Verlerntes Leben - Erwin Sittig - E-Book

Verlerntes Leben E-Book

Erwin Sittig

0,0

Beschreibung

Hagen Weisbart betreibt eine erfolgreiche Praxis als Psychologe. Doch sein eigenes Leben hat er nicht im Griff. Vor 12 Jahren sorgten diverse Schicksalsschläge dafür, dass er Fehler machte, daran scheiterte und schließlich aufgab. Seit dem verdrängt er seine Vergangenheit und hat den Kontakt zu Tochter und Vater verloren. Hagen zieht sich zurück. Nur sein Freund Gerald, der als Psychologe für ein Sorgentelefon tätig ist, stellt die Verbindung zur Außenwelt dar. Gelegentlich holt sich Hagen Rat bei ihm. Sein Leben plätschert, ohne Höhepunkte dahin. Er geht darin auf, seine Klienten zu therapieren. Um in seine Behandlungen etwas mehr Würze zu bringen, nutzt er gern die Kurzgeschichten seiner Klientin Frau Schenk. Eines Tages zieht die junge Samira mit ihrem 13-jährigen Sohn Sascha in die Nachbarwohnung. Zu ihnen entwickelt sich schnell ein intensives, freundschaftliches Verhältnis. Er fühlt sich aufgehoben. Doch die beiden krempeln sein Leben total um. Sie fordern, dass er seine Vergangenheit bereinigen soll, wogegen er sich heftig wehrt. Unter anderem nutzt sie Hagens Faible für Kurzgeschichten, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Werden sie Erfolg haben? Denn hier geht es um mehr, als nur Freundschaft. Durch die detaillierte psychologische Betrachtung der Figuren, kommen sie uns alle ein Stückchen näher.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erwin Sittig

Verlerntes Leben

Roman

für meine Frau Sabine Blum

© 2021 Erwin Sittig

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-27607-9

Hardcover:

978-3-347-27608-6

e-Book:

978-3-347-27609-3

Covergestaltung: Erwin Sittig

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Alles ist normal

Erste Erschütterungen

Ratschläge

Rückkehr zur Normalität

Hilfe für Samira

Das Vaterspiel

Frau Schenk greift ein

Die Krise

Ein neuer Fall

Entspannung

Wendungen

Tina

Was ist Liebe?

Alles, oder nichts

Das letzte Gefecht?

Verlerntes Leben

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Alles ist normal

Das letzte Gefecht?

Verlerntes Leben

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

Das verlernte Leben

Alles ist normal

Wann hatte es eigentlich begonnen, dass mein Leben total auf den Kopf gestellt wurde?

Ich könnte es nicht sagen. War es, als Samira in meine Praxis getreten war und mir ihre Bitte vorgetragen hatte? Eine Bitte, die über alles Normale hinausging? Heute könnte ich nicht mehr nachvollziehen, warum ich mich auf so etwas Verrücktes eingelassen hatte. Jeden anderen hätte ich mit diesen Wünschen zurück in die Wüste geschickt.

Vielleicht war es der Reiz des offensichtlich Unmöglichen. War es nicht der Traum jedes Psychotherapeuten, scheinbar hoffnungslose Fälle zu einem guten Ende zu führen? Noch dazu, wenn sie charmant verpackt waren? Was ich jedoch immer wieder aus dem Auge verlor: Jeder Fall kroch in mich hinein, nahm mich gefangen und veränderte mich. Ich war nicht mehr der, der ich vorher war. Mein altes, beschauliches Leben war zerstört. Inständig hoffte ich auf den Phönix, der meiner Asche hoffentlich entsteigen würde.

Dabei war alles einmal in Ordnung. Als ausgebildeter Psychologe unterhielt ich eine gut gehende Praxis als Psychotherapeut. Der Weg des Psychiaters wäre nicht meiner gewesen. Für mich wäre eine Problemlösung unter Einsatz von Medikamenten, keine zufriedenstellende Lösung. Darum war ich froh, dass der Gesetzgeber einem Psychotherapeuten diese Möglichkeit verbot. Bestünde nicht die Gefahr, dass ich diesen leichteren Weg beschreiten würde, sobald mir ein Problem die Erkenntnis eines Lösungsweges zu lange vorenthielte?

Um so tiefer musste ich in die Klienten hinuntersteigen, um sie wieder ans Licht zu holen.

Ich hatte gerade die 50 überschritten. Mein grau meliertes, aber volles Haar, unterstrich mein Alter und lieferte zugleich den Eindruck von Seriosität. Ich hatte mir das Talent antrainiert, in jedem Sturm der Ruhepol zu sein, zu dem sich jeder Bedürftige hingezogen fühlte.

An der Praxistür prangte in schwungvollen Lettern mein Name: Hagen Weisbart.

Ein Name, der in doppeltem Sinne Weisheit suggeriert. Mein Bart erinnerte jedoch nicht an den eines Weisen. Ich hatte einen Dreitagebart zu meinem Aushängeschild erkoren. Man könnte mich als stämmig bezeichnen, doch ich bewahrte mir auch eine gewisse Drahtigkeit. Durch sportliche und legere Kleidung versuchte ich die Barriere zwischen Klient und Arzt zu durchbrechen. Ich wurde dadurch einer von ihnen. Niemals wünschte ich, durch einen Kittel oder steifen Anzug, meine Klienten einzuschüchtern. Diese angsteinflößende Schwelle wieder abzubauen, würde unnötige Energie erfordern. Ich hätte unter Umständen Tage verloren. Mir stand zwar eine Sprechstundenhilfe zur Seite, doch die arbeitete im Hintergrund. Sie erledigte für mich den ganzen Bürokram, bis hin zu Steuerabrechnungen und Marketing. Ich vermied damit, meinen persönlichen Einfluss durch einen zweiten Kontakt zu schmälern.

Mein eigenes Leben hatte sich eingepegelt. Ich lebte allein. Die Wohnung befand sich neben meiner Praxis in einem alten Mehrfamilienhaus. Das Treppenhaus und die Wohnungstüren kündeten von vergangenem Wohlstand des Bürgertums. Die Zeit hatte das Holz in Würde altern lassen. Weiträumigkeit und Größe forderten eine gewisse Ehrfurcht ein, was auch meinem Ruf zugutekam.

Meine Einsamkeit war selbst auferlegt. Nach den vielen Turbulenzen in meinem Leben sehnte ich mich nach Ruhe. Das Tauchen in fremden Gefühlswelten war Aufregung genug. Warum ich mich dort immer einfühlen und auch helfen konnte, war mir selbst ein Rätsel. Bei meiner eigenen Familie hatte ich gründlich versagt. Es gab keinerlei Kontakte mehr. War es mir verwehrt, in sie einzutauchen, weil sie sich nicht öffneten? Weil sie Angst vor meinem Tauchgang hatten? Oder weil ich fürchtete, bei diesem Tauchgang etwas zu finden, das meine Liebe trüben würde? Wie dem auch sei. Inzwischen war diese Liebe gestorben. Manchmal fragte ich mich, ob eine getrübte Liebe besser, erträglicher wäre als deren Tod.

Unsere kleine Villa, in der sechs Parteien wohnten, bekam im vorigen Jahr einen Neuzugang. Gegenüber von meiner Wohnung quartierte sich eine alleinerziehende Mutter mit ihrem 13-jährigen Sohn ein. Zu den Vormietern, einem jungen Paar, das spontan ihre Zukunft im Ausland suchen wollte, hatte ich keinerlei Kontakt gehabt. Guten Tag, guten Weg und das war’s.

Doch bei Samira war es anders. Sie wirkte so hilfebedürftig. Mit einer entwaffnenden Offenheit und ohne Scham forderte sie diese Hilfe auch ein. Eigentlich waren es keine wirklichen Forderungen. Wenn sie sich jedoch mit diesen großen, grünen Augen in meine versenkte, bescheiden ihre Bitte äußerte, war das schon fast wie Nötigung. Ich war nicht in der Lage, mich zu entziehen. Nein. Ich war keineswegs in sie verliebt. So weit hatte ich mich im Griff, die Distanz zu wahren. Es war ganz einfach so, dass ich ihrer Magie erlag. Es war eine harmonische Nachbarschaft, die nie lästig wurde.

Ich ertappte mich dabei, dass ich es genoss, wenn sie mich gelegentlich darum bat, nach ihrem Sohn zu sehen.

Als Dekorateurin blieben späte Kundenbesuche nicht aus.

Samira und Sascha Konradi hatten vor 10 Jahren Mann bzw. Vater an den Krebs verloren. Sascha hatte keine Erinnerungen mehr an ihn. Es war ein ruhiger, in sich gekehrter Junge, was mich sofort für ihn einnahm. Mit der runden Brille wirkte er wie ein kindlicher Gelehrter. Er hatte das tiefschwarze Haar seiner Mutter geerbt.

Am Tag ihres Einzugs kam ich von einem Außentermin zurück, da es mir wichtig erschien, den Klienten in seinem Umfeld kennenzulernen. Das Umzugsunternehmen hatte schnell gearbeitet und selbst die Möbel an der gewünschten Position aufgebaut. Samiras Wohnungstür stand weit offen. Als sie mich hörte, kam sie zur Tür. Ich konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass ein Engel vor mir stünde, als sie im starken Gegenlicht erschien. Die langen, gekräuselten schwarzen Haare fielen ihr bis zur Taille. Sie trug eine luftig flatternde Hose, die über gut gepolsterten Hüften zusammengebunden war. Auch ihre farbenprächtige Bluse wirkte leger. Mit einem unschuldigen, einnehmenden Lächeln streckte sie mir die Hand entgegen, um sich vorzustellen. Es war eine ungewöhnlich weiche Hand, die sofort auch meine Seele umschloss. Dennoch wirkte sie schlank. Riesige Augen, leicht hervorstehende Wangenknochen, eine schmale Nase und wohl geformte Lippen, verliehen ihrem Gesicht eine Anmut, die mich faszinierte.

„Guten Abend Herr Weisbart“, eröffnete sie das Gespräch.

„Wir sind die neuen Mieter. Wir werden uns bemühen, Sie nicht zu stören. Ich bin Samira. Meinen Sohn Sascha, … Sascha komme mal bitte … , werden Sie gar nicht bemerken.“

„Was ist denn Mutti“, fragte er leicht genervt, während er heranschlich. Er schaute bei seinem Weg zur Tür, unentwegt auf sein Handy.

„Sascha, das ist Herr Weisbart, unser neuer Nachbar.“ Er schaute kurz auf, gab mir die Hand, murmelte ein ‚Sascha‘, machte ein Foto von mir und schlich genauso ‚enthusiastisch‘ davon, wie er gekommen war.

„Entschuldigen Sie. Der Eindruck täuscht. Er ist keineswegs ein Junge, der nur am Handy rumhängt. Es sind keine Spiele darauf. Er nutzt es mehr als Wissensquelle.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es ist absolut Ihre Sache, wie Sie ihr Kind erziehen. Auf Wiedersehen.“ Damit drehte ich mich um und steckte den Schlüssel ins Schloss meiner Wohnungstür.

„Eine Bitte noch.“

„Legen Sie los.“

„Leider bin ich nicht so handwerklich begabt und habe auch keine gute Schlagbohrmaschine. Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, für mich das eine oder andere Loch zu bohren, damit ich meine Lampen installieren kann? Das Anbringen würde ich dann schon selbst hinbekommen.“

Das eine oder andere Loch beschäftigte mich mehrere Wochen, da es bei den Lampen nicht blieb. Obwohl ich anfangs von der Bitte genervt war, spielte ich diese Rolle, ohne zu murren. Schließlich legte ich auf ein gutes Verhältnis zu Nachbarn wert. Erstaunlicherweise belasteten mich diese Einsätze nicht im Geringsten. Ich hatte sogar eine gewisse Freude daran. Am Ende wusste ich, dass ihr Vater aus dem Jemen kam, ihre Mutter jedoch Deutsche war. Ihre Eltern hatten sich ein Häuschen im Schwarzwald errichtet, so dass Besuche, wegen der riesigen Entfernung, zur Rarität wurden.

Ihr Mann war an Darmkrebs gestorben, als ihr Sohn 2 Jahre alt war. Bilder mit ihm hielten die Erinnerung wach. Sascha selbst fehlten die Erinnerungen an ihn. Er ließ sich nicht anmerken, ob es ihn belastete. Samira arbeitete als Dekorateurin, die sowohl für Privat-, als auch für Firmenkunden im Einsatz war. Dies erstreckte sich von Raumeinrichtungen, über Außendekorationen, bis hin zur Ausstattung von Feierlichkeiten. Dadurch blieb es nicht aus, dass sie gelegentlich spät nachhause kam. Natürlich konnte ich ihre Bitten nicht ausschlagen, an diesen Tagen nach Sascha zu sehen. Der hielt diesen Aufwand jedoch für vollkommen überflüssig. Doch er tolerierte mich gnädig. Es dauerte nicht lange und zwischen uns hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die bald zum Bedürfnis wurde. Wie selbstverständlich ging ich hinüber, wenn mal eine zweite Meinung gebraucht wurde und auch Samira schätzte meinen Rat, wobei sie dabei die Geschäftszeiten mied.

Als letzten Termin für den heutigen Tag hatte ich mir meine Lieblingsklientin Frau Fiora Schenk gelegt. Sie war eine Frohnatur von Anfang 30. Ihren Antrittsbesuch startete sie mit einer witzigen Bemerkung. ‚Ich bin Frau Schenk. Eigentlich könnten wir uns eine Beratung auch schenken‘. Und das war ihr Problem. Sie floss derart, von Leichtigkeit getrieben, über, dass es für ihre Mitmenschen langsam zur Belastungsprobe wurde. Sie konstatierte selbst, dass man sie mied. Es existierte praktisch kein Fettnäpfchen, das sie übersah. Sie waren alle für sie eingerichtet worden. Wie ein Magnet wurde sie von ihnen angezogen. Der Freundes-, bzw. Bekanntenkreis schrumpfte merklich. Sie hatte den Zustand erreicht, dass sie sich vor der zunehmenden Isolation fürchtete. Ich sollte sie auf einen Weg führen, der sie abwägen ließ, welche Bemerkung oder welcher Scherz erlaubt wäre, ohne zu verletzen.

Eine schwere Aufgabe. Immer wieder ging ihre Lebensfreude mit ihr durch. Manchmal fragte ich mich, ob ich in all den Monaten, etwas vorweisen konnte, das man in die Spalte Erfolg eintragen könnte. Dennoch ertappte ich mich dabei, dass ich ihren Scherzen mit einem Schmunzeln begegnete, statt sie zu bremsen. Schlimmer noch. Nicht nur einmal erlaubte ich mir, mit ihr über einen meiner Fälle zu sprechen. Sobald ich mich mit diesen schwertat, war es inspirierend, wenn sie die scheinbar unlösbaren Probleme in ein heiteres, optimistisches Licht rückte.

Darum hatte ich mich schon auf Frau Schenk gefreut. Mich quälte dieser neue Fall, zu dem mir der Einstieg nicht so recht glücken wollte.

Meine Klientin gewährte mir keinen Zugang, da sie immer wieder in Tränen ausbrach und meine Worte scheinbar nicht zu ihr drangen. Der Tod ihres Mannes war für sie einfach nicht fassbar. Alle Bemühungen, ihr Leid zu mildern, trugen keine sichtbaren Früchte. Dennoch kam sie immer wieder.

Nachdem ich Frau Schenk den Fall geschildert hatte, schien sie wenig beeindruckt.

„Soll sie doch froh sein. Tränen sind wertvoll. Sie wäre schlimmer dran, wenn sie überhaupt nicht weinen könnte. Dann würde ihr Kopf platzen. Ich habe dazu mal eine schöne Geschichte gehört.

Ein Sultan hatte sich in eine Sklavin verliebt und sie zu seiner Gespielin erkoren. Doch vom ersten Tag an, vergoss sie bittere Tränen. Sie weinte, weil sie ihre Familie verlassen musste, die sie so sehr liebte. Ebenso, weil sie eingesperrt war, wenn auch im Luxus und sie weinte, weilsie dem Sultan nicht die Freude schenken konnte, die ihm gebührte. Der Sultan erfreute sich jedoch an den Tränen seiner Liebsten. Sie waren so groß und glasklar, dass sie wie Diamanten das Licht brachen und seine Welt darin spiegelten. Da sie so kostbar für ihn waren, begann er, die Tränen in einer goldenen Schale aufzufangen. Sie weinte daraufhin noch mehr, da sie nun an der Menge ihre Tränen beobachten konnte, wie groß ihr Leid war und dass es immer weiter anwuchs. Als die Schüssel nach einem Jahr gefüllt war, bewunderte der Sultan seinen Schatz. Alles, was sich in dieser Oberfläche spiegelte, empfand er noch schöner, als wenn er es in seiner Hand betrachtete. Gerührt rief er seine Liebste zu sich.

‚Dieser riesige Schatz, der aus dir herausgeflossen ist, erfreut mein Herz jeden Tag. Ich möchte mich dafür erkenntlich zeigen. Äußere einen Wunsch und ich werde ihn dir erfüllen.‘

Das Mädchen überlegte nicht lange.

‚Da du so gütig bist, wünsche ich mir meine Freiheit.‘ Das berührte den Sultan so sehr, dass er selbst ein paar Tränen vergoss. Er konnte nun ihr Leid nachvollziehen und gewährte ihr den Wunsch. Augenblicklich versiegten ihre Tränen. Überglücklich erklärte sie ihm, dass sie nun liebend gern bei ihm bleiben würde, wenn er es wünsche. Doch sie würde ihre Freiheit auch dazu nutzen, neue Wege zu gehen, was auch die Besuche ihrer Familie einschloss. So ist im Volk die Geschichte vom Trauerjahr entstanden. Wenn es vorüber sei, wäre die Zeit gekommen, neue Wege zu gehen. Sagen Sie also Ihrer Klientin, dass Sie ihr ihre Tränen abkaufen, dass Sie ihr dafür einen Wunsch erfüllen werden.“

Ich dachte lange nach. Frau Schenk hatte mir eine ganz neue Seite gezeigt. Diesmal präsentierte sie nicht ihren leichtfertigen Humor, sondern Tiefgang.

„Das ist ein guter Ansatz. Wenn Sie künftig ihren Witz in Weisheit verpacken, hätten Sie ihr Problem gelöst. Stellen Sie dabei die Pointe immer sanft formuliert ans Ende. Was jedoch meine Klientin betrifft, was sollte ich ihr sagen, wenn sie sich als Preis für ihre Tränen, ihren Mann zurückwünscht?“

„Nichts einfacher als das. Schenken Sie ihr die Erinnerung an gemeinsame Stunden. Jetzt, da Sie die Tränen haben, wird sie die viel klarer sehen und sich daran freuen können.“

„Sie überraschen mich, Frau Schenk. Sie sind ja eine kleine Philosophin. Eigentlich müsste ich Sie bezahlen.“

„Danke für das Kompliment, doch ich kann es Ihnen nur zurückgeben. Durch Ihre Behandlung hat sich meine Sicht geändert. Früher hätte ich gesagt: Alles Schlechte hat auch sein Gutes. Ihr Leben fängt jetzt erst an, ohne Mann. Dabei wüsste ich nicht mal, was sie verloren hat.“ Das Kuriose an dieser Sitzung war, dass ich ihre Geschichte weitertrug und tatsächlich die Tränen meiner Klientin zum Versiegen brachte. Für den nächsten Termin regte ich an, ihr Familienalbum mitzubringen. Gemeinsam durchforsteten wir es und lachten zusammen über die Erlebnisse, die sie bei vielen der Fotos beizusteuern hatte. Niemals hätte ich an eine so einfache Lösung geglaubt. Mir war bewusst; hätte ich die Aussage dieser Geschichte mit meinen wissenschaftlichen Worten an diese bedauernswerte Frau herangetragen, sie wären verpufft. Der Mensch braucht etwas Besonderes, das ihn aufweckt. Triviales findet er überall.

Ich erzählte auch Samira von dieser Erfahrung. Sie war beeindruckt und wanderte lange durch ihr Schweigen. Sascha, obwohl er im Smartphone vertieft war, kommentierte meinen Bericht dagegen mit einem Kurzen ‚cool!‘.

„Führt ihr eigentlich auch ein Fotoalbum?“, fragte ich in die Runde.

„Leider bunkern wir unsere Fotos nur in Ordnern auf dem Rechner. Nur zu besonderen Ereignissen lassen wir mal ein kleines Fotobuch drucken.“

Sie holte eines vom letzten Urlaub herbei.

„Und was ist mit der Zeit, als Dein Mann noch bei euch war?“

„Die wichtigsten Fotos haben wir aufgestellt. Ansonsten sind auch sie auf dem Computer gespeichert.“

„Schaust du dir die Fotos von deinem Vater manchmal an, Sascha?“

„Jetzt musst du mich nur noch fragen, ob ich ihn vermisse“, antwortete er in aggressivem Ton.

„Ihr Psychoheinis könnt wahrscheinlich nicht anders.

Immer seid ihr auf der Jagd nach Problemen. Doch was ist mit dir? Noch nie hast du etwas von dir erzählt. Hast du keine Vergangenheit?“

Herausfordernd sah er mich an.

„Ach, mein Leben ist nicht so wichtig“, wich ich aus.

„Wenn du nicht wichtig bist, kannst du dir dein Interesse an uns auch sparen. Sollen wir den Ersatz für dein verlorengegangenes Leben spielen?“

Betroffen starrte ich vor mich hin. Er hatte mich an meiner empfindsamsten Stelle getroffen.

„Nun lass mal gut sein Sascha. Wenn er soweit ist, wird er uns schon davon erzählen.“

„Bildest du dir ein, ich glaube noch an den

Weihnachtsmann, Mutti? Du wirst uns niemals etwas von dir preisgeben. Stimmts, Hagen?“

„Ich rede nicht so gern über mich.“

„Aber du willst alles über die anderen wissen. Hat dich darum deine Frau verlassen?“

„Sascha! Jetzt ist aber gut. Du wirst dich sofort entschuldigen!“

„Nein. Das muss er nicht. Er hat ja gar nicht so Unrecht. Es ist wohl so, wie das Sprichwort sagt. Der Schuster hat die schlechtesten Leisten. Als Psychologe vergisst man gern, dass man das eigene Leben vernachlässigt hat.“

„Du hast es nicht vernachlässigt, sondern versaut“, behauptete Sascha.

„Was weißt du denn schon von meinem Leben?“, empörte ich mich und stand auf, um zu gehen.

„Läufst du jetzt vor deinen Problemen davon, oder gehst du dein Fotoalbum holen?“, wies mich Sascha zurecht. Ich ging wortlos. Durch die geschlossene Tür hörte ich, wie Samira ihrem Sohn Vorwürfe machte, der jedoch auf seinem Standpunkt beharrte.

Erste Erschütterungen

Meine Wohnung empfing mich mit eisiger Kälte, obwohl es warm war. Lange stand ich vor der Eingangstür und fixierte einen Punkt im Nirgendwo. Erfolgreich hatte ich all die Jahre meine Probleme in einer Schublade verschlossen gehalten. Und jetzt kam so ein halb garer Bengel und brach sie einfach auf. Wie Unrat ergoss sich mein vergangenes Leben vor meine Füße. Es hatte zwar auch schöne Seiten, die waren jedoch darunter vergraben. Und all das nur, weil ich die Trauer eines Jungen um seinen verlorenen Vater ausgegraben hatte. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ihn der Verlust noch stark belastete. Sascha hatte sofort durchschaut, dass der Psychologe in mir auf der Jagd nach einem neuen Klienten gewesen war. Aber er wollte sich dafür nicht hergeben. Das würde eine harte Nuss werden, ihn zu knacken. Die beiden hatten es verdient, dass ich ihnen bei der Problembewältigung zur Seite stand.

Da war es wieder. Spielend leicht hatte ich meine eigenen Scherben abermals in die Schublade zurückgesteckt und erneut abgeschlossen.

War ich dabei, diese neue Beziehung, die mir so sehr am Herzen lag, kaputt zu therapieren?

Hatte ich ebenso die zu meiner Frau und Tochter Opfer des Berufes werden lassen? Und Vater? Trug ich auch an diesem Zerwürfnis die Schuld? Seit 10 Jahren herrschte Funkstille. Niemand von uns würde den ersten Schritt vollziehen. War es die Furcht davor, damit die eigene Schuld einzugestehen?

Meinen Klienten würde ich raten, unbedingt die Initiative zu ergreifen. Eine Schuld trägt niemand ganz allein. Es sei Größe, zu verzeihen und ein Akt der Liebe, die Tür immer offenzulassen. Doch was nützt es, wenn die Türen aufstehen und keiner den Mut aufbringt, dort hindurchzugehen?

Ich war mein eigener Klient und ratlos. Wie problemlos kamen mir die Worte über die Lippen, wenn ein Patient auf Hilfe hoffte. Es fiel mir leicht, die Probleme zu erkennen und passende Lösungen anzubieten. Mein Handicap war es, dass ich nicht aus mir heraus konnte, um einen unvoreingenommenen Blick auf mich selbst zu werfen.

Instinktiv trieben mich meine Gedanken in die Abstellkammer. Die Hand umfasste entschlossen die Leiter. Wollte ich wirklich diesen schmerzlichen Schritt wagen? Ich bestieg die Sprossen und holte die Kiste herunter, die weit nach hinten geschoben auf dem Regal versteckt war. Es wurde zum Kraftakt. So schwer fühlte sich mein Leben an? Kein Wunder, dass ich dieses Gewicht nicht mit mir herumschleppen wollte. Zaghaft öffnete ich die Kiste und holte die drei Fotoalben heraus. Sie schlossen mit den Bildern ab, die schon von dem bevorstehenden Bruch kündeten. Heute konnte ich in den Gesichtern lesen. Damals waren es Masken für mich. In diesem Moment empfand ich es als Vorsehung, dass ich die altmodischen Fotoalben all die Jahre als Zeitzeugen gepflegt hatte. War es ein Zeichen, dass es danach keinerlei Fotos mehr gab?

War es mein neues Leben nicht wert, dokumentiert zu werden? Hatte es keine bewahrenswerten Erinnerungen hervorgebracht?

Wie sollte ich diesen Fakt Sascha erklären? Ungeheuer lange sass ich nun schon davor, ohne sie geöffnet zu haben.

Hatte ich Angst vor meiner Vergangenheit? Vor der Erkenntnis, dass sie mir all meine Fehler um die Ohren hauen würde?

Ich fasste einen folgenschweren Entschluss. Diese Alben würde ich erst im Beisein von Sascha und Samira öffnen. Ich war es Sascha schuldig. Wer sich selbst nicht öffnet, darf nicht erwarten, dass es andere tun. Was käme aber dabei heraus, wenn ich mich öffnete? War ich dem überhaupt gewachsen? Was würde ich von mir preisgeben? Könnte ich mir danach noch in die Augen sehen? Würden meine neuen Freunde dann noch die Kraft haben, Freunde zu bleiben? Ich hatte eine Menge zu verlieren. Sie hatten wieder Wärme in mein Leben gebracht. Inzwischen fürchtete ich die Kälte.

Feige, wie ich war, ließ ich ein paar Tage verstreichen. Begegnungen vermied ich, indem ich an der Tür lauschte, bevor ich sie öffnete, oder das Treppenhaus nicht betrat, wenn ich darin Bewegungen registrierte. Irgendwann drang dann die Erkenntnis zu mir durch, dass ich mit dieser Vogel-Strauß-Politik schon eine Beziehung in den Sand gesetzt hatte. Ich klingelte bei ihnen, mit dem Gefühl eines Schuljungen, der sich dafür entschuldigen musste, mit seinem Fußball die Kellerscheibe eingeschossen zu haben. Sascha öffnete. Er sah mich nur kurz an, um dann voranzugehen.

„Geht es dir wieder gut?“, fragte er.

Ich setzte mich auf meinen Stammplatz.

„Alles gut. Ich war nicht krank.“

„Sieht für mich anders aus. Mutti ist in der Küche.“

„Ich möchte auch zu dir. Habe lange nachgedacht.“

„Deswegen hättest du dich nicht verstecken müssen.

Ich hätte dir helfen können.“

„Du hast mir schon geholfen.“

Samira kam aus der Küche herein.

„Hallo Hagen. Willst du dich verabschieden?“

„Wieso das denn?“

„Ich dachte an die Macht der Gewohnheit, wenn nicht alles rund läuft.“

„Du weißt doch gar nicht …“, brauste ich auf.

„Richtig. Wir wissen nichts. Ist das normal unter Freunden? Rennt man davon, wenn es Probleme gibt?“ Sie sagte dies mit ruhiger Stimme, ohne den geringsten Vorwurf darin.

„Ich bin nicht davongelaufen.“

„Mein Türspion hat mir etwas anderes erzählt. Du hast dich davongeschlichen, wie ein Dieb.“

„Hast du deswegen nicht bei mir geklingelt?“

„Ach der Herr erwartet, dass man ihm huldigt? Läuft das so in deinem Leben ab? Gibt es weitere Menschen, auf die du wartest?“

„Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Vor allem bei Sascha. Würdet ihr mir die Freude bereiten, mich morgen Abend zu besuchen? Ich koche was Schönes und danach könnten wir uns meine Fotoalben ansehen.“

„Wow“, meldete sich Sascha. „Mit Quizshow, ohne Telefonjoker?“

„Wie bitte?“

„Na, du zeigst uns die Alben und wir dürfen jede Frage stellen, auf die du dann antworten musst?“ Ich schluckte.

„Wenn ich dann auch Fragen stellen darf?“

„So läuft das nicht“, mischte sich Samira ein.

„Du hattest deine Fragestunden schon. Wenn das ein Abend der Entschuldigung sein soll, bist du allein derjenige, der Fragen beantworten wird. Okay?“ Sascha lächelte und legte den Arm um seine Mutter.

„Genau“, sagte er „und ich wünsche mir ein chinesisches Gericht.“

„Und wenn ich die Antworten nicht weiß?“

„Dann teilst du uns deine Vermutungen mit. Haben wir einen Deal?“

Sascha befiel ein befreites Grinsen und wir besiegelten unseren Pakt mit dem Abklatschen der Hände.

Sofort stürzte ich mich in die Arbeit. Zunächst suchte ich mir ein Rezept heraus, um die Zutaten einkaufen zu können. Für den Vormittag hatte ich den Termin von Frau Schenk eingeplant. Von ihr erhoffte ich mir ein paar Ratschläge für das Treffen mit meinen Nachbarn. Dieser Gedanke allein, bescherte mir einen entspannenden, tiefen Schlaf.

Dementsprechend erwartungsvoll empfing ich meine Klientin. Sie stolperte sofort über meine ungewöhnliche, extrovertierte Freundlichkeit.

„Was ist los, Herr Weisbart? Haben Sie ein paar Spaßmacher geschluckt? Das kostet Sie aber einen ordentlichen Rabatt. Oder soll ich mein Wissen an die Ärztekammer verkaufen?“

Erstaunlich, dass meine Ausgelassenheit einen kleinen Rückfall bei ihr ausgelöst hatte. Sie schien weit von einer Heilung entfernt zu sein, wenn ungewohnte Fröhlichkeiten sie zu ihren überzogenen Spitzen zurückführten. Dieser Aspekt war heute jedoch nicht von Interesse. Diesmal wollte ich egoistisch sein. Nachdem ich ihr vor Augen geführt hatte, dass sie soeben alle guten Vorsätze über Bord geschmissen hatte, führte ich sie behutsam an mein Vorhaben heran.

„Wir konstruieren mal einen Fall, Frau Schenk. Stellen sie sich vor, ihr Leben ist total schief gelaufen … “

„Das muss ich mir nicht vorstellen. Meines ist in einer solchen Schieflage, dass ich bereits mit Höchstgeschwindigkeit bergab rase.“

„Dann nehmen wir weiter an, dass es einen Menschen gibt, der mit Ihnen über dieses Leben reden möchte, um Sie besser zu verstehen.“

„Kein Problem. Ich kenne viele Geschichten. Er wird davon verzaubert sein.“

„Sie würden nicht bei der Wahrheit bleiben?“

„Die Wahrheit ist wie ein Clown. Sie zeigt immer ein fröhliches Gesicht, wenn ihr zum Heulen ist und sie schlägt dir dort hinein, solltest du mal fröhlich sein. Nur damit andere darüber lachen können. Meine Freundin ist die Lüge. Die kann ich jeder Situation anpassen. Sage ich mal die Wahrheit, denkt ohnehin jeder, dass ich lüge.“

„Das liegt aber eher an ihren unüberlegten Scherzen. Die Menschen haben keine Chance, ihr wahres ‚Ich‘ zu erkennen.“

„Könnten sie es, würden sie es nicht glauben. Oder kaufen Sie mir ab, dass ich mir über nichts Sorgen mache und das Leben nicht verbiegen will?“

„Sie sorgen sich, dass sie irgendwann allein dastehen. Dass sie niemand mehr versteht.“

„Es ist eher die Sorge, dass die Menschheit den Humor verliert. Dass man jedes Wort auf die Goldwaage legen muss. Damit tötet man die Lebensfreude, wenn alles aus Berechnung geschieht.“

„Möchten Sie mir sagen, dass wir die ganze Zeit einen falschen Ansatz verfolgen? Sie wollen gar nicht von ihrer unberechenbaren, fröhlichen Gedankenlosigkeit befreit werden? Sie wollen, dass wir die anderen Menschen ändern?“

„Wenn Sie es so formulieren wollen. Ich wünsche mir schon, dass ich bewusster meine Worte wähle. Doch das Ziel ist ein anderes. Ja, ich beabsichtige, den Menschen einen Spiegel vorhalten.“

„Zurück zu unserem Problem. Dieser Mensch, dem sie ihr Leben offen legen möchten, ist für sie besonders wertvoll. Sie wollen sich vor ihm nicht länger verstellen.

Sie erhoffen sich, so akzeptiert zu werden, wie Sie sind.

Wie lösen Sie das Problem?“

„Ich erzähle ihm eine Geschichte. So wie Sie es mir beigebracht haben.“

„Und welche wäre das?“

„Es war einmal ein alter Mann, der spürte, dass seine letzte Stunde bald kommen würde. Sein geliebter Enkel wendete sich immer mehr von ihm ab. Er mied das Zusammensein mit ihm. Da er unsagbar darunter litt, stellte er ihn zur Rede.

Warum sollte ich mehr Zeit mit dir verbringen, fragte ihn sein Enkel. Du hast dich immer mehr verändert. Du bist alt und verstehst mein Leben nicht mehr. Ich habe Wichtigeres zu tun. Der Großvater antwortete: Beantworte dir die Frage, wer du bist. Was macht dich aus? Erinnerst du dich an deinen Hund? Du hast ihn bekommen, als du 3 Jahre alt warst. Stupsi hast du ihn liebevoll genannt. Ihr wart unzertrennlich. Ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagt. Jeden Morgen hat dich Stupsi geweckt, ihr habt fast alles zusammen gemacht. Als er krank wurde, hast du ihn gesund gepflegt und stundenlang an seinem Lager gesessen. Er wurde größer und älter. Er war schon lange nicht mehr der niedliche junge Welpe. Und dennoch hast du ihm deine Liebe nicht entzogen. Selbst als deine Schulkameraden sich über Stupsis Aussehen lustig gemacht haben, hast du ihn verteidigt. Ihr habt weiterhin viel Zeit miteinander verbracht. Du hast eine Menge dazugelernt, wurdest schlauer, fandest neue Interessen. Doch dein Hund blieb der alte. Er hatte nicht mehr zu geben, als seine Liebe und seine Zeit. Dennoch hieltet ihr zusammen. Und als er alt wurde, es ihm schon schwerfiel zu laufen, warst du für ihn da. Dann kam die Zeit der Trauer. Stupsi starb und duhattest keinen Appetit mehr. Du dachtest immer an die Zeit zurück, als ihr noch gemeinsam etwas unternommen habt. Wer warst du zu dieser Zeit und wer bist du heute? Habe ich nicht ebenso viel Zeit mit dir verbracht, dir alles Mögliche beigebracht, dir meine ganze Liebe geschenkt. Auch ich bin alt geworden, habe Mühe mit dem Laufen und auch mit dem Sehen will es nicht mehr so richtig klappen. Was unterscheidet mich von deinem Hund? Auch Stupsi hat dein Leben nicht verstanden. Doch er war da und du hast es honoriert. Ich bin ebenfalls da und du empfindest es als eine Last.

Was macht die Liebe deines Hundes wertvoller? Was ist wichtiger als die Liebe? Wenn du mir deine Liebe versagst, bin ich nichts. Schenkst du sie mir, bin ich alles. Ich bin für dich nur noch einer aus der Vergangenheit. Der Mann in der Gegenwart ist jedoch derselbe Mensch. Was für eine Rolle spielt für dich diese Zeit?

Sein Enkel sah ihn lange an. Die Zeit mit seinem geliebten Hund schlich sich in seine Gedanken. Auch seinen Großvater hatte er geliebt. Beides war Vergangenheit. Ich liebe dich doch Großvater. Du kannst mir glauben, dass ich viel an dich denke. Doch ich möchte mir die Vollkommenheit meiner Kindheit bewahren. Wenn ich dich besuche, überkommt mich immer eine große Trauer, dass das alles vorbei ist. Ich möchte dich nicht leiden sehen. Es zerbricht mir das Herz.

Ich verstehe, sagte der Großvater betrübt. Ich möchte auch nicht, dass dein Herz zerbricht. Dann zerbrich lieber meins.“

„Sie würden also raten, die Vergangenheit nicht zu zerreden, sie so zu lassen, wie sie einmal war, um sich weiter an ihr erfreuen zu können? Sie mit der Gegenwart zu vergleichen, könnte einem folglich das Herz brechen?

Das Leid eines anderen würden sie billigend in Kauf nehmen?“

„Nicht ganz. Das Leid des anderen muss man nur ins richtige Licht rücken. Ihm bewusst machen, dass es größeres Leid gäbe. Zum Beispiel, wenn es dem geliebten Menschen, also dem Jungen, schlecht ginge. Und jeder muss die Wertigkeit der Liebe für sich definieren.“

„Frau Schenk. Jetzt nehmen sie mir aber meine vorhandene Hoffnung, dass sie schon auf dem richtigen Weg wären. Ihre Geschichte hat eine wichtige Lehre, die sie scheinbar nicht erkannt haben, obwohl ihr Unterbewusstsein es Ihnen geschickt hat. Die richtige Schlussfolgerung ist doch, dass wir die Menschen an unserer Seite mehr achten sollten. Sie tauchen aber wieder in gleichgültige Leichtigkeit ab, die ihren Egoismus offenbart. Wieso verweigern Sie im Nachhinein das Bekenntnis zur menschlichen Aussage der Geschichte?“

„Aber haben wir uns nicht zum Ziel gesetzt, mir zu helfen?“

„Richtig, aber doch nicht auf Kosten anderer. Wenn Sie auch andere Menschen glücklicher machen, werden sie ebenfalls glücklicher. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“