Zwergenzorn - Dennis L. McKiernan - E-Book

Zwergenzorn E-Book

Dennis L. McKiernan

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Beschreibung

Die Zwerge schlagen zurück!
Dennis L. McKiernans packendes Zwergenepos um das Moira von Mithgar ist ein Muss für alle Fans von J. R. R. Tolkien.
Was wäre, wenn viele Jahre nach dem gewaltigen Ringkrieg das Volk der Zwerge seine unterirdischen Hallen zurückerobern würde? – 200 Jahre nach dem Sieg über den Dunklen Lord liegt erneut ein Schatten über dem Land Mithgar: Angeführt von König Durek begibt sich eine Armee von Zwergen auf den vergessenen Weg nach Kraggen-Cor, der legendären Stadt unter dem Berg, einst das Herz des Zwergenreichs und nun letzte Zuflucht des Bösen.

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Seitenzahl: 424

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Das Buch

Seit tausend Jahren leben keine Zwerge mehr in den verlassenen Minen von Drimmenheim. Doch nun erhebt sich ein Schatten in den uralten Gängen, und eine längst vergessen geglaubte dunkle Macht bedroht die Lande Mithgars. Der siebte Durek, König der Zwerge, stellt eine Armee auf, um die Heimat seiner Vorfahren zurückzuerobern. Doch der Weg über das Gebirge ist tückisch, und die Tore der Zwergenfestung sind verschlossen und gut bewacht. So muss Durek ungewöhnliche Verbündete suchen: Menschen, Elfen und sogar zwei Wurrlinge schließen sich den bärtigen Kriegern an, um gemeinsam für die Befreiung Drimmenheims zu kämpfen …

In der Tradition von J. R. R. Tolkiens »Herr der Ringe« legt Dennis L. McKiernan mit diesem Roman – und dem Fortsetzungsband »Zwergenmacht« – ein exotisches Fantasy-Abenteuer vor, das den Vergleich mit dem großen Vorbild nicht zu scheuen braucht.

Der Autor

Dennis L. McKiernan, geboren 1932 in Missouri, lebt mit seiner Familie in Ohio. Mit seinen Romanen aus der magischen Welt Mithgar gehört er zu den erfolgreichsten Fantasy-Autoren der Gegenwart.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungPROLOG1 - Unerwartete Gäste2 - Willkommen in der Wurzel3 - Der Auftrag des KönigsCopyright

»Jeder Traum beinhaltet einen silbernen Lockruf, und für einige ist der Klang dieser geschätzten Stimme unwiderstehlich.«

DER SIEBTE DUREK

13. Dezember, 5E231

PROLOG

Langsam holperte der Karren westwärts die Querlandstraße entlang. Seine drei Insassen konnten voraus eine dunkle, in den Himmel ragende Silhouette sehen, die sich viel weiter, als das Auge reichte, nach Norden und Süden erstreckte. Es handelte sich um Spindeldorn, ein Gestrüpp aus dicken, fünfzig Fuß und höher aufragenden Ranken mit nadelspitzen Dornen. Die einzelnen Ranken waren derart ineinander verwoben, dass sogar Vögel es schwierig fanden, in das Dickicht einzudringen. Die Straße führte durch diese gewaltige Barrikade. Über Kopfhöhe waren die Ranken auf beiden Seiten miteinander verbunden und bildeten einen schattigen Tunnel aus Dornen, der in das Flusstal führte.

Der Karren rollte in den Tunnel, und das Licht fiel nur noch trüb auf den Weg. Lange fuhr das Trio durch die dornige Düsternis.

Schließlich konnten die Reisenden voraus einen Lichtbogen erkennen und gelangten wieder ins Tageslicht, da der Weg über eine Brücke über den Fluss Spindel führte. Jenseits der Brücke dehnte sich die Barrikade weiter aus, und ein weiterer dunkler Tunnel führte hindurch. Zwei Meilen hatten die Reisenden innerhalb des dornigen Weges bis zur Brücke zurückgelegt, und drei weitere Meilen lagen noch vor ihnen, bis sie dem Dornwall entkommen sein würden.

Sie rollten auf die Brücke, und die dicken Planken polterten unter den Rädern. Die drei Insassen des Karrens starrten voller Erstaunen auf das riesige Dornendickicht, das hoch aufragte und sich in den blauen Himmel über ihnen zu krallen schien. Diese natürliche Wehr wuchs in sämtlichen Flusstälern entlang der Grenze und erstreckte sich rings um das Land, in das die Reisenden unterwegs waren. Bald hatten sie die Brücke überquert und befanden sich wieder in der Dunkelheit des Tunnels.

Insgesamt brauchte das Trio fast zwei Stunden, um die Spindeldornbarriere vollständig zu durchqueren, aber schließlich gelangten sie doch zum anderen Ende. Vor ihnen erstreckte sich hügeliges Ackerland, und die Straße führte nach Westen über die Kuppe der nächsten Erhebung, nur um auf der Erhebung dahinter wieder aufzutauchen.

Sie folgten der Straße, die von einer angenehm warmen Sonne beschienen wurde. Nach etwa einer Meile sahen sie Arbeiter auf einem Feld in der Nähe, die Getreide ernteten. Der Fahrer hielt den Karren auf Höhe der nächsten Feldarbeiter an.

»Heda !«, rief der Wagenlenker. »Könnt Ihr uns den Weg weisen?«

Das Zischen der Sensen verstummte, als Leute sich dem Rufer zuwendeten. Doch als sie die Insassen des Karrens am Straßenrand erblickten, traten die Männer, die das Korn schnitten, nach vorn, während Frauen und Alte, die Garben aus dem geschnittenen Korn banden, sich weiter nach hinten zurückzogen. Die Kleinen, die Ähren nachlasen, lugten ängstlich hinter Röcken hervor, um die Fremden zu betrachten. Alle schwiegen.

»Wir sind im Auftrag des Hochkönigs hier«, rief der Fahrer, »und wir suchen den Weg zu Tucks Bau.«

»Im Auftrag des Königs, sagt Ihr ?«, flötete ein Bokker in der vordersten Reihe, der staunend zu den Fremden hochschaute, die wiederum ihn verblüfft anstarrten. Die Wagenfahrer sahen jemanden aus dem Kleinen Volk vor sich, einen Wurrling, denn sie befanden sich im Land der Sieben Täler. Er war kaum dreieinhalb Fuß groß. Seine Haare waren schwarz und schulterlang. Wams und Kniehose hatten die Farbe vertrockneter Blätter, und an den Füßen trug er weiche Stiefel. Seine Ohren waren spitz wie die der Elfen und auch seine glänzenden, flinken Augen standen schräg wie bei den Elfen – Utruni-Augen, hätten manche gesagt, denn die Augen des Kleinen Volks ähneln denjenigen der Steinriesen. Doch anders als bei den Riesen sind die Augen der Wurrlinge keine richtigen Edelsteine, sondern haben erstaunlicherweise nur deren Farben: saphirblau, smaragdgrün oder golden wie Bernstein.

»Tucks Bau ist in Waldsenken, das gut fünfzig Meilen weiter westlich liegt«, sagte der Wurrling, indem er auf die Querlandstraße zeigte. Dann richtete er den Blick wieder auf die Fremden. »Könntet Ihr einen Schluck Wasser an diesem warmen Tag vertragen oder etwas zu essen? Denn ich weiß, dass Reisende von der staubigen Straße ziemlichen Durst bekommen … und Hunger auch.«

»Recht vielen Dank, aber nein, wir haben Essen und Trinken dabei, und unsere Mission ist dringend. Sonst würden wir gern verweilen«, antwortete der Fahrer.

»Dann gehabt Euch wohl«, erwiderte der Bokker mit seiner wohlklingenden Stimme, indem er vom Straßenrand zurücktrat.

Mit einem Schnalzen des Zügels trieb der Fahrer die Pferde an. Als sie langsam losrollten, winkte er den Kleinen Leuten auf dem Feld zu. Sie winkten zurück, während die winzigen Jungen unter perlendem Gelächter durch die Furchen rannten und einen Moment das Tempo des Karrens hielten, bis sie von den Älteren zurückgepfiffen wurden.

»Hmph! Das sind also Waerans«, brummte einer der Passagiere, der nach hinten schaute. »Es fällt mir schwer, mir so kleine Leute als legendäre Helden vorzustellen.«

»Und doch sind sie sehr mutig«, sagte der Fahrer, »und freundlich noch dazu. Ich hoffe nur, wir werden das Gesuchte in dem Tagebuch finden, das zu lesen wir so weit gereist sind.«

»Aye, das Tagebuch von Tuck Sunderbank, Held des Königreichs«, grunzte der andere Passagier. »Meine Leute ehren sein Andenken wohl, obschon seine Taten über zwei Jahrhunderte zurückliegen. Aber was mein Bruder sagt, stimmt: Die Tapferkeit scheint sich dieses Volk auszusuchen. Obwohl auch ich sie für zu klein für so eine Veranlagung gehalten hätte.«

Der Fahrer wandte sich an seinen Sitznachbarn. »Aber es heißt, dass diese Kleinen Leute – diese Waerlinga – mehr als eine Schlüsselrolle in der Geschichte Mithgars gespielt haben. Die Statur allein sagt noch nichts über die Größe des Herzens.«

Stille kehrte bei den Reisenden ein, als ihnen uralte Legenden durch den Kopf gingen, während sie im Auftrag des Königs weiter westwärts fuhren.

1

Unerwartete Gäste

»Heda, Herr Perry! Heda! Heda! Ihr bekommt Besuch! Aus dem Rathaus!«

Peregrin saß in der Oktobersonne auf der Veranda seines Heims, der Wurzel von Waldsenken. Er schaute von dem silbernen Horn auf, dass er angelegentlich polierte. Was, in allen Sieben Tälern, soll der Krach?, fragte er sich. Was er sah, war ein Jungbokker – also ein männlicher Wurrling in der Blüte seiner Jahre zwischen zwanzig und dreißig –, der den gewundenen Weg zur Wurzel empor lief. Das Gesicht des rennenden Bokkers war vor Anstrengung rot angelaufen. Zwei Wurrlingsjunge tollten hinter ihm her.

»Nur die Ruhe, Zwirn! Immer langsam, sonst platzt du noch«, rief Perry lachend. »Und ihr zwei Windräder hört auf, euch zu drehen.«

Der Jungbokker blieb am Aufgang zur Veranda stehen, und die beiden Jungen in seinem Gefolge ließen sich erschöpft und keuchend ins Gras bei der Hecke fallen, voller gespannter Erwartung zu erfahren, warum Zwirn eigentlich so gerannt war. Nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, um dem Jungbokker etwas Zeit zum Verschnaufen zu geben, fragte Perry schließlich: »Also schön, Zwirn, was soll die Eile? Wer will etwas von mir? Wer kommt aus dem Rathaus ?«

»Du meine Güte, Herr, sie wollen etwas von Euch«, begann Zwirn immer noch schnaufend. »Heda! Augenblick mal. Ihr zwei Junge« – er starrte die beiden kleinen Wurrlinge missbilligend an –, »das ist nicht für eure Ohren bestimmt. Schert euch weg, damit ich meinem Herrn sagen kann, was los ist. Macht schnell! Auf, auf!« Die beiden Jungen waren wohlerzogen und hatten Manieren nach Art der Sieben Täler, wie alle jungen Wurrlinge in Waldsenken. Überdies sahen sie ein, dass er nichts verraten würde, solange sie zugegen waren. Also rannten sie den von Steinen gesäumten Weg hinunter und verschwanden hinter der Hecke.

Zufrieden begann Zwirn von neuem: »Herr Perry, ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas noch mal erlebe. Leute wie diese hat man seit Tucks Zeiten nicht mehr in den Tälern gesehen! Sie kamen einfach ins Rathaus marschiert. Ja, Herr Perry, und da war ich und habe den Boden gefegt, wie ich es jeden Mittmonat tue, und plötzlich waren sie da und haben mich – mich! – nach dem Vorsteher gefragt.

Ich habe meinen Augen nicht getraut und muss ausgesehen haben wie ein schwachköpfiger Trottel, wie ich vor Erstaunen Maulaffen feil hielt. Ich nehme an, ich würde immer noch dastehen und gaffen, wenn Vorsteher Kleinriegel nicht ausgerechnet in diesem Augenblick aufgetaucht wäre.

›Ach, Zwirn‹, hat er gesagt, ›wo ist denn der …‹ Dann hat er die Besucher auch gesehen und war ebenso vom Donner gerührt wie ich, aber nicht so lange. Über Kleinriegel mit seinen weitschweifigen Reden und seiner Vorliebe für Zeremonien, bei denen Bänder durchgeschnitten werden, kann man sagen, was man will, aber eins muss ich ihm lassen: Nach dem ersten Schock hat er sich schnell gefasst und sie gefragt, ob er etwas für sie tun könne.

›Wir wollen mit dem Vorsteher sprechen‹, hat der Große gesagt. ›Ich bin der Vorsteher‹, sagte Kleinriegel. ›Vorsteher‹, meinte der Große, ›können wir uns irgendwo unterhalten?‹ ›Folgt mir‹, sagte der Vorsteher und dann sind sie alle in sein Büro getrabt.

Je nun, ich war so neugierig wie eine junge Katze, also habe ich die ganze Zeit vor der Tür des Vorsteherbüros gefegt«, fuhr Zwirn fort. Sein Gesicht war vor Verlegenheit rot angelaufen, aber er hatte auch den Kiefer vorgereckt, als wolle er die ganze Welt herausfordern, ihn doch des Lauschens zu bezichtigen – wenngleich seine smaragdgrünen Augen dem Blick seines Herrn auswichen. »So dick, wie die Türen im Rathaus sind, habe ich aber nur Gemurmel gehört und konnte kein Wort von dem verstehen, was gesagt wurde. Sie haben sich ungefähr eine halbe Stunde leise unterhalten. Dann habe ich schließlich doch etwas mehr gehört als nur Gemurmel. Es war Kleinriegel. Er sagte: ›Du meine Güte, Ihr habt Recht! Peregrin Schönberg ist derjenige, den Ihr sprechen wollt.‹ Damit riss er die Tür auf und brüllte: ›Zwirn! Zwirn!‹ Dann hat er gesehen, dass ich schon da war. Also wurde er leiser und sagte eindringlich: ›Zwirn, lauf zur Wurzel und sag Herrn Perry, dass wir Gäste haben. Sie wollen mit ihm reden und Tucks Tagebuch sehen. Sie brauchen ihn und das Buch. Jetzt lauf und beeil dich.‹

Also habe ich meinen Besen fallen lassen und bin so schnell hierher gelaufen, wie ich konnte, um Euch die Nachricht zu überbringen, Herr Perry! Sie kommen hierher zur Wurzel, um Euch und Euer Buch des Raben zu sehen – obwohl ich mir beim besten Willen nicht denken kann, warum. «

Perry stand auf, wickelte das kleine silberne Horn in das Poliertuch ein und ging zur Eingangstür. Plötzlich drehte er sich noch einmal um. »Aber, Zwirn«, sagte er perplex, »das Wichtigste hast du mir noch gar nicht erzählt. Wer will mich denn nun sprechen? Wer oder was braucht mich? Wer kommt, um sich den Bericht anzusehen?«

»Dussel, der ich bin!« Zwirn schlug sich mit der Linken vor die Stirn. »Du meine Güte, Ihr habt völlig Recht, Herr. Ich habe wirklich das Wichtigste ausgelassen.«

Er schaute hinter sich, um sich zu vergewissern, dass niemand hören konnte, was er sagen würde. Dabei übersah Zwirn völlig die tanzenden, funkelnden Augen der beiden kleinen Wurrlinge, die auf der anderen Seite der Hecke auf dem Bauch lagen, wohin sie gelaufen waren, als man ihnen befohlen hatte zu verschwinden. Den Rest ihres Lebens sollten diese beiden noch oft Zwirns nächste Worte wiederholen. Denn soweit es die Wurrlinge der Sieben Täler in späteren Zeiten betraf, war dies der Augenblick, als das richtige Abenteuer begann. Zwirn sagte nämlich: »Herr, die das Buch des Raben sehen wollen? Herr, nun ja …« Wieder sah er sich um.

»Heraus damit, Zwirn. Wer sind sie?«

»Du meine Güte, Herr.« Er holte tief Luft und dann platzte es förmlich aus ihm heraus: »Sie sind Zwerge, Herr! Das sind sie: Zwerge!«

2

Willkommen in der Wurzel

»Zwerge, Zwirn? Hier in den Sieben Tälern? Zwerge, die mich sprechen wollen?«

»Und ein Mensch, Herr Perry, zwei Zwerge und ein Mensch.«

Du meine Güte!, dachte Perry benommen. Welch eine Nachricht! Ein Mensch und zwei Zwerge. Und sie sind wegen mir gekommen! Er machte auf dem Absatz kehrt und lief in seinen Bau, dicht gefolgt von Zwirn.

Das war tatsächlich eine Neuigkeit, denn Menschen und Zwerge besuchen die Sieben Täler nur selten. Nur ein einziges Mal waren viele Menschen diesseits des Spindeldorns gewesen, und zwar vor langer Zeit während des Winterkrieges – nachdem der schändliche Modru einen großen Trupp Ghule geschickt hatte, um die Täler zu überrennen. Diese bösartigen Kreaturen hatten sogar beinah Erfolg gehabt. Sie waren sengend, plündernd und mordend durch das Land gezogen und hatten die Sieben Täler dabei fast vollständig zerstört.

Aber dann waren Patrel Binsenhaar und Danner Brombeerdorn gekommen, zwei der größten Helden des Wurrlingvolks – noch größer als Arbagon »Rukhtöter« aus dem Weitimholz. Die Hauptleute Patrel und Danner waren während des Großen Rückzugs in die Sieben Täler zurückgekehrt. Und dann fingen sie an, die Wurrlinge zu organisieren, Modrus Soldaten aus dem Land zu jagen und die Sieben Täler von den Eindringlingen zu befreien.

Die Schlachten waren gewaltig gewesen, und ihr Ausgang hatte auf Messers Schneide gestanden, bis schließlich die Menschen gekommen waren – Vidrons Legion – und dann waren die Ghule versprengt worden … nur um durch eine von Modrus Horden ersetzt zu werden. Doch die Menschen hatten bis zum Ende des Winterkriegs mit ihren Verbündeten gekämpft.

Nach dem Krieg waren wieder andere Menschen gekommen, um beim Wiederaufbau der Sieben Täler zu helfen. Aber danach hatte man nur noch selten große Leute innerhalb des Dornenrings gesehen, denn König Galen in Pellar hatte die Sieben Täler zu einem freien Reich unter dem Schutz seines Zepters erklärt. Sein Edikt lautete, dass kein Mensch im Land des Kleinen Volks wohnen solle. Daher sah man seit dem Winterkrieg innerhalb der Barriere gewöhnlich nur Menschen, die auf der Durchreise waren. Ganz selten kamen Boten in die Täler und brachten Nachricht vom Wirken des Königs. Hin und wieder kamen Kaufleute, um Tabakblätter aus Untertal, Melonen und Flechtwerk aus Großmarschen und auch andere Handelswaren des Kleinen Volks zu erwerben. Aber infolge von Galens Edikt blieb kein Mensch länger bei den Wurrlingen. Auch als König Galens Sohn Gareth Monarch wurde, bestätigte er das Edikt. So kam es, und so ist es bis auf den heutigen Tag geblieben, dass die Sieben Täler ein freies Land sind, in dem keine Menschen wohnen, ein Reich unter dem Schutz des Königs im weit entfernten Pellar.

Doch so selten Menschen in die Täler kamen, Zwerge waren noch seltener. Obschon ihnen das Betreten der Sieben Täler nicht verboten war, hatte zu Lebzeiten Perrys noch kein Wurrling einen Zwerg gesehen. Tatsächlich war schon so lange keiner mehr gesichtet worden, dass Zwerge zur Legende geworden waren. Gewiss, wenn ein Wurrling einmal den Dornenring verließ und nach Steinhöhen reiste, kam es vor, dass er manchmal glaubte, einen Zwerg erspäht zu haben, aber immer aus so großer Entfernung, dass der Wurrling hinterher nie mit absoluter Sicherheit behaupten konnte, tatsächlich einen gesehen zu haben. Historisch gesprochen, waren zuletzt unzweifelhaft Zwerge in den sieben Tälern gewesen, als mehrere von ihnen mit einem Karren voller Waffen und Rüstungen durch das Land gezogen waren, die bei ihren bitteren Zusammenstößen mit den Rukhs Verwendung gefunden hatten. Das hatte sich vor langer Zeit ereignet, fast zweihundertzwanzig Jahre vor dem Winterkrieg und vor dem Drachenstern – was bedeutete, dass seit fast 450 Jahren keine Zwerge mehr in den Sieben Tälern gesichtet worden waren. Doch wenn Zwirn Recht hatte, waren nun sowohl Menschen als auch Zwerge zurückgekehrt.

Perry lief durch den Flur und ins Arbeitszimmer. Ins Arbeitszimmer! Denn in dieser Beziehung war die Wurzel eigentümlich, weil sie eine der ganz wenigen Wurrlingsbehausungen war, in der es so einen Raum gab.

Anstelle von Büchern ziehen Wurrlinge im Allgemeinen ihre Gärten und Felder, ihr Marschland und ihre Wälder vor. Was nicht heißen soll, die meisten Wurrlinge könnten weder lesen noch schreiben oder rechnen – o nein, weit gefehlt. Viele aus dem Kleinen Volk lernen diese Dinge noch vor dem zweiten Altersnamenswechsel – und sie sind ebenso stolz über einen Sieg in einem Buchstabierwettbewerb wie darauf, dass sie die Namen aller ortsansässigen Helden aufsagen können. Doch wenngleich viele Wurrlinge gebildet sind, sitzen die meisten doch lieber in ihrem Gemüsegarten oder mit einer Pfeife und einem Krug Dunkelbier in der Einäugigen Krähe oder dem Blauen Ochsen oder sonst einer Taverne in den Sieben Tälern statt in irgendeinem Zimmer mit staubigen Wälzern. Jedenfalls fand man Bücher hauptsächlich an den richtigen Stellen – wie zum Beispiel in den Bibliotheken in den Klippen oder im Großen Baumhaus oder im Festsaal von Ostend – und nicht in einer privaten Behausung.

Daher war das Arbeitszimmer in der Wurzel eine Kuriosität in den Tälern.

Es war ein großes geräumiges Zimmer mit runden Fenstern nach Westen. Der Boden war aus Eichenholz, aber Wände und Decke waren mit Walnussholz vertäfelt. Es gab viele bequeme Sitzgelegenheiten, und an drei Wänden standen ein Schreibtisch und zwei Pulte. In der Mitte des Zimmers stand außerdem ein niedriger Tisch mit einem Sofa und großen Sesseln. Es gab mehrere vom Boden bis zur Decke reichende Bücherregale, in denen Manuskripte, Folianten, Bücher und Schriftrollen zuhauf gestapelt waren. Doch am auffälligsten waren mehrere große und kleine Glasvitrinen, in denen Waffen und Rüstungen, Flaggen und Banner sowie andere Gegenstände ähnlicher Natur ausgestellt waren – alle in einer für Wurrlinge geeigneten Größe.

In diesem Arbeitszimmer hatten Tucks Schreiber den größten Teil des Buchs des Raben aufgezeichnet. Dieses Buch war das von Tuck Sunderbank im ersten Jahr des Winterkriegs begonnene Tagebuch. Tuck war einer der berühmtesten Wurrlinge in der Geschichte – sogar noch berühmter als Danner und Patrel – und tatsächlich Gegenstand elfischer Lieder. Tuck hatte den Roten Pfeil abgeschossen und damit den Myrkenstein zerstört und mit ihm Modrus Macht und die Bedrohung durch Gyphon. Sein Tagebuch, Das Buch des Raben – oder, wie es offiziell heißt, Herrn Tuck Sunderbanks unvollendetes Tagebuch und sein Bericht vom Winterkrieg – enthielt seine Geschichte und die Geschichte des Dusterschlunds.

Perry trat flink in diesen Raum voller historischer Andenken ein und legte das silberne Horn – das immer noch mit dem Poliertuch umwickelt war – in eine der Glasvitrinen. Dann wandte er sich an den anderen Wurrling. »Zwirn, während ich das Buch des Raben auspacke, suchst du Holli und sagst ihr, dass wir heute Abend wahrscheinlich Gäste in der Wurzel haben: drei – vielleicht vier, wenn der Vorsteher bleibt – zusätzliche Gedecke am Tisch, wenn du so nett wärst … und auch Betten. Und, Zwirn, lass für dich auch einen Platz herrichten. Du bist mittlerweile ziemlich versiert in den Geschichten des Buchs, und du hast diese Fremden bereits kennen gelernt … und, na ja, bleib bei mir. Ich würde mich einfach besser fühlen, wenn ich dich an meiner Seite hätte.«

Aufgeregt und erfreut darüber, dass sein Herr ihn bei sich haben wollte, wenn diese Außeren in die Wurzel kamen, eilte Zwirn davon, um die junge Holli Nordfüllen zu suchen, die jüngste Tochter von Jayar und Dot Nordfüllen.

Jayar, ein ehemaliger Postmeister und nun Gutsbesitzer, war wohl bekannt dafür, dass die Kaltquelle auf seinem Land geeignet für das Kühlen von Buttermilch und Melonen war. Gutsherr Nordfüllen, ein nüchterner Bokker mit festen Ansichten, hatte die Buchgelehrten schon immer sehr bewundert. Er war äußerst bestürzt, als er erfuhr, dass der neue Kurator der Wurzel – ein Herr Peregrin Schönberg – nicht nur gelehrten Tätigkeiten nachging, sondern sich außerdem mühte, mit dem Reinigen, Abstauben und der Herstellung von Essen nachzukommen, und dabei zweifellos an seinen eigenen Kochkünsten verhungerte. So setzte sich Jayar über Dots tränenreiche Einwände hinweg und schickte die junge Holli in einem zweirädrigen Ponykarren die einundfünfzig Meilen von Fingerhut nach Waldsenken, um »sich des Wohlergehens dieses Gelehrten anzunehmen«.

So kam es, dass es eines Tages an Perrys Tür klopfte und, als er sie öffnete, die hübsche Holli mit einem Koffer in der Hand vor ihm stand, während ihr geschecktes Pony in aller Ruhe auf dem Rasen graste. »Ich bin gekommen, um diesen Haushalt zu führen«, hatte die goldäugige Mamme kategorisch verkündet. Wenngleich Perry sich nicht erinnern konnte, eine Suchanzeige für eine Haushälterin aufgegeben zu haben – denn das hatte er nicht –, hatte er sie mit froher Erleichterung willkommen geheißen, denn praktisch verhungerte er tatsächlich an seinen eigenen Kochkünsten, wenigstens kam es ihm so vor.

Hollis zeitlich günstiges Erscheinen vergrößerte Perrys »Familie« auf zwei Personen. Nachdem sie Gelegenheit gehabt hatte, sich ein Bild von der Situation zu machen, wuchs der Haushalt durch ihre Beharrlichkeit auf drei, als noch ein Gehilfe angestellt wurde: Zwirn. Nun wurden auch Dinge repariert und der Rasen gemäht, und Zwirn hatte überdies immer ein offenes Ohr für Herrn Perrys gelehrte Gedanken und Überlegungen.

Folglich hatte dank eines entschlossenen Südtaler Gutsbesitzers und seiner gleichermaßen entschlossenen Tochter die Wurzel die sanfte Hand einer fähigen Jungmamme gewonnen, und Perrys Haushalt war an den Klippen des Verhungerns und den Riffen der Unordentlichkeit vorbei in den Hafen der Häuslichkeit gesteuert.

Während Zwirn sich auf die Suche nach Holli machte, holte Perry vorsichtig Das Buch des Raben aus seinem reich verzierten Tragekoffer aus Greisenbaumholz und legte es auf den Schreibtisch. Er schaute sich im Zimmer um, aber ihm fiel nichts ein, was er sonst noch zur Vorbereitung tun konnte. Also setzten sie sich nach Zwirns Rückkehr gemeinsam auf die Veranda, um dort die Ankunft der Besucher aus dem Rathaus von Waldsenken zu erwarten.

Inzwischen traf Holli drinnen emsig alle Vorbereitungen für die unerwarteten Gäste und murmelte dabei beständig vor sich hin: »Gute Güte! Gäste hier in der Wurzel! Und Zwirn sagt, es wären ein Großer Mensch und zwei Zwerge! Und vielleicht sogar noch Vorsteher Kleinriegel! Ich frage mich, was Zwerge essen? Und wo um alles in der Welt soll der Große Mensch schlafen? Menschen sind doch so riesig: doppelt so groß wie ein normaler Wurrling, heißt es. Obwohl man sagt, dass Zwerge fast die richtige Größe haben, woher soll ich wissen, wovon sie sich ernähren? Vielleicht mögen sie Pilze oder Hasenragout oder …«

Perry und Zwirn waren noch nicht lange wieder im Freien, als Vorsteher Will Kleinriegel der Dritte und die Fremden eintrafen. Der Vorsteher nahm Perry am Arm, wandte sich an die Besucher und sagte: »Meister Peregrin Schönberg, ich darf Euch Fürst Kian aus der Gemeinde Dael und die Handwerksmeister Anval Eisenfaust und Borin Eisenfaust aus dem Unterbergereich Minenburg-Nord vorstellen.«

Zum ersten Mal überhaupt erblickten Perrys saphirblaue Wurrlingsaugen einen Menschen. Wie groß sie sind … ich frage mich, ob die Decken in der Wurzel hoch genug sind. Und die Zwerge: So breit und stämmig – so stark wie der Fels, in dem sie leben.

Fürst Kian war ein junger Mensch, schlank und hochgewachsen, fast doppelt so groß wie Perry. In der rechten Hand hielt er einen Eschenholzstab, und er war für einen Überlandmarsch gekleidet: weiche Stiefel, robuste Hose und ein Wams, dazu ein langer Umhang. Seine Kleidung war von einer nicht genau bestimmbaren grau-grünen Farbe, die vor Blattwerk und Felsen gleichermaßen unauffällig war. Auf dem Kopf trug er die Kappe eines Bogenschützen, die mit einer einzelnen grünen Feder geschmückt war. An einem Schultergurt hingen ein schlichter Köcher mit grün gefiederten Pfeilen und ein kurioser Bogen – kurios deswegen, weil er nicht aus Eibenholz war, sondern vielmehr aus seltsam geformten Knochen zu bestehen schien, die aussahen wie gekrümmte Tierhörner in einem Mittelstück aus Silber. Kians goldene Haare waren schulterlang. Die Wangen waren zwar glattrasiert, doch zierte sein ansehnliches Gesicht ein ordentlich gestutzter blonder Schnurrbart, der sich um die Mundwinkel herumzog und in einen gleichermaßen ordentlich gestutzten Kinnbart überging. Um die Taille trug er einen grauen Gürtel mit einer silbernen Schnalle, die zu der Silberbrosche passte, welche den Umhang am Hals zusammenhielt. Auch seine stechenden, durchdringenden Augen zeigten dieselbe Farbe wie das Metall. Sehen alle Menschen so aus? Silbern und golden? Silbergraue Augen unter gelblich-goldenen Brauen?

Im Gegensatz zu dem hochgewachsenen, hellhäutigen und hellhaarigen Fürst Kian waren Anval und Borin nur etwa drei Handspannen größer als Perry, hatten aber außergewöhnlich breite Schultern. Sie schienen mindestens um die Hälfte breiter zu sein als der junge Mensch. Sie trugen dunkle, erdige Farben für die Reise, waren ansonsten aber wenig anders gekleidet als Kian. Jeder trug einen geschnitzten Eschenholzstab, der mit schwarzen Stockzwingen aus Eisen beschlagen war und in einem kunstvoll gestalteten Knauf auslief: Bei Anval hatte er die Form eines Bären, bei Borin die eines Widders. An Trageriemen über der Schulter hingen robuste Streitäxte nach Zwergenart: doppelschneidige, runenbedeckte Waffen mit Stahlklingen. Die Zwerge waren zwar nicht so hellhäutig wie Fürst Kian, aber dennoch von heller Hautfarbe.

Beide hatten einen schwarzen Bart, lang und gegabelt, wie es die Art der Zwerge ist. Nicht nur waren die Bärte und Haarschöpfe schwarz wie das Fundament eines Berges, ihre Augen hatten die Farbe schwärzesten Onyxes. Anders als Kians lächelndes Gesicht war ihre Miene ernst, finster und wachsam. Gute Güte, ich kann den einen nicht vom anderen unterscheiden. Sie sehen sich so ähnlich wie zwei Stücke Schmiedeofenkohle!

Anval und Borin nahmen die Kappe von ihren rabenschwarzen Locken und verbeugten sich steif, wobei sie ihre dunklen Augen keinen Moment von Perrys Gesicht ließen. Fürst Kian verbeugte sich ebenfalls, und Perry erwiderte die Höflichkeit mit einer fließenden Verbeugung seinerseits vor allen dreien. Vorsteher Kleinriegel, der nicht zurückstehen wollte, verbeugte sich vor jedermann draußen vor der Wurzel – nur nicht vor den beiden Wurrlingjungen, die auf der anderen Seite der Hecke damit beschäftigt waren, sich eifrig voreinander zu verneigen.

»Und das ist mein Freund Zwirn Spangengrat«, verkündete Perry, wonach eine zweite Verbeugungsrunde folgte, eine Wiederholungsvorstellung des Vorstehers eingeschlossen. »Mir ist zu Ohren gekommen, Ihr sucht mich – und auch mein Buch des Raben«, fuhr Perry fort. »Lasst uns hineingehen, dann werde ich sehen, was ich für Euch tun kann.«

Sehr zu Perrys Überraschung lehnte Vorsteher Kleinriegel ab. »O nein, Perry, ich muss ins Tal zurück. Viel zu tun, wisst Ihr. Außerdem muss ich heute Abend noch nach Lammdorf. Die Arbeit eines Vorstehers endet nie.«

Fürst Kian wandte sich an Kleinriegel. »Wir waren lange unterwegs, bis wir Tucks Bau erreicht haben. Ihr habt uns auf der letzten Etappe begleitet, damit wir mit Meister Perry reden können und den Auftrag des Königs erfüllen. Wir werden Euch nicht länger von Euren dringlichen Pflichten abhalten. « Zwar hatte Fürst Kian es nicht ausdrücklich gesagt, aber es war klar, dass Will Kleinriegel damit entlassen war.

Also verabschiedete der Vorsteher sich mit sichtlicher Erleichterung und ging, nachdem er sich noch einmal vor allen verneigt hatte. Es ist sicher, dass Vorsteher Kleinriegel ein klein wenig enttäuscht war, weil er wusste, dass er eines von Hollis Gastmahlen in der Wurzel verpassen würde. Und da Wurrlinge gern essen – fünfmal am Tag – und Gastmahle bei weitem die besten Mahle sind, brachte der Vorsteher kein geringes Opfer. Aber auf der anderen Seite der Waagschale stand die Tatsache, dass es schließlich um einen »Auftrag des Königs« ging und so etwas war immer sehr heikel. Besser war, dass kleine Wurrling-Vorsteher aus kleinen Wurrling-Gemeinden ihre Nase dort behielten, wohin sie gehörte, denn wer wusste schon, was andernfalls passieren mochte? Herrje! Man brauchte sich nur anzusehen, was beim letzten Mal passiert war, als Wurrlinge sich mit dem König eingelassen hatten – du meine Güte, da war diese Sache mit dem Myrkenstein. O nein, so etwas würde Will Kleinriegel dem Dritten nicht passieren – selbst wenn ihm deswegen ein großartiges Mahl entging! Will eilte immer schneller den Weg entlang und war bald ihren Blicken entschwunden.

»Willkommen in der Wurzel«, sagte Perry, dann drehte er sich um und öffnete die Eichentür.

3

Der Auftrag des Königs

Perry hätte sich keine Sorgen wegen der Deckenhöhe in der Wurzel zu machen brauchen, denn Fürst Kian konnte bequem stehen – obwohl er sich ein wenig bückte, als er durch die Tür ging.

Doch nicht nur Perry hatte sich Gedanken wegen der Zimmerhöhe gemacht, denn Fürst Kian bemerkte: »Ich hätte gedacht, die Behausungen der Waerlinga wären kleiner und nicht groß genug für einen Menschen, um aufrecht stehen zu können.«

»Auch ich habe schon befürchtet, Ihr könntet an die Decke stoßen«, lachte Perry, während die Besucher ihre Kopfbedeckungen und Umhänge ablegten, »aber ich hätte es eigentlich besser wissen müssen. Wisst Ihr, die Wurzel ist etwas ganz Besonderes.«

»Etwas Besonderes?«, fragte Fürst Kian. »Inwiefern?«

»Nun ja, sie ist anders als die meisten Wurrling-Behausungen«, antwortete Perry, »seien es die Bauten von uns Siven-Wurrlingen, die Baumhäuser der Quiren, die Pfahlbauten der Othen oder die steinernen Feldhäuser der Paren.«

»Euer Volk lebt in vier verschiedenen Arten von Behausung? Eine für jeden Zweig?«, grunzte Anval, dessen düster-finstere Miene einem Ausdruck der Überraschung wich.

»Ach«, sagte Perry, »früher war das so. Aber jetzt folgen viele von uns nicht mehr den alten Traditionen der vier Wurrling-Völker, und wir leben wild durcheinander: Höhle, Baumhaus, Pfahlbau oder Stein, wir wohnen, wie wir wollen, ungeachtet unserer Herkunft.

Aber ich schweife ab … und, Fürst Kian, Ihr habt Recht: Die Wurzel ist tatsächlich besonders groß. Oh, so war sie nicht immer.« Perry gestikulierte beim Reden. Die Besucher wurden durch einen breiten Mittelkorridor geführt, eichenvertäfelt und mit grob behauenen Trägern unter der Decke. Auf beiden Seiten führten zahlreiche Türen in angrenzende Räume. Der Korridor führte durch die eigentliche Eingangsdiele, die mehrere Lehnstühle und zwei kleine, mit Leinen gedeckte Tische beiderseits der Wände enthielt. Auf jedem Tisch stand eine Vase mit getrockneten Blumen, die Holli dorthin gestellt hatte, und an den Wänden hingen Teppiche und Stickereien. Am Eingang des Korridors enthielt ein Schirmständer zwei Regenschirme und einen Gehstock. Darüber hing an der Wand eine Garderobe für Hüte und Umhänge – von der die Besucher keinen Gebrauch machten. Der Korridor endete in einer Querdiele: Auf der Westseite führte sie zu Küche, Spülküche und den Vorratsräumen und auf der Ostseite zu den Schlafzimmern.

»Die ursprüngliche Wurzel«, fuhr Perry fort, »war eine gewöhnliche Wurrling-Behausung, deren Größenverhältnisse auf Wurrlinge abgestimmt waren – und voll ausgewachsen sind wir zwischen drei und vier Fuß groß. Ich bin mit dreieinhalb Fuß recht durchschnittlich. Zwirn ist etwas größer, einen Fingerbreit oder so. Jedenfalls, wie ich schon sagte, war die ursprüngliche Wurzel ganz gewöhnlich, aber sie ist im Krieg zerstört worden. Modrus grausame Schergen – die Ghule –, die keine geeignete Beute fanden, überfielen sie und verbrannten sie zusammen mit vielen anderen Behausungen in Waldsenken. Aber nach dem Krieg kamen Männer des Königs und viele andere, um beim Wiederaufbau zu helfen – aber ganz besonders, um an diesem Bau zu arbeiten, an Tucks Bau, um ihn besser als neu zu machen. Das haben sie auch getan, wie Ihr sehen könnt. Jedenfalls hat Herr Tuck seinerzeit darum gebeten, die neue Wurzel so geräumig auszuheben, dass zukünftig Große Leute als Gäste untergebracht werden könnten, weil Tuck sich mit vielen Menschen angefreundet hatte.

Ihr seht also, Fürst Kian, die Decken sind hoch genug für Euch und es gibt viele robuste – und wie ich hoffe auch bequeme – Stühle überall in den Räumen, auf denen jemand von Eurer Statur Platz findet.« (Und Perry wusste zwar noch nichts davon, aber Holli hatte in einem der lange unbenutzten Räume im Bau ein menschengroßes Himmelbett entdeckt, sehr zu ihrer Überraschung und Freude – denn nun hatte sie ein anständiges Schlafzimmer für jeden ihrer Gäste, auch für diesen »Menschen-Riesen«, der förmlich über Perry und Zwirn aufragte, da er sich zur unglaublichen Größe von sechs Fuß oder mehr in den Himmel reckte.)

»Wollt Ihr damit sagen, dass ich in jeder anderen Waerling-Behausung auf Händen und Knien umherrutschen müsste?«, fragte Kian, indem er nach oben griff und die Eichenvertäfelung berührte.

»Nicht ganz«, lächelte Perry, »aber Ihr müsstet Euch schon ein wenig bücken.«

Auf halbem Weg durch die Diele führte Perry die Gruppe durch eine Tür zur Linken in das walnussvertäfelte Arbeitszimmer. Während seine Gäste Hut und Umhang ablegten, deutete Perry auf die Glasvitrinen ringsumher. »Die Wurzel ist nicht nur wegen ihrer Größe etwas Besonderes. Sie ist auch etwas Besonderes, weil sie ein Museum ist. Wisst Ihr, Wurrlinge haben es nicht sonderlich mit Denkmälern, wobei das Monument von Lammdorf, das an die Kämpfe erinnert, eine Ausnahme ist. Aber das hier, mein Heim, ist auch eine Ausnahme. Schaut Euch um. Ihr werdet Rüstungen und Waffen finden, elfische Umhänge und viele andere Dinge aus der Vergangenheit. Die Wurzel ist eine Behausung und auch ein den Wurrling-Helden des Winterkrieges gewidmetes Museum. Die Verwandtschaft von Herrn Tuck kümmert sich darum. Derselbe Herr Tuck, der den Roten Pfeil abgeschossen hat. Der Myrkensteintöter. Und der letzte wahre Besitzer der Wurzel. Heute bin ich, Perry Schönberg, der gegenwärtige Kurator dieser Erinnerungsstücke aus ruhmreichen Zeiten.«

Perry wandte sich einer Ecke des Raums zu. »Seht, Anval und Borin, hier ist etwas, das ganz sicher Euer Interesse wecken wird: ein schlichter Kettenpanzer.«

»Ein schlichter Kettenpanzer!«, platzte Borin mit funkelnden Augen heraus. Er sah vor sich einen kleinen, silbern glänzenden Harnisch. Zwischen die Kettenglieder waren Bernsteinsplitter eingearbeitet, und um die Taille schloss sich ein mit Edelsteinen – Beryll und Jade – besetzter Gürtel. Doch nicht die Edelsteine waren es, die Borin zu seinem Ausruf veranlasst hatten. Er staunte über das Metall, aus dem der Harnisch gearbeitet war. »Das ist Sternsilber! So etwas ist seit Jahrhunderten nicht mehr geschmiedet worden. Das ist Châkka-Arbeit und von unschätzbarem Wert.«

»Sternsilber. Silberon«, sagte Anval, dessen klobige Hand leicht über die feingeschmiedeten Glieder strich. »Stärker als Stahl, leichter als Daunen, weich wie Hirschleder. Dieser Harnisch ist in den Schmieden unserer Vorfahren gefertigt worden – er stammt aus Kraggen-cor.« Plötzlich hieb Anval sich mit geballter Faust auf die geöffnete Handfläche. »Ha! Ich hab’s: Das ist der legendäre Harnisch, den Tuck von Prinzessin Laurelin bekommen hat, als die Welt am Rande des Winterkriegs stand.«

»Tuck hat ihn bei Kriegsbeginn bekommen und bis zur Spitze des Eisernen Turms getragen.« Perry nickte, überrascht darüber, dass die Zwerge diesen Harnisch kannten – und auch überrascht über die Ehrerbietung, die ihnen das Silberon entlockte. »Aber ich schwatze und schwatze. Bitte nehmt doch Platz.«

Während sie es sich gemütlich machten, platzte Holli ins Zimmer. Ein Lächeln lag auf ihrem hübschen Gesicht, und ihre großen Bernsteinaugen funkelten, als sie ein Tablett mit einem gewaltigen Krug dunklem Bier und mehreren Humpen hereintrug. »Ich dachte mir, die Reisenden hätten vielleicht Durst, Herr Perry, nach dem langen Fußmarsch und allem.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch in der Mitte des Raums ab und wischte sich die zierlichen Hände an ihrer blauen Schürze ab. »Und jetzt gebt Acht, Herr Perry, das Essen ist in ungefähr zwei Stunden fertig, also verplaudert Euch nicht: Eure Gäste sehen hungrig aus.« Damit verließ sie das Zimmer so abrupt, wie sie es betreten hatte.

»Nun ja.« Perry lächelte, ein wenig aus der Fassung darüber, dass er von der zierlichen Jungmamme vor Fremden derart herumkommandiert wurde. »Wie Ihr seht, habe ich soeben von der Herrin der Wurzel meine Marschbefehle erhalten.« Er goss Bier in die Krüge und reichte sie herum. »Wir haben nur noch zwei Stunden bis zum Essen. Doch das ist vielleicht genug Zeit, meine Neugier zu befriedigen, die zugegeben recht groß ist! Man stelle sich vor, zwei Zwerge und ein Mensch in den Sieben Tälern mit dem Auftrag, sich das Buch des Raben anzusehen, und nach allem, was Ihr zu Vorsteher Kleinriegel gesagt habt, ist es ein Auftrag des Königs, der Euch hergeführt hat.« Er stellte den Krug ab und wollte sich erheben, um das Buch zu holen, aber Zwirn war ihm zuvorgekommen. Er stand bereits neben Perry und hielt ihm den grauen Band hin.

Perry nahm das Buch von Zwirn entgegen, der daraufhin rasch wieder seinen Krug aufhob und einen tiefen Zug nahm – Wurrlinge lieben Bier –, und wandte sich wieder seinen Gästen zu. »Nun, hier ist es: Herrn Tuck Sunderbanks unvollendetes Tagebuch und sein Bericht vom Winterkrieg.« Er hielt es seinen Besuchern hin. Zu seiner Überraschung war es Borin und nicht Fürst Kian, der sich vorbeugte und das gewichtige Werk entgegennahm.

»Das ist also das berühmte Buch, wie?«, grollte Borin, während er es hin und her wendete, als inspiziere er es auf seine Gestaltung. Ein Grunzen schien sein Einverständnis mit dem Einband und der Bindung zu verkünden, als er das Buch schließlich öffnete und eifrig darin zu blättern begann.

»Nun, nicht direkt«, erwiderte Perry und trank einen Schluck Bier. »Das ist ein Duplikat des Originals.«

»Was! Wollt Ihr damit sagen, dass dies hier nicht das echte Buch ist?«, sagte Borin aufgebracht, während er das Buch zuschlug.

»Kruk!«, schimpfte Anval. »Was nützt es uns, eine Kopie zu lesen, wenn wir die wahrhaftige Wahrheit suchen?«

»Sachte, sachte«, protestierte Zwirn ein wenig hitzig, »nun macht aber einen Punkt! Ihr haltet vielleicht nicht das Original des Buchs des Raben in der Hand, aber Ihr könnt Eure letzten Kupfermünzen darauf verwetten, dass die ›wahrhaftige Wahrheit‹ trotzdem darin steht. Ich meine, na ja, Herr Perry hat dieses Duplikat persönlich angefertigt und damit wisst Ihr, dass es exakt dasselbe sein muss. Sagt es ihnen, Herr Perry!«

»So exakt, wie es nur sein kann!«, rief Perry aus, während sein Blick zwischen Anval und Borin hin und her wanderte. »Es ist eine genaue Kopie, eine von mehreren, die im Lauf der Jahre von den Gelehrten angefertigt wurden. Es gibt ganz genau das gesamte Original wieder und wenn ich ganz genau sage, dann meine ich auch ganz genau: Sogar die Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler in Tucks ursprünglichem Tagebuch wurden sorgfältig kopiert. Was die eigentliche Schilderung betrifft: Alle Stellen, wo Wörter, Wendungen, Sätze, sogar Abschnitte erst von Tuck skizziert und später von seinen Schreibern weiter ausgeführt worden sind, wurden peinlichst genau reproduziert.

Früher war das echte Buch des Raben hier in der Wurzel, aber jetzt nicht mehr. Einige Jahre nach dem Krieg hat Tucks Tochter, Rabe Graulock, nach der das Buch benannt ist – vor fünf Generationen meine Großgrandam –, es mit nach Westen zu den Klippen genommen, jener Wurrling-Festung, die im Winterkrieg nicht gefallen ist. Dort haben sie und ihr Mann Willem einige von Tucks ursprünglichen Schreibern und noch andere um sich versammelt und die große Geschichtsschreibung fortgesetzt. Das Werk ist selbst jetzt noch im Gange, denn Geschichte geht ja weiter, und sie muss aufgezeichnet werden. Aber zurück zu Tucks ursprünglichem Bericht: Das Buch ist bis auf den heutigen Tag in den Klippen geblieben, als Familienerbstück der Schönbergs und Graulocks, der Sunderbanks und Bendels und anderer aus Tucks Familie. Dort in den Klippen wird es in Ehren gehalten und gelegentlich von den Familiengelehrten ergänzt, wenn neue Aspekte der Geschichte des Winterkriegs ans Licht kommen – aber nur, wenn diese neuen Aspekte nach angemessener Prüfung einstimmig akzeptiert werden.

Aber ich schweife ab. Die Kopien wurden von jenem Original gefertigt … und dreifach, nein, vierfach überprüft. Wenn Ihr also die Wahrheit sucht – die ›wahrhaftige Wahrheit‹ –, dann haltet Ihr sie in den Händen.« Nachdem er diese Rede gehalten hatte, verstummte Perry, wenn auch ein wenig aufgebracht.

Ungeachtet der von dem Wurrling leidenschaftlich vorgetragenen Argumente schien keiner der beiden Zwerge bereit zu sein, etwas anderes als das Original zu akzeptieren. Verstimmt suchten sie Blickkontakt mit Fürst Kian und als der Mensch kurz nickte, lehnten sie sich widerstrebend zurück und Borin widmete sich wieder dem Buch, indem er es langsam durchblätterte. Schon bald nahm sein dunkles Gesicht einen Ausdruck der Verblüffung an. Dann hielt er gänzlich inne. »Faugh! Ich gehe das ganz falsch an«, grollte er, woraufhin Anval zustimmend

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE SILVER CALL – PART 1: TREK TO KRAGGEN-COR

Deutsche Übersetzung von Christian Jentzsch

Redaktion: Natalja Schmidt

Copyright © 2001 by Dennis L. McKiernan

Copyright © 2004 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de

Titelillustration: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-08106-5

www.randomhouse.de

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