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Berlin, Anfang des 20. Jahrhunderts: In den engen Hinterhöfen und kalten Mietskasernen kämpfen Menschen ums Überleben – um Liebe, Anerkennung und ein Stück Glück. Frau John, kinderlos und voller Sehnsucht nach Familie, nimmt das Neugeborene einer verzweifelten jungen Frau zu sich. Was als Rettung beginnt, wird zum Abgrund: aus Mitgefühl wird Besitz, aus Hoffnung Wahn. In dieser modernen Nacherzählung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" entfaltet sich ein packendes Drama über Täuschung, soziale Ungerechtigkeit und die Schattenseiten menschlicher Sehnsucht – eindringlich erzählt, emotional nah und sprachlich zeitgemäß.
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Seitenzahl: 74
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Die Ratten - Kein Drama nach Gerhart Hauptmann
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Table of Contents
Kapitel 1: Hinterhof-Träume
Kapitel 2: Der Student im Dachboden
Kapitel 3: Glanz und Elend
Kapitel 4: Ein Kind für die Kinderlose
Kapitel 5: Verzweiflung einer Mutter
Kapitel 6: Der Dieb und sein Gewissen
Kapitel 7: Verhandlungen im Schatten
Kapitel 8: Theater der Illusionen
Kapitel 9: Mutterglück auf Zeit
Kapitel 10: Zwischen den Welten
Kapitel 11: Der Preis der Lüge
Kapitel 12: Gewissensbisse
Kapitel 13: Die Rückkehr
Kapitel 14: Zerbrochene Träume
Kapitel 15: Die Wahrheit kommt ans Licht
Kapitel 16: Der letzte Akt
Kapitel 17: Wahnsinn und Verzweiflung
Kapitel 18: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff
Epilog
Impressum neobooks
Die Ratten
Der Morgen kroch grau über die Dächer Berlins. In den Hinterhöfen der Ackerstraße hing der Geruch von Kohle und feuchter Wäsche wie ein unsichtbarer Vorhang zwischen den rußgeschwärzten Mauern. Es war kurz nach vier, und Henriette John stand bereits seit einer Stunde am Waschzuber, ihre Hände rot und aufgequollen vom heißen Seifenwasser.
Sie rieb mechanisch über den groben Stoff eines Hemdes, während ihre Gedanken wanderten. Wieder diese Nacht. Wieder hatte sie von einem Kind geträumt – einem kleinen Jungen mit Pauls dunklen Augen und ihrem eigenen Lächeln. Beim Aufwachen war da nur die kalte Leere neben ihr gewesen und Pauls Schnarchen, das durch die dünnen Wände drang wie das Sägen an morschem Holz.
Verdammte Träume, murmelte sie und wrang das Hemd aus. Das Wasser spritzte auf die rissigen Pflastersteine, bildete kleine Pfützen, in denen sich der graue Himmel spiegelte.
Über ihr, im dritten Stock, ging ein Fenster auf. Der Student war wach. Spitta hieß er, Theologiestudent, zahlte pünktlich seine Miete – mehr konnte man in diesen Zeiten nicht verlangen. Ein anständiger junger Mann, auch wenn er manchmal seltsame Fragen stellte. Über Gott und Gerechtigkeit und warum die einen im Vorderhaus wohnten mit ihren Stuckdecken und Parkettböden, während die anderen hier hinten hausten, wo die Sonne nie hinkam.
Die Ratten. Henriette hasste sie. Nachts hörte sie sie in den Wänden, ein Kratzen und Scharren, als würden sie die Fundamente des Hauses Stück für Stück abtragen. Manchmal, in den schlimmsten Nächten, stellte sie sich vor, die Geräusche kämen von kleinen Kinderfüßen, die in den Mauern spielten. Verrückt, diese Gedanken. Aber was war in diesem Hinterhof nicht verrückt?
Sie hob den schweren Wäschekorb hoch, spürte das Ziehen in ihrem Rücken. Vierzig Jahre alt und ihr Körper fühlte sich an wie sechzig. Die Arbeit, die ewige Plackerei, das alles wäre erträglich, wenn... ja, wenn da etwas wäre, wofür es sich lohnte. Ein Kind. Ein einziges Kind.
"Frau John! Sind Sie schon wach?"
Die Stimme kam von oben. Bruno Mechelke, der Theologiekandidat aus dem zweiten Stock. Ein schmächtiger junger Mann mit ernstem Gesicht und Augen, die immer zu fragen schienen, auch wenn sein Mund schwieg.
"Wo sollte ich sonst sein um diese Zeit?", rief sie zurück, härter als beabsichtigt. "Die Wäsche wäscht sich nicht von allein."
"Entschuldigung, ich wollte nicht..." Seine Stimme verlor sich. Dann, nach einer Pause: "Könnten Sie vielleicht später zu mir hochkommen? Ich hätte da etwas zu besprechen."
Henriette seufzte. Wahrscheinlich wieder eine seiner theologischen Grübeleien. Oder er wollte ihr predigen, dass Gott einen Plan für jeden hatte. Als ob Gott je einen Blick in diese Hinterhöfe geworfen hätte.
"Wenn ich Zeit habe", antwortete sie knapp.
Das Fenster schloss sich wieder. Henriette wandte sich zurück zu ihrer Arbeit, aber die Routine war durchbrochen. Etwas lag in der Luft heute Morgen, etwas anderes als der übliche Gestank von Armut und Resignation. Eine Spannung, als würde die Stadt den Atem anhalten.
Aus der Toreinfahrt kam das Geräusch von Schritten. Schnelle, unsichere Schritte. Eine junge Frau erschien im Hof, den Mantel eng um sich gezogen, obwohl es für die Jahreszeit warm war. Sie war höchstens zwanzig, mit blassem Gesicht und dunklen Ringen unter den Augen. Ihr Blick huschte nervös umher, als suche sie etwas – oder als fliehe sie vor etwas.
"Entschuldigung", sagte die Fremde, und ihre Stimme klang, als hätte sie lange geweint. "Ich suche... man hat mir gesagt, hier wohnt eine Frau John?"
Henriette richtete sich auf, musterte die junge Frau. Der Mantel konnte nicht verbergen, was darunter war – der gewölbte Bauch sprach seine eigene Sprache.
"Das bin ich. Was wollen Sie?"
Die junge Frau trat näher, und jetzt sah Henriette die Verzweiflung in ihren Augen, nackt und roh wie eine offene Wunde.
"Mein Name ist Pauline. Pauline Piperkarcka. Ich... ich brauche Hilfe."
"Wenn Sie Arbeit suchen, kann ich Ihnen nicht helfen. Wir haben selbst kaum genug."
"Nein, es ist..." Pauline brach ab, presste eine Hand auf ihren Bauch. "Es geht um das hier. Um mein Kind."
Henriettes Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Sie zwang sich zur Ruhe, wischte die nassen Hände an ihrer Schürze ab.
"Was ist mit Ihrem Kind?"
"Ich kann es nicht behalten." Die Worte kamen hastig, überstürzt, als müsste Pauline sie aussprechen, bevor der Mut sie verließ. "Der Vater... es gibt keinen Vater. Ich meine, es gibt ihn, aber er ist weg. Nach Hamburg, aufs Schiff. Ich bin allein, verstehen Sie? Keine Familie, keine Arbeit mit diesem..." Sie deutete hilflos auf ihren Bauch. "Man hat mir gesagt, Sie wären eine gute Frau. Eine, die... die vielleicht..."
"Was hat man Ihnen gesagt?" Henriettes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Pauline sah sich um, als könnte jemand lauschen. Die Fenster der umliegenden Wohnungen starrten blind in den Hof, aber hinter jedem konnte sich ein neugieriges Gesicht verbergen.
"Dass Sie keine Kinder haben. Dass Sie... dass Sie vielleicht eines wollen würden."
Die Stille, die folgte, war so dicht, dass man das Tropfen des Wassers aus dem Wäschebottich hören konnte. Henriette spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog, ein Gefühl zwischen Hoffnung und Entsetzen.
"Kommen Sie mit", sagte sie schließlich. "Nicht hier. Die Wände haben Ohren."
Sie führte Pauline durch den dunklen Hausflur, vorbei an Türen, hinter denen das Leben der anderen brodelte – Kindergeschrei, Streit, das Klappern von Geschirr. Die Treppe knarrte unter ihren Schritten, als sie in den ersten Stock hinaufstiegen.
Die Wohnung der Johns bestand aus zwei Zimmern und einer winzigen Küche. Sauber, aber ärmlich, jeder Gegenstand erzählte von einem Leben am Rand. Henriette deutete auf einen Stuhl.
"Setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken? Ich habe nur Malzkaffee."
Pauline schüttelte den Kopf, sank auf den Stuhl. In dem dämmrigen Licht der Wohnung sah sie noch jünger aus, fast wie ein Kind selbst.
"Wann ist es soweit?", fragte Henriette.
"Zwei, vielleicht drei Wochen."
"Und Sie wollen es... weggeben?"
"Ich muss." Paulines Stimme brach. "Verstehen Sie denn nicht? Ich habe nichts. Keine Arbeit, kein Geld, keinen Mann. Was soll aus dem Kind werden? Auf der Straße? Im Waisenhaus?"
Henriette setzte sich ihr gegenüber, ihre Hände zitterten leicht. Zwanzig Jahre Ehe, zwanzig Jahre Hoffen und Beten, und jetzt saß die Antwort auf ihre Gebete vor ihr – oder war es eine Versuchung des Teufels?
"Was... was stellen Sie sich vor?"
Pauline holte tief Luft. "Ich gebe Ihnen das Kind. Nach der Geburt. Sie ziehen es auf, als wäre es Ihres. Ich verschwinde, gehe zurück nach Posen oder noch weiter weg. Niemand muss es wissen."
"Und was wollen Sie dafür?"
"Nur die Kosten. Für die Hebamme, für die Reise. Vielleicht... vielleicht hundert Mark, damit ich irgendwo neu anfangen kann."
Hundert Mark. Fast drei Monatsmieten. Aber was war das gegen ein Kind, ein eigenes Kind?
"Mein Mann...", begann Henriette.
"Muss es nicht wissen. Nicht sofort. Sie könnten sagen, Sie wären schwanger. Frauen in Ihrem Alter, das kommt vor. Und wenn das Kind da ist..."
"Dann ist es zu spät für Fragen." Henriette beendete den Satz. Die Logik war bestechend in ihrer Einfachheit. Und doch...
Draußen läuteten die Kirchenglocken. Sechs Uhr. Bald würde Paul aufwachen, würde sein Frühstück wollen, würde zur Baustelle gehen, wo er sich den Rücken krumm schuftete für ein paar Mark am Tag. Ein ehrlicher Mann, der ein ehrliches Leben führte. Und sie saß hier und überlegte, ihn zu betrügen.
Aber war es Betrug, wenn es aus Liebe geschah? Wenn es darum ging, endlich die Familie zu werden, die sie immer sein wollten?
"Ich muss darüber nachdenken", sagte sie schließlich.
Pauline nickte, stand auf. "Ich wohne im Asyl in der Brunnenstraße. Zimmer zwölf. Aber nicht mehr lange. Das Geld reicht nur noch für ein paar Tage."
Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um. "Es wäre gut versorgt bei Ihnen. Das sehe ich. Sie wären eine gute Mutter."
Dann war sie weg, und Henriette blieb allein zurück in der Stille ihrer kinderlosen Wohnung. Durch das Fenster fiel das erste richtige Tageslicht, beleuchtete den Staub, der in der Luft tanzte. Irgendwo in den Wänden scharrten die Ratten.