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Sechs Menschen tauchen plötzlich während einer Theaterprobe auf – ungebeten, unbegreiflich, verzweifelt. Sie behaupten, Figuren zu sein: unvollendet, vergessen, von ihrem Autor verlassen. Sie wollen ihre Geschichte zu Ende erzählen – koste es, was es wolle. Zwischen Bühne und Wirklichkeit verschwimmen die Grenzen: Wer spielt hier wen? Wer bestimmt über Wahrheit, Schuld und Identität? Diese moderne Adaption von Luigi Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" bringt das zeitlose Spiel mit Realität und Fiktion in ein frisches, emotionales Erzählgewand. Ein Roman über Selbstfindung, Wahrheit und die Macht des Erzählens – intensiv, irritierend, faszinierend.
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Seitenzahl: 60
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Sechs Personen suchen einen Autor - Kein Drama nach Luigi Pirandello
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Table of Contents
Kapitel 1: Die Ankunft der Sechs
Kapitel 2: Die Masken fallen
Kapitel 3: Die Mutter schweigt
Kapitel 4: Theater im Theater
Kapitel 5: Die Masken zerbrechen
Kapitel 6: Das unmögliche Ende
Epilog: November 1922
Nachwort des Erzählers
Impressum neobooks
Sechs Personen suchen einen Autor
Eine Geschichte über die Grenzen zwischen Kunst und Leben, erzählt im Rom der 1920er Jahre – einer Zeit, in der alte Gewissheiten zerbrachen und neue Wahrheiten noch nicht geboren waren.
Der Morgen kroch grau durch die hohen Fenster des Teatro Argentina, als hätte er sich durch die schweren Samtvorhänge kämpfen müssen. Direktor Enrico Salvini stand auf der leeren Bühne und betrachtete die Schatten, die sich zwischen den Kulissen sammelten wie vergessene Erinnerungen. In drei Stunden würde hier die Probe beginnen – wieder einmal Goldonis Diener zweier Herren, ein Stück, das er so oft inszeniert hatte, dass er die Dialoge rückwärts hätte aufsagen können.
Immer dasselbe, dachte er und rieb sich die müden Augen. Die Menschen wollen lachen, während draußen die Welt in Scherben liegt.
Er war früh gekommen, wie immer in letzter Zeit. Zu Hause wartete nur die Stille einer Wohnung, in der seine Frau vor zwei Jahren an der Spanischen Grippe gestorben war. Das Theater war sein einziges Zuhause geworden – diese alte Dame aus Marmor und Samt, die nach Staub und Schminke roch und deren Herzschlag das Knarren der Dielen war.
Die Stadt erwachte langsam. Durch die angelehnte Bühnentür hörte er das Rattern der ersten Straßenbahnen, das Rufen der Zeitungsjungen: "Il Popolo d'Italia! Mussolinis Marsch auf Rom!" Die Politik drang überall ein, selbst hier, in seinem Heiligtum der Kunst. Gestern hatte ihm der Theaterbesitzer nahegelegt, vielleicht ein "patriotischeres" Stück aufzuführen. Als ob Goldoni nicht italienisch genug wäre, hatte Enrico bitter gedacht.
"Maestro Salvini?"
Die Stimme des Pförtners riss ihn aus seinen Gedanken. Der alte Giuseppe stand im Bühneneingang, die Mütze in der Hand.
"So früh schon hier, Giuseppe?"
"Verzeihen Sie, Maestro, aber..." Der Pförtner zögerte, drehte die Mütze zwischen seinen knorrigen Fingern. "Da sind Leute. Sie sagen, sie müssten Sie dringend sprechen. Wegen der Probe."
"Um diese Zeit?" Enrico sah auf seine Taschenuhr. Halb neun. Die Schauspieler würden frühestens um zehn eintrudeln. "Sind es die neuen Statisten?"
"Nein, Maestro. Es sind..." Giuseppe suchte nach Worten. "Seltsame Leute. Sechs an der Zahl. Eine Familie, glaube ich. Sie stehen seit einer Stunde vor dem Bühneneingang und warten."
Eine Familie? Enrico runzelte die Stirn. Vielleicht Bittsteller, die Arbeit suchten. Davon gab es viele in diesen Tagen – zu viele. Die Wirtschaft lag am Boden, die Lira war nichts mehr wert, und überall streikten die Arbeiter oder prügelten sich die Schwarzhemden mit den Sozialisten.
"Schick sie weg", sagte er müde. "Wir haben keine Stellen frei."
"Das habe ich versucht, Maestro. Aber der Mann – der Vater, nehme ich an – er besteht darauf, dass es um etwas anderes geht. Um ein Stück, sagt er. Ein Stück, das geschrieben werden muss."
Enrico seufzte. Jeder zweite Mensch in Rom glaubte, ein unentdeckter Dramatiker zu sein. "Sag ihm, er soll sein Manuskript bei meiner Sekretärin abgeben."
"Er hat kein Manuskript, Maestro. Er sagt..." Giuseppe senkte die Stimme, als fürchte er, belauscht zu werden. "Er sagt, sie seien das Stück."
Eine Gänsehaut kroch Enricos Arme hinauf. Es war kalt im Theater, ja, aber das war es nicht. Etwas in Giuseppes Ton, in der Art, wie das Morgenlicht plötzlich zu flackern schien...
"Bring sie herein", hörte er sich sagen.
Giuseppe nickte und verschwand. Enrico blieb allein auf der Bühne zurück. Die Stille war anders jetzt – erwartungsvoll, als hielte das Theater selbst den Atem an. Er ging zur Rampe und blickte in den dunklen Zuschauerraum. Achthundert leere Sitze starrten ihn an wie Augen.
Was machst du da, fragte er sich. Du hast keine Zeit für Verrückte. Aber seine Füße blieben wie angewurzelt stehen.
Schritte erklangen im Gang – sechs Paar Füße, die nicht im Gleichschritt gingen, sondern in einem seltsamen, gebrochenen Rhythmus. Dann traten sie ein.
Zuerst sah er nur Schatten – sechs dunkle Gestalten, die sich gegen das Gegenlicht abzeichneten. Als sie näherkamen, wurden Details sichtbar: Ein Mann mittleren Alters in einem abgetragenen, aber einst eleganten Anzug. Eine Frau in Schwarz, deren Gesicht hinter einem Schleier verborgen war. Ein junger Mann, vielleicht zwanzig, der sich absichtlich im Hintergrund hielt. Ein Mädchen – nein, eine junge Frau – in einem Kleid, das zu eng war und zu viel preisgab. Und zwei Kinder, ein Junge und ein kleines Mädchen, die sich an die Frau in Schwarz klammerten.
Sie blieben am Bühnenrand stehen und warteten. Niemand sprach.
Schauspieler, dachte Enrico sofort. Das müssen Schauspieler sein. Aber dann sah er genauer hin. Ihre Kostüme – wenn es denn Kostüme waren – zeigten echte Abnutzung, nicht die künstliche Patina der Theatergarderobe. Und ihre Gesichter...
Die Gesichter trugen eine Schwere, die kein Schauspieler so perfekt hätte spielen können. Es war die Schwere von Menschen, die zu viel erlebt hatten, die von ihrer eigenen Geschichte erdrückt wurden.
"Signor Salvini?" Der Mann trat vor. Seine Stimme war kultiviert, aber brüchig, wie ein Instrument, das zu lange nicht gestimmt wurde. "Verzeihen Sie die Störung. Mein Name ist..." Er stockte, als hätte er seinen eigenen Namen vergessen. "Das spielt keine Rolle. Wir sind hier, weil wir Ihre Hilfe brauchen."
"Wenn Sie Arbeit suchen—"
"Nein." Der Mann hob die Hand. "Wir suchen keine Arbeit. Wir suchen einen Autor."
Die junge Frau lachte – ein bitteres, schneidendes Geräusch. "Einen Autor! Als ob das so einfach wäre."
"Schweig", zischte der Mann.
"Warum sollte ich schweigen?" Sie trat vor, und im besseren Licht sah Enrico, dass sie schön war – auf eine harte, verzweifelte Art. "Wir warten schon so lange. Jahre! Und niemand will unsere Geschichte erzählen."
Verrückte, dachte Enrico. Eindeutig Verrückte. Aber er konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Es war etwas an der Art, wie sie im Raum standen – nicht wie Bittsteller, sondern wie... wie Schauspieler, die auf ihren Auftritt warteten.
"Welche Geschichte?", hörte er sich fragen.
Der Mann und die junge Frau sahen sich an – ein Blick voller Gift und gemeinsamer Qual.
"Unsere Geschichte", sagte der Mann einfach. "Die Geschichte einer Familie, die..." Wieder stockte er.
"Die sich selbst zerstört hat", vollendete die junge Frau. "Die an ihren eigenen Lügen erstickt ist. Die—"
"Genug!" Die Frau in Schwarz hob zum ersten Mal den Kopf. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie schnitt durch den Raum wie ein Messer. "Bitte. Nicht vor den Kindern."
Der kleine Junge, vielleicht acht Jahre alt, sah zu Enrico auf. Seine Augen waren leer – nicht die Leere der Kindheit, sondern die Leere von jemandem, der zu viel gesehen hat.
Ein Schauer lief Enrico über den Rücken. Was sind das für Menschen?
"Hören Sie", sagte er und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. "Ich verstehe nicht ganz, was Sie von mir wollen. Wenn Sie ein Stück geschrieben haben—"
"Wir haben kein Stück geschrieben", unterbrach der Mann. "Wir sind das Stück. Wir sind... Figuren."
"Figuren?"