Radabar klaut die Liebe - Teil 1 - Erwin Sittig - E-Book

Radabar klaut die Liebe - Teil 1 E-Book

Erwin Sittig

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Beschreibung

"Radabar klaut die Liebe" ist der erste Teil der Geschichten um Radabar. Radabar, ein Zauberer, der seiner Welt den Rücken gekehrt hat, um Ruhe zu finden, errichtet sich sein Reich unter dem Waldboden der Menschen. Seine fliegende und sprechende Katze Claudia, die er sich selbst erschuf, ist seine einzige Freundin. Die Jahre in Einsamkeit lassen seine Kräfte schwinden. Auf der Suche nach Ersatz entdeckt er die Kraft der Liebe. Nachdem er die unterschiedlichsten Menschen entführt hat, die ihm nicht die gewünschte Energie liefern können, stößt er auf die alleinerziehende Mutter Katharina Biesing. Deren unverständliche Liebe zu ihren ungehorsamen Kindern Mark und Claas scheint die Energie zu besitzen, die er benötigt. Er unterwirft sie seinem Willen und suggeriert den Kindern, dass die Mutter sie hasst und schließlich verlässt. Während sie in seinem Reich leben muss, machen sich die Brüder auf den Weg, die Mutter zu befreien. Sie haben in einer fantastischen Welt eine Reihe gefährlicher Abenteuer zu bestehen und müssen beweisen, dass sie nicht nur ihre Mutter lieben.

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Seitenzahl: 186

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www.tredition.de

Erwin Sittig

Radabar

Radabar klaut die Liebe

Teil 1 der Radabar-Reihe

www.tredition.de

© 2020 Erwin Sittig https://erwinsittig.de

Verlag und Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-06218-4

Hardcover:

978-3-347-06219-1

e-Book:

978-3-347-06220-7

Illustration: Sascha B. Riehl

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Radabars Sorgen

Radabars Welt

Ein neues Opfer

Getrennte Wege

Hinein oder hinaus

Der Weg zu Radabar

Die Chance auf Freiheit

Die erste Aufgabe

Die zweite Aufgabe

Die letzte Aufgabe

Die Entscheidung

Der Abschied

Die Bücher der Radabar-Reihe

Radabar klaut die Liebe - Teil 1

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Radabars Sorgen

Der Abschied

Radabar klaut die Liebe - Teil 1

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Radabar klaut die Liebe

Radabars Sorgen

Schon seit ein paar Jahren hatte sich Radabar zurückgezogen. Er war einst ein mächtiger Zauberer und hatte seit Langem die ständigen Machtkämpfe zwischen den Magiern, Hexen, Kobolden, Dämonen, Feen und wie sie sonst noch alle hießen, satt. Er sehnte sich nach etwas Ruhe. Dazu hatte er sich ein Reich inmitten der Menschen geschaffen. Unter einem großen Wald, am Rande der Stadt, erstreckte sich sein unterirdisches Reich über viele Kilometer, in alle Himmelsrichtungen. Der Wald versprach ihm, dass sein Geheimnis gewahrt bliebe. Da sich hier eher selten Menschen im Unterholz herumtrieben, war die Entdeckung des Eingangs in seine Welt sehr unwahrscheinlich. Endlich hatte er einen Platz, der ihm die vollkommene Ruhe bot, die er sich immer gewünscht hatte. Hier entschied er, wann Tag und Nacht war, welches Wetter herrschte, welche Wesen ihn umgaben, welche Gewächse sich entfalteten und welche Geräusche ihn erfreuten. Wenn es ihm zu langweilig wurde, nahm er die Gestalt eines gemütlichen Opas an und mischte sich unter die Leute in der Stadt, um mit ihnen Freud und Leid zu teilen. Diese komischen Wesen, die sich Menschen nannten, bereiteten ihm, allein dadurch, dass er sie beobachtete, vielfältige Freuden.

Doch immer häufiger entdeckte er Anzeichen bei ihnen, die sie den zänkischen Gestalten seiner alten Welt, die er verlassen hatte, immer ähnlicher werden ließen. An solchen Tagen zog er sich dann wieder in sein kleines, unterirdisches Reich zurück, um sich zu erholen. Seit einigen Jahren plagten ihn Lustlosigkeit und Appetitlosigkeit. Er kränkelte und spürte, wie ihn seine Energie zu verlassen schien. Tag und Nacht wälzte er sich schlaflos in seinem Bett herum und suchte nach einem Ausweg aus seiner Lage. War es etwa sein Alter, das ihm zu schaffen machte? Nein, mit seinen 758 Jahren war er noch sehr jung für einen Zauberer. Lag es an der magischen Atmosphäre, die ihn nur in seiner alten Welt umgeben hatte? War er darauf angewiesen? Das war schon möglich. Aber mit Sicherheit würde er sich die fehlende Energie auch von den Menschen holen können. Wozu verfügte er sonst über seine Zauberkräfte. Radabar durfte nicht länger zögern. Er bemerkte, wie er täglich schwächer wurde. Gleich morgen würde er sich in die Welt der Menschen begeben, um nach geeigneten Energiequellen zu suchen.

Frau Biesing betrachtete liebevoll das Bild auf ihrem Schreibtisch. Freundlich blickten sie die Gesichter ihrer beiden Söhne an. Sie lächelte. Es wäre schön, wenn die beiden Rabauken immer so lieb wären, wie es das Foto zeigte. Hoffentlich haben sie heute ihre Hausaufgaben gemacht und wenigstens den Müll runtergebracht.

„Frau Biesing, haben sie die Akte 'Weitmann' schon abgeschlossen? Ich brauche sie in einer halben Stunde.“

Sie schreckte hoch. Der Gedanke an ihre Kinder hatte sie einen Moment davongetragen.

„Ja, ich weiß. Ich bin gleich fertig.“

„Und den Fall 'Schmitzke' bitte bis morgen um 10 Uhr.“

„Ich weiß nicht, ob ich das noch schaffe. Ich wollte heute mal ausnahmsweise pünktlich gehen, da ich noch einkaufen muss.“

„Mich interessieren ihre Einkäufe nicht, Frau Biesing. Ich weiß nur, dass der Termin morgen früh feststeht. Wie Sie das machen, ist nicht mein Problem. Oder meinen Sie, Sie sind den Anforderungen Ihrer Arbeit nicht gewachsen?“ Drohend sprang der Blick ihres Chefs auf sie herab.

„Kein Problem. Sie bekommen ihre Akte bis 10 Uhr.“

Ärgerlich schaute sie dem Chef nach. Wie sollte sie das nur auf Dauer schaffen? Immer wieder machten ihr Überstunden einen Strich durch die Rechnung. Andere Frauen hatten einen Mann, mit dem sie sich die Aufgaben des Haushalts teilten. Seit ihrer Scheidung musste sie sich um alles alleine kümmern. Arbeit, Haushalt und die Kinder forderten sie fast rund um die Uhr. Wenn wenigstens ihre Jungs, Mark und Claas, etwas helfen würden. Aber sie bedeuteten nur zusätzliche Arbeit. Doch sie machte es gern. Sie liebte diese beiden über alles. Kaum vorstellbar, was sie ohne die Kinder machen würde. So viel Kraft sie ihr nahmen, gaben sie ihr andererseits wieder zurück. Mit zwei Stunden Verspätung ging sie endlich in den Feierabend. Ein Anruf bei den Kindern war erfolglos. Wahrscheinlich spielten sie wieder draußen, statt an den Hausaufgaben zu sitzen. Als Frau Biesing die Kaufhalle verließ, war es bereits 19.00 Uhr. Vollkommen erschöpft und voll bepackt klingelte sie mit der Nase an der Haustür. Niemand öffnete ihr. Also stellte sie ihre schweren Taschen ab und wühlte darin nach dem Schlüssel. Natürlich hatte sie ihn wieder ganz unten eingebaut, was ihre Stimmung nicht gerade hob. Ein kurzer Blick in die Wohnung sagte ihr alles. Die Schultaschen waren einfach hingeschmissen, das Kinderzimmer sah wie ein Saustall aus, der Abwasch vom Morgen stand unberührt herum und der Müllbeutel war ebenfalls nicht geleert. Kurz: Der Alltag hatte sie wieder fest im Griff. Sie verstaute die eingekauften Lebensmittel, erledigte den Abwasch, brachte den Müll hinunter, und bereitete das Abendessen vor.

Kurz nach 20.00 Uhr kündigte die Klingel das Erscheinen ihrer Kinder an. Frau Biesing wusste, was ihr bevorstand. Sie versuchte, ihren Ärger im Zaum zu halten. Lautstark miteinander streitend stürmten die Kinder in die Wohnung. Ihre Sachen waren total verdreckt, was Frau Biesing daran erinnerte, dass die Wäsche auch noch auf sie wartete. Die Kinder nahmen kaum Notiz von ihrer Mutter und versuchten, mit ihren schmutzigen Schuhen ins Kinderzimmer vorzudringen. Es folgte das Übliche.

Radabar hatte sich auf dem Marktplatz vor einem Café niedergelassen und beobachtete die Stadtbewohner. Alte Menschen schlurften vorbei, die ihm vermutlich nicht die Energie geben könnten, die er brauchte. Jugendliche trotteten in den Tag hinein und erzählten von ihren geplanten Vergnügungen. Radabar bezweifelte, dass sie dazu besonders große Energie aufbringen müssten. Vermutlich wären auch sie keine große Hilfe. Gestresste Erwachsene hetzten vorbei, die mit Einkäufen oder Terminen beladen waren. Sie wären sicher zu ausgelaugt, um noch freie Energiereserven zu haben.

Radabar kam zu keinem Entschluss. Er wartete auf etwas Besonderes, Menschen, die voller Kraft und starkem Willen waren. War für diese Suche der Marktplatz der geeignete Ort? Immer wieder schweifte Radabars Blick über die Menschen. Niemand schien ihm gut genug. War er vielleicht zu wählerisch? Radabar sah wie ein normaler, gemütlicher Opi aus. Sein freundliches Gesicht fand auf einem rundlichen Kopf Platz und dieser saß auf einem ebenso rundlichen Körper. Er war nicht fett, aber er stand gut im Futter. Das Einzige, was etwas auffällig wirkte, waren seine buschigen, weit hervorspringenden Augenbrauen. Es war ein angenehmer Nachmittag. Ein laues Lüftchen wehte, die Sonne wärmte den faul gewordenen Körper und der Geräuschpegel war erträglich, da in diesem Bereich keine Kraftfahrzeuge fahren durften. Ein spielerischer Brunnen sprudelte mit seinem Wasser aus vielen Öffnungen eine erfrischende, monotone Melodie. Ab und zu versenkte Radabar seinen Blick darin und genoss es, an nichts zu denken.

Doch er durfte seinen Plan nicht vergessen. Er benötigte die Energie der Menschen ganz dringend. Aber er hatte keine Ahnung, welche Art von Energie es sein müsste, die ihm helfen könnte. Es kam eine Gruppe Jugendlicher vorbei, die mit Sporttaschen behängt waren. Sie befanden sich offensichtlich auf dem Weg zur Trainingsstätte. Vielleicht war es das, was er suchte.

Radabar erhob sich und folgte, ohne Hast, dem kleinen Trupp von Jungen und Mädchen. Seine Vermutung war richtig. Ihr Weg führte sie in ein Fitnesscenter. Sie verfügten allesamt über eine Jahreskarte, was bedeutete, dass sie regelmäßig trainierten und nicht nur mal so aus einer Laune heraus. So etwas hatte er gesucht. Es kostete sicher viel Energie, kontinuierlich Sport zu treiben und dann noch freiwillig. Die Jugendlichen steuerten den Squash-Bereich an. Wahrscheinlich hatten sie ihre Plätze reserviert. Das verkürzte Radabar die Wartezeit. Er beobachtete sie genau, denn er brauchte den Menschen, der den stärksten Kampfgeist und die größten Kraftreserven hatte. Keine Sekunde ließ er die Spielenden aus den Augen.

„Pass auf, Opa, dass dir nicht die Augen raus fallen!“

Radabar sah überrascht zu dem Mädchen auf, das ihn vorwurfsvoll anblickte. Er wollte möglichst nicht auffallen und zog sich wortlos zurück. Seine Entscheidung war ohnehin schon gefallen.

Vor dem Ausgang wartete er auf sein Opfer, das ihn mit der so dringend benötigten Energie versorgen sollte. Die konnte er ihm allerdings nur in seinem Reich unter dem Wald entziehen. Hier wäre es zu auffällig. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Jugendlichen wieder erschienen. Radabar hörte, dass sie sich noch etwas zusammensetzen wollten. Es war ein kleiner Biergarten, der zum Treffpunkt erkoren wurde. Jetzt musste Radabar handeln. Er nahm den Jungen ins Visier, den er sich ausgesucht hatte, und schickte einen magischen Blick hinüber. Sofort änderte sich das Verhalten des Jungen. Soeben hatte er noch mit den Freunden gescherzt und plötzlich wirkte er steif und lustlos.

"Ich habe leider keine Zeit", sagte er, "muss noch was Dringendes erledigen."

Radabar begab sich zufrieden auf den Heimweg. Mit einem kleinen Abstand folgte ihm der Junge.

„Wo willst du denn hin?“, riefen ihm seine Freunde hinterher, aber er reagierte nicht.

Frau Biesing hatte vorausgesehen, dass Mark und Claas auf ihre Vorwürfe nur maulige und patzige Antworten geben würden. Wie so oft, hatten sie behauptet, keine Hausaufgaben bekommen zu haben und doch fand sie in ihren Heften wieder mal einen Eintrag, mit Aufgaben, die für die Schule zu erledigen waren. Widerwillig setzten sich die beiden daran, während die Mutter das Abendbrot auftischte. Die Stimmung am Tisch war gereizt. Die Kinder stritten sich ums Essen, nörgelten an sich herum, schubsten sich, schütteten ein Glas um und reagierten missgelaunt und frech auf die Ermahnungen der Mutter.

Die Frage des Abräumens brachte erneuten Streit um die Zuständigkeit, bis Frau Biesing laut wurde und ihn beendete. Mark bekam den Auftrag. Er empfand es, wie alles, was sie aufgetragen bekamen, als Strafe. Dementsprechend widerwillig führte er es aus, während Claas schadenfreudig grinste. Beim Abwasch wiederholte sich das. Niemand war bereit, zu helfen, was Frau Biesing keineswegs überraschte. Sie hatte nicht mehr die Kraft, einen erneuten Streit zu ertragen und scheuchte die Kinder ins Bad, um sich fürs Bett fertigzumachen. Die Bitte, dass sie zeitlich versetzt gehen sollten, überhörten sie, so dass nach kurzer Zeit abermals lautstarke Streitereien zu hören waren. Erneut musste Frau Biesing eingreifen und wieder gab es schlechte Laune auf allen Seiten.

Die meisten Tage verliefen so. Wie sehr sehnte sich Frau Biesing nach etwas Entspannung, nach Freude, nach schönen Stunden mit ihren Kindern. Sie gab sich selbst die Schuld, da sie nicht genug Zeit hatte, sich um die Kids zu kümmern. Aber sie brauchte diese Arbeit, um die Wohnung bezahlen zu können. Sie musste sich mit den ständigen Überstunden abfinden. Es gab keinen anderen Weg. Es war ein Problem, das sie nicht lösen konnte. Die paar Minuten, die sie in der Woche für die Kinder übrig hatte, waren so mit Pflichten angefüllt, dass es kaum ein liebes Wort zwischen ihnen gab.

Endlich waren die Kinder im Bett. Zum Glück hatte jeder sein eigenes Zimmer. Ein Luxus, den sie sich leistete, um die angespannte Situation wenigstens etwas erträglicher zu gestalten. Diese Zeit war die, aus der sie ihre Kraft schöpfte. Der Gang ans Bett der Kinder bildete täglich den Abschluss. Allein, in den wärmenden Federn waren sie wie ausgewechselt. Sie warteten auf den Gute-Nacht-Kuss der Mutter. Es gehörte zu ihrem Leben wie der regelmäßige Herzschlag. Es war eine kleine Portion Wärme, die alle zusammenhielt und es war ein abschließendes Gespräch, um die letzten Minuten vergessen zu machen.

Der erste Gang führte sie immer zu Claas, dem Jüngeren. Er war schon 9 Jahre alt. Er liebte es, wenn die warme Hand seiner Mutter durch seine Haare strich. In diesen Momenten konnte er mit ihr über alles reden. Er klagte sein Leid über seinen Bruder und er räumte auch seine eigenen Fehler ein. Er spürte die Traurigkeit seiner Mutter und er versprach Besserung, wie er es schon oft getan hatte. Frau Biesing klammerte sich an das Versprechen und wusste doch, dass es nichts Wert war. Sie tauschten ein paar letzte liebe Worte aus und beendeten dieses Ritual durch einen Kuss.

Bei Mark, dem 12-jährigen Bruder, lief dieser Besuch am Bett ähnlich ab. Mit ihm konnte man schon etwas größere Probleme besprechen und seine Versprechungen hielten ein wenig länger vor, waren dafür aber seltener. Auch bei ihm spürte sie, dass sie geliebt wurde und wenn sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, übermannte sie ein kurzes Glücksgefühl, bis ihr Blick auf die herumliegenden Sachen der Kinder fiel.

Dann raffte sie sich auf und bepackte die Waschmaschine, um später vor dem Fernseher einzuschlafen.

Radabar hatte den Wald erreicht. Der Junge lief kurz hinter ihm. Immer wieder hatte sich Radabar umgesehen, ob ihnen jemand folgt. Der seltsame Blick des Mädchens, der ihn schon bei seinen Beobachtungen beim Squash-Spiel gestört hatte, hing abermals an ihm, als er mit dem Jungen dessen Freunde verließ. Er wählte extra einen Umweg über ein großes, freies Feld, das jeden Verfolger preisgegeben hätte. Ihm war nichts Verdächtiges aufgefallen. Eine Stunde Fußweg durch den Wald lag vor ihm. Es war noch hell und er mit dem Wald vertraut. Er achtete auf jedes Geräusch, auf jede Bewegung. Nichts durfte sein Geheimnis verraten, sonst müsste er seine mühsam errichtete Welt zerstören. Momentan könnte er die Energie dafür nicht mehr aufbringen, sie an anderer Stelle neu aufzubauen. Umso notwendiger war es, sich der Energie dieses Jungen zu bemächtigen.

Dann hörte er ein Knacken. Ein kurzes Geräusch, das das Brechen eines auf dem Boden liegenden, morschen Astes bekannt gab.

Sein Freund der Wald hatte ihn rechtzeitig gewarnt. Sein Blick schnellte in die Richtung, aus der das verräterische Knacken gekommen war. Er erfasste flüchtig einen Schatten, der hinter dem mächtigen Stamm einer Eiche verschwand. Es konnte nur dieses Mädchen sein. Sie hatte vermutlich das Ziel ihres Ausfluges erahnt. Nur so war es möglich, ihnen den Weg abzuschneiden. Erfreulicherweise waren sie von seiner unterirdischen Welt noch weit entfernt.

Radabar hielt nach den Tieren des Waldes Ausschau. Die meisten hatten sich zurückgezogen. Nur in den Wipfeln der Bäume waren ein paar Vögel zu entdecken. Eine Eule hielt im Schatten einer Baumkrone ihren Tagesschlaf und ein Specht hatte seine Nahrungssuche unterbrochen, um die Störenfriede zu begutachten. Das sollte genügen.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er einen Spruch murmelnd, seine Befehle zu den beiden Vögeln sandte. Diese setzten sich sofort in Bewegung um einen direkten Angriff auf den Verfolger zu starten, der sich hinter der Eiche in Sicherheit wiegte. Bald kündete ein schriller Schrei und brechendes Holz davon, dass der Eindringling auf der Flucht war.

Radabars Ahnung hatte sich bestätigt. Er erkannte in der Flüchtigen das Mädchen aus der Stadt. Sein Lachen schallte durch den Wald und ließ sie noch schneller laufen. Er war froh, dass er nicht sie als Energiespender auserwählt hatte. Wer sich schon von so kleinen Schwierigkeiten aufhalten ließ, konnte nicht über ausreichende Energie verfügen. Aber das Mädchen stellte eine weitere Gefahr dar. Sie würde die Polizei alarmieren. Falls es eine Suchaktion nach dem Jungen geben würde, durfte er selbst für Spürhunde keine Spur hinterlassen. Erneut konzentrierte er sich und sprach seine Zauberworte. Gleich darauf hoben beide vom Boden ab, als hielte sie ein Kraftfeld in der Schwebe und sie bewegten sich in aufrechter Haltung, mit beachtlicher Geschwindigkeit vorwärts. Geschickt wich Radabar jedem Hindernis aus, so dass sie kurze Zeit später bei seinem Reich ankamen.

Wieder kontrollierte er angespannt die Umgebung. Die Luft war rein. Sie standen vor einer riesigen Buche. Auf einem der höchsten Äste saß eine Waldohreule, die aufmerksam auf die Ankömmlinge hinunter spähte. Sie war Radabars Wächter und Türöffner zugleich. Nachdem er ihr die Worte „Öffne dein Ohr und dann das Tor“ zugerufen hatte, flog die Eule auf einen etwas tieferliegenden Ast.

Sie drehte ihren Kopf und fragte:

„Auf vier stehst du, was kommt dazu?“

Radabar antwortete: „Drei“.

Daraufhin zog die Eule mit dem Schnabel an einem Ring, der den Öffnungsmechanismus in Gang setzte. Der gesamte Baum verschob sich und gab eine nach unten führende Treppe frei.

Kaum war Radabar mit seinem Opfer hinab gestiegen, verschloss sich die Öffnung automatisch. Jetzt war er in Sicherheit. Bis zu seinem Häuschen war es noch weit. Es lag am Ende seiner künstlich angelegten Welt. Hier würde er zu seiner Ruhe zurückfinden und bald würde er auch seine alte Lebenskraft zurückbekommen.

Radabar verzichtete in seiner Welt bewusst auf unnötige Zaubereien, obwohl er sie ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen könnte. Alles, was er brauchte, war bereits gezaubert. Hier wünschte er keine Hektik. Er genoss den Spaziergang zu seinem Häuschen. Heute war ihm nach Unterhaltung, vielleicht auch, um ein wenig anzugeben.

Dafür hatte er seinen unfreiwilligen Besuch im Schlepptau. Er befreite den Jungen von seinem Bann, der sich augenblicklich in eine eigentümliche Welt versetzt sah.

Radabars Welt

Der Junge hatte gerade noch mit seinen Freunden gesprochen und befand sich nun in einer seltsamen Landschaft, ohne zu wissen, wie er hier her gekommen war. Neben ihm stand ein lustig grinsender Opa mit riesigen, struppigen Augenbrauen.

„Wo bin ich?“, fragte er ihn, während er sich langsam im Kreis drehte, um seine gesamte Umgebung zu erfassen.

"Du bist zuhause."

Radabar genoss die Hilflosigkeit des Jungen.

„Was ist das für eine Treppe? Wieso führt sie nur bis zu Decke und nicht zu einem Ausgang?“

„Es gibt keinen Ausgang. Du bist durch einen dummen Zufall in diese Welt gestürzt, genau wie ich vor vielen Jahren und niemand weiß, wie wir hier wieder hinauskommen.“

Radabar log, um ihn bei Laune zu halten. Er hasste Streit. Mit einer Lüge, die der Junge verstehen würde, käme er viel besser an sein Ziel. Zum anderen sehnte er sich nach etwas Gesellschaft, die er nur hatte, wenn er seinen Gast bei Bewusstsein hielte.

„Aber ich kenne mich hier schon ganz gut aus. Es geht einem nicht schlecht hier unten. Vor allem ist es ruhig und friedlich.“

„Ich brauche keine Ruhe. Ich will zurück zu meinen Freunden“.

Er lief die Treppe hinauf und versuchte, eine Stelle zu entdecken, die ihm einen Weg in die Freiheit weisen könnte.

„Es ist zwecklos“, beschwichtigte ihn Radabar. „Ich habe das Ding schon tausendmal untersucht. Wenn es einen Weg nach draußen gäbe, hätte ich ihn schon gefunden.“

Der Junge gab auf. Enttäuscht folgte er dem alten Mann.

Obwohl keine Sonne schien, war es taghell. Das Licht wirkte etwas gedämpft und ließ die Natur in seltsamen Farben erstrahlen, die er irgendwie unwirklich, aber doch als schön empfand.

Es duftete nach Wald. Es sah auch so aus, als befänden sie sich in einem Wald, durch den ein gepflegter Weg führte. Aber diese Pflanzen hatte er niemals auf der Erde gesehen. Es war wie in einer Fantasiewelt. Der Ärger über seine verlorene Welt war der Neugier gewichen.

Wie im Traum wandelte er durch das Spalier von verkrüppelten Bäumen, die dennoch natürlich aussahen und mit frischen, grünen Blättern bewachsen waren. Die Äste krümmten und verzweigten sich häufiger, als die heimischen auf der Erde. Sogar Früchte wuchsen an einigen von ihnen, die ihm genauso unbekannt waren.

Bereitwillig erklärte ihm Radabar, welches die Köstlichsten seien, und bald fühlte sich der junge Mann so wohl, dass er Lust auf den Rest der Welt bekam. Viele Vögel saßen in den Bäumen und trällerten ihr Lied. Seltsamerweise zeigten sie keinerlei Scheu und einige sprangen sogar auf seine Schulter, um ihn willkommen zu heißen.