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Zwischen zwei Welten gefangen – zwischen Verlangen und Erlösung, Schuld und Sehnsucht. Tannhäuser, ein gefeierter Sänger, kehrt nach Jahren im verbotenen Reich der Venus zurück ins mittelalterliche Thüringen. Der Ruf nach Freiheit und Liebe lässt ihn nicht los: Im strengen Minnesänger-Wettstreit trifft er auf Elisabeth, die ihm Hoffnung und Vergebung verheißt. Doch alte Versuchungen und neue Feinde lauern überall. Diese Roman-Adaption von Wagners "Tannhäuser" verbindet ein historisches Setting mit moderner Sprache und bringt die zeitlosen Konflikte von Liebe, Reue und Identität packend ins Heute.
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Seitenzahl: 118
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Tannhäuser - Kein Drama nach Richard Wagner
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Table of Contents
Kapitel 1: Der Pilgerweg
Kapitel 2: Im Reich der Begierde
Kapitel 3: Die Umarmung der Göttin
Kapitel 4: Lieder des Erwachens
Kapitel 5: Der Ruf, das Paradies zu verlassen
Kapitel 6: Rückkehr ins Tal
Kapitel 7: Brüder im Gesang
Kapitel 8: Die Halle der Erinnerung
Kapitel 9: Elisabeths Freude
Kapitel 10: Der Wettstreit der Liebe
Kapitel 11: Der Weg nach Rom
Kapitel 12: Das Urteil
Kapitel 13: Der lange Weg zurück
Kapitel 14: Die letzte Pilgerschaft
Nachwort
Impressum neobooks
TANNHÄUSER
Der Morgen brach grau über die Hügel Thüringens. Nebel kroch aus den Tälern empor und verschluckte die Wipfel der Tannen, als wollte er die Welt in Watte packen. Irgendwo in dieser milchigen Stille bewegte sich eine Prozession den schmalen Pfad entlang, der sich wie eine Narbe durch den Wald zog.
Die Pilger kamen aus allen Himmelsrichtungen. Männer mit zerschlissenen Mänteln, deren Bärte von der Reise verfilzt waren. Frauen, die ihre Kinder auf den Armen trugen und dabei leise Gebete murmelten. Alte Menschen, die sich auf Stöcke stützten und bei jedem Schritt keuchten, als wäre es ihr letzter. Sie alle einte dasselbe Ziel: Rom, die heilige Stadt, wo der Papst höchstpersönlich ihre Sünden vergeben würde. Oder auch nicht.
An der Spitze des Zuges schritt ein Mann mittleren Alters, dessen Gesicht von tiefen Furchen durchzogen war. Er trug das grobe Gewand eines Büßers, doch seine Haltung verriet, dass er einst andere Kleider getragen hatte. Feinere Kleider. Er hieß Wilhelm und war vor drei Monaten noch Kaufmann in Erfurt gewesen, bis er seine Frau mit seinem Bruder im Bett erwischt hatte. Was danach geschah, daran wollte er nicht denken. Durfte nicht denken. Deshalb war er hier.
"Herr, erbarme dich unser", sang jemand weiter hinten, und die anderen fielen ein. Die Melodie war so alt wie die Berge selbst, getragen von einer Sehnsucht, die tiefer reichte als Worte. Wilhelm bewegte die Lippen, aber kein Ton kam heraus. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Der Weg wurde steiler. Links und rechts ragten Felsen empor, kahl und schroff, als hätte Gott selbst sie aus der Erde gerissen. Manche der Pilger begannen zu straucheln. Ein junges Mädchen, kaum sechzehn, fiel auf die Knie. Ihre Mutter half ihr auf, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen nickte und ging weiter, obwohl Blut durch den Stoff ihrer Schuhe sickerte.
Wilhelm beobachtete sie und fragte sich, welche Sünde ein so junges Geschöpf begangen haben mochte. Dann schüttelte er den Kopf. Es ging ihn nichts an. Jeder trug sein eigenes Kreuz auf diesem Weg.
Die Sonne stieg höher, kämpfte sich durch den Nebel. Plötzlich riss die Wolkendecke auf, und goldenes Licht flutete über die Landschaft. Vor ihnen lag ein Tal, so grün und friedlich, dass es wie eine Vision wirkte. In der Ferne konnte man die Türme einer Burg erkennen – die Wartburg, majestätisch auf ihrem Felsen thronend.
"Seht!", rief eine Frau. "Ein Zeichen!"
Aber Wilhelm sah etwas anderes. Dort, wo der Weg sich gabelte, stand eine Gestalt. Ein Mann in einem scharlachroten Mantel, der im Wind flatterte wie eine Flamme. Sein Gesicht war im Schatten einer Kapuze verborgen, doch Wilhelm spürte, dass der Fremde ihn ansah. Direkt ansah.
Die anderen Pilger schienen den Mann nicht zu bemerken. Sie zogen an ihm vorbei, als wäre er Luft. Nur Wilhelm blieb stehen, wie festgewurzelt.
"Du suchst Vergebung", sagte der Fremde, und seine Stimme war wie Samt und Stahl zugleich. "Aber was, wenn ich dir sage, dass es einen anderen Weg gibt?"
"Es gibt nur einen Weg", antwortete Wilhelm automatisch. "Den Weg des Herrn."
Der Fremde lachte leise. "Ach ja? Und wo war dein Herr, als du das Beil in die Hand nahmst? Als das Blut deines Bruders den Boden deiner Stube tränkte?"
Wilhelm wurde kreidebleich. "Wer bist du?"
"Jemand, der die Wahrheit kennt." Der Fremde trat einen Schritt näher. "Die Wahrheit über die Lüge, die man Erlösung nennt. Komm mit mir, und ich zeige dir eine Welt, in der es keine Sünde gibt. Nur Lust. Nur Leben."
"Verschwinde, Satan!"
Wieder dieses Lachen. "Satan? Nein, mein Freund. Ich bin nur ein Bote. Die Herrin wartet bereits auf dich."
"Welche Herrin?"
Aber der Fremde war verschwunden. Wo er gestanden hatte, lag nur ein roter Fetzen Stoff im Staub. Wilhelm bückte sich, hob ihn auf. Der Stoff fühlte sich warm an, fast lebendig, und duftete nach etwas, das er nicht benennen konnte. Nach Rosen vielleicht. Oder nach Blut.
"Wilhelm! Kommst du?"
Er drehte sich um. Die anderen Pilger waren schon ein gutes Stück voraus. Der alte Pater Franz winkte ihm zu, sein runzeliges Gesicht voller Sorge.
"Ja", rief Wilhelm zurück. "Ich komme."
Er steckte den Stofffetzen in seine Tasche und eilte den anderen nach. Doch mit jedem Schritt wurde das Gewicht in seiner Brust schwerer. Es war, als hätte der Fremde einen Samen in sein Herz gepflanzt, der nun zu keimen begann.
Am Abend erreichten sie eine kleine Kapelle am Wegesrand. Die Pilger drängten sich hinein, dankbar für das Dach über dem Kopf. Draußen hatte es zu regnen begonnen, ein kalter, gnadenloser Regen, der durch Mark und Bein ging.
Wilhelm kniete in der letzten Reihe, den Blick auf das hölzerne Kreuz über dem Altar gerichtet. Der geschnitzte Christus sah ihn mit leeren Augen an. Tot. Stumm. Gleichgültig.
"Vergib mir", flüsterte Wilhelm. "Bitte, vergib mir."
Keine Antwort. Nur das Trommeln des Regens auf dem Dach.
Neben ihm begann das junge Mädchen von heute Morgen zu weinen. Leise, unterdrückte Schluchzer, die sie hinter vorgehaltener Hand zu ersticken versuchte. Ihre Mutter legte ihr den Arm um die Schultern, zog sie an sich.
"Es wird alles gut", hörte Wilhelm sie sagen. "In Rom wird alles gut."
Aber würde es das? Wilhelm griff in seine Tasche, fühlte den roten Stoff zwischen seinen Fingern. Er war immer noch warm. Immer noch lebendig. Und plötzlich, für einen winzigen Moment, sah er etwas anderes als die trostlose Kapelle.
Er sah einen Garten. Einen Garten voller Blumen, die in Farben blühten, für die es keine Namen gab. Er hörte Musik, süßer als alles, was er je gehört hatte. Und er sah eine Frau, die schönste Frau der Welt, die ihm die Arme entgegenstreckte und lächelte.
"Komm zu mir", sagte sie, und ihre Stimme war wie flüssiger Honig. "Komm zu mir, mein Geliebter."
"Nein!" Wilhelm riss die Augen auf. Er war wieder in der Kapelle. Die anderen Pilger starrten ihn an. Er musste laut geschrien haben.
"Alles in Ordnung, mein Sohn?", fragte Pater Franz.
"Ja", log Wilhelm. "Nur ein böser Traum."
Der Pater nickte verständnisvoll. "Die Dämonen prüfen uns auf diesem Weg. Aber sei stark. Der Herr ist mit uns."
Wilhelm nickte, senkte den Kopf. Aber in seiner Tasche brannte der rote Stoff wie Feuer, und in seinem Herzen wuchs ein Verlangen, das stärker war als alle Gebete der Welt.
Die Nacht war lang und voller Schatten. Wilhelm lag auf dem harten Steinboden der Kapelle, umgeben von schnarchenden Pilgern, und starrte in die Dunkelheit. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sie wieder. Die Frau aus seiner Vision. Venus, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, auch wenn er nicht wusste, woher er den Namen kannte.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Leise, um niemanden zu wecken, stand er auf und schlich zur Tür. Draußen hatte der Regen aufgehört. Der Mond hing wie eine bleiche Sichel am Himmel und tauchte die Welt in silbriges Licht.
Wilhelm ging ein paar Schritte von der Kapelle weg, atmete die kühle Nachtluft ein. Sie roch nach nassem Laub und Erde. Nach Leben. Nach Freiheit.
"Du kannst nicht schlafen."
Er fuhr herum. Hinter ihm stand das junge Mädchen, in eine Decke gehüllt. Ihre Augen glänzten im Mondlicht wie die einer Katze.
"Du auch nicht", stellte er fest.
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe Angst."
"Vor der Reise?"
"Vor dem, was am Ende wartet." Sie trat näher, und er sah, dass sie geweint hatte. "Was, wenn der Papst Nein sagt? Was, wenn Gott mir nicht vergibt?"
Wilhelm wusste nicht, was er antworten sollte. Er dachte an den roten Stoff in seiner Tasche, an die Frau in seiner Vision. An einen Ort ohne Sünde, ohne Schuld.
"Es gibt immer einen anderen Weg", hörte er sich sagen.
Das Mädchen sah ihn verwirrt an. "Was meinst du?"
Aber bevor er antworten konnte, ertönte ein Geräusch aus dem Wald. Ein Singen, leise und lockend. Eine Melodie, die älter war als die Kirche, älter als Rom, älter als die Welt selbst.
"Hörst du das?", fragte das Mädchen.
Wilhelm nickte. Das Singen wurde lauter, schöner. Es zog ihn an wie ein unsichtbares Seil.
"Wir sollten nachsehen", sagte er.
"Nein." Das Mädchen wich zurück. "Meine Mutter sagt, nachts sind böse Geister unterwegs."
"Oder gute", entgegnete Wilhelm. "Vielleicht sind es Engel."
Aber er wusste, dass es keine Engel waren. Er wusste es, und trotzdem – oder gerade deswegen – machte er einen Schritt in Richtung Wald. Dann noch einen.
"Warte!", rief das Mädchen. "Geh nicht!"
Er drehte sich um, sah sie ein letztes Mal an. Dieses Kind, das vor seinen Sünden floh, während er den seinen entgegenging.
"Sag ihnen, ich bin weitergezogen", sagte er. "Nach Rom. Allein."
Dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Der Wald war anders in der Nacht. Lebendiger. Die Bäume schienen zu atmen, die Schatten zu tanzen. Und überall war diese Musik, die ihn tiefer und tiefer hineinzog.
Wilhelm wusste nicht, wie lange er ging. Die Zeit schien ihre Bedeutung verloren zu haben. Irgendwann lichtete sich der Wald, und er stand am Eingang einer Höhle. Aus ihrem Inneren strömte warmes, goldenes Licht.
Er zögerte. Dies war der Moment der Entscheidung. Er konnte noch umkehren, zu den Pilgern zurückkehren, seinen Weg nach Rom fortsetzen. Buße tun. Um Vergebung betteln. Sterben als gebrochener Mann.
Oder er konnte hineingehen und herausfinden, was auf der anderen Seite wartete.
Der rote Stoff in seiner Tasche pulsierte wie ein zweites Herz.
Wilhelm holte tief Luft. Dann betrat er die Höhle.
Das Licht umfing ihn wie warmes Wasser. Die Musik schwoll an, wurde zu einem Rauschen, das seinen ganzen Körper durchdrang. Und dann sah er sie.
Sie saß auf einem Thron aus lebendem Stein, umgeben von Geschöpfen, die halb Mensch, halb Traum waren. Ihr Haar floss wie flüssiges Gold über ihre Schultern. Ihre Haut schimmerte wie Perlmutt. Und ihre Augen – ihre Augen waren grün wie der tiefste Wald, und in ihnen lag ein Versprechen, das älter war als die Zeit.
"Willkommen", sagte Venus, und ihre Stimme war die Musik selbst. "Ich habe auf dich gewartet."
Wilhelm fiel auf die Knie. Nicht aus Ehrfurcht, sondern weil seine Beine ihn nicht mehr trugen. Alles, woran er geglaubt hatte, alles, was er gewesen war, löste sich auf wie Nebel in der Morgensonne.
"Wer bin ich?", fragte er.
Venus lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. "Das, mein Liebster, werden wir gemeinsam herausfinden."
Er nahm ihre Hand.
Und in diesem Moment, als ihre Finger sich berührten, wusste Wilhelm, dass es kein Zurück mehr gab. Der Pilger war tot.
Was aus seiner Asche aufsteigen würde, das würde die Welt Tannhäuser nennen.
Die Höhle war keine Höhle.
Das begriff Wilhelm – nein, Tannhäuser, wie sie ihn hier nannten – in dem Moment, als er die Schwelle überschritt. Was von außen wie ein schmaler Spalt im Felsen ausgesehen hatte, öffnete sich zu einer Welt, die den Gesetzen der Physik spottete. Die Decke wölbte sich so hoch über ihm, dass sie sich in schimmerndem Dunst verlor. Die Wände waren nicht aus Stein, sondern aus etwas Lebendigem, das pulsierte wie die Innenseite eines gewaltigen Herzens.
Überall war Licht, aber es kam von keiner erkennbaren Quelle. Es schien aus der Luft selbst zu strömen, golden und warm, und es schmeckte süß auf der Zunge. Ja, schmeckte – denn hier unten vermischten sich die Sinne auf eine Weise, die Tannhäuser schwindelig machte. Er hörte Farben, sah Musik, fühlte Düfte auf seiner Haut.
"Komm", sagte Venus, und ihre Stimme war überall. In seinen Ohren, in seiner Brust, in seinem Blut. "Lass mich dir mein Reich zeigen."
Sie führte ihn durch Säle, die sich mit jedem Schritt zu verändern schienen. Einmal gingen sie durch einen Garten, in dem Bäume aus Kristall wuchsen und Früchte trugen, die wie kleine Sonnen leuchteten. Dann wieder fanden sie sich in einer Bibliothek wieder, deren Bücher aus lebendem Fleisch waren und Geschichten erzählten, die noch nicht geschrieben worden waren.
Überall waren Gestalten, die Tannhäuser nicht einordnen konnte. Manche sahen aus wie Menschen, nur schöner, perfekter, als hätte jemand alle Makel wegradiert. Andere waren eindeutig keine Menschen – Wesen mit zu vielen Gliedmaßen oder zu wenigen, mit Gesichtern, die sich ständig veränderten, mit Körpern aus Rauch oder Wasser oder purem Licht.
"Meine Kinder", erklärte Venus mit einem Lächeln, das gleichzeitig mütterlich und raubtierhaft war. "Die Vergessenen. Die Verbannten. Die, die nicht in eure kleine Welt dort oben passen."
Eine Frau – oder etwas, das wie eine Frau aussah – tanzte an ihnen vorbei. Ihr Körper war nackt bis auf Schleier aus Spinnweben, und wo ihre Füße den Boden berührten, sprossen Blumen aus dem Stein. Sie lachte, und es klang wie zerbrechendes Glas.
"Das ist Arachne", sagte Venus. "Die Weberin. Die Götter dort oben haben sie in eine Spinne verwandelt, weil sie es wagte, schöner zu weben als sie. Hier unten darf sie sein, was sie will."
Tannhäuser konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie war grauenhaft und wunderschön zugleich, und etwas in ihm wollte gleichzeitig wegrennen und sie berühren.
"Du gewöhnst dich daran", sagte Venus, als könnte sie seine Gedanken lesen. Wahrscheinlich konnte sie das. "Die Schönheit hier unten ist anders als die dort oben. Ehrlicher. Roher. Ohne die Lügen, die ihr Moral nennt."
Sie kamen in einen Saal, der größer war als alle anderen. In seiner Mitte sprudelte ein Brunnen, aber statt Wasser floss etwas Dickeres, Dunkleres daraus. Es roch nach Wein und Blut und etwas, das Tannhäuser nicht benennen konnte.
"Trink", befahl Venus.