegen die Hölle getauscht? Wie lange hatte er wohl schon regungslos mit seiner Kaffeetasse da gestanden und das ganze Spektakel fassungslos beobachtet? Er riss sich zusammen und nahm die letzten Schritte zum Frühstückstisch auffallend schnell. Er hasste Aufregungen. War sein beschauliches Leben jetzt endgültig vorbei? Zuerst stieg eine kleine, zierliche Frau mit schwarzen, leicht gewellten Haaren und einem unbeschwerten Lächeln im Gesicht, aus dem Wagen, einem silbernen Toyota Yaris. Sie nickte ihm kurz zu.

Josef schaute starr vor sich hin und reagierte nicht. Martha stürmte überschwänglich auf die Besucherin zu und umarmte sie. Und schon ging es los, das Geschnatter. Es war zwar leise, doch laut genug, um ihn zu stören. Die Katastrophe stand jedoch noch bevor. Die Beifahrertür öffnete sich und heraus trat ein kleines Mädchen im schulpflichtigen Alter. Sie war etwas pummelig und hatte ein hübsches Sommerkleidchen an. Ihre rotblonden Haare waren hinten zu zwei Zöpfen gebunden, was ihr ein neckisches Aussehen gab. Auch sie hatte diese zwanghafte Freundlichkeit ihrer Mutter im Gesicht und winkte ihm ausgelassen zu, begleitet von einem frischen „Hallo“.

Josef behielt seinen starren Blick bei und reagierte nicht darauf. Für ihn stand nur eines fest. Dieser kleine, freche Satansbraten verhieß eine gehörige Portion Ärger.

Er hatte schon lange mit den Menschen, egal welchen Alters, abgeschlossen. Sie taugten alle nichts. Menschen waren das Unglück dieser Welt. Man kann ihnen begegnen, wie man will, es endete immer in einem Desaster.

Seit Gabi verschwunden war, traf er niemanden mehr, der in ihm etwas Positives ausgelöst hätte. Hinzu kam, dass keiner seiner Bekannten und Verwandten noch am Leben war. Nur er blieb übrig.

Martha war mit den beiden ins Haus gegangen. Er räumte gemächlich den Tisch ab.

Josef hatte seine alte Gewohnheit beibehalten, sofort nach der Mahlzeit, das Geschirr abzuwaschen und wegzuräumen. Dies nahm er in aller Ruhe in Angriff, obwohl sich immer wieder die neuen Störenfriede ins Gedächtnis drängten. Allein das Wissen um ihre Anwesenheit würde ihm den Schlaf rauben. Er durfte gar nicht daran denken, wie nervig es werden würde, wenn die kleine Göre unkontrolliert draußen herumspränge und ihn mit Kinderlärm zuschüttete.

Durchs Fenster sah er, dass beide Autos am Weg parkten. Die drei beschäftigten sich offenbar im Haus. Da war es sicher möglich, sich etwas im Garten zu beschäftigen. Hier fühlte er sich wohl und widmete seine ganze Liebe ungestört den Pflanzen und Tieren. Es war ihm ein Bedürfnis, mit ihnen ausführlich zu reden, was vielleicht auch seinem selbst gewählten Einsiedlerdasein geschuldet war.

Er bückte sich, um etwas vom überflüssigen Unkraut zu entfernen, als er eine zarte Stimme an sein Ohr drang.

„Hallo, ich bin Lilli. Wie heißt du?“

„Das geht dich gar nichts an, du vorlaute Göre. Verschwinde von meiner Hecke!“

Er hatte kurz aufgeschaut, sie mit wutverzerrtem Gesicht angesehen, und ungehemmt losgebrüllt.

Lillis strahlende Miene erstarrte im selben Moment. Vor Enttäuschung und Schreck erschlafften all ihre Gesichtszüge. Wort- und reglos hielten beide einige Sekunden ihren Blicken stand.

Dann setzte Lilli ein erbostes Gesicht auf, drehte sich abrupt um und stiefelte zackig, wie ein Soldat auf der Parade, davon. Josef hatte sich selbst über seinen Ausbruch erschrocken. Schuldbewusst und bedauernd sah er dem Mädchen einen Moment nach und widmete sich gleich wieder seinem Unkraut.

Schnell gewann er seine Fassung zurück. Vielleicht war es gut so. Unkraut muss man ausreißen, solange es noch nicht aufgeblüht ist.

Sabine hatte die Szene beobachtet, als sie kurz vors Haus getreten war. Eilig zog sie sich wieder zurück, damit ihre Tochter sie nicht bemerkt. Sie war sicher, dass Lilli ihr Problem selbst lösen wird.

Lilli 2016

Lilli setzte sich zunächst in den Garten, hinter Tante Marthas Haus. Die Anrede Tante war der Kompromiss zu Oma, den sie mit Mutti ausgehandelt hatte.

Sie dachte intensiv über die Begegnung mit dem alten Mann nach. Petzen war nicht ihr Ding. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass sie, bis 10 zählen soll, bevor sie eine Entscheidung trifft, besonders wenn sie aufgeregt ist. Damit war sie immer gut gefahren.

Sie hatte bis 10 gezählt, bevor sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Doch ihr war dabei keine Lösung eingefallen.

Der alte Josef kannte sie nicht. Er hatte sie nie zuvor gesehen oder gesprochen. Folglich war sicher, dass sie an seinem Wutausbruch keine Schuld trug. Was war der Grund? Hatte er schlechte Erlebnisse mit anderen Kindern. Weshalb lässt er das an ihr aus? Vielleicht hat er aber ein eigenes Kind verloren und möchte durch fremde Kinder nicht daran erinnert werden. Mutti hat oft zu ihr gesagt, dass sie über keinen Menschen urteilen darf, solange sie nicht weiß, warum er so ist.

Ihr fiel Alex aus dem Kindergarten ein. Als der frisch in ihre Gruppe kam, war der nur böse. Sie hatte alles öfter beobachtet, wenn seine Mutter ihn abgegeben hat. Die war richtig böse zu ihm. Wie die ihn angeschnauzt hatte. Und kein Abschiedsküsschen, bevor sie ging. Alex stand da, wie abgestellt, wo er nicht hingehörte. Sie erzählte Mutti davon. Die meinte, dass er vielleicht nicht genug Liebe bekommt. Es sei schwer, damit zurechtzukommen.

Später wurde er ein guter Spielkamerad. Die Kindergärtnerin, Frau Guske, beschäftigte sich ausführlich mit ihm und strich häufig lobend über sein Haar, sobald er etwas gut gemacht hatte. Alex wurde erst wieder bockig, wenn er abgeholt wurde.

Aber sie kann doch dem Nachbarn nicht den Kopf streicheln, damit er sich ändert.

Ihr kam ein zweiter Rat ihrer Mutter in den Sinn. Sie solle nie nachtragend sein. Wer immer nur alte Sachen aufwärmt, hat keinen Platz für einen Neuanfang. Sie grinste, als ihr bewusst wurde, wie schlau ihre Mutti doch ist. Über ihre eigene Mutter hatte Mutti kaum was erzählt, nur dass die es sehr schwer hatte.

Vielleicht so schwer wie dieser Josef? Sie musste rauskriegen, warum er so war. Bestimmt kann sie ihm dann helfen. Wenn sie hier ihr neues zu Hause haben will, muss sie auch dafür sorgen, dass es schön wird.

Kinder hatte sie hier noch nicht gesehen. Kann sein, dass Opa Josef die einzige Möglichkeit ist, einen Freund zu finden. Aber die sprechen miteinander.

Mutti sagt immer, wenn man aufhört zu reden, ist es der Anfang vom Ende.

Also war klar, wie das Problem zu lösen ist.

Bruni und Egon 1958

Im Großen und Ganzen waren Egon und seine Brunhilde, die er nur Bruni nannte, recht zufrieden mit ihrem Leben. Doch irgendetwas fehlte. Besonders er war sehr kinderlieb und wünschte sich etwas mehr Trubel im Haus. Sie war nicht abgeneigt und stimmte letztendlich zu, dass sie ein Kind adoptieren. Sie diskutierten tagelang, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen nehmen. Bruni bevorzugte einen Knaben, doch Egon beharrte auf einem Mädchen. Je länger sie sich seinem Wunsch verweigerte, desto übellauniger wurde er.

Bruni hatte ihn in der letzten Zeit genauer beobachtet. Er konnte sich an den kleinen Mädchen nicht sattsehen. Sie zauberten immer ein Lächeln auf sein Gesicht, doch dann schaute er zunehmend traurig drein, wenn er sie ansah. Bruni sah ein, dass es besser wäre, nachzugeben, sollte ihr Mann glücklich werden.

Von dem Tag an, als Bruni zustimmte, dass sie ein Mädchen adoptieren werden, war Egon wie ausgewechselt. Er hatte stets gute Laune und las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab.

Jetzt war es fast ein Jahr her, dass sie die Kleine zu sich geholt hatten. Wenn sie spazieren gingen, liefen sie umschlungen, wie ein frisches Liebespaar, während Bruni mit einer Hand den Kinderwagen schob. Egon versuchte immer wieder, seine Tochter zum Lachen zu bringen, und freute sich diebisch, wenn es ihm gelang.

Sie bemerkten nicht, wie sie von einer jungen Frau beobachtet wurden, der Tränen übers Gesicht liefen, während sie sich bemühte, zu lächeln.

Lilli 2016

Sabine hatte auf diesen Moment gewartet. Ihre Tochter schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. Eigentlich hatte sie etwas früher damit gerechnet, doch Lillis Überlegungen waren offenbar besonders gründlich. Sabine hatte das Fenster angekippt, um den zu erwartenden Wortwechsel verfolgen zu können. Egal, wie es ausginge, sie war stolz, dass ihre Tochter schon als Kind besonnen handelte.

So energisch, wie Lilli abgezogen war, marschierte sie auch wieder zur Ligusterhecke. Dort angekommen, nahm sie erst mal eine entspannte Haltung ein.

„Ich verzeihe Dir“, flötete sie entschlossen über die Hecke, als sie Josef bei den Rosen entdeckt hatte, der dort die Läuse absammelte.

Josef traute seinen Ohren nicht. Erst froh darüber, sie schnell losgeworden zu sein, sah er nun seine Hoffnungen schwinden. Was sollte er tun? Er beschloss, das auszusitzen und nicht zu reagieren.

Aber es nagte das schlechte Gewissen an ihm, da er sie etwas zu barsch angefahren hatte.

Es schlängelte sich eine alte Geschichte durch seine Gehirnwindungen, ohne dass er es verhindern konnte. Er driftete ab.

Als junger Mann, vor seiner Bekanntschaft mit Gabi, war er durch den Ort gegangen, um etwas abzuholen. Ihm begegnete ein kleines Mädchen, das ihren Schäferhund ausführte. Weil er es kannte, sprach er mit ihm und da er Hunde gern hatte, versuchte er das ausgewachsene Tier am Kopf zu streicheln. Obwohl man den Hunden nachsagt, dass sie das Gefühl dafür haben, ob es jemand gut mit ihnen meint, fasste dieser die Annäherung der Hand als Angriff auf. Kurzentschlossen sprang er Josef an die Kehle und biss zu. Nur seiner Reaktionsschnelligkeit hatte er zu verdanken, dass der Biss lediglich im Rollkragen des Pullovers landete und ihn zerriss. Es war ihm klar, dass das Tier nur sich und das Mädchen verteidigt hat. Doch im Unterbewusstsein wurde der Grundstein dafür gelegt, dass Zuneigung oft mit Ablehnung und Aggression belohnt wird. Im höheren Alter wird ihm dies häufiger begegnen.

War er aber nicht selbst wie dieser Schäferhund, als er das Mädchen, das sich nur freundlich vorstellte, angebrüllt hatte? Die Frage war nur, wovor versuchte er sich zu schützen? Es wurmte ihn, dass er als Buhmann da stehen würde, wo es doch die ganze Welt war, die sich gegen ihn verschworen hatte.

Warum aber sollte er seine Ruhe, sein einsames, beschauliches Plätzchen opfern? Nur um freundlich zu scheinen, was man ja doch wieder gegen ihn auslegen würde?

Er sah zu ihr auf und achtete darauf, einen zornigen Blick beizubehalten.

„Du kleine Nervensäge verzeihst mir? Das ist doch der Gipfel. Du bist wie diese Läuse auf meiner Rose. Drängst dich da rein, wo du nichts zu suchen hast, bringst Unruhe und machst alles kaputt. Und jetzt verschwinde. Ich verzeihe dir nämlich nicht!“

Er hatte damit gerechnet, dass sie endlich erkannte, wie sinnlos es sei, mit ihm reden zu wollen, und freute sich schon sie wieder beleidigt wegrennen zu sehen und das hoffentlich für immer.

Doch die Kleine dachte gar nicht daran. Sie setze den Kopf schief und grinste vermittelnd.

„Ich heiße Lilli. Und du heißt Josef? Soll ich Opa, Opa Josef, oder nur Josef zu Dir sagen?“

Er bekam vor Staunen mal wieder den Mund nicht zu. Die Pause nutzte sie, um weiter zu reden.

„Übrigens sind Läuse auch nützlich. Wusstest du das?“

Selbstverständlich war ihm bekannt, dass sich die Ameisen ganze Stämme von Läusen hielten, um sie zu melken. Warum sollte er sich von einer so kleinen Klugscheißerin belehren lassen?

„Das hängt immer davon ab, von welcher Seite du es betrachtest.“ Er sprach schon nicht mehr ganz so scharf, wie vorher. In der kurzen Pause, die er einlegte, um etwas hinzuzufügen, fiel Lilli sofort ein.

„Wir sollten immer alles von der schönen Seite betrachten. Und Tiere zu töten ist nicht schön.“

„Da würdest Du lieber zuschauen, wie die Läuse Deine Rose töten? Ich nicht. Also werde ich das Ungeziefer vernichten, ob es dir gefällt, oder nicht!“ Triumphierend sah er sie an.

Lilli hatte wohlwollend registriert, dass er sie nicht mehr beschimpfte. Das gab ihr Mut, die Diskussion auszudehnen.

„Du solltest mal mit Mama reden. Die kann Dir da bestimmt helfen. Aber ich glaube, Du musst deine Pflanzen mit Brennnesselwasser gießen. Dann laufen deine Läuse weg. Aber ich sage dir gleich: Bei mir klappt das nicht.“

„Was klappt nicht?“

„Du hast doch gesagt, ich bin wie Deine Läuse. Ich lasse mich nicht vom Brennnesselwasser vertreiben. Da müsstest du mich schon töten. Aber das tust du doch nicht, oder?“

Wieder setzte sie ein Lächeln auf, das bisher fast jeden entwaffnet hatte.

Josef ärgerte sich über sich selbst, dass er sich auf eine so lange Diskussion mit dem Dreikäsehoch eingelassen hatte.

„Das wirst du schon noch rauskriegen. Und jetzt verschwinde, du gehst mir auf die Nerven.“

„Ok“, säuselte sie. „Dann lasse ich dich wieder arbeiten. Vergiss aber nicht, mit meiner Mutti zu reden, bevor du die armen Tiere ermordest.“

Die letzten Worte sprach sie, während sie davon marschierte.

„Wir sehen uns dann morgen.“

„Ich will dich hier nicht sehen! Auch morgen nicht!“, rief er ihr hinterher.

„Doch, ich weiß, dass du das willst. Bis morgen“, säuselte sie.

Sie hüpfte in ihrem flatternden Sommerkleid beschwingt heimwärts.