Magierlicht - Dennis L. McKiernan - E-Book

Magierlicht E-Book

Dennis L. McKiernan

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Beschreibung

Vom Autor der Bestseller „Zwergenzorn“ und „Elfenzauber“

Aus dem Norden der Welt Mithgar droht dunkle Gefahr: Der Schwarzmagier Modru und seine Horden zwingen alle freien Völker in einen gewaltigen Krieg, und die Menschen müssen sich mit den Elfen verbünden, die erstmals ihr uraltes Geheimwissen offenbaren.

Mit seinen spannenden Erzählungen im Stil von J.R.R. Tolkien hat sich Dennis L. McKiernan längst einen festen Platz im Herzen der Fantasy-Leser erschrieben.

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Seitenzahl: 577

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Inhaltsverzeichnis

Ein Teil von MithgarANMERKUNGEN DES AUTORS1. Kapitel2. KAPITELCopyright

Den Tanque Wordies und denanderen Schreibergruppen,deren Ziel es ist, die Qualität dessen zu steigern,was andere Menschen lesen.

Ein Teil von Mithgar

ANMERKUNGEN DES AUTORS

Magierlicht ist der vierte und abschließende Teil des großen Magier-Zyklus’ in der Mithgar-Reihe. Zusammen mit den Bänden Magiermacht, Magierschwur und Magierkrieg bildet er die Geschichte vom Großen Bankrieg, gesehen durch die Augen von zwei Wurrlingen, Tipperton Thistledown und Beau Darby.

Die Geschichte beginnt im Jahr 2195 der Zweiten Ära von Mithgar, zu einer Zeit, als die Rûpt sowohl am Tag als auch bei Nacht umherstreifen konnten, obwohl behauptet wird, dass sie ihre Untaten lieber in der Dunkelheit begingen als im hellen Tageslicht.

Die Geschichte des Bankrieges wurde aus verschiedenen Quellen rekonstruiert, von denen eine wichtige die Thistledown-Saga ist. Ich habe die Lücken an einigen Stellen mit eigenen Vermutungen ergänzt, aber im Großen und Ganzen entspricht die Sage der ursprünglichen Quelle.

Wie auch bei einigen anderen Werken über Mithgarian kommt es häufig vor, dass sich in der Hitze des Augenblicks Menschen, Magier, Elfen und andere unwillkürlich in ihre Muttersprache flüchten. Um jedoch eine mühsame Übersetzung zu vermeiden, habe ich ihre Worte ins Pellarion übertragen, die Gemeinsprache von Mithgar. In einigen Fällen jedoch habe ich die Sprache auch nicht übersetzt, um zu demonstrieren, wie viele Sprachen in Mithgar verbreitet sind. Außerdem sperren sich einige Worte und Redewendungen jeder Übersetzung. Diese habe ich dann entweder nicht übersetzt oder in besonderen Fällen einen entsprechenden Ausdruck in Anführungszeichen daneben gesetzt, der dem Wort seine besondere Note gibt. Einige Ausdrücke mögen zum Beispiel wie Rechtschreibfehler wirken, sind jedoch ganz korrekt, wie zum Beispiel »DelfHerr«. Es ist ein ganz normales Wort mit einem großen H in der Mitte.

Die Elfensprache Sylva ist ziemlich archaisch und formal. Um diesen besonderen Beigeschmack zu erhalten, habe ich entsprechend altertümliche Ausdrücke benutzt. Allerdings habe ich mich dabei im Interesse der Lesbarkeit zurückgehalten und viele der noch älteren Ausdrücke ersetzt oder eliminiert.

Für die besonders Neugierigen: Das w in Rwn wird wie uu ausgesprochen, ein w ist schließlich auch nur ein doppeltes u. Manchmal klingt es jedoch auch wie oo. Deshalb wird Rwn nicht wie Renn ausgesprochen, sondern wie Roon oder Ruhn.

1. Kapitel

In den letzten sieben Oktobertagen und den ersten neun Tagen des Novembers näherte sich Agrons Kavalkade der Sammelstelle in Älvstad. Auf dieser sechzehntägigen Reise schneite es insgesamt an fünf Tagen, was zu dieser Jahreszeit in Aven höchst ungewöhnlich war. Einige munkelten, es wäre Modrus Werk, andere widersprachen dem jedoch. Mochte es sein, wie es war, trotz des frühen Schneefalls erreichte Agrons Kompanie ihr Ziel am zehnten November.

Älvstad war eine mit Palisaden bewehrte Stadt am Ufer des Argon, aber da hier die Aushebung stattfand, umringten mehr Zelte und Karren die Stadt, als es Gebäude gab. Die Kavalkade bahnte sich langsam einen Weg durch diese Zeltstadt, durch Schnee, der zu Matsch zerwühlt worden war. Wo die blaugoldenen Banner des Königs vorüberzogen, standen Männer am Weg und jubelten ihrem König zu, dem Bezwinger des Gargon und Vernichter von Modrus Schwarm. Nach dem König ritt, geführt von einem Berittenen, eine lebende Legende daher: einer vom Litenfolk, dem Kleinen Volk.

König Agron ritt mitten durch die jubelnden Männer in die Stadt ein, gefolgt von Tipperton und den anderen. Schließlich hielten sie vor einer Herberge an; der König stieg ab und signalisierte einigen seiner Vertrauten – unter ihnen war auch Tipperton –, ihm zu folgen. Die restlichen Soldaten führten die Pferde zu den Mietstallungen, wo sie Quartier nehmen konnten, bis sie wieder abrückten.

Als Tipperton in die Herberge trat, war er froh, dass dieser Teil der Reise endlich vorbei war. Er genoss es nicht gerade, auf einem großen Pferd zu sitzen, das von einem der Königsmannen an der Leine geführt wurde. Ebenso wenig schätzte er es, auf dem harten Boden schlafen zu müssen. Und außerdem erschien es ihm, als hätte er genau dies fast eine Ewigkeit getan. In dieser und den folgenden paar Nächten würde er vor einem Kamin dösen und sich in einem weichen Bett wälzen.

Als ihm eine ehrfürchtige Magd einen Becher mit süß duftendem Glühwein servierte, legte Tipperton Umhang und Jacke ab und ließ sich in einen Sessel fallen. In einer Woche würde er mit den anderen zu den Einöden von Gron aufbrechen. Aber was bedeutete schon eine Woche? Es war eine Ewigkeit.

In Älvstad gab es, wie Agron versprochen hatte, mehrere Ställe, die Ponys verkauften. Am nächsten Tag verbrachte Tipperton viele Kerzenstriche damit, die Auswahl zu sichten, bevor er sich für zwei Tiere entschied: ein kleines braunes Pony aus den Hügeln in der Nähe des Rimmen, und ein schwarzes aus den Steppen von Jord.

»Wenn ich Ihr wäre«, empfahl der Stallbursche, »würde ich das Schwarze reiten.«

»Das habe ich auch vor, aber warum sagt Ihr mir das?«

»Weil es aus Jord ist, natürlich, Junge«, antwortete der Mann, als wäre dies Erklärung genug.

Tipperton schüttelte nur den Kopf und grinste. Danach suchte er sich einen passend kleinen Sattel und verkürzte die Steigbügel auf seine Beinlänge. Der Stallbursche gab noch eine Decke und Zaumzeug für das Gold des Königs dazu, dazu eine Polsterdecke samt Tragegestell für das Braune, Hafersäcke und anderes Kleinzeug. Tipperton zahlte für die Unterbringung der Ponys, bis sie abrücken würden. Doch als der Stallmeister erfuhr, dass der Bokker ein Scout des Königs war, wollte er keine Bezahlung dafür annehmen. »Das ist mein Beitrag für den Krieg«, meinte der Mann und wiederholte seine Worte noch einmal bekräftigend. »Mein Beitrag für den Krieg.«

Während der nächsten fünf Tage trafen noch mehr Karren, Soldaten und Berittene ein, am sechsten Tag jedoch schmetterten die Hörner und Agrons Armee rückte ab: Die Wagen rollten, Soldaten marschierten und die Pferde tänzelten durch die Straßen. Die Armee war dreißigtausend Mann stark und wurde von einem kleinen Wurrling angeführt, der mit einem anderen Kundschafter weit vorausritt. Das war ein grauhaariger, älterer Mann.

Sie überquerten den Argon über die breite Furt und brachen durch die dünne Eisschicht, die sich bis zum gegenüberliegenden Ufer erstreckte. Hinter Tipperton und seinen Gefährten folgte das Heer. Die Reiter und Karren warteten auf das Fußvolk. Jeder Reiter ließ einen Fußsoldaten hinter sich aufsitzen und die Karren nahmen den Rest mit hinüber.

Alles in allem dauerte es bis zum späten Vormittag, bis die ganze Armee den Übergang geschafft hatte. Denn es waren viele Karren, Pferde und Männer, und der ganze Heerestross erstreckte sich über mehrere Meilen.

Sie marschierten durch den Schnee zum Jallor-Pass. Die Strecke führte zum Grimmwall, der sich fern und dunkel vor dem Himmel abhob, und war dreißig Meilen lang. Das bedeutete drei Tagesmärsche. Denn so eine Armee wälzt sich nur langsam durch offenes Gelände. Obwohl der Jallor-Pass eine Haupthandelsroute zwischen dem westlichen Jord und Aven darstellte, gab es keine ausgebauten Straßen, sondern nur einen holprigen Weg, den die Kaufmannswagen und Pferde ausgetreten hatten.

Zehn Meilen pro Tag sollte die Armee zurücklegen, mehr nicht. »Es ist ein langer Marsch«, hatte König Agron gesagt, »und es wird besser sein, mit ausgeruhten Soldaten anzukommen als mit einer durch Hast erschöpften Armee.«

Vor ihnen ritten in einigen Meilen Abstand Tipperton und Auly, die beiden Kundschafter.

Sie ritten drei Tage durch das sanft ansteigende Land. Tipperton und Auly befanden sich bereits weit im Pass, während die Armee gerade erst den südlichen Eingang der Schlucht erreichte. Es schneite wieder, die Luft war kalt.

»Meiner Seel, ich hoffe wirklich, dass dieses Wetter kein schlechtes Omen ist«, meinte Tipperton und zog seinen Umhang fester um sich.

»Hier in der Schlucht könnte es tatsächlich zum Verhängnis werden, aber auf der Ebene ist es eher ein Segen«, gab Auly zurück. Er war ein in vielen Schlachten erprobter Veteran.

»Wie das?«

Auly kratzte seinen ergrauenden Bart und deutete auf die Schlucht. »Im Unterschied zu der Ebene wird der Schnee hier oben sehr hoch liegen. Das behindert die Karren und Pferde und Soldaten. Auf den Ebenen jedoch wird uns die Kälte sogar helfen, falls es nicht zu stark schneit. Der Boden wird gefrieren, versteht Ihr, und je härter der Boden ist, desto weniger Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Karren im Schlamm versinken.«

»Natürlich.« Tipperton nickte.

Sie ritten weiter durch die Schlucht, musterten die Hänge um sich herum und vor sich nach einem Anzeichen des Feindes. Aber der Weg schien frei zu sein und die beiden ritten zumeist schweigend weiter. Bis Auly das Schweigen schließlich brach. »Über eines mache ich mir allerdings wirklich Sorgen«, sagte er. »Modru ist der Herr der Kälte, jedenfalls habe ich das gehört, und es wäre mir gar nicht lieb, sollte er seine Macht gegen uns wenden.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob er das tun wird, Auly. Als ich mich in Dendor aufhielt, waren auch sechs Magier dort. Sie sagten, dass es sehr viel Feuer koste, einen großen Bann zu wirken. Ich glaube, einen Schneesturm zu beschwören, ist ein solcher großer Bann. Obwohl Modru das vielleicht getan hat, nachdem Dael von Sleeth vernichtet wurde.«

»Dem Drachen?«

»Ja. Er hat die Stadt mit seinem Feuer heimgesucht, bis kein Stein mehr auf dem anderen lag. Danach kam der Schneesturm. Ob Modru ihn gewirkt hat, weiß ich natürlich nicht, obwohl andere dies fest behaupten.«

»Und Ihr habt das gesehen?«

»Nur die Nachwirkungen. Wir haben den Sturm in einer Schutzhöhle abgewartet, die mehrere Tagesreisen von Dael entfernt lag. Wir erreichten die Stadt erst, als das Werk der Verheerung bereits getan war.«

»Ich hoffe nur, dass uns der Schwarze Modru keinen Sturm anhext. Andererseits, wenn man darüber nachdenkt, welches bessere Ziel gibt es schon als eine feindliche Armee, die über offenes Gelände marschiert?«

Tipperton erschauerte, antwortete jedoch nicht, während der Schnee unablässig auf sie herabrieselte.

Am neunten Tag nachdem sie Älvstad verlassen hatte, marschierte die Armee aus der Schlucht heraus und wandte sich nach Jallorby, einer jordischen Stadt am nördlichen Ende des Passes. Zwei Tage lang rasteten sie in dieser entlegenen Ecke von Jord, an der Flanke des Grimmwall-Massivs. Am dritten Tag jedoch war ihre kurze Ruhepause zu Ende und sie brachen auf.

Sie zogen nach Westen, zu einer fernen Bergkette, in der sich jener Pass befand, der durch den Erdrutsch verschüttet war. Tipperton und Auly ritten etwa zehn Meilen vor dem Heerestross. Der Grimmwall erstreckte sich drohend zu ihrer Linken bis hinauf zu den Gronspitzen.

Am fünften Tag erklommen Tipperton und Auly eine Anhöhe. Unmittelbar vor ihnen erhoben sich weit am Horizont schneebedeckte Bergkuppen, von denen aus sich das Gebirge weiter nach Norden erstreckte. Tipperton atmete die Luft tief ein, die hier besonders kalt zu sein schien.

»Da sind sie, die Gronspitzen«, erklärte Auly. »Ein wirklich schlimmer Landstrich.«

»Schlimm?«

»Ja. Hier wimmelt es von Rutcha und Drôkha und Guula und dergleichen.«

Tipperton spähte zu der fernen Gebirgskette hinüber. »Vielleicht sind es ja nicht so viele, nachdem sich Modrus Horden über all die Länder verteilt haben.«

Auly antwortete nur mit einem Knurren und trieb sein Pferd den sanft abfallenden Hang vor ihnen hinab. Tipperton folgte ihm.

»Seht dort, links von dem großen Felsbrocken«, sagte Auly.

Tipperton lag bäuchlings auf dem Hügel und versuchte, in der hellen Mittagssonne etwas auf dem Bergrücken neben dem Eingang des Passes zu erkennen. Er bemerkte Bewegung auf den schneebedeckten Steinen. »Ich sehe es.«

Sie hatten Jallorby vor zwölf Tagen verlassen, und die beiden Kundschafter hatten sich dem Eingang des Passes durch die Gronspitzen bis auf eine Viertelmeile genähert. Die Armee war noch etwa einen Tagesritt hinter ihnen.

»Brut, oder was denkt Ihr?«, fragte Tipperton.

»Was sonst?«

»Also ist der Pass doch nicht unbewacht«, stellte Tipperton fest.

Auly nickte.

»Also dann«, meinte Tipperton. »Wir müssen zu König Agron zurückreiten.«

»Noch nicht, Tipperton. Lasst uns zunächst abwarten, ob wir noch was sehen.«

Also warteten sie und beobachteten den Eingang des Passes, während die Sonne allmählich unterging.

»Etwa eine Kompanie, glauben wir«, sagte Auly.

»Im Eingang des Passes?«

»Aye, my Lord.«

König Agron sah Tipperton an, und der Bokker nickte. »Gesehen haben wir dreißig oder vierzig, Lord Agron. Wenn es noch andere gibt, dann verbergen sie sich in der Schlucht selbst. Selbst wenn es für jeden, den wir gesehen haben, noch fünf andere gibt, die unseren Blicken entkommen sind, alles in allem hält doch etwa eine Kompanie Wache. Freilich ist das nur eine Schätzung. Es könnten sich durchaus noch viel mehr in der Schlucht tummeln.«

Agron seufzte. »In diesem Fall könnten uns eine Brigade, ein Segment oder sogar eine ganze Horde den Weg versperren.«

»My Lord, falls es ein Segment oder eine ganze Horde wäre«, mischte sich Hauptmann Brud ein, der neben ihnen stand, »dürfte es schwierig sein durchzukommen, denn der Pass verengt sich.«

»Ganz recht, Hauptmann. Allerdings können wir auch kaum erwarten, kampflos bis zu Modru vorzudringen.« Agron dachte kurz nach. »Ruft den Rat der Hauptleute zusammen. Wir müssen einen Schlachtplan schmieden.«

Ganz in Weiß gekleidet schlich sich Agrons Vorhut durch den Schnee, der im Mondlicht funkelte. Sie waren in der hellen Nacht kaum zu erkennen. Etwa eine Meile hinter ihnen wartete die Kavallerie auf ihr Signal und ein Trupp Fußsoldaten stand ebenfalls bereit.

Links von ihnen und vor den heranrückenden Truppen führten Tipperton und Auly einen kleinen Kavallerietrupp. Ihr Auftrag bestand darin, die Wachen auf dem südlichen Kamm auszuschalten.

Der Trupp glitt über den Schnee, der alle Geräusche dämpfte, bis sie die Felsflanke des Berges schließlich erreichten. Von dort wandten sie sich nach Norden und ritten einen Hang hinauf, Tipperton an der Spitze, den Bogen bereit, und fast vollkommen lautlos.

Schließlich erreichten sie den Grat des Kamms, und Tipperton sah im Mondlicht Gestalten zwischen den Felsen liegen. Er hob die Hand, um die Nachfolgenden zu stoppen. Dann holte er tief Luft, atmete leise aus, um sich zu sammeln, und beobachtete die Szenerie unter sich.

Eine Abteilung des Gezüchts. Sie schlafen. Aber halt!

Er erspähte einen Rukh, der Wache hielt und nach Süden spähte.

Tipperton gab den Männern hinter sich das Zeichen, weiter vorzurücken, aber kein Geräusch zu machen. Auly ritt neben den Wurrling. Als die Reiter ihre Stellungen eingenommen hatten, wurde Tippertons geflüsterter Befehl durch die Reihe weitergegeben. Behutsam hob er den Bogen mit dem eingenockten Pfeil.

Tief einatmen, halb ausatmen, ziehen, zielen und loslassen.

Der Rukh bemerkte ihn nicht.

Während Tipperton noch zögerte, einen ahnungslosen Feind einfach so niederzustrecken, erinnerte er sich an die Worte von Dara Lyra an der Rimmen-Kluft: Denk daran, wie viele von seinesgleichen niedergemetzelt worden sind.

Mit einem leisen Singen sauste der Pfeil von der Sehne, flog durch das Mondlicht und traf den Rukh im Hals. Er gurgelte unartikuliert, während er seitlich in den Schnee fiel. Doch in diesem Augenblick trat ein zweiter Rukh um einen Felsen herum. Bevor Tipperton einen neuen Pfeil einnocken und abfeuern konnte, schrie der Rukh auf und hob ein Horn an den Mund.

Noch während das Signal ertönte, traf ihn Aulys Pfeil unter dem Arm und schleuderte ihn in den Schnee, wo er regungslos liegen blieb. Doch der Alarm war ertönt, und überall sprangen Rukh hoch, während sich vom Grat aus ein Pfeilhagel über sie ergoss.

Vor Schreck und Angst schreiend ging die Brut hinter den Felsen in Deckung, während ein weiteres Hornsignal der Brut ertönte, dem ein drittes aus dem schmalen Pass unter ihnen antwortete.

Doch auf der Ebene schmetterte ein anderes Hornsignal los, und mit dem Schrei Für König und Dular sprangen Männer aus dem Schnee und stürmten in die Schlucht. Waffen klirrten. Etwa eine Meile entfernt hallten weitere Hörner unter dem Donnern von Hufen.

Tipperton, Auly und die Männer auf dem Grat feuerten weiterhin ihre Pfeile ab, die eine blutige Ernte unter der Abteilung der Brut hielten. Die Rukhs rannten kreischend davon, nur um von Pfeilen ereilt und niedergestreckt zu werden.

»Rasch, lasst uns sehen, ob wir dem König helfen können! «, rief Auly. Die Reiter trabten den Hang hinab bis zu der Stelle, die zuvor noch von den Wachen gehalten worden war.

Sie kamen zu einer Senke in der Schlucht, in der Rukh und Menschen wütend fochten. Tipperton wagte es nicht, einen Pfeil abzuschießen, da er fürchtete, seine eigenen Leute zu treffen. Aber die Brut drängte von hinten nach und bot Tipperton und seinen Leuten ein deutliches Ziel.

Immer noch schmetterten die Hörner auf der Ebene, Hufe donnerten über den hart gefrorenen Boden, und von der Ebene rannten Männer heran, die ihren Grimm wortlos hinausschrien.

Gerade als die Reiter ankamen, teilten sich am Boden der Schlucht die Soldaten des Königs, um die Pferde durchzulassen. Die Kavallerie donnerte über die Rukh hinweg, die den Eingang des Passes bewacht hatten.

Das Gezücht kreischte vor Furcht und wandte sich zur Flucht dem Engpass entgegen. Viele aber wurden niedergemetzelt. Nur wenigen gelang es, die Hänge zu erklimmen, um den Reitern zu entgehen. Doch sie wurden von Soldaten zu Fuß verfolgt.

Dann traf der Hauptteil der Armee ein. Die Männer stürmten brüllend heran, stellten jedoch fest, dass die Schlacht bereits beinahe geschlagen war, denn den Pass hatte nur eine kleine Kompanie bewacht.

»Es tut mir leid, Mylord, aber ich habe den Rukh hinter dem Felsen nicht gesehen. Deshalb konnte er Alarm schlagen! «

König Agron hob abwehrend die Hand. »Still, Herr Tipperton. Das war nicht Euer Fehler. Außerdem, wie Ihr selbst sagtet, als wir uns daran machten, den Gargon zu töten: Der Augenblick, in dem die Schlacht beginnt, ist zugleich der Augenblick, in dem alles schiefgeht.«

»Aye, Mylord, aber in diesem Fall …«

»Unsinn! Wir haben kaum Verluste zu beklagen, und die Brut war noch schlaftrunken, trotz des Hornsignals.«

»Würden wir doch all unsere Siege zu einem so billigen Preis erringen!«, mischte sich Hauptmann Brud ein. »Aber ich fürchte, dass wir in den folgenden Tagen nicht so leicht davonkommen.«

König Agron sah Brud stirnrunzelnd an. »Ihr und ich, wir wissen das, Hauptmann, aber sagt einstweilen nichts und lasst die Männer feiern.«

»Aye, Mylord.«

Während sie durch den Pass ritten, behielten Tipperton und Auly die schneebedeckten, hohen Flanken im Auge. Der Engpass änderte vor ihnen immer wieder die Richtung und fiel hinter ihnen ab. Kaum eine Viertelmeile nach ihnen folgte die Vorhut des Heeres, aber Tipperton und Auly verloren die Männer immer wieder aus den Augen, wenn sie hinter einer der schroffen Kurven des Passes verschwanden. Weit hinter der Vorhut folgte der Hauptteil des Heeres mit den Wagen und dem größten Teil der Kavallerie. Agron und seine Vorhut wollten den Pass erst von allen Feinden säubern, damit die langsameren Wagen und die Fußsoldaten den Ausgang der Schlucht unbehelligt erreichen konnten. Also ritten die beiden Kundschafter vorneweg durch den Pass und führten die Vorhut gemeinsam mit dem König an.

Manchmal erhoben sich die Felswände steil nach oben, einhundertfünfzig Meter oder gar noch höher. Gelegentlich schienen sie jedoch auch nicht senkrecht, sondern führten in steilen Winkeln hinauf. Aber immer waren die Wände nahe, standen kaum dreißig Meter auseinander, und verengten sich auf längeren Passagen sogar noch weiter.

»Himmel, Auly, ich habe das Gefühl, als steckten wir in einem Schraubstock.«

»Das tun wir auch, Junge, genau das tun wir«, erklärte Auly. »Und wenn wir hier auf eine ganze Armee treffen, wird es ziemlich fürchterlich.«

Im Pass lag der Schnee an manchen Stellen mehr als einen Meter hoch, an anderen Orten dagegen schimmerte der blanke Fels durch. An den verschneiten Stellen ritt Auly voran, dessen Pferd einen Weg für Tipperton und sein Pony bahnte.

Und stets fanden sie Spuren des Gezüchts im Schnee. »Sie fliehen, scheint mir«, sagte Tipperton, der abgestiegen war und die Spuren untersuchte. »Sie müssen sich irgendwo vor uns befinden.« Er stand wieder auf und stieg auf sein schwarzes Pony.

Manchmal stießen sie auch auf Geröll, das von den Wänden gebrochen und in den Pass gestürzt war. Sie suchten sich vorsichtig einen Weg und ritten dann weiter. Die Vorhut folgte ihnen, und danach die Kavallerie, die Wagen und die Fußsoldaten. Häufig ertönten Hornsignale hinter ihnen, die besagten, dass der Nachschubtross hatte anhalten müssen und darauf wartete, dass der Weg von den Schneewehen oder dem Geröll befreit wurde, damit die Wagen weiterrollen konnten.

Schließlich stieg die Sonne in einen trüben Winterhimmel hinauf. Ihre Strahlen erreichten kaum den Boden des gewundenen Passes, durch den ein eisiger Wind fuhr. »Puh«, sagte Tipperton, als sie um eine Biegung des Engpasses ritten, »ich dachte, Agron hätte gesagt, die warme Luft des Gwasp in Gron würde diesen Pass eisfrei halten, aber wisst Ihr was? Mir kommt es so vor, als …«

Tipperton verstummte schlagartig. Hinter der Biegung neigten sich die Felswände nach innen, und der Weg wurde von einer hohen Barrikade aus Holzstämmen versperrt, hinter denen das Gezücht lauerte.

Das zweite Gefecht war hart umkämpft. Steine segelten von den Kämmen der Felswände herab, schwarz gefiederte Pfeile zischten durch die Luft und schlugen in die Phalanx der Menschen ein.

König Agron konnte die Barrikade nicht einfach niederreißen, also schickte er eine Gruppe Bogenschützen den Pass zurück. Darunter befand sich auch Tipperton. Sie sollten die Felswände erklimmen und mit ihren Pfeilen die Steinwerfer und die Besatzung an der Barrikade vertreiben. Das taten sie auch, aber die Brut erwiderte den Pfeilhagel mit ihren schwarz gefiederten Geschossen.

Als der Kampf auf dem Höhepunkt war, kamen die Wagen und das Fußvolk um die Biegung. Die Soldaten wurden in die Schlacht geschickt, obwohl immer nur eine Kompanie gleichzeitig die Barrikade angreifen konnte.

Der Kampf dauerte fast den halben Tag, obwohl sich die Rukh am Ende einer hundertfachen Übermacht gegenübersahen. Schließlich jedoch siegte Agrons Armee, obwohl die Verluste diesmal recht beträchtlich waren.

»Wie ich sagte«, erklärte Auly Tipperton leise, als die beiden Kundschafter zusahen, wie Agrons Soldaten die Barrikade niederrissen. »Wir stecken in einem Schraubstock, einem Ort, wo eine Handvoll Kämpfer viele aufhalten können, so wie die Brut es hier getan hat.«

In der Nacht lagerte die Armee an der Barrikade, damit die Soldaten eine vernünftige Mahlzeit zu sich nehmen konnten. Hauptmann Brud trat zu Tipperton und Auly an ihr kleines Lagerfeuer. Während sie plauderten, trug der Wind ein grausiges Heulen heran, das durch die hohen Wände der Schlucht noch verstärkt wurde.

»Meiner Treu!«, stieß Tipperton hervor, der gerade lange Pfeilschäfte stutzte, damit er sie auf seinem Bogen abfeuern konnte. »Ist es das, was ich glaube?«

»Falls Ihr an Vulgs gedacht habt«, murmelte Brud kauend, »habt Ihr recht. Sie sind Modrus Fluch. Fordervelig Värgs!«

Auly spähte im Licht des Feuers an einem Pfeilschaft lang, um zu überprüfen, ob er gerade war. »Habt Ihr schon mal einen gesehen?«

Tipperton schluckte, als er sich an das Biest im Ödwald erinnerte. Er nickte. »Schwarz sind sie und wolfsartig, aber fast so groß wie ein Pony. Beau und ich sind einmal einem entkommen, obwohl viele auf unsere Spur angesetzt waren. Man hat mir gesagt, dass sie einen vergiften, wenn sie beißen. «

Als Auly Tipperton ansah und nickte, sagte Brud: »Der schwarze Biss der Vulgs tötet jedoch nur des Nachts.«

Tipperton lief bei Hauptmann Bruds Unheil verkündenden Worten ein Schauer über den Rücken. »Das habe ich auch gehört«, meinte der Bokker. »Es ist ein schlimmes Gift. Der Heiler der Châkka hat behauptet, dass ein mit Vulggift behandelter Pfeil Phais fast getötet hätte. Wir hätten sie wahrhaft beinahe verloren.«

Auly schüttelte den Kopf und blickte nach Westen, in den finsteren Pass. »Junge, hoffen wir, dass wir beide niemals einem Vulg begegnen, so ungeschützt wie wir sind.«

Noch während Tipperton nickte, hallte ein weiteres grusliges Heulen durch den Pass.

Tipperton und Auly ritten hastig zur Vorhut zurück. Die Wolken am Himmel wirkten dunkel und drohend. »Vor uns versperrt ein großer Steinschlag den Pass«, erklärte Auly. »Vielleicht ist es der, von dem Ihr Euren Hauptleuten erzählt habt, König Agron, damals, als Ihr den Feldzug plantet. Es ist ein ziemlich hoher Geröllhaufen, und es wird viel Arbeit kosten, ihn wegzuräumen, damit die Wagen hindurchpassen. Das Problem ist nur, dass die Brut ihn als Bastion benutzt. Wir müssen also erneut gegen sie kämpfen.«

»O nein!«, erwiderte Agron. »Und ich hatte gehofft, dass der Pass jetzt verlassen wäre. Es scheint, als hätte Modru auch diesen bewachen lassen. Ich dachte, er würde annehmen, wir marschierten zum Nordmeer, die Fjordländer bestiegen Drachenschiffe und landeten an seiner nördlichen Küste. Da er jetzt weiß, dass wir hier sind, müssen wir uns beeilen.«

»Mylord«, meldete sich Hauptmann Jorgen vom Rat der Hauptleute zu Wort. »Wie soll er wissen, dass wir uns in diesem Pass befinden? Der Eiserne Turm liegt mehrere Tagesreisen weit nördlich.«

Agron seufzte. »Habt Ihr nicht gestern Nacht die Värgs heulen hören? Es sind Modrus Späher, und sie haben ihn zweifellos verständigt. In diesem Augenblick könnte eine Horde unterwegs sein, um den Ausgang der Schlucht zu blockieren. Wir müssen die Brut von dem Geröllhaufen vertreiben und ihn räumen, und zwar rasch. Ich will nicht riskieren, dass uns eine ganze Horde angreift, während wir noch in dem Pass stecken. Hier ist unsere Kavallerie eher ein Hindernis denn ein Gewinn. Auf freiem Gelände haben wir den Vorteil auf unserer Seite, aber in der Schlucht sind sie uns überlegen.«

Erneut entbrannte ein wütender Kampf, denn auf dem verschneiten und vereisten Geröll fanden die Männer nur schwer Halt. Die Brut hielt die Geröllhalde bis zum letzten Mann. Am Ende jedoch siegten Agron und seine Männer, denn der König hatte Männer die Wände der Schlucht hinaufgeschickt. Durch einen tödlichen Hagel der schwarz gefiederten Pfeile war es ihnen gelungen, dem Feind in den Rücken zu fallen. Als das Gezücht schließlich floh, konnten sich Agrons Männer den Weg freikämpfen. Trotzdem war die Zahl der Verwundeten übermäßig hoch. Die Brut hatte für jeden ihrer Verluste drei ihrer Feinde getötet oder verletzt.

Jetzt wartete die Vorhut auf den Hauptteil der Armee und die Wagen, denn der Erdrutsch war gewaltig. Und es würde viele Männer und eine lange Zeit erfordern, den Weg freizuräumen.

Als der Morgen finster dämmerte, rief der König Tipperton und Auly zu sich. »Wenn sich alle dreißigtausend Männer ans Werk machen«, rief der König gegen den heulenden Wind, »dann sollten die den größten Teil des Geröllhaufens in einem Tag weggeräumt haben. Wenigstens so weit, dass die Wagen hindurchpassen. Doch ich möchte, dass Ihr beiden vorher den Rest des Passes abreitet und kontrolliert, ob sich dort noch Brut herumtreibt. Sobald wir können, werde ich Euch mit der Vorhut folgen. Doch gebt Acht, denn es könnte eine ganze Horde auf der Lauer liegen. Ich möchte nicht, dass Ihr der Brut in die Falle tappt.«

Tipperton deutete auf den Erdrutsch. »Herr König, Ihr befehlt uns zwar vorauszureiten, aber wir können mit unseren Pferden nicht über dieses Hindernis hinwegkommen.«

Agron nickte. »Nein, reiten könnt Ihr nicht. Dennoch, ich glaube, meine Männer werden Eure Pferde darüber hinwegschaffen. Es wird zwar viele Hände benötigen, aber wir sollten es bewerkstelligen.«

Also schafften die Soldaten in dem heulenden Wind die beiden Tiere über die Felsbrocken, stützten sie, befestigten Seile um sie und hoben sie auf der einen Seite Schritt um Schritt hinauf und an der anderen Seite wieder herunter. Sie redeten ihnen gut zu, andere Männer hielten sie mit Seilen fest, damit sie nicht abrutschten, und gelegentlich glitt ein Soldat aus, stürzte und erhob sich wieder, um seinen Kameraden weiterzuhelfen. Am Ende war es vollbracht, die beiden Pferde standen auf der anderen Seite des Geröllhaufens auf dem Boden des Passes. Tipperton und Auly hatten die ganze Aktion mit Sorge und Gereiztheit begleitet.

»Himmel!« Auly betrachtete seine Stute, die trotz dieser Plackerei kein bisschen verletzt war, obwohl sie die Augen weit aufriss und verdrehte. »Es ist ein Wunder, dass sich niemand ein Bein gebrochen hat. Damit meine ich Mensch, Pony und Pferd.«

»Ich glaube, mein Schwarzer hatte es nicht so schwer«, antwortete Tipperton. Das kleine Pony stand gelassen da, als der Wurrling die Riemen überprüfte und sich überzeugte, dass seine Schlafrolle, die Satteltaschen und die Laute hinten am Sattel sicher befestigt waren und sein Bogen und sein Extraköcher noch vorn am Sattel hingen. Er legte dem Pony einen Futtersack mit drei halben Tagesrationen über den Rist. Obwohl sich Tippertons Pony wie auch Aulys Stute in den nächsten Tagen mit der halben Ration begnügen mussten, würden sie ihnen genug zu fressen geben, sobald sie wieder zum Heerestross zurückgekehrt waren.

»Fertig?«, erkundigte sich Auly und warf einen skeptischen Blick auf die dunklen, drohenden Wolken am Himmel.

»Fertig«, antwortete Tipperton, drehte sich um und winkte Agron zu, der auf dem Geröllhaufen stand und seinen Gruß erwiderte.

Als sie aufstiegen und in den finsteren Pass hineinritten, sagte Auly: »Ich mag mir nicht vorstellen, was auf den Schwingen dieses heftigen Windes reitet. Ich glaube, dass sich in den letzten zwei Tagen ein Sturm zusammengezogen hat, vielleicht einer, der von Modru beschworen wurde, dem Meister der Kälte.«

Der Schneesturm schlug am späten Nachmittag zu. Er fing Tipperton und Auly in einer tobenden, weißen Hölle. Der Pass wirkte wie ein gigantischer Trichter, der den heulenden Wind, den Schnee und den Eisregen bis hinauf zum bereits tief verschneiten Grat schleuderte. Die Welt wurde so dunkel von dem Weiß, dass Tipperton Aulys Gestalt vor sich kaum erkennen konnte, obwohl er nur wenige Schritte von ihm entfernt war.

Auf der Suche nach einem Schutz hielten sie sich dicht am nördlichen Hang des Passes, weil der Wind dort etwas weniger stark zu sein schien. Trotzdem peitschte er sie und ihre Pferde und schien sie ins Nichts zu treiben oder auf der Stelle festfrieren zu wollen. Tipperton und Auly mussten einen sicheren Platz finden, bevor die Dunkelheit hereinbrach, da der Sturm sie sonst das Leben kosten konnte. Sie befanden sich etwa zwölf Meilen westlich von dem Heerestross und näherten sich nun dem Ausgang des Passes. Auf diesen zwölf Meilen hatten sie nichts von den Feinden gesehen, nur ein paar Spuren, die sich jedoch von ihnen entfernten. Aber sie dachten weder an Freund noch an Feind, sondern nur daran, einen sicheren Ort für die Nacht zu finden.

Plötzlich bog Auly, der voranritt, scharf nach links ab, quer durch den Pass. Tipperton folgte ihm zwischen einige hohe Felsen. Wie Auly sie in dem dichten Schneetreiben und der Dämmerung hatte sehen können, wusste Tipperton nicht, aber er war dennoch froh, dass sie wenigstens einen notdürftigen Schutz gefunden hatten. Der Wind fegte kreischend um die Felsen, doch war er merklich schwächer als draußen im Pass. Auly stieg ab und rief Tipperton etwas zu, aber der Wind übertönte seine Worte. Tipperton erriet jedoch, was Auly gemeint haben könnte, und stieg ebenfalls ab – als im selben Augenblick eine riesige schwarze Gestalt durch das tobende Weiß segelte, über Tippertons Kopf hinwegsprang und in das Pony krachte. Das Tier flog seitlich auf den Boden.

»Wow!«, schrie Tipperton, doch dann hörte er Aulys Schrei und ein grauenvolles Heulen. Tippertons Pony trat vor Entsetzen mit allen vieren um sich und wieherte schrill. Sein Schrei brach jedoch unvermittelt ab, als sich die schwarze Kreatur über es beugte und dem Pony die Kehle herausriss. Tipperton riss einen Pfeil aus seinem Köcher, als das Wesen zu dem Bokker herumfuhr und ihn ansprang. Aus seinen Lefzen tropfte Blut. Dem Wurrling blieb nur noch Zeit, seinen Arm mit dem Pfeil auszustrecken, als die Bestie gegen ihn prallte und ihn hintenüber warf. Die Kreatur erwischte Tippertons Arm mit ihrem Maul, und dann stürzten sie beide in den Schnee. Die Bestie landete auf Tipperton und der Aufprall nahm ihm den Atem. Wie betäubt und unfähig sich zu rühren, versuchte der Wurrling nur mit schwachen Kräften, das Tier wegzuschieben. Doch es drückte ihn auf den Boden, die Fänge um seinen Arm geklammert.

Himmel, was für eine schreckliche Art zu …

Ghuuuh!

Endlich gelang es Tipperton, Luft zu holen.

Die Kreatur, die in dem tosenden Schneesturm auf ihm lag, rührte sich nicht, aber ihr gewaltiges Gewicht presste den Wurrling in den Schnee.

Er riss seinen Unterarm aus dem mit scharfen, weißen Zähnen bestückten Rachen. Das Blut strömte aus den Fetzen in seinem Jackenärmel. Tipperton stieß und trat wie verzweifelt gegen die Bestie, bis er sich endlich unter der schwarzen Kreatur herauswinden konnte.

Er rappelte sich auf, schaute auf das Tier und sah … Vulg! Es ist ein Vulg! Der Pfeil, den der Wurrling vor sich ausgestreckt hatte, hatte sich tief in die Brust der Bestie gegraben. Aber Tipperton hielt sich nicht lange damit auf, über sein Glück nachzudenken. Stattdessen …

Auly!

Tipperton riss seinen Bogen aus der Scheide am Sattel seines toten Ponys, nockte einen Pfeil auf die Sehne und wirbelte zu der Stelle herum, wo Auly gestanden hatte. Aber er konnte nicht viel erkennen. Der Wind heulte und das Schneegestöber nahm ihm fast die Sicht, als Tipperton sich blindlings durch den Sturm tastete, um …

Ach, Auly!

Wo der Kundschafter gestanden hatte, lag jetzt nur noch eine massakrierte Leiche. Der Schnee um die Stelle herum war von Blut getränkt. Aulys tote Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen und starrten blicklos auf den Schneesturm, der über sie hinwegfegte. Neben ihm lag ein toter Vulg, dem ein Dolch bis zum Heft in seinem bösartigen linken Auge steckte. Von Aulys Pferd war nichts zu sehen.

Tipperton sank neben dem grauhaarigen Mann in den Schnee und drückte ihm sanft die Augen zu.

Auly, Auly, du hast deinen Mörder mit Waffengewalt abgeschlachtet, während ich meinen nur zufällig erlegen konnte!

In diesem Augenblick durchdrang ein Heulen den tosenden Wind, das ganz anders klang.

Tip sprang auf. Vulgs! Noch mehr Vulgs! Er hatte den Bogen schussbereit erhoben. Himmel! Das Blut, der Geruch von Blut, es wird sie herlocken! Aber warte, der Wind … vielleicht, vielleicht auch nicht. Vergiss es, Wurro, du musst hier weg, du musst raus aus dem Pass!

Er rannte zu seinem toten Pony zurück, schnallte seine Schlafrolle, die Satteltaschen und die Laute vom Sattel ab und schulterte sie. Dann drehte er sich noch einmal zu Aulys Leiche herum. Ach, Auly, ich kann dich doch nicht hier liegen lassen. Die Vulgs …

Wieder übertönte ein Heulen den Wind, noch lauter diesmal.

Da Tipperton so gut wie keine Wahl hatte, drehte er sich in dem tosenden Schneesturm herum und kletterte in der anbrechenden Dunkelheit und gegen den peitschenden Wind den Hang hinauf, während hinter ihm der Schnee herabwirbelte.

Er kletterte immer höher und höher, während rings um ihn der Wind heulte und das Eis prasselte. Ihm wurde immer kälter, während er einen sicheren Unterschlupf suchte. Er kam an den Rand einer Klippe, die er nicht einmal hätte hinaufklettern können, wenn ihm kein eisiger Wind die letzte Wärme aus dem Körper gesogen hätte. Er wandte sich nach links, weg von dem peitschenden Sturm und dem Heerestross zu, der Meilen entfernt war. Aber er suchte nicht die Armee, sondern einen Unterschlupf, Felsen, eine Höhle, eine Nische im Fels, irgendetwas, das ihn vor dem Wind schützte.

Jetzt wehte der Wind von hinten und trieb ihn voran, über den Hang parallel zu der Klippe, während er sich durch den tiefen Schnee mühte und seine Beine vor Erschöpfung zitterten. Der Wurrling wurde mit jedem Schritt schwächer, Fieber schien in seinem Körper zu wüten und durch seine Adern zu glühen. Er kämpfte sich weiter durch den peitschenden Schnee und sah etwas Dunkles in dem Fels der Klippe. Ein Schatten, aber halt, es wird Nacht, also wie …?

Eine Sturmbö zwang Tipperton von hinten in die Knie, doch als er sich wieder erheben wollte, fand er nicht mehr die Kraft dazu. Er taumelte und kroch durch den Schnee, hielt auf den dunklen Fleck vor sich zu und … kam an eine niedrige Öffnung in dem Felsen, eine windgeschützte Höhle.

Er krabbelte über das Geröll, so weit entfernt von dem Schneesturm, wie es nur ging, mindestens drei oder vier Meter. Keuchend ließ er seine Satteltaschen und die Laute fallen, die Schlafrolle hatte er irgendwo unterwegs verloren, drehte sich herum, zur Öffnung hin, während ihm der Schweiß über die Stirn lief und seine Wangen trotz der Kälte glühten.

Er brannte aus.

Matt tastete Tipperton an seinem zerfetzten Ärmel entlang bis zu seiner Haut. Er blutete. Himmel, ich bin von einem Vulg gebissen worden!

Hauptmann Bruds Unheil verheißende Worte kamen Tipperton in den Sinn. Der schwarze Biss der Vulgs tötet jedoch nur des Nachts … tötet des Nachts … des Nachts … Nachts.

Als sich die Dunkelheit über das Land senkte, lehnte sich Tipperton fieberglühend gegen den rissigen, von Spalten durchzogenen Fels. Vulg-Gift strömte durch seine Adern, während draußen im tosenden Schneesturm ein grausiges Heulen ertönte.

2. KAPITEL

Im Gefängnis von Dendor lag Beau im Bett, zu schwach und zu mutlos, um aufzustehen. Obwohl seine Eiterbeulen und die dunklen Flecken immer mehr zurückgingen, erholte er sich nur langsam. Sein vom Fieber entkräfteter Körper weigerte sich beharrlich, Fleisch auf den Knochen zu bilden, ganz gleich wie viel er aß. Obwohl der Gerechtigkeit halber zu sagen ist, dass auch sein Appetit gelitten zu haben schien. Dass er schwer krank gewesen war, konnte man nicht übersehen; die Pestilenz hatte ihn bis an die Schwelle des Todes gebracht und beinahe darüber hinweg getragen. Dennoch hatte ihn eine einzige Dosis Güldminze und Silberwurz davon zurückgeholt, ihn gerettet, ihn und mehr als fünfhundert weitere Menschen, obwohl die Medizin für fast dreitausend weitere zu spät gekommen war.

Die Menschen pilgerten in das Gefängnis, um den kleinen Heiler zu sehen, denn gewiss war er von Adon gesegnet. Wie hätte man sonst das Wunder erklären sollen, das er der Stadt angedeihen ließ? Aber der Wurrling war viel zu schwach, um öffentliche Dankesbekundungen anzunehmen, also wurden viele, die wegen einer Audienz vorsprachen, schon an den Toren des Gefängnisses fortgeschickt.

Desungeachtet bekam Beau in den nächsten Wochen viele Besuche, vor allem von anderen Heilern, die ihn lobpreisten, und von jenen, die ihn verehrten: Patienten, die noch im Gefängnis lagen und von der bemerkenswerten Gnade seiner Medizin gerettet worden waren. Am Anfang ermüdete Beau sehr schnell bei diesen Besuchen, und es kam häufig vor, dass ihn ein Besucher schlafend vorfand. Viele hinterließen dem Wurrling kleine Gaben ihrer Dankbarkeit, andere knieten einfach nur neben seinem Bett und küssten seine Hand. Wenn Beau bei einer solchen Gelegenheit erwachte, war er von dieser Schwärmerei zutiefst beschämt.

Himmel, genau so muss sich Tipperton fühlen, der Held von Dendor; der Held von Minenburg Nord. Obwohl die Zwerge dort auf seine Heldentat weit gelassener reagiert haben, als es die Menschen hier tun.

Zehn Tage, nachdem sich Tipperton, Bekki, Loric, Phais und sogar König Agron von Beau verabschiedet hatten, wurde ihm zum ersten Mal erlaubt, das Bett zu verlassen. Obwohl ihm die Beine zitterten und er sich fühlte, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen, schwor er, dass er sich nie wieder in ein Gefängnis legen würde, selbst wenn er zur Toilette kriechen müsste. Nie wieder. Mit der Hilfe eines Pflegers schlurfte er zum Abtritt am Ende des Flures. Als er zurückkam und auf seiner Pritsche erschöpft zusammenbrach, ließ er seine Bettpfanne hinausschaffen. »Nie wieder«, murmelte er.

Nach weiteren drei Wochen legte Beau allmählich wieder an Gewicht zu und wurde mit jedem folgenden Tag kräftiger.

Er wollte Tipperton und dem König unbedingt folgen, marschierte also in das Büro des Oberheilers, das in der Nähe der Gefängnistore lag. Hinter dem Schreibtisch saß Halga, die nach Bragans Tod Oberste Heilerin geworden war. Sie schaute von ihrer Arbeit auf, als Beau zielstrebig in ihre Kammer schritt. »Ich bin gesund genug, reisen zu können«, verkündete er.

»Nein, seid Ihr nicht«, widersprach Halga.

»Bin ich wohl.«

»Nein, Kleiner Mann. Soll ich es Euch beweisen?«

Beau stöhnte. »Hört, Lady Halga, nur weil ich mich auf jedem Treppenabsatz hinsetzen und ausruhen muss, heißt das nicht …«

»Doch, genau das heißt es, Herr Beau. Sagt: Was würdet Ihr einem Patienten wie Euch raten, der zufällig in Eurer Obhut wäre?«

»Ich würde ihm empfehlen zu tun, was immer er …«

Halga verschränkte die Arme und sah ihm in die Augen.

»… ich meine, das heißt …« Beau hielt ihrem Blick nicht stand. »Also gut«, lenkte er schließlich ein. »Ihr habt gewonnen. Aber sobald ich diese Treppen ohne Pause bewältigen kann, gehe ich, ob mit oder ohne Erlaubnis.«

»Beau, Ihr braucht selbst jetzt keine Erlaubnis, um aufzustehen und zu gehen. Aber bedenkt: Wenn Ihr jetzt geht, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass Ihr unterwegs zu einer Last werdet und Euer Ziel niemals erreicht.«

Beau seufzte und nickte. »Noch eine Woche«, sagte Halga, »dann sehen wir weiter.«

In dieser Woche half Beau den anderen Heilern bei Patienten, die in einem ganz ähnlichen Zustand waren wie er selbst. Es waren die wenigen, die von der Schwelle des Todes zurückgeholt worden waren. Alle anderen überlebenden Opfer der Pestilenz hatten sich gänzlich erholt und waren bereits entlassen worden. Auch die requirierten Gebäude der Umgebung erfüllten wieder ihre ursprünglichen Zwecke.

Die übrig gebliebenen Patienten waren in das Untergeschoss des Gefängnisses verlegt worden. Das wiederum erfüllte auch seine eigentliche Aufgabe, obwohl es nur sehr wenig Insassen gab. Die meisten waren in den Krieg gezogen. In den Zellen saßen jetzt ein paar frisch eingelieferte Übeltäter, die darauf warteten, dass der Verwalter des Königs sein Urteil über sie fällte.

Jedenfalls behandelte Beau einige Patienten und übte jeden Tag, die Treppen zu steigen. Er wurde immer stärker.

Es waren sechs Tage her, seit er zu Halga gegangen war, als es am Tor zu einem Zwischenfall kam. Ein Wachmann wurde abkommandiert, eine große Gestalt in das Untergeschoss zu führen.

Beau wurde gerufen.

Als er in die Kammer trat, sah er einen Mann, einen Elf, nein, einen Magier. Er war sehr groß, hatte braune Augen, kupferrotes Haar und trug eine braune Robe. Er schien noch recht jung zu sein, obwohl man dies bei einem Magier nie sagen konnte.

Jedenfalls sah er Beau finster an. »Ihr seid also Herr Beau Darby, vom Litenfolk, der eine Kur gegen die Pestilenz gefunden hat?«

Als Beau nickte, lächelte der Magier, setzte sich und deutete auf einen zweiten Stuhl. »Ich bin Farrin, und komme etwas spät vom Schwarzen Berge.«

»Ich habe von Euch gehört, Magier Farrin.« Beau kletterte auf den Stuhl.

Als ihn Farrin fragend ansah, fuhr Beau fort: »Von Magier Imongar und den anderen. Ihr gehörtet zu ihrem Zirkel der Sieben, jedenfalls hat Tip mir das erzählt. Aber Ihr suchtet die Steingiganten auf, um sie zu bewegen, sich auf unsere Seite zu stellen. Habt Ihr sie nun gefunden und werden sie in die Schlacht gegen Modru und seinesgleichen eingreifen?«

Farrins Miene verdüsterte sich. »Gefunden habe ich sie, das wohl, aber ob sie mit uns kämpfen? Die Chancen stehen schlecht.«

»Ihr müsst mir alles darüber erzählen, denn Tip will es sicher genau wissen.«

»Der andere Wurrling? Der mit dem König geritten ist?«

Beau nickte. »Ja. Und ich hoffe sehr, das ich sie bald einholen kann … Meiner Treu!« Ein bestürzter Ausdruck zeichnete sich auf Beaus Gesicht ab.

»Was habt Ihr?« Der Magier sah sich um. Da er nichts Beunruhigendes bemerkte, drehte er sich wieder zu dem Wurrling herum.

Beau sah zu ihm auf. »Dara Raels Sermon.«

»Sermon?«

»Ja. ›Sucht die Hilfe derer, die keine Menschen sind, um die Feuer des Krieges zu ersticken.‹ Das hat sie damals in Ardental gesagt, als sie in den Kristall schaute. Allerdings sprach sie in der Elfenzunge; Dara Faeon hat es in Gemeinsprache übersetzt.«

Farrin neigte den Kopf. »An wen war dieser Sermon gerichtet? «

»Das ist es ja gerade«, sagte Beau. »Wir wissen es nicht. Damals waren einige Elfen in dem Raum, zusammen mit zwei recht zerzausten Wurrlingen, Tip und mir. Rael meinte, er könnte für jeden von uns bestimmt sein.«

Farrin nickte. »Und warum«, sagte er dann, »bestürzt Euch das jetzt so plötzlich?«

»Seht Ihr, wenn dieser Sermon tatsächlich für Tip oder mich bestimmt war, auch wenn ich das für nicht sonderlich wahrscheinlich halte, ist Tip doch mit König Agron aufgebrochen, versteht Ihr, und seiner ganzen Armee, und ich werde ihnen bald folgen.«

Farrin hob die Hand. »Und?«

»Sie alle sind Menschen.«

»Ah.« Farrin nickte. »Und der Sermon hält Euch an, die Hilfe derer zu suchen, die keine Menschen sind. Ich verstehe Eure Sorge. Selbstverständlich ist das nur dann von Belang, wenn dieser Sermon nicht an die Elfen, sondern an Euch oder ihn oder Euch beide gerichtet war.«

Beau seufzte und lächelte den Magier schwach an. »Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich, oder?«

Farrin hob beide Hände. »Bei Wilder Magie weiß man das nie.«

Sie schwiegen, bis Beau fragte: »Glaubt Ihr, dass er in Gefahr ist?«

»Wer?«

»Tip. Tipperton.«

»Warum fragt Ihr das?«

»Na ja, wenn er mit Menschen zusammen ist statt mit Nicht-Menschen …« Beau sah Farrin an und zuckte die Achseln.

»Er war doch auch bei der Schlacht um Dendor unter Menschen, oder?«

Beau nickte. »Ja, aber hier waren auch Magier. Und seid Ihr nicht auch Un-Menschen? Ich meine, das soll heißen … Ach, Scheunenratten! Ihr wisst, was ich meine.«

Farrin lachte. »Allerdings, Herr Beau. Wir Magier sind tatsächlich keine Menschen, sondern eine vollkommen andere Rasse. Dennoch, hört mich an: Ich glaube, Herr Tipperton ist nicht mehr in Gefahr als alle anderen, die mit einer Armee in die Einöden von Gron marschieren. Auch wenn es dort keine Nicht-Menschen gibt, um deren Hilfe er ersuchen könnte.«

Bevor Beau antworten konnte, ertönte ein Gong. Als er Farrins fragend erhobene Augenbrauen sah, erklärte er: »Abendessen. Wollt Ihr mir Gesellschaft leisten? Dann könnt Ihr mir alles über die Steingiganten berichten.«

Sie standen auf und gingen durch den Flur in den Speisesaal. »Es gibt nicht allzu viel zu erzählen. Ich fand sie unter dem Grimmwall nördlich vom Skög …«

»Diesem ältesten aller Wälder?«

»Richtig. Woher wisst Ihr …? Ach, die Elfen?«

Beau nickte. »Phais und Loric haben davon gesprochen. Aber was ist mit den Steingiganten?«

»Sie sprechen eine höchst bemerkenswerte Sprache. Es klingt wie Felsbrocken, die übereinanderreiben. Mir ist es gelungen, drei oder vier der Jüngeren eine alte Form der Gemeinsprache zu lehren. Als ich ihnen dann erklärte, warum ich gekommen bin, wandten sie sich an die Älteren. Und die antworteten, dass sie nicht in einen Krieg zwischen den Oberflächenbewohnern hineingezogen werden wollten.«

»Oberflächenbewohner?«

»So nennen sie uns, die wir auf der Erde und nicht darunter wohnen.«

»Und was ist mit den Zwergen? Sie kämpfen in diesem Krieg mit, und obwohl sie auf der Erde leben, leben sie auch darin.«

Farrin lächelte. »Dasselbe habe ich ihnen auch gesagt, Beau. Aber obwohl sie die Arbeit der Zwerge bewundern und die Brut verabscheuen, haben sich die Älteren geweigert. Auf der anderen Seite jedoch schienen einige Jüngere zu zögern, sich für ein klares Ja oder Nein zu entscheiden.«

»Habt Ihr ihnen von Gyphon erzählt und den Folgen, die es haben könnte, falls er siegt?«

»Das habe ich. Trotzdem konnte ich sie nicht umstimmen. «

»Hm.« Beau dachte nach, während er vom Flur in einen Gemeinschaftsraum abbog. Farrin folgte ihm. Sie nahmen sich Tabletts, Messer und Löffel von einem kleinen Beistelltisch und dazu irdene Becher. Dann füllten sie sich ihre Teller aus verschiedenen Schüsseln, die auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes standen, und schenkten sich Tee in die Becher. Schließlich gingen sie zu einer Bank und setzten sich hin, um zu essen. »Wie sehen sie aus? Die Steingiganten, meine ich.«

»Groß. Einige sind noch größer als Trolle. Vier Meter hoch, oder fünf, einige sind gar sechs Meter groß. Und an Stelle von Augen haben sie Edelsteine.«

»Echte Edelsteine?«, fragte Beau und riss sich einen Brocken Brot ab.

»So sehen sie aus.« Farrin nickte und trank einen Schluck Tee. »Glitzernde Augen, fast so wie die Eures Volkes.«

»Wie sind sie gekleidet?«, nuschelte Beau mit vollem Mund.

»Sie tragen keine Kleidung. Sie würde dort, wo sie wohnen und arbeiten, auch nur in Fetzen gerissen werden, an den malmenden Grenzen des lebenden Gesteines.«

»Meiner Seel, keine Kleidung! War Euch das nicht peinlich? «

Farrin lachte schallend.

Schweigend aßen sie eine Weile, bis sich Farrin schließlich erkundigte: »Wann wollt Ihr nach Gron aufbrechen?«

»Morgen sollte ich eigentlich für reisefähig erklärt werden«, antwortete Beau. »Ich habe zwar meine alte Kraft noch nicht wieder, aber ich kann mehrmals bis zur obersten Treppe steigen, ohne eine Pause machen zu müssen.«

Farrin lächelte. »Die Treppen sind Euer Maß?«

»Nicht meines. Halgas.« Beau deutete mit einem Nicken auf die Heilerin, die am Nebentisch saß.

»Es ist zwar nur ein grobes Maß für seine Gesundheit«, erklärte Halga, »aber letzte Woche hat er es nicht vom Keller bis ins Obergeschoss geschafft, ohne wenigstens zweimal zu pausieren. Trotzdem wäre er aufgebrochen, hätte ich ihn nicht zurückgehalten.«

Als Farrin Beau von der Seite ansah, erwiderte der Bokker: »Sie hat recht gehabt, auch wenn es mich eine ganze Woche gekostet hat. Auf lange Sicht jedoch denke ich, dass ich Agrons Armee rascher einhole, wenn ich später abreise, als ich sie eingeholt hätte, wäre ich letzte Woche schon aufgebrochen. «

Farrin lachte erneut laut heraus. »Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt, Beau. Ihr wollt zu Eurem Kameraden. Ich werde ebenfalls aufbrechen und meine Gefährten suchen. Bei den Utruni habe ich zwar keinen Erfolg gehabt, aber wenn ich meine Kollegen finde, ist der Zirkel der Sieben wieder geschlossen.«

»Meiner Seel!«, stieß Beau hervor. Sein Gesicht wurde lang. »Hat es Euch keiner gesagt?«

Farrin legte etwas verwirrt den Kopf auf die Seite und lächelte schwach. Der Löffel mit Bohnen schwebte vor seinem Mund. »Was gesagt?«

Beau legte seine Hand auf Farrins Linke. »Einer von Eurem Zirkel Alvaron … Der Gargon hat ihn getötet, als er in seinem Todeskampf lag.«

Farrin stieß keuchend den Atem aus und ließ seinen Löffel klappernd auf das Tablett fallen. »Alvaron?«

Beau nickte.

»Tot?«

Wieder nickte Beau.

Farrin schob sein Tablett zurück und stand auf. »Ich muss allein sein.«

Beau sah dem Magier nach, als er die Tür des Speisesaales aufstieß und hinausging. Seufzend schob der Wurrling auch sein Tablett zurück und wandte sich an Halga. »Ich glaube, ich gehe spazieren, Halga. Auf den Stadtmauern, wenn ich darf.«

Sie sah ihn lange an und nickte schließlich. »Aber zieht Euch warm an, Beau.«

Beau trottete in sein Zimmer, zog seine gefütterte Jacke über, Handschuhe und den Elfenumhang, und trat nur Augenblicke später durch das Portal des Gefängnisses. Draußen war es still und schneite leicht. Beau schlug seinen Kragen hoch und blickte durch die Schneeflocken zu dem grauen Himmel empor. Als er die kalte Luft tief in seine Lungen sog, fiel ihm auf, dass er jetzt zum ersten Mal seit zwei Monaten das Gefängnis verließ. Er hätte Freude darüber empfinden sollen, tat es jedoch nicht. Denn das Herz des kleinen Bokker war schwer, von einer alten Trauer nämlich, die soeben wieder neu aufgelebt war.

Titel der amerikanischen Originalausgabe HÈL’S CRUCIBLE: INTO THE FIRE — PART 2 Deutsche Übersetzung von Wolfgang Thon

Deutsche Erstausgabe 10/2007 Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 1998 by Dennis L. McKiernan

Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de

Titelillustration: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karten: Andreas Hancock Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-08100-3

www.randomhouse.de

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