Die Schmerzmacherin. - Marlene Streeruwitz - E-Book

Die Schmerzmacherin. E-Book

Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

Leute werden verschleppt, verschwinden, werden eingesperrt oder gefoltert. Amy arbeitet für einen privaten Sicherheitsservice, sie kann die Korruption und Gewalt nur ahnen, die sich als Abgrund hinter den geheimen Operationen abzeichnet. Als sie beschließt auszusteigen, gerät sie endgültig in die Fänge einer undurchsichtigen, aber brutalen Organisation. Amys Verlorenheit korrespondiert mit dem Ringen um die Wahrnehmung der Realität. Was kann sie glauben? Wer ist sie selbst? Und vor allem: Was passierte an dem Tag, an den sie sich nicht erinnern kann? Marlene Streeruwitz entwirft in ihrem meisterhaften Roman ein unheimliches und unvergessliches Szenario und fragt nach dem Ort des Individuums in einer zunehmend privatisierten Öffentlichkeit.

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Seitenzahl: 444

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Marlene Streeruwitz

Die Schmerzmacherin.

Roman

FISCHER E-Books

Dezember.

Noch nie waren so viele Raubvögel zu sehen gewesen. Die lange Kälte hatte sie aus den Wäldern herausgetrieben. Sie saßen auf den Pfosten der Feldbegrenzungen und in den Kronen der Obstbäume. Sie kauerten auf den Köpfen der Heiligenfiguren an den Brücken und auf den Kreuzen an den Weggabelungen. Bewegungslos hockten sie in der Wintersonne. Ihre Umrisse dunkle Drohungen vor den Schneefeldern und dem wolkenlosen Himmel. Nichts in Bewegung. Eis und Schnee und die Sonne und kalt. Das breite Tal und die Hügel am Rand. Alles weißglitzernd und der dünnblaue Himmel.

Sie musste langsam fahren. Sie war die Erste auf dem neuen Schnee. Sie fräste eine Spur in die glatte Schneedecke. Aber es gelang kein ruhiges Fahren. Unter dem Neuschnee der Nacht führten die alten Spuren aus Eis und gefrorenem Matsch ihre Räder. Im Rückspiegel sah es aus, als zöge sie eine gerade Spur. Das Fahren war aber ein Gerumpel. Ihr Auto wurde von den Rillen unter dem Schnee umhergeworfen. Sie hatte versucht, aus diesen Eisspuren herauszukommen. Sie hatte so fahren wollen, wie es aussah zu fahren. Gleiten. Sie hatte gleiten wollen. Gleiten so glatt wie der Schnee. Sie war dann ins Rutschen geraten und viel zu nah an die Böschung zum tiefen Straßengraben hinuntergekommen.

Sie fuhr langsam. Sie ließ das Auto dahinschleichen. Ließ die Räder sich selbst den Weg in den Rillen suchen. Sie saß vorgebeugt. Das Rumpeln und Schütteln gegen den Bauch und die Brust. Sie schaute hinaus. Schaute in die Schneeweite hinaus und wie das weiße Tal auf sie zukam und wie sie es durchschnitt. Wie das weiße Tal an ihr vorbeizog und zu beiden Seiten wegsank.

Den Bussard auf dem Brückengeländer hatte sie schon von weitem gesehen. Bei jedem Schlag gegen die Achsen. Bei jedem Knirschen der Räder in einer Querrinne. Sie dachte, der Vogel würde auffliegen. Wegfliegen. Flüchten. Sie begann zu blinzeln. Der Vogel würde sich abstoßen. Er würde die Flügel ausbreiten und wegstreichen. Sie blinzelte in der Erwartung, der Himmel vor ihrer Windschutzscheibe verdunkle sich und einen Augenblick würde dieser Vogel den Blick ausfüllen.

Wie dieser Vogel Wasser fände, dachte sie. Wenn doch alles in tiefem, tiefem Winterschlaf versunken war und das Wasser des Flüsschens unter der Brücke eine einzige dicke Eiswelle und Schnee angeweht darauf.

Der Bussard bewegte sich nicht. Der Bussard blieb auf dem Brückengeländer sitzen. Sie hatte den Fuß fast ganz vom Gas genommen. Ihr alter Kia schnurrte langsam über die Brücke. Sie schaute den Vogel an. Weit vorgebeugt drehte sie den Kopf nach links und schaute rechts hinauf den Vogel an. Die gelbschmutzigen Krallen waren um das Geländer geklammert. Hellbraun flockige Federn pludrig an den Fängen. Dunkelbraun fleckige Federn den Körper hinauf. Sie beugte sich noch weiter vor. Ihr Gesicht knapp an der Windschutzscheibe. Einen Augenblick. Der Vogel. Die Lider. Eine gelbe Iris war zu sehen und gleich wieder hinter wachsfarbenen Häuten verborgen. Der Vogel wandte sich ab. Während sie an ihm vorbeiholperte. Er drehte den Kopf zur Seite. Die Bewegung nur an den Federn am Hals wahrzunehmen und sein Umriss dann seitlich. Der abgewandte Kopf gleich wieder erstarrt. Die Augen abgewandt. Weggedreht. Nicht weggeflogen.

Sie ließ das Auto weiterfahren. Sie starrte vorne hinaus. Starrte sich in das Weiß fest. Sanft gestoßen und geschüttelt von den Bewegungen des Lenkrads. Ihr Schaffellmantel dämpfte die Stöße und Schläge. Der Motor stotterte, und der Wagen stockte. Sie ließ den Fuß gegen das Gaspedal sinken, und das Auto fuhr weiter. Sie ließ sich weitertragen. Dann schaltete sie in den Leerlauf und ließ das Auto auslaufen. Sie blieb über das Lenkrad geworfen und spürte die kleine Ungenauigkeit der Ventile im Rütteln des Motors. Das Auto stand still und vibrierte. Der Motor brummelte. Aber draußen. Sie blieb im Schauen.

Sie hatte die Sonne hinter sich. Vor ihr der Schnee. Alles schneebedeckt und glatt und glitzernd hell. Alles, was sie sehen konnte, weiß und weich und unter pudrigem Schnee. Die Straße weiter vorne schneebedeckt nicht mehr von den Feldern zu unterscheiden. Sie zog den rechten Handschuh aus und griff auf den Nebensitz. Sie tastete nach der Flasche. Drehte sich nicht aus dem Schauen weg. Die Flasche war eiskalt. Die Flasche war die ganze Nacht im Auto gelegen und so kalt wie draußen. Sie hielt die Flasche vor sich und drehte den Verschluss auf. Zum Trinken musste sie sich aber doch aufsetzen. Sie legte den Kopf zurück. Starrte ihre Wangen entlang weiter ins Weiß. Der Wodka eisig und weich im Mund. Sie hielt die Flasche in der Linken und schob die Rechte wieder in den Handschuh zurück. Sie trank wieder. Trank noch einmal. Trank wieder. Sie schaute hinaus und wartete auf den Alkohol. Sie hatte nichts gegessen. Nicht einmal ein Glas Wasser. Der Wodka das Allererste des Tages.

Der Wodka innen. Neuschnee, dachte sie und musste lächeln. Die Wärme und der kühle Nebel kamen dann freundlich. Keine Explosion im Magen oder dieser Knall im Hirn. Eine bleierne Freundlichkeit breitete sich aus. In ihr. Vom Magen weg füllte sich der Leib, und die Ungenauigkeit stieg in den Kopf und hinter die Stirn und hinter die Kehle und legte sich dann über sie.

Die weiße Welt rutschte weg. Sie lächelte. Das war schön. Sie schloss die Augen. Das Auto rund um sie vibrierte. Schaukelte sie. Ein wenig. Das Sonnenglitzern schmolz durch die geschlossenen Lider und füllte den Kopf. Sie musste lächeln. Sie saß jetzt tief am Grund der Schneewelt. Sie konnte sich sehen, wie der Bussard sie gesehen hätte. Ein kleines blaues Auto und winzig und irgendwo. In diesem langen, breiten Tal, in dem niemand anderer war als sie. Sie konnte sich sehen, wie sie in diesem Auto saß, und der Wodka in ihr ein kleiner kühler See in der Dunkelheit ihres Körpers.

Warum aber. Ihre Lider glitten auf, und sie schaute hinaus. Warum war dieser Vogel nicht geflogen. Warum war dieser Vogel nicht davongeflogen. Diese Bewegung. Dieses Abwenden. Diese Abwendung. War der erschöpft. Erschöpfung. Mühevoll hatte das ausgesehen. Mühe. Eine Anstrengung. Eine unendliche Anstrengung in dieser kleinen Bewegung und Verachtung. Der Vogel hatte sie verachtet. Er hatte sie nicht ansehen wollen. Nicht sehen. Er hatte sich abgewandt. Verächtlich abgewandt. War dieser Bussard nicht mehr fähig zu fliegen. War es so kalt. War dieser Bussard so ausgehungert. Hatte er so lange kein Wasser finden können. Sie und ihr kleines blaues Auto hatten an ihm vorbeituckern können, und er hatte sich nur abgewandt. Er war nicht geflüchtet und davon. Er hatte nicht flüchten können. Nicht davon und weg. Fliegen. Davonfliegen und im Flug. Über allem und frei. Das war traurig. Sie nahm die Flasche und trank wieder. Während der Wodka eiskalt über ihren Schlund floss. Vielleicht war sie dem Bussard nicht der Mühe wert gewesen. Vielleicht wusste der Bussard, dass in so einem kleinen blauen Kia keine gefährliche Person daherkam. Hatte sie den Vogel nicht genug erschrecken können und hätte sie hupen sollen und den Vogel vertreiben. Sie drehte sich um und starrte durch das Seitenfenster hinten zurück. Sie ließ sich aber gleich wieder in den Sitz fallen und nahm noch einen Schluck. Sie verschloss die Flasche sorgfältig und hielt sie mit dem Verschluss nach unten in die Höhe. Es rann nichts heraus. Sie legte die Flasche ins Handschuhfach. Sie musste sich jetzt konzentrieren.

Das mit dem Bussard und dass sie es nicht wert gewesen wäre. Das war schon die Sitzung. Das kam schon aus der Gruppensitzung um 10 Uhr und aus den Rollenspielen da. Sie schaute hinaus. Sie fühlte sich abgetrennt. Gleichzeitig ein Teil. Sie konnte sich von oben beobachten und zur gleichen Zeit der Schnee sein. You wish, dachte sie und lehnte sich vor den Rückspiegel. So schön wie dieser weiße weiche polstrige Schnee. So schön war niemand, und sie. Sie sah so aus wie immer.

Sie lehnte sich zurück. Sie sollte einen Strich an der Wodkaflasche machen. Eine Marke. Damit sie die Dosis wusste. Die genaue Menge, die ihr dieses schneeglatte Doppelgefühl gab. Die akkurate Menge, die sie so perfekt passiv machte. Sie seufzte. Sie würde diesen Strich nicht machen. Es wäre klug gewesen, aber sie machte solche Klugheiten nicht. Sie legte den ersten Gang ein. Es war nicht so wichtig. Solche Klugheiten legten einen fest, und sie musste ohnehin weitertrinken. Später. Damit sie alles richtig machte, musste sie weitertrinken. Authentisch. Sie war nur mit Alkohol authentisch. Sie konnte nur mit Alkohol authentisch sein, und niemand wollte Klugheit von ihr. Formbar. Das war gewollt, und an ihr war das angezweifelt worden. Also machte sie sich formbar, und mit dem Wodka tat es nicht weh. Mit dem Wodka wurde es noch richtig interessant.

Sie fuhr. Ließ sich fahren. Im zweiten Gang. Das Auto schlingerte langsam durch den Schnee. Sie saß zurückgelehnt. Ließ sich wackeln und rütteln. Am Ende des Tals dann die Landstraße und Schneefahrbahn. Dann die geräumte Straße zum compound und wieder Verkehr. Andere Autos. Lastwagen. Aber alles weit weg. Sie fuhr mit gestreckten Armen. Wie die Rennfahrer. Sie hielt das Lenkrad mit den gestreckten Armen weit von sich und lenkte das Auto wie diese kleinen Elektroautos im Prater, mit denen man gegeneinanderfuhr. Aber die hatten so breite Gummireifen rundum. Dann die Abbiegung nach Furth im Wald. Wieder Schneefahrbahn. Das Tor. Sie nestelte ihre Sicherheitskarte am Bändchen um den Hals aus dem dicken Mantel heraus und hielt sie an den scanner. Sie sah dem Tor beim Aufgleiten zu. Sie musste sich aus diesem Zusehen herausreißen und wieder schalten. Auf dem Parkplatz bremste sie zu stark. Der Motor starb ab, und sie fiel nach vorne gegen das Lenkrad.

Sie musste grinsen. Sie blieb über das Lenkrad geworfen und überlegte. War das Grinsen oder Lächeln. Sie dachte, dass sie grinste. Das auf ihrem Gesicht. Das Verzerren der Mundwinkel. So, wie sie es fühlte. Wie es sich anfühlte. Das war kein Lächeln. Lächeln. Das war absichtlich. Das war absichtlicher. Beim Lächeln. Lächeln entfernte einen von den hässlichen Dingen. Lächeln. Das machte. Unangreifbar machte das. Unberührt. Solange eine Person lächelte. So lange gehörte sie denen nicht. So wie sie eben. Sie grinste. Das war Grinsen. Sie durfte gar nicht lächeln. Wenn sie lächelnd in die Rezeption käme. Wahrscheinlich würde sie dann weggeschickt. Cindy würde sie sofort wegschicken. Cindy würde es sofort begriffen haben, dass sie sich wieder nicht voll in die Gruppe einbringen würde, und Cindy würde sie wegschicken. Cindy machte so etwas. Sie würde dann Gregory suchen gehen müssen und mit ihm reden, und er würde ein Gespräch organisieren. Sie müsste mit Cindy ein Gespräch führen darüber, wieso Cindy sich denken hatte können, dass es besser wäre, sie machte nicht mit. Gregory würde sie dann im Büro erwarten und einen Bericht wollen, und sie hätte sich überlegen müssen, was Cindy ihm erzählen würde und wie sie ihre Geschichte aufbauen musste, um Cindys Bericht so zu bestätigen, dass sie als die Klügere dastand. Als die, die Führungskompetenz mitbrachte. Aber am Ende würde Gregory sagen, dass sie ihr Problem selber lösen hätte müssen und nicht zu ihm kommen und ihn belästigen. Also grinste sie und war angreifbar und formbar und begann im richtigen Augenblick zu weinen. Cindy reichte es ja, dass alle Frauen in der Gruppe zu weinen begannen, wenn sie ihnen vorwarf, es sich leichtzumachen. »Du glaubst, dass du etwas Besseres bist als ich, weil du schöner bist.« Das war der Angriff gegen sie, und es hatte keinen Sinn, die Aggression zurückzugeben. Wenn sie nicht zu weinen begann. Man würde annehmen, dass sie doch zuerst ins Grundtraining musste, weil sie noch sicher aus sich selbst heraus war und lächeln konnte. Man würde dann annehmen, dass sie nicht vollkommen über die Ausbildung definiert war und deswegen ein Unsicherheitsfaktor. Ihre Motivation würde bezweifelt werden, und sie würde daraufhin angesehen werden, ob sie Symptome einer Verräterin an sich hatte. Eine Person, die lächelte. Eine solche Person. Die konnte auch davongehen. Eine solche Person, die gehörte nicht dazu. Die traf eigene Entscheidungen, und man musste misstrauisch sein. Verrat. Es ging ja nicht darum, den Job zu machen. Es ging immer nur darum, wer, und wann, zum Verrat fähig sein könnte. Cindy lauerte auf solche Anzeichen. Cindy war ein Wachhund mit Busen. Mit einem Riesenbusen. Sie dagegen. Sie war neu. Sie war die Neue. Also grinste sie, damit niemand misstrauisch wurde und sie jetzt einmal in die Wärme gehen konnte und nicht gleich die Rückfahrt antreten musste. Und. Sie sollte das schnell tun. Wenn sie noch länger in ihrem Auto über das Lenkrad geworfen sitzen blieb. Man konnte sie von der Rezeption aus sehen und sich Gedanken machen. Sie musste noch mehr grinsen. Hier machte man sich Gedanken. Sie setzte sich auf und hob ihre Handtasche vom Rücksitz nach vorne. Gedanken machen. Sie stellte sich vor, wie Gregory an einem Gedanken schmiedete und hämmerte und ihn dann in die Mitte des Konferenztischs stellte und wie er seine Haare zurückwarf. Die dunkle Locke, die ihm über die Stirn fiel, in der feine weiße Haare den Glanz betonten. Da schaut her, würde diese Kopfbewegung sagen wollen. Da schaut her. So sieht ein Gedanke aus, und davor müssen wir uns hüten. Gregory würde ein wenig schwitzen. Gregory schwitzte an den Schläfen, und sie alle würden sich überlegen müssen, ob das eine Provokation war oder ein Ziel.

Sie zog den Autoschlüssel ab. Mit den dicken Handschuhen alles ungenau. Sie ließ die Autotür aufschwingen und drehte sich dann auf dem Sitz zum Aussteigen. Sie hievte sich auf die Beine. Stützte sich am Lenkrad und an der Autotür ab. Ins Stehen zu kommen war nicht einfach. Sie hatte zu viel vom Wodka erwischt. Im Sitzen hatte sie das nicht wissen können. Sie musste vorsichtig gehen. Wenn sie auf dem glatten Schnee und dem Eis auf dem Parkplatz ausrutschte. Es würden alle kommen und sie tragen und dann den Alkohol riechen. Was würde dann passieren. Wahrscheinlich wurde man dann in eine Einheit dafür versetzt. Es gab sicherlich einen eigenen compound für solche Personalprobleme. Sie war ja nicht die Einzige. Heinz war meistens betrunken. Aber Heinz war stellvertretender branchmanager. Da hätte Anton etwas tun müssen, und Anton würde Heinz nie. Nicht irgendwie. Die waren Kameraden. Von früher.

Sie warf die Autotür zu. Das Stehen war dann leichter, als sie erwartet hatte. Sie konnte die Autotür gleich loslassen und losgehen. Sie hielt die Tasche an sich gepresst. Für die Balance. Sie rutschte auf dem Eis unter dem Schnee und musste lachen. Sie übertrieb das Rutschen und segelte auf die Eingangstür zu. Hinter dem Glas konnte sie schon Gregory stehen sehen. Er sah ihr zu. Sie stolperte über eine Eisrille und musste laufen, damit sie nicht hinfiel. Gregroy riss die Eingangstür auf, und sie lief auf ihn zu. Sie dachte, er wolle, dass sie ihm in die Arme lief, aber er trat zur Seite, und sie konnte erst in der Mitte der Halle stoppen. Sie sah gleich, warum er sie nicht aufgefangen hatte. Cindy stand neben Gertrud hinter der Rezeption und sah ihnen zu. Gertrud saß und telefonierte. Cindy hatte die eine Hand auf der Schulter von Gertrud, und in der anderen hielt sie die Kaffeetasse. Gregory nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Our Amy. Isn’t she a skatrix.« Er schaute über den Tassenrand und trank den Kaffee aus.

Man könne also nun beginnen. Es wären ja alle da. Er stellte die Tasse auf den Tisch der Rezeption und wandte sich ihr zu. Cindy nahm die Tasse und trug sie zum Kaffeeautomaten. Betont vorwurfsvoll ließ sie den Löffel gegen die Tasse klimpern. Cindy ging nahe an ihr vorbei und stieß sie fast an. Sie drehte sich um und sah Gregory an. Aber er antwortete nicht auf ihre hochgezogenen Augenbrauen. Sie fühlte ihre Schultern sinken. Es war also schon losgegangen. Wahrscheinlich hatte es schon eine Morgensitzung gegeben, und die Zentrale in London hatte wieder etwas erwartet. Oder gewünscht. Oder angeordnet. Und Gregory und Heinz und Anton waren sehr verschiedener Meinung, und Cindy hatte sich mit Heinz verbrüdert. Und weil sie Gregory nicht offen angreifen konnten, würden sie auf sie losgehen. Amy. Gregorys protegée. Und jetzt hatte Cindy einen Hass auf sie, weil Gregory die Kaffeetasse auf den Tisch von Gertrud gestellt und nicht selber zum Kaffeeautomaten zurückgetragen hatte. Wie das alle machen sollten. Heinz könne ja auch seine Tasse zum Kaffeeautomaten zurückstellen, warum mache Mr. Madrigal das nicht, würde Cindy sie anschreien. Und wenn sie antwortete, dass das doch nicht ihre Angelegenheit sei, was Gregory Madrigal mache. Dann würde Cindy darauf nicht eingehen, weil man das nicht tat, wenn man kein Argument hatte. Cindy würde einfach angreifen und sagen, dass sie es dem Gregory in einer ihrer sex sessions beibringen solle. Sie solle das mit Gregory üben. Manche Männer könnten eben nur über Konditionierung lernen. Manche Männer bräuchten solche Lernanordnungen. Wie die Ratten. Cindy konnte sich dann lang ergehen, wie das aussehen könnte. Cindy hatte da eine gutgeschulte Phantasie. Aber Cindy war auf der Kaderschule der Stasi gewesen. Cindy hasste Gregory. Gregory war der Abgesandte aus London und überprüfte sie alle. Gregory hatte sie hergeholt, und wenn Gregory in guter Stimmung war, dann maßregelte er Cindy und erklärte ihr, dass man auch schöne Frauen wie Amy in einer Agentur wie ihrer bräuchte. Er wolle Cindys Leistungen nicht schmälern. Cindy habe eine bemerkenswerte Logistik aufgebaut, aber es ginge auch um Personen und manchmal eben dann auch um schöne Personen. »Beauty is a weapon like any other device and we are in need of all possible devices and therefore we need Amy.« Wenn er so etwas sagte, dann konnte sie die scharfe Messerspitze fühlen, mit der Cindy ihr gerne das Gesicht zerschnitten hätte. In solchen Augenblicken. Sie fühlte die Absicht dieser Person, als mache sie es gerade. Als schnitte sie ihr gerade ein Gitterwerk in die Wangen. Oder in den Busen. Aber die anderen. Die wussten nichts davon. Die schienen davon nichts zu bemerken. Gregory sprach höchstens von verständlichen Emotionen. Cindy habe fast ohne Überprüfung arbeiten können, und sie habe eine phantastische Arbeit geleistet. Er habe selten eine so gute Ausstattung vorgefunden und immer alles in Bereitschaft. Cindy wartete ja auf etwas. Auch das war zu spüren. Sie wusste nicht, was das sein könnte. Es hatte einen sexuellen Geschmack. Das, worauf Cindy wartete, hatte etwas Sexuelles an sich, und das war aufregend. Für alle war das aufregend. So viel war in den Gruppensitzungen klar. Wenn vom Ernstfall die Rede war. Oder von einem Einsatz. Es schauten dann alle besonders ernst, damit man ihre Erregung nicht bemerken konnte. Aber die Männer rutschten dann hin und her, und Cindy schaute auf ihre Hände und spitzte den Mund so in einem Kätzchengrinsen.

Es war heiß in der Halle. Sie knöpfte den Mantel auf und schob den hohen Kragen vom Hals weg. Cindy kam vom Kaffeeautomaten zurück und flüsterte: »Warum haust du nicht ab. Solche wie dich. Die brauchen wir hier nicht.« Und sie sagte zum Rücken von Cindy: »I don’t speak german.« und Cindy zuckte mit den Schultern. Selbstverständlich wusste Cindy, dass sie Deutsch sprach. Sie hätte das von Anfang an offen angeben sollen. Aber sie hatte gedacht. Am Anfang hatte sie gedacht, dass das alles ein Spaß wäre. Ein Spaß werden würde. Sie war auf das Ganze eingegangen, damit die Tante Marina in London nicht wieder sagen konnte, dass sie nie das mache, was ihr vorgeschlagen würde. Und dass sie eine Ausbildung bräuchte und dass das eine Chance für sie sei. Der Anruf war an einem Morgen gekommen, und am Abend war Gregory schon in Wien gewesen, und 2 Tage später war sie mit dem Kia losgefahren. Gregory hatte ihr in den schönsten Farben eine Karriere ohne viel Arbeit versprochen und die Adresse des Hotels gegeben. Das alles hier war das Ergebnis eines charity cocktails im »Savoy« in London für shareholder eines investment fonds, bei dem die Tante Marina mit Gregory ins Reden gekommen war, und jetzt musste sie so tun, als spräche sie nicht Deutsch, weil sie das auf den Formularen nicht angekreuzt hatte. Weil sie die Formulare sowieso nur irgendwie ausgefüllt hatte. Sie hatte einfach schräg von links oben nach rechts unten die Kästchen angekreuzt und gar nichts durchgelesen. Sie war jetzt eine Person, die von sich nichts wusste. Immer wieder wurde ihr gesagt, dass sie auf den Formularen aber andere Angaben gemacht habe. Heinz und Anton sagten das herausfordernd fragend. Cindy sagte das verächtlich verdächtigend. Gregory zog die Augenbrauen hoch. Boris und Kunz redeten gar nicht mit ihr. Gertrud schaute durch sie hindurch und grüßte sie nie. Von den anderen wusste sie die Namen noch nicht. Aber die waren irgendwie Personal, und ihr war nicht klar, was die machten. Da waren immer andere bei den Gruppensitzungen. Mentale Trainingseinheiten wurde das genannt, und sie sollte einmal einen Monat lang mitlaufen. Dann würde man beurteilen können, ob sie in die Ausbildung kommen sollte, hatte Anton gesagt. Gregory hatte sie vom Hotel abgeholt und als Überraschung mitgebracht, und seither fuhr sie hierher und wusste gleich beim Hereinkommen nicht, warum sie da war, und wünschte sich wieder weg. Seit 7 Wochen passierte ihr das so.

Cindy war in den Sitzungssaal vorausgegangen. Gregory hatte sich auf die Ledercouch gesetzt und sah ihr zu. »Dreaming?«, fragte er sie. Sie sah Gertrud an. Gertrud schaute weg. Sie seufzte. Sollte sie gleich dieses Gespräch mit Gregory führen. Gleich hier in der Empfangshalle und vor Gertrud. Vielleicht war es gut, wenn jemand mithörte, wie sie ihren Abschied nahm. Das alles war nicht mehr lustig. Sie hatte falsch begonnen. Es war vertan. Sie hatte es wieder gemacht. Wieder etwas zu leicht genommen. Das alles lief auf die übliche Enttäuschung hinaus. Die Marina hatte sie nur wieder loswerden wollen. Und sie konnte auch gleich nach Wien zurückfahren. Das Geld für das Benzin. Das würde sie aus Gregory herausholen. Was wollte der überhaupt mit ihr. Für den spielte sie eine Rolle, aber sie wusste nicht, welche. Der hatte den Heinz und den Anton erschreckt, und sie war der Schrecken. Aber was für einer. Sie war ja bereit, sehr viel mitzumachen. Aber ohne die geringste Information. Das war alles zu mühsam, und es war auch mühsam, dass er nichts mit ihr begonnen hatte. Da hätte sie gewusst, wie das ging und was sie wollte.

Sie zog den Mantel aus. Sie stand in der Mitte der Halle. Draußen der Parkplatz vor der Glasfassade des Empfangs hell sonnenbeschienen. Sie legte den Mantel über den Arm und ging auf die Sitzecke zu. »Gregory.« sagte sie. »Gregory. We must talk.« und Gregory begann zu lachen. Sie saß mit dem Mantel vor sich Gregory gegenüber. Sie hielt den Mantel vor sich und ballte ihn hoch, damit das Schaffell dick vor ihrem Bauch und sie den Mantel gegen den Bauch drücken konnte. In den Bauch. Gregorys Lachen. Es machte sie empört und beleidigt, und sie hatte Angst. »Darling!«, lachte Gregory. Sie wäre zu süß. Too sweet. Er hätte nicht gedacht, noch einmal Naivität in dieser Form zu sehen zu bekommen. Seine Amy. Er begann wieder zu lachen. Sie war plötzlich müde. Sie lehnte sich zurück. Legte den Kopf auf die Rückenlehne. Spürte das kühle harte Leder gegen das Genick. Das war alles lächerlich. Sie musste gar nichts machen. Die Marina sollte ihr ganz einfach regelmäßige Vorschüsse auf die Erbschaft auszahlen. Dann ging sich alles aus. Sie musste nicht auf die Stimme der Vernunft hören. Dass sie einen Beruf bräuchte. Wie alle anderen auch. Soviel sie sehen konnte, konnte niemand von den anderen auch mit den Berufen viel anfangen. Alle schlugen sich durch. Alle lebten irgendwie. Eine ihrer letzten Beschäftigungen war bei einer Agentur gewesen, und sie hatte im engen T-Shirt mit dem Logo der Agentur die Ehrengäste bei einem Symposium begrüßt und den Namen der Person in einer Exceldatei abgehakt. Dafür hatte ihr abgebrochenes BWL-Studium gereicht. Warum ihr Busen sich deutlich abzeichnen musste, hatte sie bei der Besprechung gefragt, warum sie nicht eine Jacke anziehen könnte. Das würde doch die Seriosität des Ganzen heben, und sie würde auch eine eigene anziehen, damit es nichts kosten sollte. Dieser Joe hatte sie freundlich nachdenklich angesehen und sie gefragt, ob sie noch nie etwas von Gegensätzen gehört hätte. Für die Seriosität wären er und der Geschäftsführer zuständig. Was das Gegenteil von Seriosität für ihn wäre, hatte sie gefragt. Aber sie hatte nur mehr so einen Blick als Antwort bekommen. Und Gregory lachte noch immer. Er konnte sich gar nicht fangen. Das war schon alles so, dachte sie. Es war ganz einfach alles nur so, und sie musste seufzen.

Sie schaute zur Decke. Ihretwegen konnte sie jetzt hier einschlafen. Am Ende kümmerte sich nur der Wodka um sie. Der Wodka hielt ihr die Welt weit weg und ließ diesen blöden Madrigal unwichtig werden. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Er lag zurückgelehnt auf der anderen Couch. Das Licht hinter ihm draußen. Seine Haare hingen ihm über die Augen. Die geplatzten Äderchen auf seinen Wangen hellrot abgezeichnet. Der Lachanfall hatte sein Gesicht rot zurückgelassen. Er zog sein Stecktuch aus der Brusttasche seines dunkelblauen Blazers und wischte sich die Wangen ab.

Was es denn zu weinen gäbe, fragte sie. Sie senkte den Kopf nicht und sprach zur Decke hinauf. Was er Marina erzählen wolle, wenn er wieder in London sein würde. Sie wolle es nur wissen, damit ihre Geschichten übereinstimmten. Gregory lachte wieder und wischte sich die Tränen ab. Er stand auf. Er faltete das Stecktuch sorgfältig zusammen und steckte es wieder in die Brusttasche. So einfach wäre die Sache längst nicht mehr. Sie solle nicht vergessen, dass sie sich verpflichtet habe, und jetzt begänne die Sitzung gleich. Gregory ging weg. Sie blieb sitzen.

»Gehen Sie weg.« hörte sie von hinten. Sie war nicht sicher. Hatte Gertrud das gesagt. Gertrud hatte bisher noch nie mit ihr gesprochen. Kein einziges Wort. Von Gertrud hatte sie ihre Sicherheitskarte und den Schlüssel für den Garderobenschrank im Umkleideraum bekommen, ohne dass ein Wort gewechselt worden war. Gertrud hatte mit dem Kugelschreiber auf die Zeile gezeigt, auf der sie die Übernahme bestätigen sollte, und dann die Papiere zu sich gezogen. Gertrud hatte nicht einmal aufgesehen. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Gertrud sah sie an und senkte dann den Blick. »Haben Sie etwas gesagt?«, fragte sie und lehnte sich über die Lehne der Couch. Gertrud reagierte nicht. Sie saß bewegungslos und schaute auf die Tastatur vor sich. Amy ließ sich zurückfallen. Wut. Einen Augenblick war sie so von Wut erfüllt, dass sie sich aufspringen sah und in der Mitte der Halle einen Schreianfall haben. Dann schob die Wodkamüdigkeit sich zwischen sie und die Wut, und alle Vorstellungen einer solchen Szene brachen in sich zusammen. Sie schüttelte den Kopf. »Danke.« sagte sie in Richtung Gertrud. »Falls Sie etwas zu mir gesagt haben, dann vielen Dank.« Sie stand auf und ging den Gang hinunter davon.

Sie ging in den Umkleideraum. Locker room wurde das genannt. Es war im alten Teil der Gebäude der ehemalige Umkleideraum vor einem Turnsaal. Sie hatte gefragt, ob das hier eine Schule gewesen sei. Draußen waren durch die hochgelegenen Fenster die Seile zu sehen, die von der Decke hingen. Die vergitterten Lampen. Strickleitern. Die obersten Sprossen von Sprossenwänden. Im Turnsaal. Sie war nie drinnen gewesen. Die Türen waren versperrt, und wenn Licht zu sehen war und man drinnen Leute hören konnte. Sie hatte noch nicht herausfinden können, wie das war. Wer da turnte. Trainierte. Sie hatte fragen wollen, aber sie hatte nicht gewusst, an wen sie sich wenden hätte sollen. Für solche Fragen wäre Gertrud am besten gewesen. Aber Gertrud redete ja nicht mit ihr. Sie kicherte. Es war irgendwie schon sehr interessant, wie das hier lief. Wenn einen dann überhaupt niemand haben wollte, dann war das auch ein Ansporn. Das Wort gefiel ihr. Ansporn. Sie summte das Wort vor sich hin. Sie bog nach links und ging durch die Tapetentür neben der Hauptstiege des alten Hauses zum Turnsaal nach hinten. Ansporn. Ansporn. Das passte zu diesem Gebäude. Man kam aus dem Gang von der Rezeption her und stand dann vor dem Stiegenaufgang. Ganz knapp kam man davor zu stehen. Der Gang ein eckiger, dunkler Tunnel hinter einem. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie die Stufen hinaufgetrieben. Von der Dunkelheit des Tunnels angetrieben. Die breiten Stufen, die sich im Halbstock teilten und rechts und links in den ersten Stock hinaufführten. Fenster rechts und links über diesen Seitentreppen. Staubig. Die Wintersonne von rechts. Ansporn. Wer diese Stufen hinauflaufen wollte, der brauchte Ansporn. Sie hätte Ansporn gebraucht. Brauchen können. Eine Vorladung zu einem Direktor oben, und man stieg schnell und bang die Stufen hinauf zum Büro. Anton war der Direktor, und er würde ihr sagen, dass sie nicht länger hier gewünscht war, und Gregory würde in der Ecke sitzen und zu den Worten des Direktors nicken. Man hatte es wieder versucht mit ihr, und sie hatte wieder nicht entsprochen. Ansporn, würde sie sagen. Sie hätte mehr Ansporn gebraucht. Mittlerweile redete sie ja zurück.

Sie wandte sich zur Tapetentür links. Die ging nicht gleich auf. Sie rüttelte an der Tür. Die Türklinke blieb in ihrer Hand. Sie steckte die Klinke wieder zurück und drückte sie hinunter. Vorsichtig. Das Schloss funktionierte. Sie zog die Klinke heraus. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie schwang die Klinke und ging. Der Gang hatte Fenster links. Vergittert. Das Glas war undurchsichtig. Sternrissig. Rissglas. Niemand zu hören. Es roch staubig. Schule, dachte sie. Das war sicherlich eine Schule gewesen. Das alles sah nach Schule aus. Aber das Ganze im Nirgendwo. Wer sollte hier in die Schule gegangen sein. Sie stieß die Tür zum locker room auf und ging zu ihrem locker. Mein locker, dachte sie. Locker. Lockerer Ansporn. Sie sang leise. Lockerer Ansporn. Lockerer Ansporn. Singend beugte sie sich zum Schloss des Blechspinds mit der Nummer 37. Die Nummer 37 war am Ende der zweiten Reihe der Blechkästen, die aneinandergereiht dastanden. Die Blechschränke waren abgeschlagen und rund um die Schlösser zerkratzt. 50er Jahre, dachte sie und summte. Nein. Doch 70er Jahre. »Lockerer Ansporn.« Sie versuchte aufzusperren, ohne das Schlüsselband über den Kopf ziehen zu müssen. Sie summte und stand zum Schloss vorgebeugt und fummelte mit dem Schlüssel herum. Nach langem bekam sie das Schloss auf und hängte ihren Mantel an den Haken im Spind. Sie wollte wieder zusperren. Eine Frau stand neben ihr. Ganz nahe stand sie neben ihr und schaute mit ihr in den Kasten. Das wäre ein schöner Mantel, sagte sie und griff den Pelz ab. Warm wäre der. Sie zöge nur Mikrofaser an. Das wäre für diese Wetterlage oder für jede Wetterlage das Beste. Aber so ein altmodischer Pelz. Das wäre schon auch nett. Die Frau hatte den Mantel in die Hand genommen und strich mit dem Zeigefinger den Pelz entlang. Pelz, sagte sie. Pelz. Das reguliere sich natürlich. Auf natürliche Weise. Das wäre auch ein Vorteil. Die Frau seufzte. Ein Vorteil. Das wäre nicht immer genug. Sie bräuchte Sicherheit in solchen Dingen und keine Vorteile. Dann lachte die Frau. »Aber deshalb arbeiten wir ja auch hier.« sagte sie. Sie nahm die Türklinke aus Amys Manteltasche und hielt sie ihr hin. Amy bedankte sich und nahm die Klinke. Die Frau ging um die Ecke. Es raschelte. Amy blieb vor ihrem Kasten stehen und schaute ihren Pelzmantel an. Er war schön und praktisch. Das Mammerl hatte ihn ihr gekauft. Eine junge Frau bräuchte einen ordentlichen Mantel, hatte sie gesagt, und sie waren zum Liska gegangen. In die billigere Abteilung. Das Mammerl glaubte an solche Sachen. Pelzmäntel und eine Perlenkette und schöne Koffer. Das Mammerl war seit Jahrzehnten nicht aus Wien hinausgekommen.

Das Rascheln. Was machte diese Person. Sie zog das Schlüsselband über den Kopf und sperrte den Mantel ein. Ihr handy brummte. Es war Gregory. Sie machte sich auf den Weg. Die Türklinke in der Hand. Die Frau stand im vorderen Gang der Blechkästen. Sie war nackt. Sie stand breitbeinig, und der Faden eines Tampons baumelte zwischen ihren Beinen. Die Frau hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte ihre Oberschenkel. Sie seufzte. Sie winkelte das eine Bein am Knie an und beugte das andere. Sie ließ sich in diese Position gleiten und blieb so stehen. Sie sah lächelnd auf und verdrehte die Augen. Amy hob ihr brummendes handy hoch und ging zur Tür. Gregory fragte, wo sie denn bliebe. Sie komme ja schon, sagte sie. Sie komme ja schon. Sie drehte sich um. Die nackte Frau war auf ihr stretching konzentriert und sah nicht mehr auf. Die nackte Frau war besonders nackt. Die Schamhaare waren wegrasiert, und unter den Achseln der hochgereckten Arme war die Haut glatt.

Im Gang vom locker room zurück. Es war kalt ohne Mantel. Sie ging schnell. Das Geklapper ihrer Absätze. Hohe Absätze. Cindy schaute immer zuerst auf ihre hohen Absätze und wandte sich dann ab. Verächtlich grinsend. Cindy konnte mit so hohen Absätzen gar nicht gehen. Sie blieb stehen und schaute durch das sternenrissige Glas hinaus. Es waren aber nicht einmal Umrisse wahrzumehmen. Das dicke Glas zerriss alle Konturen in breite Streifen. Sie beugte sich zum Glas und schaute durch den Mittelpunkt eines dieser Sterne. Es wurde alles noch verschwommener, und ihr wurde schwindlig. Sie richtete sich auf und holte die kleine flask aus ihrer Tasche. Der Onkel Schottola hatte sie ihr geschenkt. Für ihre erste Amerikareise hatte er ihr diese flask geschenkt. Damals war sie mit Whisky gefüllt, und der Onkel Schottola hatte gesagt, dass er Whisky viel medizinischer fände als Cognac, und sie solle davon trinken, wenn sie sich den Magen verdorben hätte. Was ja auf Reisen unvermeidbar wäre. Er habe auf Reisen nur die schlimmsten Erfahrungen mit der Verträglichkeit des Essens gemacht, und ihn habe der Flachmann schon oft gerettet. Aber was wüsste er schon. Leute wie er. Leute, die in Stockerau lebten. Was könnten die schon wissen. Und dann kam der alte Scherz mit dem Jahr in Paris. Das Jahr in Paris kam dann immer. Nestroy. Aus dem »Lumpazivagabundus«. Und sie hatte sich geniert für den Onkel Schottola. Wie immer. Aber bei diesem Scherz. Sie hätte gänzlich versinken können. Warum eigentlich. Warum hatte sie sich für die Eltern Schottola mehr geniert als für die Betsimammi, für die Pflegeeltern mehr als für die eigene Mutter. Sie trank aus dem Flachmann. Aber was hatte sie sich geniert für die Eltern Schottola, und was hatte sie sich für das Mammerl geniert. Die Großmutter. Wenn die zu Besuch gekommen war, und was für eine Schmach war es dann gewesen, wenn die Betsimammi dann doch einmal zu den Mutterbesuchstagen aufgetaucht war und das Mammerl noch viel mehr auf sie gewartet hatte als sie. Und sie. Sie war immerhin die Tochter von der Betsimammi gewesen, und das Mammerl nur die Mutter von der. Sie war die Tochter gewesen und hätte sie gebraucht. Alle hatten immer gesagt, dass sie die Betsimammi gebraucht hätte. Aber das Mammerl hatte die Betsimammi mehr gebraucht als sie. Die Eltern Schottola waren schon in Ordnung gewesen. Sie nahm noch einen Schluck. So ausgemachte Eltern. Eltern, die so ein Kind aussuchten und in Pflege nahmen. Das war doch ohnehin der bessere deal. Da wussten alle, worum es ging, und die Tante Schottola hatte ihr immer genau vorgerechnet, wie viel sie vom Pflegegeld des Jugendamts gespart hatte und was sie vom Wirtschaftsgeld vom Onkel Schottola genommen hatte für sie. Die Kleider waren immer vom Wirtschaftsgeld gekommen. Sonst hätte sie in ihrem Leben nie etwas gleichgeschaut. Sie beugte sich wieder dem Glas zu. Jetzt war das Glas selbst verschwommen, und die verschwommenen Konturen rannen noch weiter auseinander. Weil sie immer schon so hübsch gewesen war, war es nie ein Problem gewesen, das Geld für die Kleider abzuzweigen. Der Onkel Schottola konnte nie etwas dagegen sagen, wenn sie die Sachen dann vorgeführt hatte.

Sie drehte den Verschluss der flask zu und hielt die Flasche kopfüber. Der Verschluss blieb trocken. Das wäre etwas gewesen, wenn mitten im lustigsten Rollenspiel plötzlich der Wodka aus ihrer Tasche zu tropfen begonnen hätte. Sie würden gerade die Sicherheitsanforderungen der Übersiedlung eines IT-Dienstleisters durchspielen. Sie wäre die Leiterin der human resources des Auftraggebers und die Schwachstelle. Sie musste ja immer die Schwachstelle spielen, und es würde zu riechen beginnen. Leder in Wodka eingeweicht, und dann würde es tropfen. Die Tasche würde auf der Lehne ihres Sessels aufgehängt sein, und es würde sich ein kleiner feuchter Fleck auf dem Spannteppich unter der Tasche bilden. Zuerst würde nur sie es bemerken. Aber sie konnte sicher sein, dass Cindy und Gregory es zugleich sehen würden. Die Fragen würde Heinz stellen, und Anton traf dann die Entscheidung. Die Tasche würde auf den Tisch gelegt werden. Wahrscheinlich holte Cindy irgendwelche Tücher. Küchenrolle. Klopapier. Cindy würde Gertrud anrufen, und die würde das bringen, und dann würde die Tasche ausgeräumt. Alles fein säuberlich auf den Tisch gelegt. Und.

Sie schaute auf. Jemand schaute sie an. Sie sah hinter dem Fenster hoch oben in dem Gang ein Gesicht. Es war die Frau aus dem locker room. Sie schaute von oben auf sie herunter. Sie schaute hinauf. Sie sahen einander an. Sie wollte winken. Oder lächeln. Oder springen und »juhuu« rufen. Die Frau sah sie unverwandt an und verschwand dann. Sie ging schnell durch den Gang davon. Sie wollte laufen. Sie zwang sich aber, langsam zu gehen und die Tapetentür normal hinter sich zu schließen und nicht in Panik zuzuwerfen. Gregory kam gerade die Stiegen herunter, als sie versuchte, die Türklinke wieder in das Schloss einzusetzen. Wo sie denn wieder geblieben sei. Die Sitzung. Sie holte ihr handy aus der Tasche und klappte es auf. Es war 9.59 Uhr. Sie hielt Gregory das handy hin. Ja, ja, meinte der. Aber man erwarte ein gewisses Interesse. To show interest. Da wäre es auch einmal gut, zu früh zu kommen. Nein, sagte sie. »No. I don’t think so.« Wäre das nicht genauso unpräzise, wie zu spät zu kommen. Imprecise. »Wouldn’t that show bad manners also.« Gregory probierte die Klinke aus. Er nahm sie dann um die Schultern. Schob sie die Stiegen hinauf. »That’s hairsplitting, my darling.« sagte er beim Schieben. »And you know it.« Sie spürte seine Hand mitten im Rücken und lehnte sich dagegen. Er schob kräftig und zog die Hand dann weg. Sie brauchte die Balustrade, nicht die Stiegen zurück hinunterzustürzen. Bis sie sich abgestützt hatte und gerade dastand, war Gregory schon auf dem Stiegenabsatz und lief rechts hinauf. An der Wand des Absatzes hing ein Bild des Laokoon mit seinen Söhnen. Das Bild in einem dunkelbraunen Rahmen. Fast schwarz. Die Körper der Männer bräunlich vergilbt. Die Schatten grau. Der Hintergrund ein dunkles Ocker. Das Bild füllte die Wand aus. Sie zog sich an der Balustrade hinauf. Durch die Säulchen konnte sie Gregorys Beine sehen, wie er rechts hinaufhastete. Sie stieg links die Stiege hinauf. Sie fühlte sich verletzt, obwohl nichts passiert war. Sie hätte davongehen sollen. Noch in der Halle hätte sie es sagen sollen. Sie fühlte den Trotz sich ausbreiten. Ein Widerwille. Brust und Kopf und der Hals nicht zu spüren. Der Kopf war durch den fühllosen Hals von der Brust getrennt, und sie musste darüber lachen. Sie dachte, sie könnte ihren Kopf auch unter dem Arm tragen und so in den Sitzungssaal gehen. Sie ging laut mit den Absätzen klappernd über den Terrazzoboden des Gangs zum Sitzungssaal. Die Tür stand offen.

Ihr Eintritt blieb unbemerkt. Alle saßen weitverstreut an dem riesigen Konferenztisch. Der Tisch war für 34 Personen. Sie hatte das gezählt. Jetzt waren. Sie setzte sich an das untere Ende und begann zu zählen. Anton und Heinz oben. Cindy bei ihnen. Mit dem Rücken zu den großen Fenstern. Cindy beachtete jeden Vorteil. Cindy war eine Art lebendes Lehrbuch. Sie schaute Cindy an und dachte, dass sie nur so hinsehen hätte müssen wie jetzt gerade und sie hätte alles lernen können. Ob sie dann aber auch so aussehen musste wie Cindy. Cindy war mager. Cindy war nicht schlank. Sie war mager. Sie schaute zum Fenster hinaus. Draußen. Der Schnee auf den Dächern der Baracken und Hallen. Alles hatte diese Weihnachtsfestlichkeit. Die Sonne ließ die Schneedächer glänzen und die langen Eiszapfen schimmern. Wann war jemand mager und wann schlank. Die Betsimammi war auch mager.

»Worst case scenario.« hörte sie. Ein Mann rechts oben donnerte. »We have here a worst case scenario and we are helpless.« Sie schaute zu Gregory. Gregory sah dem Mann rechts oben zu. Er beobachtete ihn und wandte sich dann Anton zu. Anton schaute auf den Notizblock vor sich hin. »Ja.« sagte Anton. Hilflos. Das wäre der passende Ausdruck. Nun wüssten aber alle, wie die Lage sei, und man könne mit dem Programm fortfahren. Cindy stand auf und stellte sich ans Fenster. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute die Männer an. Jeden einzeln. Alle sahen sie an. Sie trat einen Schritt an den Tisch zurück. Dann wandte sie sich brüsk wieder dem Fenster zu. Sie könne sich nicht so leicht abfinden. Ihr reiche ein Bericht nicht. Sie wolle alles wissen. Da wäre nichts zu wissen, sagte Heinz. Es wüsste ja niemand etwas. Auch Cindy müsse sich damit zufriedengeben. Es gäbe immer einen Weg. Immer eine Möglichkeit. Cindy stand wieder am Fenster. In diesem Fall nicht, sagte Gregory. Und dass er Cindy verstünde. Er sympathisiere mit ihr. Es sei immer ein neuer Horror, wenn ein Kamerad in die Hände des Feinds falle. In diesem Fall wäre Grotowski allerdings in die Hände der befreundeten Regierung gefallen, was aber die Sache noch schlimmer mache. Was die Sache noch schlimmer machen könne. Cindy setzte sich. Wenigstens Zigaretten könne man schicken, sagte sie böse. Gregory beugte sich über den Tisch ihr zu. Das mache die British Embassy routinemäßig. Wenn etwas funktioniere, dann die Versorgung von britischen Staatsangehörigen in ausländischen Gefängnissen mit Zigaretten. Es gäbe jeweils einen eigenen attaché dafür. Gregory war schon wieder ironisch geworden. Cindy saß zusammengesunken da. Heinz schaute auf. Grotowski wäre Nichtraucher gewesen. Cindy schlug mit der Hand auf den Tisch. Gregory zuckte mit den Achseln. »Ja dann.« sagte er auf Deutsch. Cindy drehte sich um und lehnte sich über die Rückenlehne ihres Sessels. Sie schaute über den Hof in die Hügel hinter den Feldern. Alle blieben still.

Amy, sagte sie sich. Amy. Wenn du Führungsqualitäten an den Tag legen willst. Bei dem Wort »Führungsqualitäten« hätte sie gerne nach dem Wodka gegriffen. Überhaupt hätte sie gerne diese flask. Diesen Flachmann in der Hand gehalten. So wie andere mit Zigaretten hantierten. Aufschrauben und wieder zuschrauben. Gedankenverloren schwenken und ansehen. Amy, jetzt solltest du die Angelegenheit an dich reißen. Jetzt war der Augenblick für einen Auftritt. Die Frage war ja nur, wie ging man da mit Cindy um. Cindy musste benutzt werden. Denn. Cindy hatte gewonnen. Diesen Teil der Sitzung hatte Cindy gewonnen. Cindy hatte es erreicht, dass alle still blieben, solange sie so brütend dasaß. Aber. Cindy hatte die Führung so gebündelt, dass man sie ihr aus der Hand nehmen konnte.

Sie beugte sich vor. »Ist genügend Repräsentanz vor Ort?«, fragte sie. Wäre denn jemand von der Firma für Grotowski da, und würde die rechtliche Vertretung von Grotowski wirklich von den Besten wahrgenommen. In jedem Fall sollte zumindest ein britischer Anwalt die rechtliche Vertretung organisieren.

Alle wandten sich ihr zu. Gregory rasch. Anton und Heinz sahen einander an und drehten sich dann zu ihr. Der Mann am oberen Ende des Tischs schaute von seinen Papieren auf. Cindy stand auf und ging zum Fenster. Das wäre doch alles gleichgültig, sagte sie. Es wüssten doch alle, wie gleichgültig eine solche Vertretung wäre. Und alle hier im Raum wüssten, dass es gleichgültig wäre. Jeder wüsste, was in den ersten 3 Tagen mit einem Verhafteten passierte. Das machten sie schließlich als Beruf, und hier ginge es um Korruption. Ob es jemanden gäbe, der sich in dem Dschungel von Korruption da auskennte und die richtigen Leute bezahlen könnte. Die richtigen. Wohlgemerkt. Cindy drehte sich herum und schaute zu Anton und Heinz. Die schauten auf die Papiere vor sich. Anton ließ die Schultern hängen. Heinz setzte sich auf und straffte die Schultern. Er nickte und drehte sich zu Anton. Cindy ging an das flipchart und schaute auf das leere Blatt. Alle schauten wieder auf sie. Sie stand. Dann wandte sie sich in einer schnellen Drehung dem Tisch zu. Sie stand vorgebeugt und sah jedem der Männer ins Gesicht. Einzeln. Und jeder sah ihr ins Gesicht zurück. Sie konnte den Blick von jedem einzelnen Mann halten. Anton und Heinz sowieso. Aber auch Gregory war von ihr gefangen, und die Männer am anderen Ende des Tischs drehten ihre Köpfe zu ihr. Das wäre also die Reaktion, wenn einer von ihnen in Gefahr geraten wäre. In richtige und wirkliche Gefahr. Cindy richtete sich aus ihrer lauernden Haltung auf und ging an das Fenster zurück. Sie lehnte sich an das Fensterkreuz und hielt sich am Fensterbrett fest. Gegen das blendende Weiß von draußen war sie ein dunkler Umriss. Ihre blondierten Haare eine dünne Wolke um den Kopf. Cindy ließ den Kopf hängen. Wenn es nach ihr ginge. Sie schien zu ihren Schuhen zu sprechen. Wenn es nach ihr ginge. Sie würde alles mobilisieren. Und am besten bräche sie jetzt gleich auf. Sie bräuchte ein ordentliches briefing von Gregory. Sie hob den Kopf und sagte noch einmal »ordentliches briefing.« »A solid and full briefing about every little detail concerning this arrest.« Alle weiteren Informationen könnten ihr ja dann an Ort und Stelle übergeben werden. Gregory lehnte sich zurück. Ob sie in Betracht zöge, dass sie als Frau für so eine Mission nicht in Frage käme. Wenn jemand da hingeschickt würde, dann sicherlich keine Frau, mit der niemand überhaupt reden würde. Cindy lächelte Gregory arrogant an. Es gäbe immer noch Kontakte da, die sich daran erinnern könnten, dass Frauen Menschen seien. Es käme nicht in Frage, sagte Gregory. Er wiederholte es auf Englisch. »Under no circumstances.« Das Auftauchen einer renegaten Kommunistin würde die Sicherheit von Grotowski noch mehr desavouieren. Es wäre wahrscheinlich sogar günstig, Grotowskis Biographie zu unterdrücken. Wenn die afghanischen Behörden herausfänden, dass Grotowski als Vopo in der DDR begonnen hätte, dann würde ihm ohnehin gleich die Gurgel durchgeschnitten. Nein. Nein. Grotowski wäre der Angestellte der Allsecura. Das wäre ein britisches Unternehmen. Grotowski wäre damit als britischer Staatsangehöriger anzusehen. Das wäre für Grotowski einmal die beste Situation. Den Fotos nach ginge es ihm ja halbwegs. Ja. Im Internet gäbe es Fotos von Grotowski in Gefängniskleidung. Immerhin habe er Birkenstocksandalen an. Es könne also nicht so schlimm sein. Ja. Al-Jazeera habe berichtet. Das wäre die beste Nachricht. Grotowski könne nicht mehr so einfach verschwinden, wenn einmal über seine Verhaftung berichtet worden wäre. Es würde Geld kosten. Das koste eben immer Geld. Aber er habe immer und immer wieder gesehen, wie Angestellte einfach verschwanden. Wie sie hinter den Mauern von Gefängnissen oder irgendwelchen Sicherheitseinrichtungen der befreundeten Nationen verschwanden und niemand etwas tun konnte. So gesehen, habe Grotowski ohnehin die besten Karten. Und könne man jetzt zur Tagesordnung zurückkehren.

Cindy stand einen Augenblick. Gregory hatte nur zu ihr gesprochen. Sie sah weiter auf ihre Schuhe. Gregory beobachtete Cindy. Lange. Dann wandte er sich der Runde zu.

Sein Blick fiel gleich auf sie, und sie musste auf den Tisch vor sich schauen. Sie musste grinsen und konnte es nicht unterdrücken. Der Wodka macht sich lustig über ihn, dachte sie und musste das Lachen unterdrücken. Gregory hatte wieder die Kontrolle, aber er hatte schwer arbeiten müssen. Gegen Cindy und die Kameradschaft. Die kannten einander alle schon ewig. Die hatten alle die Ausbildung zusammen gemacht. Die wussten, wie das da war. Wann man angeschnauzt wurde. Wann man essen durfte. Wie das Essen geschmeckt hatte. Wie die Decken in die Matratzen gesteckt werden mussten und wie man am Tag lieber neben dem Bett auf dem Boden saß, als noch einmal die Decken festzuziehen, weil man darauf gesessen war. Die mussten nicht einmal im gleichen Alter sein. Cindy schien viel jünger zu sein als Anton. Heinz war ja schon 10 Jahre jünger. Amy, sagte sie zu sich. Amy, wirst du jetzt wirklich ehrgeizig.

»Amy.« sagte Gregory, und sie musste die Fäuste ballen, damit sie nicht laut herauslachte. Amy habe auf jeden Fall die richtigen Fragen gestellt, und er könne auf Amys Fragen nur bejahend antworten. Es sei alles Notwendige aufgereiht. An Ort und Stelle würden alle Maßnahmen getroffen, und man habe das Wohl des Mannes im Auge und nicht die Erfüllung von Rachewünschen oder Rettungsphantasien.

Sie dachte, er hatte jetzt den Weg gefunden, mit Cindy richtig fertig zu werden. Die Lacherei in ihr quoll kurz auf. Dann konnte sie wieder normal dasitzen und auf ihre Hände schauen. Sie ließ die Fäuste langsam entspannen. Wenn sie die Fäuste einfach aufmachte und die Hände locker hinlegte. Das machte auf die Fäuste aufmerksam. Alle rundherum lauerten auf solche Symptome und redeten dann stundenlang in der Kritikphase der Gruppenarbeit darüber. Sie schaute Gregory beim Reden zu und ließ ihre Fäuste erst erschlaffen. Dann setzte sie sich auf und legte die Hände übereinander. Sie war ein bisschen müde und nebelig im Kopf. Essen. Sie sollte etwas essen. Aber nicht das Kantinenessen hier. Ein einfaches Butterbrot vom Mammerl. Ein Evi-Brot vom Auerbäcker und dick Butter darauf und ein bisschen Salz. Ganz wenig Salz, und das Mammerl hätte so getan, als würde sie ganz viel Salz auf die Butter streuen, und gesagt, dass das ein Zaubersalz wäre und nur für ihr Almtscherl. Aber es ging nicht um das Mammerl. Sie hätte diese Butter auf diesem Brot haben wollen und einen Tee dazu trinken. Sie stützte die Hände auf und legte das Kinn auf die Hände. Es war alles umsonst gewesen. Es würde keine Gruppenarbeit geben. Dieser Vorfall. Sie hätte nichts trinken müssen. Sie hätte normal frühstücken können. Sie könnte durch das Fenster hinaussehen, ohne gleich Kopfschmerzen von der Helligkeit zu bekommen. Sie hätte die anderen Stiefel anziehen sollen und hinausgehen und im Schnee spazieren. Sie war wütend auf diesen Grotowski. Sie konnte sich den schon vorstellen. Der war wahrscheinlich wie Heinz. Einer, der nur so dasaß und schaute. Der nie etwas sagte und immer nur hinausging, und wenn er zurückkam, nickte er dem Anton zu, und es war etwas geschehen. Es war etwas erledigt, und sie wusste nicht, was. Sie würden ihr das nicht sagen. Sie war immer nur in diesem Sitzungssaal oder im Büro am Computer. Sie war nie nach hinten gekommen in diesen Barackenwirrwarr, und Gregory fragte sie immer nur nach den Handbüchern aus. Die Litanei vorhin war ja auch aus dem Handbuch. Es war das Konzerncredo über die Arbeit in nichtverbündeten Staaten. Sie hatte das Credo aufgesagt. Aber es ging um den Zeitpunkt. Man musste so ein Credo setzen. Man musste den genau richtigen Zeitpunkt finden. Erwischen, dachte sie. To catch the moment. Aber erwischen war netter. Ein schönes Wort. Erwischen. Sie fühlte sich mit langen Schritten durch die Luft eilen und nach etwas greifen und es dann erwischen.

Was es zu lachen gäbe, fragte Anton. Anton glühte sie böse an. Über die riesige Tischplatte hinweg. Weißer Kunststoff. Wie es kommen könne, dass Amalie lachen könne. Er wandte sich an Gregory. Amy habe sicher einen guten Grund dafür, sagte der, und alle wandten sich ihr zu. Amy stand auf. Sie nahm ihre Tasche vom Sesselrücken und schwang sie sich über die Schultern. Sie schaute auf die sitzenden Personen hinunter. Anton rot im Gesicht und böse. Gregory amüsiert. Wie immer. Heinz und die anderen sahen leer zu ihr hinauf. Cindy am Fenster. Sie hatte ihren Kopf abgewandt und schaute hinaus. Sie habe nicht gelacht, sagte sie. Sie habe gelächelt. Es sei doch offenkundig, dass dieser Herr Grotowski. Sie kenne ihn ja nicht. Dass dieser Grotowski sehr gute Kameraden habe. Sie kenne sich in der Sache nicht aus. Sie wüsste ja praktisch von nichts. Aber es sei evident, dass alles nur Mögliche für Grotowski getan werden würde und wahrscheinlich mehr, und sie sei sicher, dass alle darangehen wollten, die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Sie würde deshalb jetzt gehen. Und sie ging. Beim Gehen schaute sie Anton an und lächelte wieder. Anton schaute erst noch böse, dann senkte er den Kopf und sah vor sich auf den Tisch und auf seine Papiere. Sie ging schnell. Sie war schon an der Tür, da drehte Gregory sich vom Tisch weg und rief ihr zu, dass er es begrüßen würde, wenn sie in seinem Büro auf ihn warten könnte.