Drachenmacht - Dennis L. McKiernan - E-Book

Drachenmacht E-Book

Dennis L. McKiernan

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Beschreibung

Mit seinen Abenteuern über tapfere Zwerge, edle Elfen und weise Magier hat sich Dennis L. McKiernan in die Herzen unzähliger Fantasy-Leser geschrieben. Tauchen Sie nun ein in das große Epos über die legendärsten Wesen der Fantasy: Um eine uralte Prophezeiung zu erfüllen, müssen die Drachen Mithgars ihre geheime Macht einsetzen.

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Seitenzahl: 583

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Das Buch

Seit Urzeiten wird in Mithgar eine geheimnisvolle Prophezeiung überliefert: Einst werden die Letztgeborenen Erstgeborenen zum Licht des Bären reisen, um dort dem Bösen für immer Einhalt zu gebieten. Gemeinsam mit den Elfen Aravan und Riatha stellen sich die beiden Wurrlinge Gwylly und Faeril ihrem Schicksal und machen sich auf die Suche nach dem grausamen Baron Stoke. Ihre Gegner sind jedoch schneller: In einem einsamen Kloster auf dem Großen Nord-Gletscher wird ihr tödlicher Feind nach tausendjährigem Schlaf aus dem Gletscher befreit. Mithgar scheint verloren, doch dann schließt sich Baeron Urus, der einstige Bezwinger Stokes, dem Kampf der Gefährten an, und gemeinsam nehmen sie die gefährliche Verfolgung auf. Stokes Spur führt in das ferne Hyree. Hier lauern ungeahnte Gefahren: Der Baron hat nicht nur Verbündete unter der Brut, auch Menschen erliegen seiner dunklen Macht …

Dennis L. McKiernans MITHGAR-Romane:

Bd. 1: Zwergenkrieger Bd. 2: Zwergenzorn Bd. 3: Zwergenmacht Bd. 4: Elfenzauber Bd. 5: Elfenkrieger Bd. 6: Elfenschiffe Bd. 7: Elfensturm Bd. 8: Magiermacht Bd. 9: Magierschwur Bd. 10: Magierkrieg Bd. 11: Magierlicht Bd. 12: Drachenbann Bd. 13: Drachenmacht Bd. 14: Drachenbund Bd. 15: Drachenkrieg

Der Autor

Dennis L. McKiernan, geboren 1932 in Missouri, lebt mit seiner Familie in Ohio. Mit seinen Romanen aus der magischen Welt Mithgar gehört er zu den erfolgreichsten Fantasy-Autoren der Gegenwart.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungVorwortANMERKUNGEN DES AUTORS1. KAPITEL - STOKE2. KAPITEL - DAS VERSCHWINDENCopyright

Martha Lee McKiernan, Komplizin, Geliebte und Freundin

Vorwort

Ich wurde oft gefragt: »Woher kommen Ihrer Meinung nach Legenden? Gab es einmal eine Zeit, in der diese Sagen der Wahrheit entsprachen, wenn auch in einer einfacheren Form, nämlich bevor die Phantasie eines Geschichtenerzählers sie so sehr ausgeschmückt hat, dass sie nicht wiederzuerkennen waren?«

Und diese Fragen begleiten auch die folgenden: »Glauben Sie, dass es jemals Elfen, Zwerge, Wurrlinge und ihresgleichen gegeben hat? Wenn ja, was ist mit ihnen geschehen? Wo sind sie jetzt? Warum sind sie verschwunden? Wurden sie ausgelöscht?«

Ich bin ein Geschichtenerzähler und habe mich vielleicht des Vergehens verzerrender Ausschmückungen schuldig gemacht, andererseits … möglicherweise arbeite ich auch auf einer höchst archaischen Ebene und berühre unbewusst die uralten Erinnerungen, die in meinen irischen Genen eingegraben sind. Vielleicht blubbern diese uralten Fragmente beim Erzählen hoch, oder die klopfen des Nachts an meine Gehirnlappen und verlangen Einlass – oder schlüpfen wie Helden in der Dunkelheit über die Grenzen des Unglaubens, um das Bewusstsein zu retten, das in seiner Eintönigkeit gefangen ist.

Falls es eine solche uralte Erinnerung ist, vielleicht gab es dann einst tatsächlich Elfen, Zwerge, Wurrlinge und dergleichen. Möglicherweise lebten sie auf der Erde – oder darin? – oder in der Luft oder im Ozean. Wenn ja, wo sind sie jetzt? Leben sie unter uns? Oder versteckt? Ausgelöscht sogar? Ich hoffe, dass sie sich nur verbergen und manchmal lediglich als Schemen im Augenwinkel auftauchen. Aber tief in meinem Herzen fürchte ich, dass sie verschwunden sind. Wohin? Das weiß ich nicht.

Es gab Zeiten, da habe ich Blicke auf das erhascht, was mein Unterbewusstsein weggesperrt hatte, Visionen, die in den Tiefen der Dunkelheit entstehen, wenn der Schläfer schlummert und die Zinnen des Bewusstseins nicht mehr so stark bewacht werden. Möglicherweise sind das die Fragmente, die dabei helfen, die Geschichte beim Erzählen zu formen, Blicke auf jene Visionen, die man in den Schatten der Nacht gesehen hatte.

Kommt, lasst uns gemeinsam das neueste uralte Fragment erforschen, diesen mitternächtlichen Stürmer der Bastionen, denn eingebettet im Auge des Jägers finden wir möglicherweise auch Antworten auf unsere Fragen, falls wir sie denn enträtseln können.

DENNIS L. MCKIERNAN

ANMERKUNGEN DES AUTORS

1. Die Quelle dieser Geschichte ist eine zerfledderte, verblichene Ausgabe des Reisetagebuches des Letztgeborenen Erstgeborenen, ein besonders glücklicher Fund aus einer Zeit noch vor der Separation. Es wurde von einem unbekannten Buchdrucker gedruckt, (das Deckblatt fehlt), der behauptet, es nach Faerils eigenem Tagebuch verfasst zu haben.

2. Es finden sich viele Vorkommnisse in dieser Geschichte, in denen sich die Wurrlinge, Elfen und Menschen unter dem Druck der Ereignisse in ihrer Muttersprache verständigen; um die Mühsal unbeholfener Übersetzungen zu vermeiden, habe ich, wo erforderlich, ihre Worte ins Pellarische übertragen, das ist die Gemeinsprache Mithgars. Einige Worte und Redewendungen jedoch sperren sich jeder Übersetzung; diese habe ich unverändert gelassen. Andere Worte wirken möglicherweise wie Fehler, sind jedoch richtig wiedergegeben, zum Beispiel ist BärMeister tatsächlich ein Wort, auch wenn ein großes M in seiner Mitte auftaucht. Ebenso finden sich Worte in der alten Pendwyrischen Form des Pellarion, die keineswegs falsch geschrieben sind.

3. Meine Studien über das Reisetagebuch des Letztgeborenen Erstgeborenen ergaben, dass die uralte Sprache der Magie dem Altgriechischen ähnelt, wenngleich sie einen eigenen Stil hat. Mithilfe eines Fachkundigen habe ich diese Sprache ins Altgriechische übertragen, in das ich hier und da einige ungewöhnliche Wendungen einflocht.

4. Ich habe mich des übertragenen Arabischen bedient, um die Sprache der Wüstenbewohner wiederzugeben, da das Reisetagebuch keine Anleitung dazu lieferte.

5. Die »Gemeinsprache« der Elfen ist ausgesprochen archaisch. Um die Färbung dieses Dialekts zu erhalten, zum Beispiel bei der Verwendung der förmlichen Anrede »Sie«, habe ich auf die alten Formen »Ihr« und »Euch« zurückgegriffen. Beim besitzanzeigenden Fürwort habe ich »Euer« und »Ihrer« für die Elfensprache eingeführt. Widerstanden habe ich jedoch der Versuchung, andere archaische Worte wie »itzo«, »fürbaß«, »weiland« und ähnliche mehr zu verwenden.

6. Um Verwirrung zu vermeiden, möchte ich die Leser auffordern, auf die jeweiligen Angaben zu Daten zu achten, welche den zeitlichen Rahmen eines jeden Kapitels beschreiben. Zum überwiegenden Teil wird diese Geschichte linear erzählt, aber gelegentlich bin ich zu einem früheren Punkt in der Geschichte zurückgegangen, um für die Erzählung wesentliche Teile einzufügen.

7. Diese Geschichte handelt von der letzten Jagd auf Baron Stoke. Doch sie ist eng mit drei früheren Berichten verflochten, die die Jagd nach Stoke beschreiben. Diese Geschichten sind unter anderen in der Sammlung von Erzählungen aufgeführt, die als Tales from the One-Eyed Crow bekannt sind.

»Weissagungen sind häufig subtil … und auch tückisch – so mögt Ihr wähnen, dass sie das eine zu meinen scheinen, obwohl sie etwas vollkommen anderes bedeuten.«

1. KAPITEL

STOKE

4E1430 bis 5E988

(Die letzten anderthalb Jahrtausende)

»Der Baron ist tot!« Dieser Schrei gellte über den Burghof und mischte sich in das Geklapper der Hufe.

Baroness Lèva blickte hoch und sog erschreckt die Luft durch die Zähne. Mit Eisen beschlagene Hufe trappelten auf den Pflastersteinen, und die Schreie der Stallburschen und Reiter hallten durch den Burghof. In diesem Stimmengewirr war kein Wort zu verstehen. Polternd schwangen die schweren Portale des Burgfrieds auf, hallten wie die Glocken des Untergangs durch das große Gebäude und erreichten sogar die entlegene Kemenate der Baroness. Lèva legte Feder und Pergament zur Seite, sammelte sich und wandte sich vom Schreibtisch ab und der Tür zu. Schritte hallten über die Steine – sie wappnete sich gegen das, was nun kam.

Es klopfte. »Tretet ein!«, rief sie. Ein großer, ungeschlachter Mann in schlammbedeckter Reitkleidung, mit einem Blutfleck auf der Wange, marschierte mit ausgreifenden Schritten herein. Als er vor ihr stehen blieb und sich knapp verbeugte, fiel sein von silbergrauen Strähnen durchzogenes Haar um das bärtige Gesicht. »Lady Stoke, Baron Marko ist tot. Ein Bär hat ihn getötet.«

Lèvas Herz tat einen freudigen Sprung – endlich! Aber ihrem schmalen Gesicht war die Freude nicht anzusehen. »Wie, Hauptmann?«, fragte sie stattdessen kalt. »Durch welche Pflichtvergessenheit habt Ihr ihn sterben lassen?«

Bei dieser vorsätzlichen Beschuldigung riss Janok die Augen auf, doch er unterdrückte seinen Ärger, als er die Hexe betrachtete, ihre eisig blauen Augen und ihr pechschwarzes Haar. »Der Baron hat uns befohlen, beiseitezutreten. Dann stellte er sich dem Bären allein. Aber der Schaft seines Speeres brach, und so hat ihn die Bestie zerfetzt.«

»Ich will diesen Speer sehen, Hauptmann. Ich will die Waffe sehen, die ihm ihren Dienst versagt hat. Ich möchte, dass sie vor meinen Augen zerstört wird.«

Janek verbeugte sich zustimmend.

»Und der Bär, welches Schicksal hat ihn ereilt?«

»Er ist tot, Baroness. Er wurde von meinem Speer gefällt, gleich nachdem er den Baron getötet hatte.«

Vom Burghof drang das Klappern der Hufe herein, als Pferde durch das Tor hinausritten. Im nächsten Augenblick trommelten sie die Hochstraße hinab, die von der Burg wegführte. Lèva wandte ihren Kopf dem offenen Fenster zu. »Hauptmann, wohin reiten sie?«

Janok lächelte. »Sie reiten nach Aven und Vancha.«

Als Lèva ihre dünnen Lippen wütend zusammenpresste und den Hauptmann anstarrte, wurden sie weiß. »Ich habe keinen solchen Befehl gegeben!«

»Nein, Madame. Aber ich. Als Hauptmann der Burg war das meine Pflicht. Die Brüder des Barons, seine Erben, müssen benachrichtigt werden.«

»Hinaus!«, fuhr ihn Lèva an. »Aus meinen Augen!«

Erneut verbeugte sich Hauptmann Janok kurz. Während er sich dann zurückzog, lächelte er grimmig.

Als er fort war, fegte die Baroness wütend die Papiere vom Schreibtisch. Dieser zudringliche Mensch! Hat die Brüder verständigt! Jetzt wird Lenko Baron, es sei denn ich kann irgendwie … irgendwie … Warum habe ich das nicht vorhergesehen und geeignete Maßnahmen ergriffen? Lèva sprang auf und durchmaß aufgeregt ihre Kemenate. Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Sie blieb vor dem Kamin stehen und starrte auf den Feuerrost. Beruhige dich! Beruhige dich erst einmal! Eins nach dem anderen. Wenn der zerbrochene Bärenspieß verbrannt ist, sind alle Beweise vernichtet. Lèva kniete sich hin und entzündete ein Feuer. Die Flammen züngelten hoch. Aber was soll ich mit Lenko anfangen? Sie erhob sich und ging zum Klingelbrett.

Als die Magd erschien, stand die Baronin am offenen Fenster. »Räum den Schreibtisch auf. Dann schick einen Läufer los, der mir diese tödliche Waffe bringt, die meinen Gemahl nicht schützen konnte. Und sende Madame Orso zu mir.« Dabei wandte sie ihren eisblauen Blick nicht von den Skarpal-Bergen ab, die die Burg umringten.

»Sie möchte innerhalb von sechs Monaten ein Kind gebären. «

Blasse Hände mit langen Fingern streiften die Kapuze von einem ebenso blassen Gesicht zurück. Der kahl geschorene Kopf verlieh ihm ein hässliches Aussehen, fast wie ein Totenschädel. Gelbe Augen starrten unter haarlosen Brauen hervor, glitten von der Mutter zur Tochter und dann wieder zurück zur Mutter.

Lèva fühlte, wie das Blut in ihren Adern gefror, und dann riss sie ihren Blick von dem hageren Mann los, falls er wirklich ein Mann, also ein Mensch war. Ihre Mutter hatte ihn gerufen, aber wie, das wusste Lèva nicht.

Seine Stimme war wie ein Wispern und klang uralt, trotz seines jugendlichen Körpers. »Ihro braucht einen Erben von Baron Marko.« Seine Worte bildeten keine Frage, sondern eine Feststellung. »Sonst könnt Ihro den Besitz, die Ländereien und den Wohlstand nicht kontrollieren.«

»Ja, wir brauchen einen Erben«, antwortete Koska. Die ältere Frau war etwas kleiner als ihre Tochter, besaß aber ein ebenso schmales Gesicht – und schwarzes Haar. Ihre Augen jedoch waren, anders als die ihrer Tochter, ebenfalls schwarz – so schwarz wie die Hölle, wie manche sagten.

»Um den Besitz zu kontrollieren«, wiederholte die sanfte Stimme.

Koska trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ja doch, ja. Um den Besitz zu kontrollieren.«

»Ein männliches Kind«, setzte Lèva hinzu. Sie betrachtete ihre Mutter, nicht aber den Mann. Sie konnte seine gelbäugige Miene nicht ertragen. »In Garia hat ein Mädchen kein Anrecht als Erbin.«

»Was würdet Ihro geben?«

»Was verlangt Ihr?«

»Für Aun, Madame Orso, dasselbe, was Ihro gabt, bevor Ihro Mehro rieft.«

Lèva erschauerte, als krabbelten Spinnen über ihre Haut. Koska knirschte mit den Zähnen und nickte dann einmal brüsk, als sie seine Bedingungen annahm.

»Für Aun Tochter einen Ort, an dem zu bleiben ist, solange Mehro beliebt und wo Icho Mai Sohn auszubilden vermag.«

Lèva stieß ein Keuchen aus und wandte sich zu dem Mann herum. Sie erschauerte bis in ihre Seele bei seinem Anblick. »Eurem Sohn? Es wird Euer Sohn?«

Der Mann nickte. »Baron Marko Stoke hat keinen Erben. Sein Bruder Lenko ist der Nächste in der Erbfolge. Niemand außer mehro kann Aun ein Kind geben, ein männliches Kind, das innerhalb von sechs Monaten geboren wird. Geht Ihro zu einem menschlichen Mann und empfangt, so verlasst Ihro Aun auf den Zufall. Erstens, dass Ihro und er zusammen fruchtbar seid, wie Ihro und Marko es ja nicht wart, zweitens dass dieses Kind, falls einer solchen Paarung ein Kind entspringt, männlichen Geschlechts ist. Ungeachtet der Frage, ob es überhaupt männlich ist, würde ein Kind von einem Menschen viel zu spät geboren werden, um die Frucht von Markos Lenden zu sein. Ihro würdet den Besitz auf jeden Fall an Lenko verlieren.

O nein, wenn Ihro ein männliches Kind wollt, das so rechtzeitig geboren wird, dass es von Marko hätte gezeugt werden können, wird es Mehro brauchen, der es zeugt.«

Lèva wandte sich furchtsam zu ihrer Mutter herum. Madam Orso schüttelte bedächtig den Kopf. »Es gibt keinen anderen Weg, Lèva. Du musst wirklich schwanger sein, denn Lenko wird seinen eigenen Leibarzt mitbringen, um das zu bestätigen. Und dieser Medicus wird bei der Geburt ebenfalls anwesend sein, denn sollte das Kind eine Totgeburt oder weiblichen Geschlechts sein, so wird Lenko erben.

Du musst dich Ydral hingeben, wenn du den Besitz behalten willst.«

Angewidert nickte Lèva und nahm damit die Bedingung an.

Ydral lächelte, trat vor und riss Lèva ihr Gewand brutal vom Körper, schleuderte sie dann nackt auf den Steinboden, hielt ihr mit seinen langen, weißen Händen den Mund zu und erstickte ihre Schreie.

Als er schließlich mit ihr fertig war, wandte er sich ihrer wartenden Mutter zu.

Lèva schloss sich die nächsten sechs Monate in ihrer Kemenate ein, die man zuvor von allen scharfen Instrumenten und Dingen leer geräumt hatte. In der Nacht drang ihr Heulen und Jammern durch die Burg, am Tage weinte sie verkrampft, stammelte furchtsam von etwas oder jemand Grausigem, Gewaltsamem. Aber was oder wer es war, wusste niemand zu sagen. Dass sie schwanger war, konnte man nicht übersehen, und aufgrund der Größe ihres Bauchs konnte niemand anders als Baron Marko der Vater sein, wie Madame Orso behauptete.

Baronet Lenko kam von Aven und brachte in seinem Tross auch den Leibarzt mit, der bestätigte, dass Lèva ungeachtet ihres Wahnsinns tatsächlich schwanger war und in nur wenigen Wochen niederkommen würde. Lenko war zwar wütend, würde aber bis zur Niederkunft bleiben.

Markos jüngerer Bruder dagegen, Baronet Marik, blieb in Vancha und hielt es nicht für nötig, seinem toten Bruder die Ehre zu erweisen, ließ jedoch vermelden, dass er nach Garia kommen würde, falls Lenko etwas zustieße. Und nur dann.

In den entlegenen Gemächern in der Spitze des Ostturms der Feste wurde ein sonderbarer Mann gesehen: ein Mann, der sich abseits hielt, den tagsüber niemand zu Gesicht bekam, der in der Nacht jedoch manchmal dabei gesichtet wurde, wie er durch die dunklen Hallen und über die hohen Bastionen der Feste schlich. Einige behaupteten sogar, sie hätten gesehen, wie er vom Dach hinabgestiegen wäre; dieser Mann trug immer eine Kapuze, sodass niemand je sein Gesicht sah; er umgab sich in seinen Gemächern mit Schriftrollen, dicken Wälzern, geheimnisvollen Instrumenten und merkwürdigen Tieren. Er war zudem ein Mann, der des Nachts seltsame Experimente durchführte, bei denen diese Tiere entsetzlich kreischten. Doch Madame Orso, die Mutter der Baroness, erklärte, dieser Mann sei der Leibarzt von Lèva, und genau er würde sicherstellen, dass ihr Kind lebend geboren werde. Sie befahl, dass ihn niemand behelligen sollte. Und so ließ man ihn in Ruhe.

Die Wochen zogen dahin, die Baroness kreischte in der tiefen Dunkelheit, jammerte im Morgengrauen und wurde immer voller, während sie gleichzeitig auch mehr und mehr dem Wahnsinn anheim fiel. Sie wurde von beiden Medici untersucht, von Ydral und von Lenkos Leibarzt Brün. Ydral widmete sich ihr des Nachts, Brün am Tage. Ydral verabreichte ihr Tränke, einige klar und sprudelnd, andere dunkel und blubbernd; Brün dagegen versuchte, ihr Leid mit Kräutern zu lindern.

Lèva bekam am Abend ihre Wehen und gebar dann kreischend mitten in der Nacht. Angeblich wurde die Niederkunft des Kindes von zwei unheilvollen Vorzeichen begleitet: Eine anwesende Hebamme flüchtete schreiend aus dem Geburtszimmer heraus, plapperte etwas von Dämonen und einem Mund voller Reißzähne – sie wurde nie wieder gesehen. Und Brün kam ebenfalls aus dem Zimmer, bleich und zitternd. Sobald er Lenko bestätigt hatte, dass es ein männliches Kind sei, fiel er tot zu Boden. Ob diese Geschichten stimmen, weiß niemand. Dagegen ist jedoch verbürgt, dass Lenko in die Kemenate ging, um das Kind mit eigenen Augen zu sehen. Lèva hockte blass, zitternd und vollkommen von Sinnen in der Ecke des Kindbettes, dessen Laken von Schweiß, Fruchtwasser und Blut durchnässt waren. Madam Orso hielt ihrer wirren Tochter eine Schale mit Flüssigkeit an die Lippen, und Ydral, der auch jetzt seine Kapuze trug, hielt das Kind, das in weiche Decken gehüllt war, in seinen Armen. Als Lenko sich ihm näherte, fuhr Ydral mit seiner Hand über das Gesicht des Kindes und machte eine geheimnisvolle Geste. Als Lenko die Decke zurückschlug, um das Gesicht des neugeborenen Barons zu sehen, wirkte das Kind, das sich seinem Blick bot, vollkommen normal, bis auf eine einzige Absonderlichkeit. Es hatte gelbe Augen.

Béla, so nannten sie ihn, den neuen Baron Stoke.

Dies begab sich im Jahre 4E 1430.

Nach Bélas Geburt ließ Ydral das Kind bewachen und machte Hauptmann Janok persönlich für die Sicherheit des neugeborenen Barons verantwortlich. Auf Ydrals Vorschlag und Madame Orsos Befehl hin wurde es Lenkos Gefolge verboten, sich dem Kind zu nähern, denn falls der kleine Béla starb, wodurch auch immer, natürlich oder künstlich herbeigeführt, wäre Lenko Baron. Dem Baronet selbst wurde nicht erlaubt, das Kind allein zu sehen. Immer wenn er sich im selben Raum aufhielt, waren auch Wachen anwesend. Außer sich vor Wut stürmte Lenko am nächsten Tag aus der Burg, und kehrte in seinen Erkerturm in den Grimmwall zurück, hoch über Vulfcwmb in Aven.

Die Verrückte Lèva starb innerhalb einer Woche. Die Umstände ihres Todes blieben ein Mysterium, doch es kursierten wilde Gerüchte. Vergiftet von ihrer eigenen Mutter, so behaupteten viele. Ermordet von Ydral, mutmaßten andere. Doch das vorherrschende Gerücht wurde von jenen weitergegeben, welche die Schreie der flüchtenden Hebamme gehört hatten: Der neue Baron war mit einem Rachen voller Reißzähne geboren worden und saugte infolgedessen ebenso viel Blut wie Muttermilch – und trank so seine eigene Dam leer. Diese Gerüchte gewannen an Glaubwürdigkeit, da in den folgenden Monaten Ammen auf rätselhafte Weise verschwanden. Deshalb hielt es sich während der Jahre und gewann sogar noch an Stärke.

Doch obwohl Lèva gestorben war, Ammen spurlos verschwanden und niemand jemals das Los der geflüchteten Hebamme aufdeckte, gab es auch jene, die diesen Tratsch ins Lächerliche zogen. Denn hatte nicht Madam Orso selbst gesagt, dass die Mutter von der Geburt eines so kräftigen Sohnes zu sehr geschwächt worden wäre? Kam es in Garia etwa nicht häufig vor, dass Mütter im Kindbett starben? Zudem war die Baroness Lèva äußerst verrückt gewesen. Hatte Koska nicht auch gesagt, dass die Ammen ausgetrocknet und in ihre ferne Heimat zurückgekehrt wären? Pah! Jeder konnte sehen, dass der Mund des kleinen Béla ein ganz gewöhnlicher war, obwohl seine gelben Augen einem schon einen Schauer über den Rücken jagen konnten: Die Augen eines Dämons!, so munkelten die Leute.

Durch den Tod ihrer Tochter wurde Madame Orso zur Prinzregentin, hielt des Nachts Hof und regierte im Namen von Baron Béla, wenngleich viele murrten, dass Ydral die eigentliche Macht in der Baronie besäße. Es schien, als werde keine bedeutsame Entscheidung gefällt, ohne dass sich Koska zuvor zu dem verhüllten Mann beugte und seinem geflüsterten Ratschlag lauschte.

Außerdem war Madame Orso angeblich eine zügellose Metze, die mit jedem und allen herumhurte, sich einen Mann nach dem anderen ins Bett nahm, manchmal auch mehr als einen – und darüber hinaus sogar noch verkommene Frauen. Diese Geschichten mögen zutreffen oder nicht, gewiss ist jedenfalls, dass seine Großdam mütterlicherseits erheblich schneller alterte, als sie an Jahren zulegte, während Béla heranwuchs.

Ydral wurde zum Mentor des Kindes und nahm es unter seine Fittiche. Béla war ein sehr wissbegieriger Schüler und verbrachte lange Nächte im Turm, dort, wo vor Wut, Furcht und Schmerz die Tiere kreischten.

Die Gerüchte blühten, während Béla heranwuchs, Gerüchte von Grausamkeit, Folter und geheimnisvollen Akten der Perversion. Diener schlichen durch die Burg, als fürchteten sie um ihr Leben, verschwanden hastig, sobald sich Koska, Béla oder Ydral sehen ließen. Verderben und Unterdrückung beherrschte die gehetzten Blicke der Bediensteten, und viele sehnten sich nach den alten Zeiten zurück, in denen Baron Marko regiert hatte, wenngleich auch mit eiserner Faust. Doch war eine Arbeit recht getan worden, dann war es eben so gewesen, wie es sein sollte. Und wenn nicht, dann waren ein Schlag ins Gesicht oder ein Tritt in den Hintern doch gar nicht so falsch gewesen, oder?

Marko jedoch war tot, und Koska regierte dem Namen nach, wenngleich tatsächlich Ydral das Zepter schwang und der kleine Béla zu einem gelbäugigen Monster erwuchs.

Die Skarpal-Berge rund um die Burg wurden zu einem Ort des Terrors, zu einem Platz, an dem Vulgs in der Finsternis heulten, dort wo einst keine Vulgs gewesen waren, zu einem Ort, an dem jetzt Gritchi und Durdi hausten, die Brut aus grauer Vorzeit. Landbesitzer verrammelten des Nachts ihre Besitzungen, trieben ihr Vieh in Scheunen und Schuppen, und schliefen selbst bei den Tieren. Obwohl sie die Regentin um Hilfe baten, entsandte sie niemanden, sondern befahl ihnen, sich doch selbst zu helfen. Es kam zwar keine Hilfe aus der Burg, dafür jedoch kamen die Steuereintreiber, eine Armee von Soldaten im Rücken.

Alle waren sich einig, dass Marko, so verhasst er auch gewesen sein mochte, ein weit besserer Herrscher gewesen war als die Kreaturen, die jetzt auf dem Thron der Baronie saßen.

Langsam, ganz langsam, zerfiel die Baronie, so wie auch Koska verfiel – und Béla. Getrieben von einem gelbäugigen Mann … Falls er denn überhaupt ein Mann war.

Als Béla vierzehn Jahre alt wurde, enthüllte Ydral dem jungen Baron seine wahre Natur, und danach hallte das Heulen eines Vulps, eines Vulg, vom Turm herab, dem gleich darauf das Heulen seinesgleichen aus dem Bergmassiv antwortete. Einige Bedienstete berichteten, sie hätten grauenvolle, geflügelte Wesen durch die Nacht fliegen sehen.

Und in den Landen verschwanden immer mehr Menschen in der Dunkelheit, um am nächsten Tag ermordet aufgefunden zu werden.

Mit fünfzehn Jahren, kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag, verwundete jemand Béla, durchbohrte ihn mit einem Schwert. Am nächsten Morgen wachten die Bediensteten auf und fanden voller Entsetzen Hauptmann Janoks sterbliche Reste auf den Zinnen verstreut, als wäre er von einer wilden Bestie zerfetzt worden. Seinen augenlosen, zungenlosen Schädel jedoch fand man auf einer Lanze aufgespießt.

Es wurde gemunkelt, ein Meuchelmörder hätte versucht, Béla abzuschlachten, aber ob es Janok war, dessen Bemühungen scheiterten, oder ob er einfach nur versäumt hatte, den Mordversuch zu vereiteln, das wusste niemand. Und zu fragen getraute sich wahrlich keiner.

Béla heilte rasch, sehr rasch, denn er war ein Verfluchter. Danach jedoch wurde niemandem, weder Bediensteten noch Soldaten, erlaubt, in seiner Gegenwart Waffen zu tragen – das heißt, den Menschen wurde es verboten.

Dann kam die Nacht, als ihm dämmerte, dass er seine schrecklichen Gelüste nicht mehr befriedigen konnte, und er stellte seinen Mentor in dem dämmerigen Gemach im Ostturm zur Rede.

Ydral wandte sich von dem Wälzer ab, den er gerade studierte, und sah Béla an, starrte mit seinen gelben Augen in ein anderes, ebenso gelbes Augenpaar. »Mein Sohn, es gibt Dinge, die sind weit erquicklicher, als das, was Ihro bisher getan habt. Es gibt da Dinge, welche … nun, vollkommener sind.«

Béla stand da und wartete. Seine Augen glühten im Licht der Laterne.

»Ich nenne es … die Ernte.« Ydral erhob sich und trat an eine Kiste heran. Er entnahm ihr eine schmale, flache, mit Leder bezogene Schatulle. Er öffnete den Verschluss, klappte den Deckel auf und hob ein langes Messer mit einer dünnen Klinge heraus. »Hätten wir ein Opfer, so würde ich dir zeigen, wie man jemandem die Haut abzieht, also wie man häutet. Und doch den Tod um eine höchst exquisite Spanne hinauszögert … Wenn wir ein Opfer hätten.«

In diesem ungünstigen Augenblick betrat Madame Koska Orso das Turmzimmer.

Nach Madame Orsos Verschwinden nahm Béla das Geschick der Baronie in seine eigenen Hände.

Jetzt, trotz aller Dämonen, atmeten einige auf, denn jetzt, da ein echter Baron Stoke auf dem Thronsessel saß, sollten die Dinge anders werden.

Das wurden sie auch.

Sehr anders.

Bewohner aus Siedlungen und Dörfern rings um die Burg verschwanden in einer beunruhigend raschen Folge. In den nächsten fünf Jahren pilgerten zahllose Delegationen zu der Burg und flehten den Baron um Hilfe an. Er schob alle Schuld auf die Gritchi und Durdi. Nach der Audienz aber berichteten jene, die mit ihrer Rückkehr in die Dörfer und Siedlungen bis zum sicheren Morgengrauen gewartet hatten, von fernen, gequälten Schreien in der Nacht, von Schreien, die von Menschen kündeten, welche in einem unvorstellbaren Maß Schmerzen erlitten.

Die Bediensteten flüchteten aus der Burg. Ebenso die Soldaten. Und sie wussten von Dämonen im Turm zu berichten, im Ostturm, dort, wo Ydral hauste. Sie erzählten, sie hätten Gritchi auf den Bastionen und im Hof gesehen. Und sie erwähnten auch Durdi und sogar Vulgs.

Ein wahrer Exodus setzte ein; zunächst verließen nur einige Familien die Baronie, ihnen jedoch folgte eine ganze Flut. Die Bevölkerung nahm ständig ab.

Baron Stoke tobte, konnte aber nichts tun, um diese Flut von Flüchtenden aufzuhalten. Denn im Laufe der Jahre waren alle seine Soldaten verschwunden. Und jetzt dienten ihm die Drik, die Gritchi oder Rukh. Außerdem ordneten sich ihm auch die Ghok unter, die Durdi oder Hlöks. Und die Vulpen, die Vulgs. Sie alle waren von Ydral gerufen worden.

Alle Spezies der Brut gehorchten dem Baron Stoke, so groß war seine Macht.

Fünf Jahre zogen ins Land, und die Schergen des Barons dehnten ihre Kreise immer weiter aus, um für seine pervertierten Vergnügungen und wahnsinnigen Experimente Opfer zu finden. Denn mittlerweile hatte ihn Ydral in die Kunst der Nekromantie, der Schwarzen Kunst, eingeweiht.

Dann jedoch kam eine Nacht, in der Baron Stoke Ydral dabei überraschte, wie er eiligst etliche Habseligkeiten zusammensuchte und sich auf die Flucht vorbereitete.

»Es gibt einen Dolh, einen Elf, der mich seit mehr als dreitausend Jahren verfolgt, seit dem verfluchten Bannkrieg. Ich habe von meinen Leuten Kunde erhalten, dass er sich nähert, und ich kann mich ihm nicht stellen, denn er trägt ein Amulett, das ich nicht überwinden kann, und dazu eine Waffe, die selbst mich tötet. Zudem weiß ich Folgendes: Es ist mein Schicksal, durch die Hand eines zu sterben, in dessen Adern das Blut der Dohl fließt. Und dieses Schicksal wäre für mich unwiderruflich.«

Béla versuchte, Ydral zum Bleiben zu überreden, bot seinem Mentor den Schutz der Feste an, doch es fruchtete nichts: Der gelbäugige Mentor verließ ihn noch in dieser Nacht, ritt auf einem Hèlross nach Osten, ins Skarpal-Massiv. Jetzt endlich war Baron Stoke allein, allein bis auf die Brut.

Drei Jahre verstrichen, und Stoke beschloss, die menschenleere Baronie zu verlassen und nach Aven zu reiten, zu dem Erkerturm seines Onkels Lenko, an einen Ort, wo reiche Ernte wartete.

Zwei Jahre später ritt ein Elf ins Skarpal-Massiv, mit einem Speer bewaffnet, der eine kristallene Spitze besaß. Er betrat die verlassene Burg und suchte nach einem gelbäugigen Mann.

Doch es war niemand mehr da, der ihn hätte willkommen heißen können.

Nach dem Mord an Lenko und all seinen Verwandten blieb Baron Stoke einige Jahre in der Festung nördlich von Vulfcwmb. Er hielt blutige Ernte unter den Menschen der Region, bis es dort fast keine mehr gab.

Dann machte er sich auf den Weg durch den Grimmwall, bis er Mariks Besitz in den Bergen über Sagra in Vancha erreichte. Baronet Marik war bereits ein alter Mann, der Béla nur wenig Freude bereitete, als dieser ihn häutete. Die anderen Angehörigen seines Haushaltes jedoch waren jung und vital. Aus diesem Grund hielten sie länger durch.

In den nächsten Jahren sollte der Besitz als Düsterschlund berüchtigt werden, und der Berg dahinter als Dämonenklamm. Ein Ort des Schreckens. Dennoch reagierten die Menschen nur langsam auf die Gefahren, die er repräsentierte, und viele Jahre verstrichen, bevor auch hier die Ernte spärlicher wurde.

Stoke und seine Schergen wandten sich von dort aus nach Basq, dann weiter nach Gothon und in viele andere Länder, blieben überall zehn Jahre, bis die Beute geringer wurde, und zogen dann weiter, hin zu frischen Waidgründen, wo das Herdenvolk noch nicht so klug war.

So existierte Baron Stoke über die Jahrzehnte, jagend, fangend, häutend, und sich den Experimenten der Schwarzen Kunst, der Nekromantie widmend. Immer noch erschien er wie ein dreißigjähriger Mann mit gelben Augen, obwohl er weit mehr als hundert Jahre zählte; aufgrund dessen, was er war, alterte er nicht, und nur Silber oder das sehr seltene Sternensilber vermochte ihm dauerhaft zu schaden, dies und vielleicht noch Feuer.

Er war über zweihundertfünfzig Jahre alt, als es ihm schließlich gelang, den Trank zu vervollkommnen, der das Leben jener, die er gehäutet hatte, jeweils so lange verlängerte, bis er ihnen die gesamte Haut abgezogen hatte; der Trank stärkte seine Opfer, hielt sie wach und bei Bewusstsein. Er stärkte die Opfer, gewiss, aber er linderte nicht ihren Schmerz.

Danach begann er, sie zu pfählen.

Obwohl er das Aussehen und die körperliche Statur eines Mannes in den Dreißigern behielt, war Baron Stoke fünfhundertvierzehn Jahre alt und hatte im Grimmwall gerade eine neue Kammer des Schreckens geschaffen, als ihm seine Späher von einem Wagenzug berichteten, der den Crestan-Pass überquerte. Ein überraschender Schneesturm zwang den Zug umzukehren. Seinen Häschern gelang es nicht, Opfer zusammenzutreiben, also nahm Stoke es auf sich, einige von ihnen selbst in ihr Verderben zu locken. Es waren Baeron, eine sehr kräftige Menschenrasse, und mit einigen wohlgesetzten Worten gelang es Stoke, ihren Häuptling zu täuschen. Zehn Baeron wurden in die Nacht hinausgeschickt und folgten Stoke in das grauenvolle Schicksal, das er ihnen zugedacht hatte.

Aber die Baeron waren stärker, als Stoke erwartet hatte, und einem von ihnen gelang die Flucht. Bald brachte er eine ganze Streitmacht dieser mächtigen Krieger zurück, und dazu einen wilden, ausgebildeten Kriegsbären. Stoke floh nun um sein Leben, denn dieser Gegner verfügte über silberne Waffen.

Es war das erste Mal, dass Stoke aus seiner Höhle vertrieben worden war. Bisher hatte er stets entschieden, wann er fruchtbarere Waidgründe aufsuchen wollte. Aber diesmal war er zur Flucht gezwungen worden. Seine Wut darüber kannte zwar keine Grenzen, doch gegen einen so mächtigen Feind wie die Baeron konnte er nichts ausrichten.

Stoke floh ins Rigga-Gebirge nach Gron. In den folgenden vier Jahren setzte er seine Experimente an den Drik fort, aber sie genügten seinen unheiligen Leidenschaften nicht.

Dann gelang es ihm und seinen Schergen, einen männlichen Elf zu fangen.

Im Vergleich zu einem Menschen war das Häuten eines der Unsterblichen geradezu eine Wonne, und als Stoke den Elf schließlich pfählte, wurde er von einer Wollust jenseits seiner wildesten Vorstellungen erfüllt.

Diese neu entflammte Begierde trieb Stoke schließlich aus den Gronspitzen hinaus, und dann kehrte er in seinen Erkerturm nach Vulfcwmb zurück. Er war mehrere Jahrzehnte nicht hier gewesen, also versprach die Gegend reiche Ernte.

Nachdem er mehrere Monate lang Opfer gefunden hatte, besaßen einige Menschen von Vulfcwmb die Kühnheit, sich ihm zu widersetzen, zogen sogar vor seine Feste und wollten ihn töten. Ihre Schreie entzückten ihn außerordentlich.

Schließlich brachten ihm seine Schergen einige vom Kleinen Volk, mit ihren Facettenaugen und den Elfenohren. Es waren zwei ältere Männchen und ein älteres Weibchen, aber auch ein junges Weibchen war dabei, das sich Stoke für zuletzt aufhob. Die anderen mordete er vor ihren entsetzten Augen.

Doch bevor er auch noch die junge Damman häuten konnte, drangen drei Retter in seinen Hort ein: ein Wurrling, ein junger Bokker; eine Elfe, die Schwester des Elfen, den er im Rigga-Gebirgsmassiv abgeschlachtet hatte; und Urus, das war der Häuptling des Wagenzugs der Baeron, den er so leicht hatte täuschen können.

Es kam ihm fast vor, als würden ihn diese Narren jagen! Sie machten Jagd auf Baron Stoke!

Stoke und seine Schergen fingen sie allesamt. Was für eine glorreiche Ernte.

Doch dann verwandelte sich der Mensch, jener Baeron Urus, in einen gewaltigen Bären und zertrümmerte die Tür seiner Zelle.

In jener Nacht wäre Stoke beinahe gestorben, von den Reißzähnen und Klauen einer anderen Kreatur niedergemetzelt, die ebenso verflucht war wie er. Es gelang ihm jedoch zu entkommen … gerade so.

Er flüchtete nach Vancha, in den Düsterschlund auf der Dämonenklamm. Es war schon lange her, seit er in dieser Region seine blutige Ernte gehalten hatte, und Sagra war bereits wieder bewohnt.

Aber zwei Jahre, nachdem er aus Vulfcwmb geflohen war, wurde sein Hort angegriffen, und zwar von denselben vieren, die ihn in seinem Erkerturm beinahe zur Strecke gebracht hatten!

Diesmal kam er dem Tod noch näher, durch eine schreckliche Klinge aus Sternensilber, die die Elfe schwang; durch eine silberne Kugel, geschleudert durch den Bokker. Und durch Feuer.

Düsterschlund brannte bis auf die Grundmauern nieder, aber erneut gelang Stoke die Flucht.

Diesmal flüchtete er an die östliche Grenze des Grimmwall, zur Grenze des fernen Xian. Aber nach nur zehn Jahren wurde die Ernte spärlicher, also zog er weiter nach Westen, blieb im Schatten der Bergkette, erntete unterwegs neue Opfer, ging seinem perversen Vergnügen nach, seine Opfer zu häuten und sie anschließend zu pfählen, und übte seine wahnsinnige Schwarze Kunst aus.

Einige Jahre später erreichte er die Ruinen des Drachenschlunds, in den von Beben geschüttelten Regionen über dem Land Aralan. Er schickte seine Schergen aus, Opfer von den Höfen und Dörfern zu sammeln, Karawanen zu überfallen, und unter den vierzehn Völkern zu wüten, die nahe jener Furt lebten, die als Steinfurt bekannt war.

In den Bergen nördlich und östlich des Drachenschlunds entdeckte Stoke schließlich ein Kloster über dem Großen Nord-Gletscher. Er fing, häutete und pfählte die zwölf Mönche, die er dort vorfand.

Dann machte er das Kloster zu seiner Höhle, aber erneut wurde es angegriffen, und zwar tatsächlich von eben denselben vier Verfolgern: zwei Wurrlingen, der Elfe und Urus. Es waren nun schon zwanzig Jahre verstrichen, und sie waren ihm noch immer auf den Fersen!

Stoke verbarg sich in den Katakomben des Klosters, doch seine Verfolger fanden ihn. Dann floh er auf den Glockenturm und verwandelte sich. Doch als er wegflog, wurde er schwer verletzt: Ein silbernes Geschoss zertrümmerte einen Knochen in seiner linken Schwinge, und er taumelte auf den Gletscher hinab.

Sie verfolgten ihn erbarmungslos, wie sie es zwei Jahrzehnte lang getan hatten, und überwältigten ihn auf dem Eis. Dennoch wäre es ihm beinahe gelungen, die Elfe zu töten, trotz ihres Schwertes aus Sternensilber. Aber als er sie gerade mit ihrem eigenen Schwert köpfen wollte, da traf ihn ein silbernes Messer in der Schulter, geschleudert von der Damman.

Der Schmerz war ungeheuerlich, und dennoch vermochte er nicht, das Messer zu berühren, um es aus der Wunde zu ziehen. Er verwandelte sich erneut, das Messer jedoch blieb in der Wunde stecken. In der Gestalt eines Vulg sprang er vom Rand eines tiefen Abgrundes auf die andere Seite, um zu entkommen. Aber dieser Narr Urus fing ihn mitten im Sprung so ab, dass sie zusammen in die eisige, schwarze Tiefe stürzten.

Die Spalte schloss sich krachend über ihnen, nahm Vulg und Mensch auf ewig im Eis gefangen – und ließ ihren Kampf so für immer erstarren.

Als sie auf das Eis in der Tiefe stürzten, wurde das Messer aus Stokes Schulter gerissen. In dem Jahrtausend, welches das Eis sie gefangen hielt, heilte der Vulg, allerdings langsam, sehr langsam, denn schließlich war er ein Verfluchter, und eine schnelle Heilung war eine seiner Eigenschaften. Nur wurde der Prozess hier in der eisigen Kälte drastisch verlangsamt.

Ein goldenes Glühen umhüllte beide, den Baron und den Baeron, Vulg und Mensch, und obwohl sein Leben unentschieden in der Schwebe hing, konnte Stoke dieses verfluchte Licht spüren.

Tausend Jahre verstrichen. Tief im Eis wurden der Vulg und der Mensch von einer langsamen, mahlenden Strömung erfasst, einer Strömung, die sie allmählich zum Rand des Gletschers trug.

Schließlich kam die Nacht, in welcher das Eis barst, kalbte, den Vulg ausspie. Stunden verstrichen, ohne dass Stoke sich rührte. Doch durch seine Fähigkeit zur Regeneration erlangte er am Ende sein Bewusstsein wieder, hörte in weiter Ferne die Stimmen von wimmernden Drik und Ghok, und das schwache Heulen von Vulpen. Stoke kläffte um Hilfe, und als sein Ruf beantwortet wurde, wandelte er sich erneut, wurde wieder zu einem gelbäugigen Mann – falls man Stoke denn überhaupt einen Mann, einen Menschen, nennen konnte.

Als er wartete, sah er einen merkwürdigen Stern, der seine Bahn über den nächtlichen Himmel zog. Aus der Stellung des Sterns schloss er, dass es sich um das Auge des Jägers handelte, und dass er mehr als tausend Jahre lang im Eis eingeschlossen gewesen war.

Schließlich kam Hilfe. Als er vom Eis gehoben wurde, sah er schwach die Gestalt von Urus, der noch im Gletscher gefangen war, wenngleich nur wenige Zentimeter tief. Seine Silhouette hob sich gegen einen verfluchten, goldenen Schimmer ab. Stoke befahl der Brut, Urus auszugraben und ihn zu köpfen, seine Überreste zu verbrennen. Doch keiner von der Brut konnte diesem goldenen Glühen widerstehen, und so musste Stoke den Mann in Ruhe lassen, denn auch Stoke – ja, vor allem er – wurde von der heiligen Aura abgestoßen.

In dieser Nacht trugen die Drik Stoke in die Höhlen des Kessels. Dort verkroch er sich und gewann seine alte Stärke zurück.

Zwei Nächte später meldeten seine Jagdgruppen den Geruch von Fremden. Sie sprachen von einer Elfe, die sich angeblich in Luft aufgelöst hatte. Kurz vor dem Morgengrauen humpelte ein verwundeter Vulp in den Kessel. Er kam vom Kloster und brachte Neuigkeiten von einer Damman, die entkommen war, und auch von einem wilden Bären, einem geradezu mörderischen Bären.

So erfuhr Stoke, dass er immer noch gejagt wurde, von Elfen, Wurrlingen und Urus. Er folgerte, dass auch dieser Ort beobachtet wurde, und schmiedete einen Plan.

In der nächsten Nacht, als er und seine Gruppe die Schlucht verließen, blieben Drik, Ghok und Vulpen zurück. Wenn Stoke schon verfolgt würde, sollten doch jene, die ihn jagten, zur Beute werden.

Ein grauenvolles, geflügeltes Ding flog nach Süden, durch den Schneesturm, in dem Wissen, dass dieses Weiß die Spuren seiner Schergen zudecken würde. Und er wusste auch, dass jeder, der ihm folgte, von hinten abgeschlachtet werden würde.

Also flog er Flügel schlagend durch die Nacht, während selbst das Heulen des Sturms der kalten Wut, die in ihm toste, nicht gleichkam.

2. KAPITEL

DAS VERSCHWINDEN

Frühlingsanfang, 5E988

(Gegenwart)

Aus der wirbelnden weißen Wand krachte ein knurrender Vulg gegen Faeril, schleuderte sie mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee, landete auf ihr und nahm ihr so den Atem. Nur der tiefe Schnee und der Rucksack auf ihrem Rücken bewahrten sie vor dem sofortigen Tod. Sie hörte lediglich wildes Geheul und Schritte, die an ihr vorbeitrampelten. Und die Kreatur, die sie zu Boden drückte, versuchte, sie zu töten. Faeril wollte sich herumrollen, aber sie konnte dem Gewicht nicht entgehen, das sie beinah zerquetschte. Ebenso wenig konnte sie die Messer in ihrem Kreuzgurt erreichen, aber es gelang ihr, die silberne Elfenklinge aus der Scheide an ihrer Hüfte zu ziehen. Damit schlug sie nach dem Bein der Kreatur und riss eine tiefe Wunde. Heulend sprang das Vieh zur Seite, und Faeril konnte sich auf die Knie ziehen, noch während sich das Wesen mit aufgerissenem Maul auf sie stürzte. Ohne nachzudenken rammte ihm die Damman das Schwert ins Maul, vorbei an den Zähnen und tief in den Rachen, noch während ihr die Reißzähne die Haut zerfetzten. Jaulend fuhr das Vieh zurück, riss ihr die Klinge aus der Hand und brach unvermittelt zusammen.

Faeril rappelte sich auf, streifte ihren Rucksack ab, zog ein Wurfmesser aus Stahl aus dem Gurt und sah sich in dem heulenden, blendenden Weiß des Schneesturms um. Das im selben Augenblick pechschwarz wurde. Die Laterne! Sie ist aus! Oh, Gwylly!

Sie hörte Kampflärm, das Klirren von Stahl auf Stahl, das Kreischen der Sterbenden; dann sah sie undeutliche Schatten in der Dunkelheit, spürte sie mehr, als sie sie erkannte. Aber wer dort gegen wen focht, das wusste sie nicht. Ich sehe nicht genug, um mein Messer werfen zu können! Sie rammte den Dolch in den Gurt und zog ihr Langmesser, das in den Händen eines Wurrlings zum Schwert wurde.

Vor ihr flackerte eine Fackel auf, und sie konnte dunkle Gestalten erkennen, die durch den Schneesturm sprangen, dann eine große, die sich auf den Fackelträger stürzte und mit ihm verschmolz. Und dann folgte ein Schrei, die Fackel fiel in den Schnee, es zischte, und nun herrschte wieder Dunkelheit.

Vor ihr tauchte jemand auf. »Adon!«, schrie sie und ahnte, wie sich die Gestalt umdrehte, stieß mit ihrem Schwert zu, fühlte, wie es einen Knochen traf, hörte, wie die Gestalt keuchte, und sah, wie sie zusammenbrach und ihr dabei fast das Langmesser aus der Hand wand. Aber sie hielt es grimmig fest, bis sich die Klinge mit einem Knirschen aus dem Gefallenen löste.

Faeril sank auf die Knie und tastete nach ihm. Lass es einen Feind sein! Sie betastete den Leichnam, der einen Lederharnisch mit Stahlplatten trug. Rukh!, dachte sie, als sie ihre Hand von der Wunde riss, aus der ein sterbendes Herz Blut pumpte.

Angewidert krabbelte sie zurück und stieß gegen jemanden hinter sich. Das Wesen knurrte, fiel seitlich über sie und landete im Schnee. Die Damman schlug blindlings zu, traf, und das Wesen heulte auf. Faeril stieß ihr Langmesser in Richtung des Geräuschs, aber wer es auch war, er rollte sich hastig weg, sprang auf und rannte durch die Dunkelheit davon, ein schwarzer Fleck, der in dem schwarz tosenden Sturm verschwand.

Jemand anders näherte sich, heftig keuchend. Faeril hob das Schwert. »Adon!«, schrie sie und wollte gerade mit dem Langmesser zustoßen.

»Adon!«, kam die Antwort.

»Gwylly!«

»Faeril!«

»Oh, Gwylly, ich wäre fast …«

»Rücken an Rücken, Liebste«, fiel ihr der Bokker ins Wort. »Rücken an Rücken, obwohl das nicht viel helfen wird. Ich bin verwundet.«

»Oh, Gwylly …!«

»Rücken an Rücken!«

Also stellten sich die beiden Wurrlinge Rücken an Rücken auf und starrten ins Dunkle. Gwylly keuchte angestrengt und hustete ab und zu; Faeril zitterte, um sein Leben fürchtend.

Weiter entfernt flackerte eine zweite Fackel auf, die nur Augenblicke später unter den qualvollen Schreien Sterbender erlosch.

Immer noch heulte der Schneesturm, und der Schnee fegte um sie herum: wie schwarze Rabenfedern, die im Nachtwind fliegen. Gelegentlich klirrte Stahl auf Stahl, manchmal ertönte ein Todesschrei, dann wieder hörten sie Schritte, wenn jemand an ihnen vorbeiflüchtete. Aber sie vermochten in der Schwärze nichts zu erkennen, und in dem Heulen des Sturms hörten sie auch nur wenig. Dennoch blieben die Wurrlinge Rücken an Rücken stehen.

»Allein die Dunkelheit und der Wind retten uns«, zischte Gwylly. »Ohne den Schutz des Schneesturms, der unseren Geruch vertreibt, wären wir der Brut schon in die Hände gefallen.«

Dann brach Gwylly zusammen.

Faeril wirbelte herum und kniete sich hin, tastete nach einer Verletzung, fand jedoch nichts.

Noch während sie Gwylly hastig untersuchte, hörte sie das gutturale Knurren, ein Schnüffeln, und dann das Heulen eines Vulg. Faeril kauerte sich über ihren Bokkerer, ihr Langmesser gezückt, und betete, dass die Bestie sie nicht fand, Gwylly nicht witterte. Doch vergeblich – denn das Knurren wurde lauter, die Kreatur kam näher. Dann tauchte ein schwarzer Schatten in der Dunkelheit vor ihr auf und jaulte. »Adon!«, schrie sie, sprang auf, über Gwylly hinweg. Doch im selben Augenblick sprang jemand anders herbei, und ein Speer durchbohrte die ungeschützte Flanke des Vulg. »Adon!«, schrie Aravan, noch während sich Krystallopyr in die heulende Bestie brannte – sich durch sie hindurchbrannte – und Faerils Klinge seine Kehle durchtrennte, sein Heulen verstummen ließ.

Jetzt standen Elf und Damman Rücken an Rücken, Gwylly zwischen sich. In der Dunkelheit tasteten sie ihn ab, konnten aber immer noch keine Wunde finden. Also bezogen sie Posten über ihm, denn sie konnten mitten in dem Gefecht nichts tun, um dem Bokker zu helfen.

Ab und zu hörten sie das Klirren von Stahl auf Stahl, manchmal sogar aus zwei Richtungen gleichzeitig. »Sie kämpfen gegeneinander«, zischte Aravan, »obgleich Riatha ihnen sicherlich ebenfalls zusetzt.«

Plötzlich übertönte eine barsche Stimme den Wind und heulte etwas. Ein Ruf, der von anderen aufgenommen und weitergegeben wurde. Was er rief, wussten Aravan und Faeril nicht, denn es war in Slûk, der Sprache der Brut. Kurz darauf ertönten mehr Schreie, weiter entfernt, in südlicher Richtung, erneut, aber schwächer. Dann keine mehr.

»Vielleicht sind sie fort«, mutmaßte Faeril.

»Möglicherweise ist es auch nur eine List«, antwortete Aravan.

Sie warteten weiter in der Dunkelheit, während schwarzer Schnee um sie herumwirbelte. Plötzlich schien sich die Welt zu drehen, Faerils Magen verkrampfte sich, als ihr plötzlich übel wurde. Sie stolperte einen Schritt zur Seite, einen zweiten, fiel dann auf die Knie und übergab sich.

Aus weiter Ferne drang eine hohle, donnernde Stimme in ihr Ohr. »Faeril, was ist los? Seid Ihr verwundet?«

Die Damman konnte nicht antworten, denn in ihren Ohren rauschte es, und ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen … Sie brannte. Der Schweiß brach ihr am ganzen Körper aus, eisiger Schweiß. Noch während sie in den dunklen Schnee stürzte, in die Finsternis, gelang es ihr, ein Wort zu flüstern: »Vulg.«

»STOKE! … Stoke! … Stoke … stoke … toke … oke … o …«

Während das Echo seines Schreis zwischen den Bergen hin und her tanzte, drehte sich Urus um und machte sich im spärlichen Licht des anbrechenden Morgens auf den Weg nach Norden, über den unberührten Schnee, durch das breite, gewundene Tal. Er ging zu der Stelle zurück, an der er seine Kameraden zuletzt gesehen hatte.

Glühende Wut und kaltes Bangen rangen in seinem Herzen: Wut, weil Stoke ihm entkommen war, und Bangen, weil seine Kameraden noch immer nicht hier waren. Ist es möglich, dass Stoke sie in seinen widerlichen Krallen hat? Das wusste Urus nicht, er konnte es nicht wissen, und er brüllte seinen Ärger in einem unartikulierten Schrei heraus, während er forsch ausschritt.

Und wenn sie ihm in die Hände gefallen sind … dann wo? Urus sah sich um. Er konnte eine Handvoll Täler und Schluchten sehen, in die sich Stoke vielleicht geflüchtet hatte, aber er wusste, dass unmittelbar dahinter Tausende von Fluchtwegen den Grimmwall furchten, und darin lagen abermals Tausende von Schlupflöchern. Stoke könnte sich für immer in dieser Gebirgskette verbergen! Und dahinter liegt die ganze weite Welt! Erneut brüllte Urus seinen Ärger heraus, aber nur das langsam abklingende Echo antwortete ihm.

Sein Zorn kühlte zu einer eisigen Entschlossenheit ab und zog sich an diesen inneren, geheimen Ort zurück, wo er ihn sorgfältig hegte, und ließ nur eine dumpfe Vorahnung in seinem Herzen übrig. Wenn sie nicht gefangen sind, was dann? Ist es möglich, dass Petal … sie ist ja nicht Petal! Sie heißt Faeril! Trotzdem, sie ist Petals Ebenbild. Und er, Tomlin, heißt Gwylly …

Kann es sein, dass Faeril recht gehabt hat? Dass uns eine Gruppe Wrg folgte? Und falls ja, kann das der Grund für die Verzögerung sein?

Oh, meine Riatha … bist du … bist du etwa …?

Er marschierte weiter, Herz und Verstand von Sorge erfüllt, von Wut und Vorahnungen, von Logik und auch von Zorn.

»Stoke!«, brüllte er in die Berge hinauf. »Dreckskerl! Monster! Abschaum! Wir werden dich zerstören, wie die Zwerge deinen Turm vernichtet haben! Die Höhlen darunter! Wie wir Düsterschlund niederbrannten!«

Der Schnee lag tief im Tal, reichte manchmal bis zum Oberschenkel des Mannes – es wird schwer für die Waldana, sich hindurchzukämpfen, aber ich kann ihnen eine Spur hinterlassen … wenn sie noch leben –, und doch kam Urus rasch voran.

Schließlich bog er um eine Kurve und sah in der Ferne eine dünne Rauchsäule, die aus einem kleinen Dickicht in die Luft stieg. Sein Herz tat in seiner Brust einen Satz. Hoffentlich sind sie es! Als er sich näherte, sah er eine Zeltbahn zwischen den Bäumen. Urus zog die Handschuhe aus, legte

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE EYE OF THE HUNTER (Part 2)

Deutsche Übersetzung von Wolfgang Thon

Deutsche Erstausgabe 05/2008

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 1992 by Dennis L. McKiernan

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHwww.heyne.de

Titelillustration: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Andreas Hancock Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-08092-1

www.randomhouse.de

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