Drachenkrieg - Dennis L. McKiernan - E-Book

Drachenkrieg E-Book

Dennis L. McKiernan

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Beschreibung

Vom Autor der Bestseller „Zwergenzorn“ und „Elfenkrieger“ der furiose Höhepunkt der Drachen-Saga von Mithgar: Die Zeit der Freiheit naht, in der sich das Schicksal einer ganzen Welt in einer letzten gewaltigen Schlacht erfüllen wird. Nur das Kind einer Elfe und eines Baerons kann die magische Waffe schwingen, die Rettung bedeutet …

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Seitenzahl: 523

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Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungEin Teil MithgarANMERKUNGEN DES AUTORS1. Kapitel - KHEM2. Kapitel - GESCHICHTENCopyright

Das Buch

Die Zeit der Trinität rückt näher und näher. Bair, der Sohn von Riatha und Urus, durchstreift zusammen mit seinem Lehrer Aravan die Länder von Mithgar. Auf ihrer Suche nach dem gelbäugigen Mann, einem bösen und uralten Magier, folgen die beiden den Weisungen eines Orakels. Sie sollen den Tempel des Himmels finden, wo sich ihre Zukunft entscheiden wird. Als Elf und Junge jedoch die schier unüberwindlichen Berge bezwingen und schließlich vor den Toren des Tempels stehen, erleben sie eine Überraschung. Unterdessen rückt das Heer des grausamen Drachenkönigs aus dem Osten heran und hinterlässt eine breite Spur der Verwüstung. Nur ein Mann im Gefolge des Tyrannen ist noch grausamer – und er hat gelbe Augen. Um seinen finsteren Plan aufzuhalten, müssen Bair und Aravan bis ans Ende der Welt reisen. Es droht die Vernichtung von ganz Mithgar …

Dennis L. McKiernans MITHGAR-Romane:

Bd. 1: Zwergenkrieger

Bd. 2: Zwergenzorn

Bd. 3: Zwergenmacht

Bd. 4: Elfenzauber

Bd. 5: Elfenkrieger

Bd. 6: Elfenschiffe

Bd. 7: Elfensturm

Bd. 8: Magiermacht

Bd. 9: Magierschwur

Bd. 10: Magierkrieg

Bd. 11: Magierlicht

Bd. 12: Drachenbann

Bd. 13: Drachenmacht

Bd. 14: Drachenbund

Bd. 15: Drachenkrieg

Bd. 16: Halblingsblut

Bd. 17: Halblingszorn

Bd. 18: Halblingsbund

Der Autor

Dennis L. McKiernan, geboren 1932 in Missouri, lebt mit seiner Familie in Ohio. Mit seinen Romanen aus der magischen Welt Mithgar gehört er zu den erfolgreichsten Fantasy-Autoren der Gegenwart.

Für Martha Lee McKiernan.So fing es an und so ist es.

Ein Teil Mithgar

ANMERKUNGEN DES AUTORS

In Drachenkrieg wird nach Drachenbund die Geschichte des Unmöglichen Kindes fortgesetzt.

Ihre Wurzeln reichen bis in die ferne Vergangenheit zurück, wenn dieser Roman auch an einem Wintertag des Jahres 5E 1009 beginnt. Doch er springt fast unmittelbar sechsundzwanzig Jahre zurück, zum Sommertag des Jahres 5E983. Doch keine Angst, die Geschichte wird zu ihrem Anfang finden und von dort an fortschreiten.

Die Geschichte des Unmöglichen Kindes wurde aus mehreren Quellen rekonstruiert, unter denen nicht die geringste die Anmerkungen zu Faerils Tagebuch waren, von denen noch Fragmente existieren, und in dem verbrannten Teil der Jingarischen Schriftrolle, den ich mithilfe eines Infrarotscanners rekonstruieren konnte.

Da wir gerade von dieser Jingarischen Schriftrolle sprechen, sei hier eine Korrektur angemerkt: Als ich das Nachwort zu Elfenzauber und Elfenkrieger geschrieben habe, stellte ich eine Annahme über das an, was in der Gegend geschrieben und vom Feuer zerstört worden war. Es trifft nicht zu, dass der Fischer seinen Fang zum Dorf brachte, wo er die Entdeckung machte. Seit der Zeit, in der ich diesen Epilog schrieb und den dankenswerten Fortschritten im Bereich des Infrarotscannens ist es mir jetzt gelungen, die Ideographen auf dem verbrannten Teil der Rolle zu dechiffrieren. Und indem ich jetzt die Geschichte des Unmöglichen Kindes erzähle, habe ich die Geschichte des Fischers so geschrieben, wie sie vor langer Zeit auf dieser lange verschollenen Rolle aufgeschrieben war.

Außerdem war die Bezugsquelle Kommentare der Balladen des Barden Estor, die ich beim Verfassen eines früheren Werkes – Zwergenkrieger – nutzte, ebenfalls teilweise dem Feuer anheim gefallen, und einige Vermutungen, die ich seitdem über die Große Scheidung angestellt hatte, haben sich als Irrtümer erwiesen: 1. Beim Verfassen von Zwergenkrieger ging ich davon aus, dass die Magier aus Adonar kommen, während sie tatsächlich aus der Magierwelt von Vadaria stammen, und 2. habe ich auch angenommen, dass die Draega auf Mithgar wegen der Großen Scheidung gestrandet wären. Indem ich jetzt die Geschichte des Unmöglichen Kindes erzähle, und vor allem bei der Schilderung der Welt des Wolfmagiers Dalavar, habe ich diese Fehler korrigiert … sollte eine revidierte Version von Zwergenkrieger erscheinen, werden sie dort ebenfalls berichtigt.

Ich entschuldige mich für diese früheren Ungenauigkeiten bei meinen Lesern und werde mich in Zukunft mehr bemühen, solche Fehler zu vermeiden. Aber da meine Originalquellen so spärlich gesät sind, fülle ich die Seiten in dieser Geschichte wie auch in allen vorherigen mit Annahmen. Im Kern jedoch orientiert sich die Geschichte an ihren Quellen.

Wie auch schon in meinen anderen Werken über Mithgar gibt es hier viele Situationen, in denen sich, durch den Druck des Augenblickes veranlasst, Menschen, Magier, Elfen und andere in ihrer Muttersprache ausdrücken; um mühsame Übersetzungen zu vermeiden, habe ich ihre Worte wenn nötig ins Pellarion übertragen, der Gemeinsprache von Mithgar. In einigen Fällen jedoch habe ich die Sprache unverändert gelassen, um zu demonstrieren, wie viele Sprachen auf Mithgar gesprochen wurden. Außerdem sperren sich einige Worte und Ausdrücke einer Übersetzung; diese habe ich ebenfalls entweder nicht verändert oder in besonderen Fällen einen entsprechenden Ausdruck in Klammern dazu gesetzt, der die Besonderheit des Wortes betont, zum Beispiel (seht), (Feuer) und dergleichen. Außerdem könnte man meinen, dass einige Worte falsch geschrieben sind, deren Schreibweise in Wirklichkeit jedoch korrekt ist – zum Beispiel ist DelfHerr tatsächlich ein einziges Wort, das nur einen Großbuchstaben in der Mitte aufweist.

Die Elfensprache Sylva ist sehr alt und formal. Um ihre besondere Art zu erhalten, habe ich auch alte Formen verwendet, jedoch im Interesse der Lesbarkeit nur sehr zurückhaltend, und einige der archaischeren Ausdrücke weggelassen.

Für die Neugierigen: Das w in Rwn klingt wie ein uu, immerhin ist ein w ein doppeltes u, was ausgesprochen wie das u in Rune klingt. Also wird Rwn nicht Renn ausgeprochen, sondern Ruun.

Schließlich wird in dieser Geschichte auf verschiedene bedeutende historische Ereignisse angespielt. Denjenigen, die sich für weitere Einzelheiten interessieren, empfehle ich die entsprechenden Werke.

DENNIS L. MCKIERNAN

Weissagungen sind häufig subtil …und auch tückisch. So mögt Ihr wähnen,dass sie das eine meinen,obwohl sie etwas vollkommenanderes bedeuten.

1. Kapitel

KHEM

Februar, 5E988(Zehn Monate zuvor)

Bair und Aravan ritten auf ihrer Suche weiter, verließen die Halbmondschlucht und den Ring von Dodona und ritten in die Wüste hinaus. Aravan erzählte Blair vom Schwur des Drachensteins, und außerdem von Arin Flammenseherin und Egil Einauge sowie den anderen, die den Grünen Stein von Xian suchten. Die Sonne zog ihre Bahn über den Himmel, während Aravan die ganze Geschichte erzählte, und am späten Nachmittag, als er sie gerade beendet hatte, stießen sie auf eine Karawanenstraße, der sie in südöstlicher Richtung folgten. Ihr Ziel war Dirra, in Khem, doch sie würden sich noch fünf Tage durch den Sand der Karoo kämpfen müssen, bevor sie die Grenze dieses Landes erreichten.

»Woher kommt er, dieser Drachenstein?«, erkundigte sich Bair, als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen.

Aravan sah zu dem Jungen hinüber. »Woher er kam, konnte niemand sagen, oder wollte es nicht, vielleicht, doch die Drachen hegen eine große Furcht davor, und deshalb haben sie die Magier gebeten, ihn zu bewachen und geschworen, von Plünderungen und Überfällen auf die Welt abzulassen und sich auch nicht mehr in ihre Belange zu mischen.«

»Einige haben den Eid jedoch nicht geschworen, sagtet Ihr das nicht?«

»Allerdings. So wie auch einige Hexer den Schwur nicht leisteten – allesamt Abtrünnige.«

»Schwarze Magier und Kalt-Drachen, die unter dem Bann leiden?«

Aravan nickte. »Die sich im Großen Krieg auf die Seite Gyphons schlugen.«

»Und jetzt ist der Drachenstein verschollen?«

Aravan holte tief Luft. »Ai, Bair. Er befand sich in den Gewölben unter der Akademie der Magier in Kairn, der Stadt der Glocken.« Bei der Erinnerung huschte ein Ausdruck der Trauer über sein Gesicht. »Und als Rwn vernichtet wurde, ging auch der Drachenstein verloren.«

»Vielleicht liegt er immer noch in diesen Gewölben auf dem Grund des Meeres.«

»Vielleicht, Bair. Vielleicht.«

»Wo befindet sich Arin Flammenseherin jetzt?«, erkundigte sich Bair, als sie am nächsten Morgen das Lager abbrachen.

»Sie unternimmt den Düsterritt nach Adonar.«

»Sie hat Mithgar verlassen? Warum?«

Aravan seufzte. »Nach Egils Tod hat sie viele Jahre getrauert. Schließlich überquerte sie das Dazwischen, um Frieden und Trost auf der Hohen Ebene zu suchen.«

Bair belud eines der Kamele. »Und Ihr sagtet, Rael wäre ebenfalls auf die Hohe Ebene zurückgekehrt?«

Aravan nickte. »Ai. Sie und Talarin und Gildor … nebst etlichen anderen. Sie suchten ebenfalls den Trost von Adonar, denn die Erinnerung an den Verlust jener, die im Winterkrieg gefallen sind, lasteten schwer auf ihnen. Unter ihnen befand sich auch Vanidor, Gidors dwa.«

»Meiner Treu«, Bair berührte den Kristallanhänger. »Arin und Rael, beide fort. Dabei hatte ich gehofft, dass jemand von den Elfen hier wäre, der diese Bürde wirklich verstehen und Euch nötigenfalls Trost spenden könnte.« Er hob den Kristall an der Platinkette über seinen Kopf. »Hier, Aravan, nehmt ihn, denn mir scheint, er war für Euch bestimmt.«

Aravan jedoch hob nur abwehrend die Hand. »Noch nicht, Bair. Du trägst ihn, bis wir etwas anderes erfahren … vielleicht schon im Tempel des Himmels.«

Bair legte die Kette wieder um seinen Hals. »Also gut, bis dahin.«

Sie ritten weiter und weiter, bis sie am vierten Tag eines unablässigen Regens die Erg erreichten. Die oueds waren vom Regen angeschwollen und zwangen sie, früh zu rasten.

Am sechsten Tag konnten sie in der Ferne eine Bergkette sehen, die sich über den Horizont erstreckte, und am folgenden Nachmittag stießen sie auf einem Pass auf eine Karawanserei. Dort verbrachten sie die Nacht. Der Besitzer war zwar überrascht, einen Elf in seiner Herberge bewirten zu müssen, hielt ihn jedoch nicht für einen Dschinn. Seine Frau und ihre drei Töchter weigerten sich allerdings, die beiden zu bedienen, obwohl sie von dem Wirt aufgemuntert und schließlich sogar bedroht wurden, und machten Schutzgesten gegen das Böse.

Am folgenden Tag überquerten sie die Grenze nach Khem und verließen die Sande der Erg. Das Land, das sie durchquerten, war karg, wenngleich grüner als jenes, das sie hinter sich gelassen hatten. Und je weiter nach Südosten sie gelangten, desto grüner wurde es.

Es regnete während der folgenden Tage unaufhörlich, während die launischen Winterstürme über das Land fegten, die Kamele sich lautstark knurrend darüber beschwerten, dass sie nass wurden, und ihr Missfallen hochmütig kundtaten.

Jetzt durchquerten unsere beiden Reisenden fruchtbare Täler, wo der Regen hingelangte, und Tage später trabten sie durch Baumwollfelder, wo die beste Baumwolle der Welt wuchs, so behauptete jedenfalls Aravan. Sie kamen an Siedlungen und Dörfern vorbei, meist sehr kleinen, manchmal ein wenig größeren, in denen die khemischen Händler nur zu gern mit ihnen um die Preise ihrer Waren feilschten. Auch wenn sie die beiden Reisenden ein wenig schief ansahen.

Doch während sie das Land durchquerten, sahen sie jeden Tag Reiterei und auch Bewaffnete zu Fuß in der Ferne, die nach Norden strebten …

Der Süden rüstet zum Krieg.

… erkennbar nur an den Staubwolken, die ihren Weg markierten, andere dagegen auf den Straßen, die Aravan und Bair benutzten. Als sich die erste Brigade ihnen näherte, wandte sich der Elf an Bair. »Bedecke dein Gesicht und verstecke dich im Schatten neben der Straße, Bair«, zischte ihm Aravan zu. Dann zog er den Schleier seiner eigenen Ghutrah so über sein Gesicht, dass nur noch seine Augen zu sehen waren, und setzte auch die Kapuze auf. Sie lenkten ihre Kamele neben die Straße, damit die Soldaten passieren konnten. Bair folgte ihm, und die Kamele gehorchten nur allzu willig, weil neben der Straße Futter wuchs.

Als die Khem vorbeimarschierten, bemerkte Bair das Emblem auf ihrem Banner, eine weiße Faust auf einem schwarzen Feld. Dasselbe Symbol wiederholte sich auf der uniformierten Brust jedes Mannes.

Ein Reiter hielt vor ihnen an und beäugte sie misstrauisch. Gerade als er schon Anstalten machte weiterzureiten, zügelte er sein Pferd, drehte sich im Sattel herum und rief: »Shu shurl?«

»San’a min Sabra, Mlâzim«, gab Aravan zurück und hob die Hände zum Friedensgruß.

»Lawain’ râyih?«

Aravan deutete nach Südosten. »La Dirra.«

»Rakka ysallmak!«, rief der Mann, offenbar zufrieden gestellt, wendete sein Pferd und ritt nach Norden weiter.

»Was wollte er?«, erkundigte sich Bair, als die Soldaten fern genug waren.

»Er hat gefragt, was unser Geschäft sei, und ich habe erwidert, wir wären Händler aus Sabra. Dann wollte er wissen, wohin wir ritten, und ich sagte: Dirra. Daraufhin antwortete er: ›Rakka sei mit Euch‹ und ritt weiter. Darauf habe ich nicht geantwortet.«

»Rakka?«

»Ein anderer Name für Gyphon. Hast du ihr Zeichen gesehen ?«

»Ja. Eine geballte Faust, weiß auf schwarzem Grund.«

»Man kennt sie auch unter dem Namen ›Fäuste von Rakka‹; es ist eine alte Religion, die häufig verboten und von übel meinenden Menschen wieder ins Leben gerufen wurde.«

»Diese Sprache«, sagte Bair, nachdem sie ein Stück geritten waren, »ich muss sie erlernen.«

Aravan nickte. »Ich werde dich lehren, was ich weiß, aber bis du die Aussprache einigermaßen beherrschst, solltest du dich taub stellen.«

So reisten sie weiter, Tag um Tag. Aravan lehrte Bair Kabla, die Sprache der Wüste, die der Junge aufgrund seiner Begabung rasch begriff. Dennoch – trafen sie auf Dorfbewohner oder Landarbeiter, so stellte sich Bair taub und reagierte auf keinerlei Geräusch.

Etwa siebenundzwanzig Tage nach ihrem Aufbruch aus dem Kandrawald erreichten sie die Mauern von Dirra, deren schlanke Minarette in den Strahlen der tief stehenden Morgensonne rot leuchteten. Auf ihren Wänden strahlten in runden schwarzen Feldern weiße Fäuste. Aravan und Bair hatten ihre Gesichter verhüllt, als sie durch ein bewachtes Tor in die Stadt und dann weiter durch die schmalen Gassen ritten. Die Wachen hatten sich nur flüchtig nach ihrem Begehr erkundigt, wobei ihre Fragen so einfach gewesen waren, dass selbst Bair sie hätte beantworten können.

Sie ritten durch die engen Straßen der Stadt, drückten sich an den Menschen vorbei und nahmen Kurs auf den Hafen, der am Ufer des Nahr Sharki lag. Der Fluss entsprang in einem westlich gelegenen Gebirge und floss auf seiner Reise durch Dirra, um ostwärts ins Meer zu münden.

Noch bevor die Sonne an diesem Abend unterging, hatte Aravan ihre sechs Kamele gegen ein kleines Schiff und Vorräte eingehandelt.

»Dieses Boot wird uns nach Bharaq bringen, Bair«, erklärte er, als er mit dem Jungen den Proviant an Bord verstaute.

Bair hob einen Wasserkrug an Bord und beäugte das offene Boot skeptisch. »Wenn Ihr es sagt, kelan. Aber auf mich wirkt es recht winzig; es kann doch schwerlich länger als sieben Schritte und am Mast höchstens zwei Schritte breit sein.«

»Es ist eine zweimastige Bovo, elar, und recht seetüchtig. Sie hat ein dreieckiges Segel, zwei Klüver am Hauptmast und ein Segel am Besanmast. Diese Boote sind in der Avagon-See ziemlich verbreitet, vor allem in der Nähe der Steininseln, wo man nur leichte Frachten transportieren kann und Beweglichkeit lebenswichtig ist.«

»Wie kommt das Schiff dann hier her?«

»Der khemische Kapitän, dem ich sie abgekauft habe, sagte, er hätte damit die Avagon-See bis zum Westonischen Ozean überquert, wäre um das Kap der Stürme gesegelt bis in die Sindhu-See hinein, wobei er sich dicht an die Küste gehalten hätte. Er ist jetzt ein Baumwollhändler und verkauft seine Ware bis nach Port Khalin, das an der Roten Bucht liegt. Er war ganz froh, dass er sie loswurde. Offenbar bevorzugen die Kehm ihre gewohnten Dhaus statt solcher Boote, deshalb hat er keinen Käufer gefunden, bis wir gekommen sind. Dadurch war es ein schneller Handel, und zudem ein günstiger.«

Bair stellte den Wasserkrug in den offenen Frachtraum. »Was tun wir, wenn es regnet?«

»Schöpfen«, erwiderte Aravan.

Bair stöhnte. »Schöpfen?«

Der Elf lachte. »Wir haben natürlich auch eine Sturmplane, die von Dollbord zu Dollbord reicht, aber es wird trotzdem hereinregnen.« Als er ein Fass zu den anderen Fässern rollte, blickte Aravan auf die Stadt, in der bereits die ersten Laternen entzündet wurden, da sich das Zwielicht herabsenkte. »Lass uns die Ladung festzurren, damit wir aufbrechen können. Ich habe ein ungutes Gefühl, was Dirra und die Fäuste von Rakka betrifft. Außerdem, je früher wir anfangen …«

»Desto eher sind wir fertig«, beendete Bair den Satz.

Sie machten sich bereit und sicherten ihre Fracht mit Riemen in den Verschlägen, die am Bug und Heck errichtet waren. Es wurde gerade dunkel, als Bair die Leinen von der Mole löste, das Boot vom Ufer abstieß und hineinsprang, während Aravan das Hauptsegel setzte. Mit nur einem Segel manövrierte Aravan das Boot weg von den Kais und Molen, an anderen Schiffen vorbei, die vor Anker lagen und mit ihrem Bug in den Fluss ragten, gehalten von ihren Tauen. Schon bald hatte sich das kleine Schiff von allen Hindernissen gelöst. Aravan nahm Kurs auf die starke Strömung in der Mitte des Flusses, dann hissten er und Bair die beiden Klüver- und das Besansegel, um den frischen Wind so gut wie möglich zu nutzen, der von hinten schräg steuerbord wehte. Unter dem fahlen Licht eines zunehmenden Dreiviertelmondes, das auf den Wellen vor ihnen funkelte, segelten sie von Dirra weg und einem unbekannten Ziel entgegen.

Spät in derselben Nacht marschierte eine Patrouille von fünf Männern, eine Faust Rakkas, auf die Mole. Sie suchten nach zwei Fremden, zwei Ausländern, vielleicht Spionen. Es waren keine Menschen, diese Männer, diese beiden Eindringlinge, jedenfalls wollten das die Gerüchte wissen. Im besten Fall handelte es sich um listige Verführer, im schlimmsten Fall um Feinde Gottes. Die Priester von Rakka wollten sie befragen, und sie würden antworten, wahhaftig. Denn Rakkas Priester verfügten über sehr wirksame Methoden, Antworten zu erhalten, selbst von zögernden und protestierenden Menschen. Hatten sie nicht auch alles über die beiden erfahren, indem sie diesem bibbernden Baumwollhändler einfach nur eine glühend heiße Zange vor den Leib gehalten hatten? Einem Händler, der zu viel Zeit in verderblichen fremden Ländern verbracht hatte? Denn während er kahwi mit seinen Freunden getrunken hatte, von denen einer ein Finger der Faust war, hatte er in einem unachtsamen Augenblick ausgeplaudert, dass er sein ausländisches Boot an zwei Fremde verkauft hatte, an eben jene Spione, die Ungläubigen, die sie jetzt suchten.

Das Boot lag jedoch nicht mehr an seinem gewohnten Platz, als die Faust Rakkas ankam. Doch es mochte sein, dass sie an einen anderen Liegeplatz umgezogen waren. Nach einer langen, fruchtlosen Suche im ganzen Hafen stand die Faust erneut an dem leeren Liegeplatz. Die Männer starrten auf den mondbeschienenen Fluss hinaus, erblickten jedoch keine Spur des ausländischen Bootes. Falls die Ungläubigen, die Spione wirklich davongesegelt waren, würden die Priester ihnen vielleicht eine Dhau hinterherschicken. Aber einstweilen hatten sich die Fremden ihrem Griff entzogen. Die Männer knirschten vor unterdrückter Wut mit den Zähnen und gingen ergrimmt davon. Weh dem, der ihnen in die Quere kam.

Aravan und Bair segelten den Nahr Sharki hinab. Der Wind und die Strömung trugen sie nach Osten. Ab und zu verengte sich der Fluss, die Strömung wurde schneller, dann wieder wurde er flacher und damit auch langsamer. Aber der Wind trieb sie dennoch weiter. Sie segelten durch ein fruchtbares Flusstal, an Feldern mit Baumwolle, Getreide, Melonen und anderen Früchten vorbei, ebenso an Obst-und Nussplantagen. Schafherden ruhten unter den Sternen und das Land bot eine Fülle an Nahrung dar. In diesen Breiten beeinträchtigte die Winterzeit die Ernte und das Wachstum nicht.

Bair betrachtete die Überfülle. »Warum sollte ein Land wie Khem, ein solch reiches, fruchtbares Land, in den Krieg ziehen? Ich meine keinen Krieg, in dem es sich verteidigt oder einen Eindringling zurückschlägt, sondern einen Angriffskrieg, zu dem es sich rüstet und mit dem es Blutvergießen in ein anderes Land trägt.«

»Es sind Rakka, Gyphon, und seine Priester, die das Volk dazu anstacheln«, erwiderte Aravan. »Denn Er und sie wollen alles beherrschen.«

»Hier, Bair«, rief der Elf nach einem Blick in den mondhellen Himmel. »Nimm das Ruder, denn ich möchte schlafen.«

»Ich soll das Ruder …? Aber kelan, ich verstehe nichts vom Segeln.«

Aravan blickte auf die Wimpel am Mast. »Lass die Segel, wie sie sind, und halte uns in der Mitte des Flusses; Wind und Strömung tragen uns ausgezeichnet.«

»Aber Flüsse krümmen sich, kelan, und sollte eine große Biegung kommen, wird der Wind anschließend aus einer anderen Richtung wehen.«

»Ai, aber erst gen Morgen wird der Fluss eine große Biegung machen, jedenfalls sagt das meine Karte.«

Bair hob skeptisch eine Braue. »Ich warne Euch nur, Aravan: Es könnte sein, dass ich Euch vor dem Ablauf meiner Wache wecke, falls etwas schiefgeht, denn wahrlich, ich bin kein Seemann.«

Aravan entrollte seine Schlafdecke mittschiffs und legte sich hin. »Keine Angst, Bair. Solange uns der Wind schneller trägt als die Strömung, kannst du steuern. Sollte er jedoch abflauen, dann müssen wir an die Ruder, denn dieses Boot verhält sich in dem Fall ganz so wie ein Floß. Und was deine Geschicklichkeit als Seemann angeht: Ab morgen werde ich dich lehren, ein Schiff zu steuern, und du wirst sehen: Noch bevor wir Adras in Bharaq erreicht haben, bist du ein ausgezeichneter Seemann.«

Am zweiten Tag ihrer Schiffsreise kamen sie durch eine hohe Schlucht aus rotem Stein, die fast einen Werst in der Länge maß. Etwa nach einem Drittel erhoben sich für eine Meile gewaltige Steinstatuen, die in die roten Wände gemeißelt waren, längst vergessene Götter oder Monarchen, deren Gesichter von der Witterung bis zur Unkenntlichkeit erodiert worden waren. Wer es einst gewesen sein mochte, das war jetzt nicht mehr zu erkennen, denn selbst die Ornamentmotive, die sie hätten kennzeichnen können, waren unleserlich oder ganz verloren.

»Wer könnte die wohl geschaffen haben und zu welchem Zweck?«, erkundigte sich Bair, während er die großen, schweigenden Giganten musterte.

Aravan zuckte mit den Schultern. »Wer? Nun, Steinmetze, Bildhauer und dergleichen. Das warum jedoch … vielleicht wurde es von Priestern verfügt, falls diese Figuren Götter repräsentieren. Sollten sie jedoch Monarchen darstellen, dann wurden sie gewiss geschaffen, um diesen Herrschern auf solche Weise Unsterblichkeit zu gewähren, eine dauerhafte Erinnerung an sie. Doch Anbetung, Unsterblichkeit und eine Erinnerung dieser Art sind rasch vergänglich, denn selbst Stein stirbt im Lauf der Äonen, langsam zerstört von Wasser und Wind, der ihm Korn um Korn seine Substanz stiehlt.«

»Dann müssen diese Standbilder aber schon lange hier stehen«, erklärte Bair. »Schließlich sind ihre Gesichter kaum noch zu erkennen.«

Aravan nickte. »Lange, ai. Vielleicht sogar noch vor den Lian.«

Bair sah ihn staunend an. »Vor den Elfen? Aber kelan, ich dachte, die Elfen wären die Ersten gewesen, die ihren Fuß auf diese Welt setzten?«

Aravan runzelte die Stirn und hob ratlos die Hand. »Das ist ganz und gar nicht sicher, Bair, denn die Lian fanden Spuren, die besagten, dass andere vor ihnen hier gewesen waren, wenngleich auch nur spärlich. Das Kolaré an e Ramna, die Senke der Verschwundenen ist ein solcher Ort.«

»Ah ja«, erinnerte sich Bair. »Dieser Felskessel zwischen Ardental und dem Ödwald. Weiß irgendjemand, wer sie waren?«

Aravan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht der Große Schöpfer, vorausgesetzt, Er existiert überhaupt.«

Bair runzelte die Stirn. »Ihr stellt die Existenz des Großen Schöpfers infrage?«

»Bair, man muss seinen Glauben immer prüfen, immer die Wahrheit suchen.« Aravan blickte zu den gewaltigen Steinfiguren hinauf. »Vielleicht haben jene vor langer Zeit Götter repräsentiert, Götter, die jetzt vergessen sind, Götter, die niemals existierten, an die die Menschen ungeachtet dessen aber glaubten.«

Bair sah auch hoch. »Irregeleiteter Glaube?«

Bevor Aravan antwortete, wies er Bair an, dem Hauptsegel etwas Seil zu geben, korrigierte die Ruderpinne und erklärte dem Jungen, warum er das getan hatte.

Bair nickte verstehend, deutete dann jedoch wieder auf die Standbilder. »Seid Ihr sicher, dass dies Götter waren, die es niemals gab, und dass folglich der Glaube daran unangebracht gewesen wäre?«

»Möglich.« Aravan hob erneut die Hand. »Einige glauben, dass dies genau der Mangel des Glaubens ist, die Hingabe an das, dessen Wahrheit niemals gezeigt werden kann, die aber dennoch als solche angenommen wird. Andere wiederum sehen genau darin die Stärke des Glaubens, die Kraft zu glauben, trotz des Mangels an Beweisen. Diese Steingötzen mögen nur die Sehnsucht eines Volkes repräsentieren, das Erklärungen für sein Dasein suchte.«

»Und der Große Schöpfer ist wie diese erodierten Standbilder? Nicht mehr als eine Spekulation, die wir konstruieren, um zu erklären, wie wir hierhergekommen sind?«

»Vielleicht«, gab Aravan zu.

Bair starrte auf den Fluss, der vor ihm lag, als suchte er Antworten, und als würden sie gleich hinter der nächsten Biegung auftauchen. »Wie kann das sein, Aravan? Ich meine, welche andere Erklärung hat die Schöpfung als die eines Schöpfers?«

Aravan zuckte mit den Schultern. »Einige glauben, dass alles von ihnen innewohnenden Kräften regiert wird, von Kräften, die wir nicht verstehen, die aber dennoch natürliche Kräfte sind. Diejenigen, die das glauben, sagen, die ganze Schöpfung werde nicht von Göttern beherrscht, sondern existiere aus eigener Kraft.« Aravan deutete auf den Fluss. »Das Wasser fließt, die Pflanzen wachsen, Vögel fliegen, erhobene Steine fallen zur Erde zurück, und ständig finden Veränderungen in der Welt statt, die sich allesamt ohne den Einfluss der Götter vollziehen. Das Leben kommt und geht und wandelt sich, alles, ohne dass die Götter auch nur einen Finger zu krümmen scheinen, selbst in der Erschaffung neuen Lebens oder dem Erlöschen des alten.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Bair nachdenklich. »Meinst du, dass Zufälle und Begebenheiten eher die Dinge bewegen, die sich in einem Leben ereignen, als Götter? Dass der Große Schöpfer nicht benötigt wird, um neue Arten von Leben zu erzeugen, sondern dass die Natur allein schon genügt ?«

Aravan nickte. »Ai, Bair. Die Elfen existieren schon so lange, dass sie sehen konnten, wie sich Dinge verändern, wie Natur und Ereignisse allein gewisse Kreaturen auslöschen, während neue Kreaturen ins Leben treten. Und merke, dies habe ich selbst gesehen:

Es existierten einst weiße Motten, die auf gewaltigen weißen Steinfeldern einer Insel im Hellen Meer lebten. Einige Motten waren zwar etwas dunkler als andere, aber alle waren mehr oder weniger weiß. Diese Steinfelder lagen auf dem Zugweg der Wanderschwalben, und obwohl die Motten den Schwalben reichhaltige Nahrung boten, fanden sie selten genug von ihnen, um sich an ihnen satt zu fressen, und das, obwohl sie im Frühling und im Herbst vorüberzogen, als es Motten im Überfluss gab. So verharrten die Dinge ein Jahrtausend lang. Doch unter gewaltigen Explosionen stieg eines Tages vom Meeresgrund in der Nähe der Insel ein gewaltiger Feuerberg auf, der seine Asche über alles legte, und den weißen Stein dieser Insel mit einer gewaltigen grauen Ascheschicht überzog. Jetzt konnten die Wanderschwalben die weißen Motten auf der grauen Asche besser sehen und fraßen sich an der Fülle satt. Doch einige der dunkleren Motten überlebten, erhielten ihre Art, und auch unter diesen neuen Motten gab es etliche, die noch dunkler waren. Jahr um Jahr überlebten mehr der dunkleren Motten und erzeugten immer mehr dunklere Nachkommen. Während die Jahreszeiten verstrichen, konnten die Schwalben sie erneut nicht mehr sehen, weil sie grau vor der grauen Asche waren. Und jetzt existieren auf diesen von grauer Asche bedeckten Felsformationen Myriaden von grauen Motten. Weiße dagegen gibt es nicht mehr. In diesem Fall war es die Natur mit ihren Kräften, die diese Veränderung bewirkt hat. Einige behaupten, dass ähnliche Kräfte ebenfalls für den Wandel in allem anderen verantwortlich sind, wobei Zufall und Unfälle neben den natürlichen Ereignissen keine geringe Rolle spielen.«

»Aber das ist doch nur ein einzelnes Beispiel, Aravan. Sicher muss es noch andere geben, die den Zustand der Welt und das Leben auf und in ihr erklären.«

»Oh, Bair, es gibt noch viel mehr.«

»Zum Beispiel?«

»Lian, die vor langer Zeit nach Mithgar kamen, haben mir erzählt, dass einst Eis diese Welt bedeckte. In dieser Zeit traten viele neue Tierarten auf, Tiere, die ihren Vorfahren zwar ähnlich, aber dennoch von ihnen unterschieden waren, neue Tiere von ungeheurer Größe. Der große Bär, die haarigen und mit Stoßzähnen bewehrten Mammute, der Säbelzahntiger, gewaltige Auerochsen und noch andere, allesamt riesige Tiere. Es scheint, dass die kleineren Kreaturen in diesen eisigen Reichen einfach nicht so gut überleben konnten wie ihre großen Verwandten. Als das Eis jedoch schmolz, wurden die meisten dieser riesigen Kreaturen von Menschenstämmen vernichtet, so wie die Schwalben die weißen Motten vernichteten. In diesem Fall jedoch war die Menschheit weit wilder, als Schwalben es je sein könnten, denn im Unterschied zu den Motten ließen die Menschen den Tieren keine Zeit, ihren Bestand zu vermehren, bis sie schließlich ganz aus dieser Welt verschwanden. Wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn sich die Menschen nicht eingemischt hätten? Ich weiß es nicht, Bair. Ich nicht.

Und zudem bedenke dies, elar: Ich habe die Knochen gewaltiger Kreaturen in Stein eingebettet gesehen, drachengleich, und dennoch keine Drachen. Katastrophen aus grauer Urzeit haben sie in Stein gepresst; wie das geschah, weiß ich nicht, aber sie sind jedenfalls versteinert.«

»Glaubt Ihr, dass sie diese Welt tatsächlich einst besiedelten ?«

»Vielleicht, Bair, auch wenn die Priester von Rakka behaupten würden, es wäre der Böse Selbst gewesen, vielleicht auch Adon, der sie aus der Welt vertrieb, um die Menschheit zu verwirren.«

»Aber Rakka ist doch der Böse, Aravan, und Adon der Gute. Sie haben es einfach nur umgekehrt. Wie können sie so etwas behaupten?«

Aravan lachte. »Sie glauben es einfach.«

Erneut ließ Aravan Bair den Winkel des Segels verändern, und auch den der Klüver, wobei er ihn lehrte, welche Stellung des Segels den Wind am besten nutzte. »Ihr scheint zu behaupten, Aravan«, meinte Bair, als er fertig war, »dass Glaube eine schlechte Sache sei.«

»Nein, elar. Ich sage nur, dass der Glaube an eine unrichtige Sache einen in die Irre führen kann.«

»Woher weiß man denn, was wahr ist und was falsch? Woran man glauben muss?«

Aravan hob die Hand. »In Glaubensfragen, elar, kann nur das Herz den Weg weisen, nicht der Verstand. Dennoch, Bair, ignoriere nicht die Beweise, die das Gegenteil besagen, ganz gleich, wohin es führen mag, selbst wenn du deinen Glauben infrage stellen musst, und selbst wenn du herausfindest, dass dein Herz sich irrte und dein Glaube unangebracht war.«

»Aber kelan !«, protestierte Bair. »Zu entdecken, dass der Glaube fehlgeleitet war, scheint mir schrecklich zu sein. Kann der Verlust des Glaubens jemanden nicht vom Kurs abbringen, so als würden wir die Ruderpinne unseres Schiffes verlieren?«

»Die Wahrheit tut manchmal weh, Bair, aber sie bleibt dennoch die Wahrheit. Und auf lange Sicht macht die Wahrheit einen nur stärker. Und lieber als ziellos zu treiben, sollte man die Ruder zu Wasser lassen und sich erneut auf den Weg machen … nach der Wahrheit suchen, eine neue Ruderpinne suchen. Denn manchmal führt die Suche nach der Wahrheit auch zu einem neuen Glauben – zu etwas, dem das Herz treu bleiben kann.«

»Ihr wollt, dass ich meinen Glauben für die Suche nach Wahrheit prüfe?«

»Merke auf, Junge: Den Glauben zu prüfen ist keine Missetat, sondern es ist eine solche, ihn nicht zu prüfen.«

Bair seufzte. »Also gut, kelan. Aber dann möchte ich Euch dies fragen: Wenn all dies das Resultat natürlicher Kräfte ist, wie erklärt Ihr dann die Sterne, den Mond und die Sonne und die Planeten selbst? Wurden sie ebenfalls von ihnen innewohnenden Kräften geschaffen, von Kräften, deren Wirken wir nicht verstehen?«

»Das kann ich nicht sagen, Bair. Mag sein, dass wir es eines Tages erfahren, vorausgesetzt wir missachten keine Beweise, auf die wir unterwegs stoßen.«

Sie segelten schweigend weiter, während sie unabhängig voneinander über die Welt, das Leben und die Schöpfung sinnierten und darüber, wie sie entstanden sein mochte. Keiner der beiden jedoch erhaschte auch nur einen Schimmer irgendeiner Antwort darauf.

Während sie nachdachten, segelten sie an den gewaltigen, geheimnisvollen Standbildern aus rotem Stein vorbei, den massiven Giganten, die von unbekannten Händen aus einem unbekannten Zweck geschaffen worden waren, und die ihnen ebenfalls keine Antwort gaben.

2. Kapitel

GESCHICHTEN

März bis April, 5E1009(Neun bis acht Monate zuvor)

Getrieben vom Wind und getragen von der Strömung erreichten Aravan und Bair Port Khalin in nur vier Tagen. Bair musste mehrmals schöpfen, denn mit dem Wind kam auch der Regen, der für diese Jahreszeit normal war. Aber er war nicht so stark, dass sie etwa die dreiteilige Regenschutzplane hätten spannen müssen. Sie hielten sich jedoch in Port Khalin nicht lange auf, dieser Stadt an der Mündung des Nahr Shaki, wo er in die Rote Bucht floss, denn schwarze Flaggen mit dem Emblem einer weißen Faust flatterten von den Fahnenstangen am Hafen. Also segelten sie weiter, denn sie hatten genug Wasser und Nahrung, aber keine Geduld, sich mit den Fäusten von Rakka auseinanderzusetzen. So segelten sie an der Stadt vorbei und in die nördlichen Gewässer der Sindhu-See, unter dem schwachen Licht eines fast vollen Mondes, der zwischen Lücken in den dunklen Gewitterwolken herauslugte, die über ihren Köpfen fast schwarz dahinzogen.

Der Sturm fegte mitten in der Nacht über sie hinweg. Der Wind wühlte die Wogen auf, die am Heck auf der Steuerbordseite ins Boot schlugen, während der Regen auf sie herunterprasselte. Sie legten ihre Wetterkleidung an, die zu dem Boot gehörte. Allerdings war Bairs Ölzeug ein paar Zentimeter zu klein. Sie sicherten die Sturmplane von Dollbord zu Dollbord, und von Heck zu Bug, um den Regen und die Wogen des Meeres aus dem Boot zu halten. Das kleine Schiff durchschnitt, getrieben von dem Sturmwind, die Wellen, ritt die gewaltigen Wogen hinauf, die quer zu ihrem Kurs von Steuerbord unter ihrem Boot hinwegtosten.

»Sollten wir Segel reffen, Aravan?«, rief Bair durch das Heulen des Sturms. Der Junge hatte diesen Ausdruck erst am Vortag gelernt.

»Nein, elar, es ist nicht nötig, die Segel zu streichen, denn wir machen gute Fahrt in diesem Sturm; bestimmt fünfzehn Knoten, denke ich. Hier, nimm die Ruderpinne, dann werde ich das Segel trimmen.«

Als Bair das Ruder übernahm, löste Aravan die Klüversegel, lockerte sie ein bisschen und band sie dann erneut fest. Die Segel bauschten sich nach backbord. Dann ließ er Seil am Baum nach und veränderte den Winkel des Hauptsegels ein Stück, was er auch bei dem Besamsegel wiederholte.

»So!«, rief er Bair zu, »jetzt machen wir vielleicht sechzehn Knoten!«

Zwei Tage und zwei Nächte toste der Sturm, ohne dass der Regen nachließ. Der Wind von achtern trieb die kleine Bovo über die wogende See. Aravan und Bair schöpften immer und immer wieder, als das Regenwasser und das Meerwasser ins Boot liefen, auch wenn die Plane das meiste abhielt. Aber eben nicht alles. Aus diesem Grund schliefen sie auch nicht im Rumpf des Bootes, weil dort das Wasser hin und her schwappte, sondern setzten sich abwechselnd mit untergeschlagenen Beinen auf die Plane und ruhten in tiefer Meditation. Doch Ruhen und Schöpfen waren nicht Bairs einzige Aufgaben; er segelte auch das Boot, und Aravan lehrte ihn, wie er die Pinne und Segel bedienen und Letztere günstig in den Wind stellen musste.

Die beiden sorgten dafür, dass das Hauptsegel, die Klüver und das Besansegel gut im Wind standen. Das vermochten sie durch die Leinen, die durch Flaschenzüge liefen, welche an den Masten befestigt waren, und über weitere Rollen zum Heck führten, sodass derjenige, der die Ruderpinne bediente, auch die Segel unter Kontrolle hatte.

Zu den Mahlzeiten kroch Bair unter die tropfnasse Sturmplane aus Segeltuch, und holte Wasser und Zwieback aus den Vorräten im Bug. »Ich würde alles, was ich besitze, für eine warme Mahlzeit und Tee geben«, knurrte er dabei mehr als einmal. »Selbst heißer Tee allein käme mir schon wie ein Geschenk der Götter vor.«

Am zweiten Tag ihrer Reise durch die sturmgepeitschte See erzählte Aravan Bair die ganze Geschichte von Elyn und Thork, trotz Bairs früherer Ankündigung, dass er sie allein lesen würde. Aravan beschränkte sich nicht auf die kurze Inhaltsangabe, die er ihm vor einer Weile gegeben hatte, denn ihm schien, als sollte der Junge alles erfahren. Tränen standen Bair in den Augen, als der Elf die Geschichte beendete, obwohl der Junge behauptete, es wären nur Regentropfen.

»Es ist eine traurige Geschichte, das weiß ich«, erwiderte Aravan, »aber es ist besser, dass du sie kennst, denn auch ein bisschen Wissen ist besser als gar keines, und viel Wissen wiederum ist besser als wenig.«

»Sagt das Dodona«, erwiderte Bair knurrend, während er in dem strömenden Regen Wasser aus dem Boot schöpfte.

Aravan lächelte. »Vielleicht, elar, verbergen sich in den Geschichten, die ich dir kürzlich erzählt habe, der vom Kammerling und der anderen vom Grünen Stein von Xian, Hinweise auf etwas, was wir in der Zukunft finden mögen. Was das sein könnte jedoch kann ich nicht sagen.«

Sie segelten weiter durch den Wolkenbruch und die Wogen, getrieben vom stürmischen Wind, wobei Aravan nach reinem Instinkt manövrierte. Kurz nach Morgengrauen des vierten Tages hörte der Regen eine Weile auf. Der Sturm jedoch toste weiter, und über den hohen Wellenbergen an Steuerbord sahen sie hohe, dunkle Klippen im Meer.

»Ah«, sagte Aravan. »Wären wir doch an Bord der Eroean!«

»Warum?« Bair versuchte, sich den Regen mit den nassen Fingern aus seinem Gesicht zu wischen.

»Dahinten liegt die große Insel Malaga.«

Bair runzelte die Stirn. »Und …?«

»Bair, wäre dieses Boot die Eroean, dann wären wir bereits viel weiter, aber leider ist dem nicht so. Trotzdem hat sich das Boot gut geschlagen, so wie es sich vom Wind treiben lässt, denn wir sind in nur drei Tagen fast eintausend Seemeilen weit gekommen.«

»Ist das gut? Ich meine, wenn eine Seemeile genauso lang ist wie eine Landmeile …«

»Nein, Bair, eine Seemeile ist etwas länger, etwa zweihundertsiebzig Schritte, um genau zu sein.«

»Trotzdem«, meinte Bair, »tausend Seemeilen, oder ein bisschen mehr in Landmeilen gemessen, scheint mir eine weite Strecke, die wir in so kurzer Zeit zurückgelegt haben. Aber ich verstehe wenig von Booten. Also frage ich Euch noch einmal: Ist das gut?«

»Es ist großartig! Es bedeutet, dass wir im Durchschnitt fast dreizehn Knoten vor dem Wind gemacht haben!«

Noch während Aravan sprach, prasselte erneut der Regen auf sie herunter, und die Klippen verschwanden hinter ihrem grauen Schleier. Das kleine Boot segelte weiter, getrieben von dem starken Wind.

Der Sturm ging noch mehrere Tage so weiter, bis sie schließlich am späten Nachmittag des siebten Tages ein Kap an Backbord umrundeten, ein breites Festland, das als Kap von Rhaman bekannt war, die südlichste Spitze des Landes Quraq. Als sie danach Kurs Nord-Nordost einschlugen, wurde der Sturm allmählich schwächer, und gegen Mittag des achten Tages in der Sindhu-See klarte der Himmel auf, wenngleich das Meer immer noch wogte.

Bair löste die drei überlappenden Sturmplanen, faltete das getrocknete Segeltuch zusammen und war froh, endlich wieder die Sonne sehen zu können. Er hoffte, so sagte er, dass Adons Licht das Innere des Bootes austrocknen möge. Während er die Planen in einem Verschlag verstaute, hielt er inne. »Kelan, mir ist gerade etwas eingefallen, was Dodona gesagt hat, unmittelbar bevor er verschwand. ›Geh und zwar jetzt, sonst wird der aufkommende Sturm Euch vernichten.‹ Genau das hat er gesagt. Glaubt Ihr, dass er diesen Sturm meinte?«

Aravan sah Bair überrascht an. »Vielleicht, Bair, mag sein. Der Sturm, in dem wir segelten, passt tatsächlich zu seinen Worten, denn er hat uns gut zugesetzt. Dennoch könnte er auch auf bevorstehendes Leid angespielt haben. Oder aber auf einen anderen Sturm, in den wir noch geraten werden.«

Bair knurrte gereizt und stopfte den Rest der Plane in den Verschlag, schlug den Deckel zu und schob den Riegel vor. »Rätselhafte Worte, verwirrende Geheimnisse, versteckt in obskuren Mysterien, und dann in unverständliche Rätsel verpackt.«

Am Vormittag des folgenden Tages stand Bair am Ruder. »Ich habe über unser Gespräch von gestern nachgedacht«, meinte er. »Über den Großen Schöpfer und die innewohnenden Kräfte, über Natur und Zufälle, Umstände und Unfälle, und ich möchte Euch eine Frage stellen, kelan. Sind denn Adon und Elwydd, Garlon, Fyrra, Raes, Theonor und andere, selbst Gyphon, Brell, Naxo und Ordo, sind sie alle keine Götter?«

»Vielleicht, Bair.«

»Ihr meint, es gibt sogar Zweifel, dass sie Götter wären?«

»Ich wiederhole, vielleicht. Adon Selbst nennt sich nicht so und meint, auch Er würde von den Parzen getrieben werden, den Schicksalsgöttinnen.«

»Die Parzen: Gibt es sie wirklich?«

»In persona? Das weiß ich nicht.«

Bair runzelte die Stirn. »Vielleicht sind die Parzen ja nur ein anderer Name für den Großen Schöpfer.«

»Oder eine andere Bezeichnung für die innewohnenden Kräfte, die Zufälle, die Umstände und die Versehen«, antwortete Aravan.

Bair schwieg, als sie in dem kräftigen Wind dahinsegelten, der direkt von achtern wehte. »Wenn Adon und Elwydd«, meinte der Jüngling dann schließlich, »und alle anderen keine Götter sind, Aravan, warum werden sie dann von so vielen angebetet?«

»Möglicherweise sind sie Götter, Bair, vielleicht aber auch nur gottähnliche Wesen.«

»Diese Unterscheidung kann ich nicht verstehen, Aravan. «

»Der Unterschied, elar, liegt darin, wie man über sie denkt … und wie sie selbst sich sehen.«

Bair hob die Brauen, sagte jedoch nichts, als sie weiter nach Nordosten segelten, mit Kurs auf die Hafenstadt Adras in Bharaq.

Es kostete sie vierzehn Tage, das Kap von Rhaman zu umschiffen und die Bucht von Adras zu erreichen, denn sie kamen jetzt, ohne den Sturm, sehr viel langsamer vorwärts. Aravan vermutete, dass sie auf ihrer letzten Etappe höchstens sechs Knoten geschafft hatten. Trotzdem legten sie am fünfundzwanzigsten Tag des März, drei Tage, nachdem sie den Frühlingstag gefeiert hatten, in Port Adras an, zweiundzwanzig Tage früher, als Aravan in Dodonas Reich geschätzt hatte. Die Kamele waren früher als geplant in Dirra angekommen, während der Fahrt auf dem Nahr Sharki hatten sie ebenfalls einen Tag gewonnen, doch den größten Teil ihres Vorsprungs hatte ihnen der Sturm geschenkt, der sie über die See getrieben hatte, denn sie hatten kein einziges Mal gegen den Wind kreuzen müssen. Es war, als hätte Fortuna ihnen zugelächelt, wenngleich Bair mehr dazu neigte, es Dodonas Voraussage zuzuschreiben.

Den Rest dieses und die beiden folgenden Tage kümmerten sie sich darum, das Bovo unterzubringen, und dann erstanden sie Pferde und Proviant für ihren Ritt nach Jangdi. Unter anderem kauften sie Seile, Felsnägel, Keile, Schnappringe und Kletterharnische. Dazu Eispickel, Krampen und Rucksäcke mit Rahmen sowie Kaltwetter-Kleidung. Schließlich wollten sie in die Berge reisen, wo sie eine solche Ausrüstung sehr wahrscheinlich benötigen würden.

Sie fragten die Händler, von denen sie die Waren kauften, auch nach dem Weg zum Tempel des Himmels, wurden jedoch ausgelacht, weil dieser Ort doch nur eine Legende wäre, der man nicht glauben dürfte.

»Was tun wir jetzt?«, erkundigte sich Bair, nachdem sie den letzten Händler verlassen hatten. »Selbst wenn Jangdi nur ein kleines Bergkönigreich ist, wir könnten dort ewig nach dem Tempel suchen.«

»Keine Angst, Bair, denn wir werden noch einen weiteren Ort aufsuchen, das Geschäft eines Freundes. Ich habe ihn vor vielen Jahren auf einer meiner Reisen kennengelernt, auf der Suche nach dem gelbäugigen Mann.«

Aravan führte Bair zu dem Laden eines Kartenhändlers, eines uralten Mannes namens Dharwah, der sich sehr freute, Aravan zu sehen. Auch der Elf freute sich, seinen alten Freund wieder zu begrüßen, blickte hinter die Runzeln und Altersflecken, die zittrigen Hände und die weißen Haarsträhnen, und sah den jungen, sterblichen Mann, den er einst kennengelernt hatte. Doch auf die Frage nach dem Tempel des Himmels musste Dharwah zugeben, dass selbst er seine Lage nicht kannte, und auch die anderen in seinem Geschäft, weder seine betagte Frau noch seine erwachsenen Söhne wussten es. Sie alle jedoch verneigten sich ehrfürchtig vor Aravan und nannten ihn dabei Velinimet. Obwohl Dharwah nicht wusste, wo sich der Tempel befand, konnte er ihnen eines sagen: »Ich habe von einem Ältesten in dem Dorf am Fuß des Jangdi gehört, der angeblich mit gelb gekleideten Mönchen dieses fernen Zufluchtsortes Handel treibt. Wenn jemand etwas über den Tempel des Himmels weiß, dann entweder dieser Dorfälteste oder die heiligen Männer, mit denen er Geschäfte macht. Falls überhaupt etwas an diesen Gerüchten wahr ist.«

»Und der Name des Dorfes und der des Ältesten?«, erkundigte sich Aravan.

»Den des Ältesten kenne ich nicht, aber das Dorf …« Dharwah blätterte Karte um Karte durch, bis er schließlich eine herauszog. »Ah, hier ist sie.« Er legte den Finger auf einen Punkt der Karte und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Das Dorf heißt Umran.« Er drehte sich von dem Pergament weg zu Aravan. »Hier, Velinimet, seht Ihr?«

Aravan warf einen Blick auf die Karte, lächelte und wollte Dharwah ein Goldstück dafür geben. Doch der Alte weigerte sich, es anzunehmen und sagte, dass Aravan schon mehr als genug bezahlt habe, indem er so viele Karten für seine früheren Seereisen gekauft hätte.

Als Aravan und Bair das Geschäft des Kartenhändlers verließen, hatte Aravan das Pergament bei sich, das ihnen den Weg durch Bharaq zum Dorf Umran am Fuß des Jangdi zeigte.

»Sie haben Euch mit einem Namen angesprochen«, meinte Bair. »›Velinimet‹. Was bedeutet er?«

»Gönner«, erwiderte Aravan. »Es scheint, als hätten meine Karten, die Dharwah als junger Mann kopiert hat, ihm gute Dienste geleistet.«

Bair warf einen Blick über die Schulter auf den Kartenladen. »Hoffen wir, dass sich die Karte, die er uns gegeben hat, für uns als ebenso nützlich erweist.«

Am frühen Morgen des nächsten Tages verließ Aravan mit zwei Pferden und drei beladenen Packpferden die Stadt auf der Straße nach Jangdi. Vor ihm rannte ein Silberwolf voraus. Die Wachen am Tor machten keine Anstalten, den Elf anzuhalten und ihre üblichen Zollgebühren zu verlangen; stattdessen verzogen sie sich eilig in ihre Wachstube und verrammelten die Tür. Von drinnen sahen sie atemlos zu, wie der monströse Wolf an ihnen vorbeilief, und blieben in ihrem sicheren Haus, während der Reiter seiner wilden Eskorte folgte und davonritt.

Sie ritten nach Norden, über das Land, das aus sanft ansteigenden Ebenen bestand. Es war ein fruchtbares, grünes Reich. Auch dort jedoch wehten die Frühlingswinde und brachten Regen mit sich. Diese Regengüsse begleiteten die beiden den ganzen Tag.

Als sie sich an diesem Abend unter einem behelfsmäßigen Zelt zusammenkauerten, sagte Aravan: »Bair, vielleicht sollte ich dir die ganze Geschichte von der letzten Reise der Eroean erzählen, denn ich weiß nicht, ob etwas davon möglicherweise für unser derzeitiges Abenteuer von Belang sein könnte. Also ist es besser, wenn du die Geschichte kennst, selbst wenn du mit diesem Wissen am Ende nichts anzufangen weißt.«

»Die letzte Reise? Als Ihr im Winterkrieg mit ihr gesegelt seid?«

»Nein, elar. Das war nicht ihre wirklich letzte Fahrt. Ich werde dir von einer Reise erzählen, die lange davor stattgefunden hat, damals, in den letzten Tagen der Ersten Ära.«

»Meiner Seel, kelan, erzähl sie mir nicht, wenn es Euch Schmerzen bereitet.«

Aravan atmete einmal tief durch. »Es gibt zwar noch zwei andere, die sehr viel von dieser Geschichte kennen, zwei Pysks, Jinnarin und Farrix, aber keiner von ihnen kennt die ganze Wahrheit, die im Logbuch der Eroean geschrieben steht. Und ai, sie mag mir Herzschmerz bringen, dennoch wird es Zeit, dass ich sie jemandem mitteile, und am Ende erweist es sich möglicherweise sogar als nützlich.«

Bair nickte, sagte aber nichts, sondern wartete darauf, dass Aravan zu erzählen anhub.

»Es begann alles auf Rwn, als ein Pysk namens Farrix Rauchwolken sah, die sich von der Wintermorgenröte absonderten und hinter dem Horizont versanken, wo nur das Meer lag. Er verließ seine Gefährtin Jinnarin und machte sich auf, die Lösung dieses merkwürdigen Rätsels zu finden …«

Im Laufe der nächsten drei Nächte, von denen sie zwei in ihrem Lager und die dritte in der Scheune eines freundlichen Bauern verbrachten, erzählte Aravan, wenngleich manchmal stockend, von Jinnarin, Alamar und einem Furcht einflößenden Traum; auch von Aylis sprach er, seiner Liebe, der Mannschaft der Eroean, und der weltumspannenden Suche von Farrix, von Durlok und einer Kristallgrotte auf einer Insel im Großen Mahlstrom, von der Vernichtung Rwns und der Vergeltung, die dem folgte.

Bair saß derweil schweigend da und unterbrach den Elf nicht ein einziges Mal, hielt die Myriaden von Fragen zurück, die ihm auf der Zunge lagen. Denn der Jüngling wusste, wie schwierig es für Aravan sein musste, überhaupt davon zu sprechen, und Bair wollte seinem kelan keinen zusätzlichen Kummer bereiten.

Die Geschichte endete, als sie in der Nacht in der Scheune saßen, während der Regen auf das Dach prasselte. Keiner sagte etwas, nachdem Aravan am Ende seiner langen Geschichte verstummt war. Schließlich stand Aravan auf, öffnete die Stalltür und spähte in den Regen hinaus. »Schlaf jetzt, Bair«, sagte der Elf heiser. »Ich werde dich zu deiner Wache wecken.«

Bair trat zu Aravan, umarmte ihn und legte sich dann in das weiche Stroh zum Schlafen.

Es regnete derweil so unablässig, als würden selbst die Himmel weinen.

Als sie sich am nächsten Morgen reisefertig machten, warf Bair einen kurzen Blick auf Kristallopyr, denn die kristallene Spitze war eine Waffe von Durlok und auch der schwarze Schaft hatte Durlok gehört, war sein Stab gewesen. »Himmel, Aravan«, rief Bair, »aber mir scheint, dass viele Dinge auf unserer Reise eine Rolle spielen, nicht zuletzt Artefakte der Macht. Adons Hammer, das Silberne Schwert, Kristallopyr, vielleicht auch mein Kristall, der Grüne Stein von Xian und …«

»Halt, Bair«, unterbrach ihn Aravan, während er zwei silberne Münzen neben den Türpfosten legte, wo der Bauer sie finden musste. »Wir wissen nicht, ob andere Artefakte als dein Kristall und der Kammerling eine Bedeutung für unsere Mission haben, denn Dodona hat nur von ihnen gesprochen, von sonst nichts. Vielleicht sind sie tatsächlich mit dem, was wir tun, verwoben, vielleicht aber auch nicht. Spekulieren können wir, ai, aber du musst wissen, dass es Annahmen sind. Es könnten sich bisher unsichtbare Verbindungen ergeben, aber nimm nicht an, dass alle Dinge direkt mit einer gegebenen Sache verbunden sind. Indirekt, ai, das sicherlich, direkt mag das auch für einige gelten, schon möglich, aber direkt verbunden mit allen Dingen überall? Das würde ich verneinen.«

Bair lud ihre restlichen Habseligkeiten auf das zweite Packpferd. »Wollt Ihr sagen, wir sollen nur abwarten, weil sich die Dinge selbst zu gegebener Zeit enthüllen werden? Ist das nicht der Weg ins Desaster? Sollten wir uns nicht auf alle Möglichkeiten vorbereiten?«

»Auf alle? Nein, Bair, denn das ist eine unmögliche Aufgabe. Wahrscheinlichkeiten dagegen einzuschätzen, ai, wenn wir klug sind und außerdem die Tatsachen einbeziehen, die sich ergeben könnten.« Aravan sattelte eines der drei Reitpferde. »Was ich damit sagen will, elar, ist, dass das Leben einer Straße gleicht, auf der man reist, mit Menschen, die einem begegnen, und Abzweigungen, die einen erwarten und die zu verschiedenen Zielen führen mögen. Wenn man auf dieser Straße reist, wird der Weg immer klarer, je weiter man auf ihr gelangt, weil wir an Abzweigungen gelangen, Erkundigungen sammeln und Entscheidungen treffen, welcher Gabelung wir folgen wollen. Das macht unsere nächste Entscheidung sicherer und lässt uns das Ziel deutlicher erkennen. Wir sollten nicht zu lange an einer Gabelung verharren, aber auch nicht kopflos einer Abzweigung folgen, denn wir könnten dadurch über einen Abgrund hinausschießen. Außerdem sollten wir uns nicht weigern, umzukehren und zu einem besseren Ort zurückkehren, vorausgesetzt, die Straße hinter uns erlaubt uns, den Weg zurückzunehmen.«

Bair schnaubte und zog eine letzte Schnalle fest. »Bei Adon, kelan, Ihr klingt fast wie Dodona: Gabelungen und Abzweigungen und Entscheidungen und Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten. Nennt mir einfach das Ziel und zeigt mir den Weg, dann finde ich schon ein Mittel, dorthin zu gelangen.«

Titel der amerikanischen Originalausgabe

SILVER WOLF, BLACK FALCON (Part 2)

Deutsche Übersetzung von Wolfgang Thon

Deutsche Erstausgabe 11/2008 Redaktion: Joern Rauser

Copyrigt © 2000 by Dennis L. McKiernan Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHwww.heyne.de

Titelillustration: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Andreas Hancock Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-08101-0

www.randomhouse.de

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