Du bist Ich - Joan Aiken - E-Book

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Joan Aiken

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Beschreibung

Alvey Clement und Louisa Winship stammen zwar aus sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und sind vom Temperament her ganz verschieden, aber vom Aussehen her sind sie sich völlig gleich. Die verwöhnte Louisa, deren Lebenstraum es ist, als Missionarin nach Indien zu gehen, und deren Eltern strikt dagegen sind, ersinnt einen Plan: Alvey soll ihren Platz in der Familie einnehmen.

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Joan Aiken

Du bist Ich

Die Geschichte einer Täuschung

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Diogenes

Allen schreibenden Frauen

in Vergangenheit und Gegenwart

sei dieses kleine Werk

in Liebe zugeeignet

1

An einem warmen Juniabend saßen zwei in ein lebhaftes Gespräch vertiefte junge Damen in der Torhausstube der Abbey. School von Reading. Dieser Raum, über dem gewölbten Torweg gelegen, der zum Haupteingang und zum Schulhof führte, wurde des Lärms und der Ablenkung halber nur selten zu Unterrichtszwecken benutzt, da er Fenster nach beiden Seiten hatte und jeder Reiter, jede Kutsche, die der Schule zustrebten, von dort beobachtet werden konnten. Er blieb deshalb gewöhnlich weniger wichtigen Beschäftigungen, wie dem Handarbeiten, Zeichnen, der Erledigung von Schulaufgaben und dem Klavierüben, vorbehalten. Etliche Hilfsmittel für diese Tätigkeiten hatten ihren Weg hierher gefunden: zwei Globen, eine mit Fries bespannte Schneiderpuppe, eine Schachtel weißer Kreiden und ein Pianoforte. An den Wänden hingen von früheren Schülerinnen in Chenille gestickte Bilder, auf denen man Vasen und Trauerweiden bewundern konnte.

Es muß jedoch eingeräumt werden, daß sich die jungen Damen in die Torhausstube vornehmlich zurückzogen, um ein Plauderstündchen abzuhalten. Dazu war der Raum, fern vom Hauptstrom des gelehrsamen Treibens, trefflich geeignet. Nicht, daß man in den übrigen Bereichen des Pensionats gegen einen Schwatz geradezu etwas einzuwenden gehabt hätte. Die Abbey School war ein angenehmes, beschauliches Institut, in dem man danach trachtete, auch den trägsten Geist nicht über Gebühr zu beanspruchen, wenn auch Schülerinnen, die sich ehrlich interessiert zeigten, an allen Vormittagen der Woche bei den dort wirkenden Lehrern ein durchaus ansehnliches Wissen erwerben konnten. Mrs. Latournelle, die Begründerin der Schule, eine Dame mit mütterlichem Wesen, flinker Zunge, einem Korkbein und einer Theatervergangenheit, über die nichts Näheres bekannt war, hatte 1805, vor zehn Jahren also, die Leitung des Instituts niedergelegt, um sich fürderhin dem Trinken von Portwein zu widmen und ihr Korkbein auf einem Sofa zu lagern. Mrs. Latournelles Platz war von ihrer Nichte, Mrs. Camperdowne, eingenommen worden, die von ebenso liebenswürdiger und duldsamer Veranlagung war. Unter ihrer Ägide stand es den Schülerinnen – vorausgesetzt, sie waren manierlich und stritten sich nicht – weitgehend frei, Romane zu lesen, im Garten herumzustreifen, Obst zu pflücken, sich an Spielen zu erfreuen, miteinander zu schwatzen oder in aller Ruhe ihren Studien nachzugehen, ganz wie die Lust sie ankam.

Die beiden jungen Damen, die derzeit behaglich auf der gepolsterten Fensterbank der Torhausstube saßen, betrieben keine Studien; dennoch war zumindest eine von ihnen überaus ernst und gesammelt.

»Es ist mir so sehr, sehr wichtig. Ich muß einfach jetzt aufbrechen, verstehen Sie? Es könnte womöglich meine einzige Chance sein. Wenn Sie mir nicht helfen, verurteilen Sie mich zu einem hoffnungslosen … engen … provinziellen …«

»Ich bitte Sie, liebe Miss Winship! Was für große Worte! Verurteilen? Warum, wenn ich fragen darf, sollte mir die Verantwortung für Ihr künftiges Leben zufallen?«

»Das wissen Sie ganz genau.«

»Es dürfte schwerlich meine Schuld sein, wenn Ihr Vater nicht damit einverstanden ist, daß Sie sich in ferne Länder begeben, um die Heiden zu bekehren«, war die nüchterne Antwort.

»Und doch ist es Ihre Schuld. Begreifen Sie denn nicht … dies alles ist eine Fügung … Daß die große Schlacht gegen die Franzosen in Brüssel gewonnen wurde … daß der Krieg zu Ende ist … daß Mr. und Mrs. Tothill nächsten Monat ihre Reise nach Indien antreten …«

»Wollen Sie damit sagen«, meinte die andere ziemlich trocken, »daß der Allmächtige den Franzosen eine Niederlage beschert hat, nur damit Mr. und Mrs. Tothill Sie nach Indien mitnehmen können?«

»Seien Sie nicht so sarkastisch, Alvey. Und … und blasphemisch. Sie wissen sehr wohl, was ich meine.«

Die beiden jungen Damen musterten sich mit gegenseitiger Abneigung. Es gab einen guten Grund für diese Antipathie. Sie waren keine nahen Verwandten, ja, sie waren überhaupt nicht miteinander verwandt. Die eine kam aus Northumberland in England, die andere aus New Bedford in Massachusetts. Dennoch sahen sie sich so ähnlich, daß man sie ständig für Schwestern oder gar für eineiige Zwillinge hielt.

Beider Gesicht war lang und oval, beider Teint klar. Beide hatten sie dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, schön geschnittene Lippen und kleine, gerade Nasen. Sarah Alvey Clement aus New Bedford mochte einen halben Zoll größer sein, aber sofern die beiden Mädchen sich nicht Rücken an Rücken stellten, merkte man nichts von dem Größenunterschied, besonders da Louisa Winship die zur Zeit so beliebten griechischen Locken verschmähte und ihr Haar zu einer an Quäkerfrisuren erinnernden Zopfkrone hochgesteckt trug. Es war dies kennzeichnend für Louisa, die es sich angelegen sein ließ, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Verachtung für hübsche Kleidung oder modisches Aussehen darzutun, im Grunde ihres Herzens aber äußerst konkurrenzbewußt war und es nicht ertragen konnte, wenn jemand sie in irgendeiner Hinsicht – und sei es nur in Kleinigkeiten – überflügelte.

Es ist ein eigentümliches, recht schockierendes Erlebnis, dem Doppelgänger, dem eigenen Spiegelbild zu begegnen. Dann bleibt es nicht aus, daß Groll sich regt, wenn eine andere, wildfremde Person so frei war, sich des eigenen Aussehens zu bedienen. Daß eine andere Person das gleiche Kleid, den gleichen Umhang, die gleiche Schute trägt wie man selbst, mag schlimm genug sein. Daß die Person sich mit deinen eigenen Augen, deinem eigenen Haar, deiner eigenen Nase, deinen Zähnen und Lippen ziert, ist schier unerträglich. Du bist sogleich entwertet, zu einer Abnormität, einer Kopie herabgewürdigt.

In den drei gemeinsam an der Abbey School verbrachten Jahren hatten sich die beiden jungen Mädchen deshalb nie näher aneinander angeschlossen oder waren gar Freundinnen geworden, sondern hatten stets geflissentlich Distanz gewahrt. Über die mit neuen Pensionärinnen und Tagesschülerinnen immer wiederkehrenden Witzeleien und Vermutungen, dummen Redensarten und befremdeten Betrachtungen, zu denen ihre zum Verwechseln ähnlichen Erscheinungen unweigerlich Anlaß gaben, hatten sie nie lachen können. Hin und wieder ließen sie sich widerstrebend in eine ärgerliche Partnerschaft zwingen, spielten die Rollen von Viola und Sebastian, Castor und Pollux, Antipholus oder Dromio bei den Schulaufführungen. Ansonsten aber blieben sie einander so fern, wie das im Schulbereich nur möglich war, denn sie hatten einen unterschiedlichen Geschmack, einen unterschiedlichen Freundeskreis und unterschiedliche Temperamente.

Miss Winship war eine gottesfürchtige junge Dame, deren Frömmigkeit etwas Eiferndes hatte. Am Sonntag besuchte sie dreimal die Kirche, unter der Woche so oft, wie es sich eben machen ließ. Ihr Großvater mütterlicherseits war Bischof gewesen, und sie hatte seine Neigungen geerbt. Der Sinn für Humor fehlte ihr fast ganz, dafür war sie überaus fleißig und gewissenhaft und widmete sich sämtlichen Fächern des Curriculums sowie etlichen zusätzlichen Gegenständen mit Intelligenz und Gründlichkeit. Als einzige unter allen jungen Damen an der Abbey School nahm sie nie einen Roman – nicht einmal die Werke der Maria Edgeworth – zur Hand, denn sie betrachtete all diese frivolen, unnützen Produkte der Phantasie, ob es sich nun um Erzählungen, Gedichte oder Theaterstücke handelte, mit tiefstem Argwohn. Shakespeare mußte man über sich ergehen lassen, da der Lehrplan ihn vorsah, doch nicht einmal die lehrreichen Bücher des Herrn Walter Scott rührte sie an. Und was Byron betraf, den die anderen Mädchen voller Hingabe verschlangen, wenn sie ihn zu fassen bekamen, hätte Miss Winship lieber mit bloßen Händen glühende Kohlenbrocken angefaßt, als auch nur einen flüchtigen Blick in Junker Haralds Pilgerfahrt zu werfen.

»Mein Vater im Himmel ruft mich. Man braucht mich dort bei den Heiden«, sagte sie jetzt, mit geballten Fäusten aufs Fensterbrett trommelnd, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich weiß, daß es Sein Wille ist.«

»Finden Sie nicht, daß Er ein wenig verschlungene Wege geht, um Sie an Ihr Ziel zu bringen? Indem er zahlreiche Menschen dazu veranlaßt, zahlreiche Unwahrheiten zu sagen?«

»Sie scheinen es noch zu genießen, sich so … so ungefällig, so verständnislos zu zeigen.«

»Sie irren. Ich lege Ihnen nicht aus purem Zeitvertreib Steine in den Weg. Warum auch? Sind Sie denn ganz sicher, daß Ihr Vater Ihnen die Reise nicht gestatten würde?«

»Das würde er nie, nie tun. Weder er noch meine Mutter würden meine Pläne auch nur im entferntesten gutheißen. Warum, glauben Sie, hätte man mich hier in den Süden ins Pensionat geschickt, ans andere Ende des Landes, so weit wie möglich von meinem Elternhaus entfernt, wenn man nicht hoffte, mich zu einem Sinneswandel zu bewegen? Als könnte etwas so Belangloses wie ein Ortswechsel auch nur die mindeste Wirkung auf mich haben.« Miss Winship preßte starrsinnig die feingeschwungenen Lippen zusammen. Es war dies ein Ausdruck, der Phemie, die Kinderfrau, zu der Bemerkung über die dreijährige Louisa veranlaßt hatte: »Wenn die der Bock stößt, bringt kein Teufel sie vom Fleck.«

»Haben Sie auch in den Briefen an Ihre Eltern Ihre Pläne erwähnt?«

»Natürlich, ich kann gar nicht sagen wie oft. Die Antwort war stets ein glattes Nein. Deshalb durfte ich in den Ferien auch nie heim … Freilich hieß es, die Reise nach Northumberland sei zu weit, zu lang und zu kostspielig, aber das war nicht der wahre Grund. Ich weiß, daß es eine Strafe für mich sein sollte. Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich kein Geheimnis aus meinen Wünschen gemacht …«

Das glaube ich dir aufs Wort, dachte die Mitschülerin, die sie mit distanziertem Interesse musterte. Miss Winships Augen blitzten, das bleiche Gesicht bezeugte die Intensität ihrer Empfindungen.

»Und nachdem Sie nun volljährig sind, haben Sie jede Hoffnung aufgegeben, ihre Eltern umstimmen zu können?«

»Jede! Meine Mutter ist eine sehr, sehr willensstarke Persönlichkeit …«

»In der Tat? Was für ein eigentümlicher Umstand.«

»Weshalb sagen Sie das? Sie kennen sie ja gar nicht«, sagte Miss Winship überrascht, wartete aber die Antwort nicht ab. »Mein Vater … er ist im allgemeinen eher unentschlossen, kann aber auch recht eigensinnig sein. Und nach einem Jagdunfall hat er ständig Schmerzen, schreibt meine Schwester, und verträgt weder Verdruß noch Widerrede, denn seine Stimmung ist sehr schwankend. Und seine Gesundheit ist nicht die beste. Heftige Erregung könnte zu einem Schlaganfall und zu seinem Tod führen.«

»Gewiß, das ist alles recht schwierig, und er befindet sich dadurch in einer starken Position. Doch sterben müssen wir ja alle früher oder später«, sagte Alvey gedankenvoll. »Sind sie Ihnen sehr widerwärtig, Ihre Eltern – abgesehen davon, daß sie Ihnen verboten haben, den Heiden zu predigen?«

»Das wohl nicht gerade«, sagte Miss Winship verstimmt, »aber ich stehe ihnen nicht nah. Wie denn auch? Ich habe sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter und ich haben kaum Gemeinsamkeiten, sie war immer mit den kleinen Geschwistern beschäftigt oder mit ihrem Garten …«

»Wie viele Kinder sind Sie insgesamt?«

»Neun.«

»Eine große Familie, das muß man schon sagen.« Alvey Clement hatte, wie ihre Mitschülerinnen wußten, keine Geschwister, keine Angehörigen, die sich für ihre Zukunft interessiert hätten. Das Schulgeld hatte eine inzwischen verstorbene bejahrte Base gezahlt. »Und sie wohnen alle zu Hause?«

»James ist bei seinem Regiment. Ich glaube, er wurde bei der letzten Schlacht verwundet, wie ernst es um ihn steht, wissen wir nicht. Wenn es Gott gefällt, James zu sich zu nehmen, wird er es zweifellos tun«, erklärte Miss Winship mit einer Abgeklärtheit, aus der sich unschwer folgern ließ, daß sie und ihr Bruder einander nicht in besonders herzlicher Liebe anhingen. »James ist der Älteste und natürlich meines Vaters Liebling. Papa interessiert sich nur für die Jungen, seine Töchter sind ihm gleichgültig.«

»Außer insoweit, daß er ihnen nicht gestattet, ihr Elternhaus zu verlassen, um die Heiden zu bekehren. Erzählen Sie weiter.« Obgleich ihr Entschluß feststand, regte sich in Alvey allmählich Neugier auf diese große unerforschte Familie Winship.

»James und Papa standen einander früher sehr nah. Das Dritte Schottische war Papas altes Regiment. Als mein Bruder Birkland verließ, versuchte Papa seine Zuneigung Tot – Thomas, meine ich – zuzuwenden.«

»Und wie alt ist der?«

»Das vergesse ich immer wieder.« Louisa nahm zum Zählen die Finger zu Hilfe. »Er mag fünf gewesen sein, als ich ins Pensionat kam, ein armseliger, kränklicher kleiner Wurm. Jetzt müßte er also neun sein. Er hat eine enttäuschende Entwicklung hinter sich, schreibt Meg, mag Papas Liebhabereien nicht teilen, schleicht sich lieber mit Nish davon –«

»Die anderen Kinder sind alle Mädchen?«

»Ja. Meg ist einundzwanzig, ein Jahr älter als ich. Sie wird im Oktober einen Nachbarn heiraten, einen gewissen John Chibburn, einen Bauerntölpel mit rotem Gesicht und lauter Stimme«, sagte Miss Winship bitter, »der nur von der Otter- und Lachsjagd und von der Gerstenernte reden kann. Man stelle sich vor, den Rest seines Lebens mit so einem Menschen zu verbringen!«

»Mag Meg ihn nicht?«

Miss Winship schnaubte verächtlich.

»Sie ist viel zu gut für ihn. Sie kam mit sechzehn hierher – Mrs. Camperdowne sagt, sie sei sehr aufgeweckt gewesen –, aber nach einem halben Jahr wurde sie vom Heimweh übermannt und flehte, nach Birkland zurückkehren zu dürfen. Das hat man ihr gestattet. Sie hilft beim Unterricht der jüngeren Geschwister. Wenn sie heiratet, würden Sie an ihre Stelle treten.«

Miss Clement hob die Augenbrauen, sagte aber nur: »Das wäre also Meg. Erzählen Sie weiter.«

»Nach mir kommt Isabel oder Isa. Ihre geistigen Gaben sind eher bescheiden. Sie ist eine Weile in Hexham zur Schule gegangen, hat aber nie Gefallen daran gefunden. Miss Waskerley hat sie zu Hause unterrichtet.«

»Miss Waskerley?«

»Die Gouvernante. Aber sie will uns jetzt verlassen. Allmählich kommt sie in die Jahre, und anscheinend ist sie den jüngeren Geschwistern nicht gewachsen.«

»Die jüngeren Geschwister sind –«

»Tot, Parthie und Nish.«

»Parthie und Nish … was für eigenartige Namen.«

»Parthie ist die Abkürzung für Parthenope. Sie muß vierzehn oder fünfzehn sein. Nish, eine Abkürzung für Annis, acht. Sie und Tot sind unter Miss Waskerleys Führung schändlich verwildert.«

»Dann ist es wohl nur gut, daß sie das Haus verläßt.«

»Schließlich sind da noch Klein-Betsey und Kate, das Baby, die ich beide noch nicht gesehen habe. Ja, es ist sehr gut, daß Miss Waskerley geht«, bestätigte die zielstrebige Louisa, »denn sie hätte als einzige die Täuschung durchschauen und es für ihre Pflicht halten können, meine Eltern davon in Kenntnis zu setzen. Sie hatte nie Verständnis für meine Ziele und Ideale.«

»Miss Winship … Louisa …« sagte Miss Clement energisch, »bitte begreifen Sie ein für allemal, daß es nicht zu dieser Täuschung kommen wird, daß es nichts geben wird, worüber Ihre Eltern in Kenntnis gesetzt werden müßten. Dieser Plan, den Sie da ersonnen haben, ist so übereilt, so toll, so phantastisch, so ganz und gar unvorstellbar, daß ich einfach nicht zu verstehen vermag, wie ein nüchterner Mensch Ihrer Art je darauf kommen konnte.«

»Gott hat ihn mir eingegeben. ER ruft mich«, sagte Miss Winship starrsinnig. »Und ich muß gehen.«

»Soso … Und was ist mit den Hausmädchen, der Köchin, dem Kutscher, dem Gärtner? Den Nachbarn? Wie könnte ein solcher Rollentausch auch nur für einen einzigen Tag in Erwägung gezogen, geschweige denn ausgeführt werden?«

»Sehr einfach.« Miss Winship war anzumerken, daß sie nicht nur bereits Einzelheiten des Rollentausches bedacht, sondern dem Plan über viele Tage, ja vermutlich sogar Wochen und Monate ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

»Ich war jetzt fast vier Jahre lang nicht mehr zu Hause. Mädchen – junge Damen – in unserem Alter verändern sich in einem solchen Zeitraum ganz beträchtlich. Bei mir zumindest war es so. Ich bin gewachsen, mein Aussehen, meine Stimme sind anders geworden. Wer würde argwöhnen, wenn Sie an meiner Stelle in Birkland Hall erschienen, Sie könnten nicht Louisa Winship sein?«

»Aber es gäbe so viele kleine und große Dinge, an denen ich mich unweigerlich verraten müßte, Einzelheiten aus der Familiengeschichte … Menschen, Orte, Erinnerungen …«

»Meine Schwestern Meg und Isa wären stets zur Stelle, um Ihre Fehler zu decken, sich Ihrer anzunehmen. Meg und Isa hatten stets aufrichtigstes Verständnis für meine Bestrebungen, wenngleich sie nicht so denken wie ich. Und den Jüngeren brauchte man nichts zu erzählen, sie würden einfach dem Beispiel der Älteren folgen. Wenn die Geschwister Sie akzeptieren, weshalb sollten meine Eltern Zweifel hegen? Besonders da Papa nie das mindeste Interesse für mich an den Tag gelegt hat. Mama wäre mit dem Baby beschäftigt …«

»Dem Baby?«

»Der kleinen Kate. Sie ist noch nicht ein Jahr alt. Eine bittere Enttäuschung für meinen Vater, der sich noch einen Sohn erhoffte, da Tot kränklich und unbelehrbar ist, wie Meg schreibt.«

»Aber es wäre unrecht! Ich käme in den Genuß von Fürsorge, Bequemlichkeit, Zuwendung, Nahrung und Behausung, von Dingen, auf die ich nicht das mindeste Recht hätte. Und Ihre Schwestern wären genötigt, meinetwegen die Unwahrheit zu sagen …«

»Ich glaube kaum, daß ihnen das sehr schwer auf der Seele liegen würde«, sagte Miss Winship säuerlich. »Sie sind von leichtfertigem Wesen und nicht übermäßig von moralischen Skrupeln geplagt. Was die Fürsorge, Bequemlichkeit, Nahrung und so weiter betrifft, so sind das Dinge, die mir zukommen, auf die ich aber nicht den mindesten Wert lege. Wenn ich beliebe, all dies auf Sie zu übertragen, ist das mein gutes Recht.«

Dies zeugte in Alveys Augen von so viel grotesker Torheit, daß sie keine rationale Möglichkeit sah, Louisas Behauptung zu widerlegen. Zudem fuhr ihre Mitschülerin schon mit einigem Nachdruck fort: »Miss Clement, ich habe es mir angelegen sein lassen, mich mit Ihrer Lage und Ihren Aussichten vertraut zu machen. Sie sind, soweit ich weiß, Waise, und wurden von Ihrem Vormund ins Pensionat geschickt, um sich in England Wissen zu erwerben mit dem Ziel, später nach Amerika zurückzukehren und dort zu unterrichten. Ihr Wunsch hingegen ist es – ich weiß das von Harriet Utterley –, Schriftstellerin zu werden, Romane zu schreiben wie Maria Edgeworth oder Fanny Burney. Das ist, ich gestehe es, in meinen Augen ein eigentümliches, oberflächliches Lebensziel …« – Miss Winships Stimme war nur zu deutlich anzuhören, wie gering sie von dieser Absicht dachte – »… aber ich frage Sie: Könnten Sie sich, um Ihr Ziel zu erreichen, etwas Besseres wünschen als einen Aufenthalt auf Birkland Hall? Es ist ein großes Haus, Sie werden Zeit in Fülle für ihr Geschreibsel haben …«

»Sagten Sie nicht, man würde von mir erwarten, daß ich die jüngeren Geschwister unterrichte? Not und Tish und … und Parthie …«

»Mit einer Stunde am Vormittag wäre dem Genüge getan. Mama kümmert sich nicht um ihre Ausbildung, wenn die Kinder sie nur in Ruhe lassen. Ich habe, wie gesagt, keinerlei Verständnis für diesen Wunsch, erfundene Geschichten zu schreiben – ich kann mir auch nicht denken, worüber Sie schreiben würden –, aber ich nehme an, Sie werden sicher bestimmte Vorstellungen haben …«

Alvey nickte. Daß sie einen Roman bereits zu zwei Dritteln beendet hatte, gab sie nicht preis.

»Das Haus liegt einsam, die Nachbarn leben weit verstreut, damit verbieten sich gegenseitige Besuche von selbst. Würden Sie hingegen nach Amerika zurückkehren, wären Sie vermutlich genötigt, an einer Schule zu unterrichten, Ihre Zeit wäre weitgehend von beruflichen Erfordernissen in Anspruch genommen … soweit ich weiß, haben Sie keine Mittel, kein Einkommen …«

All das war so unwiderlegbar, daß Alvey sich beeilte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Falls Sie nun aber nach Ihrer Ankunft in Indien merken, daß Sie in einem Irrtum befangen waren? Daß Sie Heimweh haben, enttäuscht sind? Daß das Leben in der Mission Ihnen doch nicht gefällt? Was dann?«

»Das ist gänzlich ausgeschlossen.«

»Angenommen, Sie werden krank, sind genötigt, Ihre Pläne aufzugeben und in die Heimat zurückzukehren? Angenommen, Sie stellen fest, daß Sie Sehnsucht nach Ihren Eltern, Ihrer Familie haben?«

Miss Winships unbewegter Miene war anzusehen, daß sie dies für äußerst unwahrscheinlich hielt.

»Gut, aber nehmen wir einmal an, Ihr Vater oder Ihre Mutter werden krank … Wie alt sind die beiden?«

»Meine Mutter geht auf die Fünfzig zu, genau weiß ich ihr Alter nicht, und erfreut sich ausgezeichneter Gesundheit, Papa ist etwa fünfzehn Jahre älter. Sie ist nicht seine erste Frau«, erläuterte Miss Winship. »James’ Mutter starb im Kindbett.«

»Ihr Papa ist also Mitte sechzig. Angenommen, er wird lebensgefährlich krank, Sie sehen ihn vielleicht nie wieder?«

»Dann wäre er in der Hand seines Schöpfers«, sagte Miss Winship kurz und bündig. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck unumstößlicher Entschlossenheit, ihre Augen blickten starr und fanatisch.

Miss Clement betrachtete sie mit einer Mischung aus Scheu und Ungeduld. Was ließ sich gegen eine solche Bastion blinden Eigenwillens ausrichten?

»Noch eine Frage gilt es zu bedenken, Louisa«, sagte sie. »Waren Sie jemals … ich meine, sind Sie … hatten Sie Verehrer, ehe Sie Ihr Elternhaus verließen? Haben Sie je an Heirat gedacht?«

»Natürlich nicht.« Louisa bedachte sie mit einem ungeduldigen Blick. »Sagte ich nicht, daß ich seit meinem sechsten Lebensjahr –«

»Ja, ja, ich weiß. Seit Ihrem sechsten Lebensjahr stand für Sie fest, daß Sie Missionarin werden würden. Damals lernten Sie eine alte Dame kennen, die vierzig Jahre zuvor in Felton eine aufwühlende Rede John Wesleys gehört hatte und seither nur den einen Wunsch hatte, nach Serampore zu gehen. Diesen Wunsch haben Sie sich nun zu eigen gemacht. Sie haben also nie mit dem Gedanken an Heirat gespielt?«

»Niemals.«

»Dennoch wäre es ja denkbar, daß es den einen oder anderen Verehrer gegeben hätte. Sie waren … warten Sie … sechzehn, als Sie Ihr Elternhaus verließen. Hatten Sie als Kind keine Spielkameraden unter den Knaben der Umgebung, keine Tanzpartner bei ländlichen Bällen?«

Miss Winships Lippen kräuselten sich verächtlich.

»Wir besuchten die Assembleen in Hexham, dort traf man junge Burschen aus der Gegend, rotgesichtige Bauerntölpel. Einer von ihnen, John Chibbur, trat an mich heran, ehe er Meg seinen Antrag machte. Dann war da noch Robbie Carey, aber dem habe ich sehr bald den Kopf zurechtgesetzt.«

»Soso. Wenn aber nun neue Verehrer auf den Plan treten?«

»Neue Verehrer?« wiederholte Miss Winship unbestimmt. Offenkundig war es ihr so gut wie unmöglich, ihre Phantasie soweit zu bemühen, daß sie sich in einen anderen Menschen hineinversetzen konnte. Das Ersinnen dieses Planes mußte sie tagelange geistige Mühen und über Wochen schlaflose Nächte gekostet haben. Kein Wunder, daß sie so bleich und abgespannt aussah. Sie bringt beste Voraussetzungen für den Missionarsberuf mit, dachte Alvey, denn es fällt ihr leicht, etwaige Gegenargumente der Heiden zu ignorieren.

»Es ist doch so, Louisa, daß Sie und ich – ich darf das ohne Eitelkeit feststellen, da die Gabe so gerecht verteilt wurde –, daß Sie und ich ein recht gefälliges Äußeres besitzen. Daß weitere Bewerber um Ihre Hand anhalten werden, ist schon deshalb möglich, ja, wahrscheinlich. Ihre Eltern rechnen gewiß damit, daß Sie eines Tages heiraten?«

»Sie hoffen es natürlich. Aber ich habe wiederholt – wann immer das Thema zur Sprache kam – deutlich gemacht, daß ich unwiderruflich entschlossen bin, nie in den Stand der Ehe zu treten. Mein Leben ist einem Höheren geweiht. Ich ermächtige Sie hiermit, alle Anträge dieser Art abzulehnen, solange Sie auf Birkland weilen.«

»Ergebensten Dank. Aber was wäre, wenn mich die Lust ankäme, einen solchen Antrag anzunehmen?«

Miss Winship machte ein recht verständnisloses Gesicht.

»Ich denke, Sie streben den Beruf der Schriftstellerin an? Weshalb sollten Sie den Wunsch haben, sich zu verehelichen?«

»Das eine und das andere ist nicht von vornherein unvereinbar«, stellte Alvey ihr vor. »Wir wissen von verheirateten Schriftstellerinnen. Madame d’Arblay beispielsweise, Mrs. Radcliffe …«

»Je nun … darüber müssen Sie natürlich selbst entscheiden, ich werde mich nicht einmischen, falls Sie eine Bindung eingehen … wenngleich ich sagen muß, daß ich gedacht hätte …«

»Aber begreifen Sie denn nicht«, sagte Alvey ungeduldig, »daß in so einem Fall, im Fall einer Verlobung, eine Fülle moralischer wie juristischer Probleme auftauchen würde? Sie hätten von Ihrem Vater zweifellos eine Mitgift zu erwarten …«

»Meg bekommt fünftausend Pfund mit, wenn sie sich mit John Chibburn vermählt, und ich glaube, diese Summe hat Papa für alle seine Töchter vorgesehen.«

Demnach, überlegte Alvey, lebt Mr. Winship offenbar in recht angenehmen Verhältnissen.

Louisa fuhr fort: »Aber ich verzichte auf das Geld. Bedenkenlos. Geld bedeutet mir nichts. Ebensowenig wie erfreulicherweise meinen Mitstreitern auf dem Felde der Mission, die bereit sind, mich ohne einen Penny in ihren Kreis aufzunehmen.«

»Aber ich kann doch unmöglich das Geld Ihres Vaters annehmen, auf das ich auch nicht den mindesten Anspruch habe.«

»Wenn ich es nicht haben will, warum sollten Sie es nicht nehmen?«

»Dann wollen wir uns zumindest darauf einigen, daß ich es auch nicht will«, sagte Alvey. »Ich mag mit Ihnen darüber nicht streiten, Louisa. Doch falls ich mich an Ihrem tollen Plan beteiligen sollte – was ich wohlgemerkt noch lange nicht zugesagt habe! –, dann nur für einen bestimmten Zeitraum.«

»Einen bestimmten Zeitraum?« wiederholte Miss Winship im Tone stärksten Mißfallens.

»Einen bestimmten Zeitraum«, bekräftigte Alvey. »Sagen wir ein Jahr. Nach Ablauf dieses Jahres stünde es mir frei, Ihren Eltern die wahre Sachlage zu enthüllen.«

»Das wäre heller Wahnsinn.« Der Gedanke brachte selbst Miss Winship ein wenig aus der Fassung. »Es wäre ziemlich wahrscheinlich Papas Tod. Und meine Mutter … ich … ich weiß beileibe nicht, was sie tun würde. Überdies würde man Ihnen nicht glauben, man würde Sie vermutlich nach Bedlam bringen, in die Irrenanstalt.«

»Nicht, wenn Ihre Schwestern meine Darstellung bestätigten«, erklärte Alvey.

»Ja so …« Louisa verarbeitete dies einen Augenblick schweigend. Halb zu sich sagte sie: »Ich würde es meinen Eltern durchaus zutrauen, daß sie in so einem Fall auch meine Schwestern ärztlichem Gewahrsam unterstellen würden …«

Lieber Himmel, dachte Alvey, was für ein Hauswesen erwartet mich da? Doch halt, ich habe ja gar nicht die Absicht, in diesem tollen Stück mitzuspielen. Wie konnte das Gespräch nur so weit kommen … Ich war wohl einfach neugierig, es reizte mich zu erfahren, wie weit ihre Pläne schon gediehen sind.

Neugier war in der Tat Alveys Gewohnheitssünde. Trotz ihrer festen Vorsätze konnte sie nicht verhindern, daß sie sich auf Spekulationen über diese unbekannte Familie Winship einließ – die Stellvertretereltern, -Schwestern, -brüder … jenes Haus im fernen Norden, der unbekannte Lebensraum, der sich ihr öffnen würde, als stünde er ihr zu … ihre Wirkung auf die Familie, jener Wirkung auf sie …

»Auf keinen Fall länger als ein Jahr«, wiederholte sie fest. »Bis dahin dürfte ich meinen Roman beendet und festgestellt haben, ob ich das erforderliche Talent für eine literarische Laufbahn besitze.« (Alvey hatte, gleich allen Anfängern, nicht die geringste Vorstellung davon, wie lange es häufig dauert, bis ein Verleger sich für oder gegen ein ihm unterbreitetes Manuskript entschieden hat.) »Inzwischen werden auch Sie zu entsprechenden Schlüssen hinsichtlich Ihrer Eignung als Missionarin gekommen sein.«

»Daran besteht schon heute nicht der mindeste Zweifel«, erklärte Miss Winship. »Ich habe mich, wie ich bereits mehrmals bemerkte, in dieser Sache ein für allemal entschieden, abgesehen davon, daß ich bereits zahlreiche Lehrbücher für Hindustani erworben habe.«

»So, haben Sie das? Nun, das war zweifellos praktisch gedacht.« Alveys Tonfall mochte einen leisen Zweifel an Louisas Befähigung verraten haben, ihren Plan durchzuführen. Miss Winship, überaus empfindlich wie alle Egoisten, brauste sogleich auf.

»Für Sie ist das alles eine Grille, eine kindische Laune, nicht wahr? Ein Märchentraum, der sich unter der heißen Sonne Bengalens in nichts auflösen wird. Doch da befinden Sie sich im Irrtum. Sie kennen sich in der menschlichen Natur nicht so gut aus, wie Sie sich einbilden, wenn Sie Tag für Tag mäuschenstill in Ihrer Ecke sitzen, mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt, uns beobachten und sich über uns erheben. Mein Elternhaus, Birkland Hall, wäre genau das richtige für Sie. Da könnten Sie nach Herzenslust beobachten und sich Geschichten in Fülle ausdenken. Mag sein, daß das Leben dort Sie befriedigt. Mich jedenfalls kann und wird es nie befriedigen. Müßte ich noch einen Monat, nein, auch nur eine einzige Woche dort verbringen – ich würde mich in den Fluß stürzen.«

Sie war den Tränen nah vor Zorn. Alvey hatte die gewöhnlich so gefaßte Louisa noch nie in so heftiger Erregung gesehen.

»Nur ruhig. Erregen Sie sich nicht so, ich bitte Sie. Weshalb um des Himmels willen meinen Sie, ich wollte mich über meine Mitmenschen erheben? Es ist gerade umgekehrt, glauben Sie mir. Ich verhalte mich still, weil ich es mir nicht zutraue, andere im Gespräch zu fesseln. Englische Mädchen lernen das schon von ihren Erzieherinnen. Ich hatte keine Erzieherin.«

»Schon gut«, sagte Louisa, noch immer zitternd und weinerlich. »Aber Sie werden mir helfen, nicht wahr? Sie können doch … können doch nicht so weit gehen, mir Hoffnungen machen und dann … Sie können jetzt nicht mehr zurück. Das wäre gar zu grausam und böse, wäre abscheulich und unchristlich.«

Ihre Lippen bebten, die Augen flehten. Und plötzlich sah sie nicht mehr wie zwanzig aus, sondern viel, viel jünger.

2

Die Reise in Englands Norden währte vier Tage. Sie ging zu Schiff vonstatten, und das gemächliche Tempo wurde noch verlangsamt durch das Anlaufen etlicher Häfen – Yarmouth, Grimsby, Hull und Whitby – und streckenweise durch frühherbstliche Stürme, die ohne die Munterkeit und gute Laune der Winship-Schwestern die Seefahrt höchst unerfreulich gestaltet hätten.

Meg und Isa waren, chaperoniert von der scheidenden Miss Waskerley, gen Süden gefahren, um ihre Schwester Louisa abzuholen und nach Hause zu bringen. Überdies hatte Meg sich in London für ihre im kommenden Monat stattfindende Hochzeit mit Garderobe versorgt, und Isa hatte so viele Museen und Kunstausstellungen besucht, wie ihre Gastgeberin, Lady Matfen, eine Base von Mrs. Winship, ihr zu bewilligen bereit gewesen war.

»Und das wären allenfalls drei gewesen«, sagte Isa schmunzelnd. »Glücklicherweise war Brierley, die Zofe meiner Base, gutem Zureden eher zugänglich …«

»Gutem Trinkgeld, meinst du«, bemerkte Meg.

»Je nun, ich habe ihr zwei Spitzenkragen und drei kleine Zeichnungen geschenkt, unter anderem ihr Porträt, und ich glaube, dafür hätte sie mich auch in die Kerker der Bastille begleitet. An den Elgin Marbles fand sie bedauerlicherweise keinen Gefallen, ansonsten aber war ihr Geschmack dem von Base Caroline weit überlegen.«

»– die nur Mode im Kopf hat – zu meinem Glück. Wenigstens drei Jahre werde ich in Northumberland in Modefragen tonangebend sein.« Meg sah zufrieden an dem neuen gelbgrünen Mantel herunter, der Teil ihres Trousseaus war und von Rechts wegen in ihren Reisekoffer gehört hätte, wäre nicht der scharfe Wind ein willkommener Vorwand gewesen, ihn umzulegen.

»Doch jetzt hört mir einmal zu«, sagte Isa.

Die drei Mädchen standen auf dem vollgepackten Deck des Küstenfrachters Bethia und sahen zu, wie die Klippen von Whitby langsam dem Blick entschwanden, während das Schiff sich durch die kabbelige Nordsee kämpfte. Mrs. Girvan, ihre Anstandsdame, eine Freundin Lady Matfens, deren Reiseziel Newcastle war, lag unten in der Kajüte, wo die Zofe ihr Riechsalz und Magentropfen verabreichte.

»Es trifft sich gut, daß Mrs. Girvan alles andere als seefest ist«, fuhr Isa fort, »denn wir müssen etwas überaus Wichtiges besprechen. Wie sollen wir Alvey nennen, wenn wir wieder auf Birkland sind? Schwerlich Louisa, das wäre ihr gewiß nicht recht, nicht wahr, Alvey? Und ich selbst fände mich recht peinlich an unsere Täuschung erinnert …«

»Sonderbar, daß du die Täuschung selbst nicht scheust, dir aber aus einer solchen Kleinigkeit ein Gewissen machst«, wunderte sich Meg.

Alvey musterte sie nachdenklich.

Meg war entschieden hübscher als ihre Schwestern, schlanker und kleiner als Louisa, mit dem gleichen dunklen Haar, den gleichen dunklen Augen, aber zarterer Haut, weicheren Zügen, alles in allem weiblicher in Gesichtsschnitt und -ausdruck. Die glänzenden Haare waren über der Stirn zu einem Lockentuff frisiert, sie hatte eine kurze, zierliche Nase und ein leises, verschwörerisches Lächeln. Dennoch besaß auch sie etwas von Louisas Zielstrebigkeit und Schärfe, was sie allerdings meist, wie Alvey schon gemerkt hatte, zu verbergen trachtete. So, wie Meg aussah, nahm es nicht wunder, daß sie als erste der Winship-Töchter einen Mann gefunden hatte. Um die Heiratschancen der armen Isa war es wohl recht traurig bestellt, das hatte sie selbst mit einem etwas kläglichen Lächeln bestätigt.

»Ich bin das Aschenputtel, weißt du, von mir wird erwartet, daß ich brav zu Hause bleibe und all die Aufgaben übernehme, für die Mama keine Zeit hat. Deshalb hat man mir eine Reise nach London bewilligt und etwas Geld für Zeichenmaterial, anstelle einer Hochzeit …«

Dabei, dachte Alvey ärgerlich, brauchte Isa gar nicht einmal so unscheinbar auszusehen, wenn man etwas für ihren Teint täte, der in der Tat eine Katastrophe war. Und für ihre schlechte Haltung, die runden Schultern … und wenn man ihr Haar anders frisierte … Denn die braunen Augen blickten herzlich und offen, die Stimme war leise und melodisch, sie verriet Humor und eine überraschende Sicherheit. Vielleicht eben deshalb, weil ihr Schicksal so klar vorgezeichnet schien?

»Du kannst leicht moralische Reden führen, was den Rollentausch angeht«, sagte sie zu Meg. »Bald bist du uns alle los und kannst dir Birkland und unsere Gewissen aus dem Kopf schlagen.«

Alvey überlegte, daß ihre Lage noch viel peinlicher und verdrießlicher gewesen wäre, hätten die beiden Schwestern sie nicht so leidenschaftslos erörtert. Sie hatten Louisas Mitteilung, daß sie fest entschlossen sei, sich unverzüglich mit Mr. und Mrs. Tothill nach Indien einzuschiffen, ohne die mindeste Überraschung aufgenommen, hatten für lange Zeit, vielleicht für immer Abschied von ihrer Schwester genommen und Alvey mit jener Gefaßtheit, die Zeichen einer bewunderungswürdigen Kinderstube ist, an Louisas Statt angenommen. Louisa mochte sie wohl, dachte Alvey bei sich, durch Andeutungen in ihren Briefen seit einiger Zeit auf einen solchen Schritt vorbereitet haben.

»Ich habe nicht den Eindruck«, sagte Meg zu Isa, »daß dein Gewissen dich in dieser Sache allzusehr plagt.«

»Ja, weißt du, wenn ich mir überlege, was für ein Gewinn es ist, wenn Louisa nun in die weite Welt hinausgehen kann, um die Heiden zu bekehren, ist doch wohl mein Gewissen ein recht geringer Preis. Und denke, wie lästig uns eine übellaunige, unzufriedene Louisa daheim gefallen wäre. Den Kleinen brauchen wir wohl gar nichts zu erzählen, was meinst du? Nish und Betsey und Tot haben Louisa schwerlich noch in Erinnerung, und wenn wir Parthie einweihen, könnte es sein, daß sie eine ihrer scheinheiligzuträgerischen Anwandlungen bekommt …«

»Wie damals, als das Gewissen sie trieb, Mama zu verraten, daß James zu den Rennen nach Blaydon gefahren war. Wir werden Parthie im Auge behalten müssen, soviel ist sicher. Es trifft sich gut, daß sie danach giert, beachtet und anerkannt zu werden …«

»… da sie für Mama zeitlebens Luft gewesen ist …«

»… wie wir alle, aber Parthie hat es härter getroffen. Vielleicht wegen ihrer Beine. Armes Kind. Wenn wir ihr ein wenig schöntun, ihr Gelegenheit geben, hin und wieder mit ›den Großen‹ gemeinsame Sache zu machen, können wir ihrer Gefälligkeit gewiß sein.«

Alvey hörte sich diese erhellenden Äußerungen über ihre Ersatzfamilie mit großem Interesse an. Die Distanz in der Stimme der sanften Isa machte sie ein wenig betroffen, und das sah man ihr an.

»Laß dich nicht schrecken, Alvey. Du darfst mir glauben, daß wir sehr glücklich über unsere neue Schwester sind.« Isa schob freundschaftlich ihre Hand unter Alveys Arm. »Die Frage ist nur: Wie sollen wir dich nennen?«

»Louisa wurde von ihren Freundinnen im Pensionat Emily genannt, das ist ihr zweiter Name, nicht wahr? Könntet ihr vielleicht Emily zu mir sagen? Das wäre ein vertrauter Klang, Emily war auch der zweite Name meiner Mutter.«

»Das trifft sich gut. Die Großtante unserer Mutter hieß Emily. Mama wird sich freuen, wenn der Name wieder bei uns auftaucht. ›Louisa‹ kam aus der Familie meines Vaters.«

»Wir werden Emmy zu dir sagen«, entschied Isa. »In unserer Familie liebt man Abkürzungen.«

In diesem Augenblick erklomm Mrs. Girvans Zofe die Kajüttreppe und rief: »Miss Winship, Miss Winship, könnten Sie wohl mal eben nach der gnä’ Frau sehen? Sie fühlt sich recht elend und verlangt nach Ihnen.«

Seufzend folgte Meg ihr nach unten in die stickige Kajüte.

»Arme Meg«, sagte Isa munter. »Weil sie so hübsch ist, meinen alle, sie sei auch gutherzig.«

»Ist sie das nicht?« fragte Alvey überrascht. »Zu mir ist sie immer äußerst liebenswürdig.«

»Ja, freilich, weil sie sich genötigt sieht, entsprechende Erwartungen, die in sie gesetzt werden, zu erfüllen. Aber es ist ihr nicht angeboren.«

Während Alvey dies noch verarbeitete, rüttelte Isa sie sanft am Arm.

»Schau nicht so niedergeschlagen drein. Louisa hat dich in ihrer Selbstsucht in eine recht zweifelhafte Lage gebracht. Du fragst dich vermutlich, warum sie nicht einfach mit den Tothills durchgebrannt ist. Doch dann hätte es Prozesse gegeben, einen Skandal, man hätte sie mit Schimpf und Schande zurückgeholt, und das hätte ihr ganz und gar nicht gepaßt. Hab keine Angst, mit vereinten Kräften wird es uns gelingen. Und ich freue mich wirklich sehr, daß du nach Birkland kommst. Wie schön für mich, eine neue Gefährtin zu haben. Lou und ich haben uns nie verstanden, du und ich aber werden gute Freundinnen werden, das spüre ich. Ich stelle mir vor, daß es viele Dinge gibt, die du zum Lachen findest?«

Wie mochte sie das erraten haben?

»Meine Schwester Maria – sie war mir vom Alter her am nächsten – und ich haben immer vieles gefunden, worüber wir zusammen lachen konnten, aber sie ist vor zwei Jahren am Typhus gestorben, in der Schule von Hexham war eine Epidemie ausgebrochen.« Isas Stimme klang fast unbeteiligt, aber es war ihr anzumerken, daß diese äußere Ruhe ein Ergebnis der Selbstbeherrschung war und nicht einem Mangel an Gefühl entsprang. »Meg hat nie Zeit zum Scherzen, sie schlägt unserer Mutter nach. Und Louisa … aber Louisa kennst du ja …«

»Eine junge Dame mit hehren Grundsätzen«, sagte Alvey halblaut.

»So hehr, daß einem in ihren erhabenen Höhen nur zu leicht schwindlig werden kann. Ohne Zweifel wird sie sich in Serampore bewähren. Für sie war es ein beispielloser Glücksfall, daß du in die Abbey School kamst und deine Bedürfnisse sich so gut mit den ihren in Einklang bringen ließen.«

»Meine Käuflichkeit«, murmelte Alvey.

»Papperlapapp. Louisa freilich schreibt diesen Gang der Ereignisse dem unmittelbaren Eingreifen der Vorsehung zu. Ich wünschte, mein Selbstbewußtsein erlaubte es mir zu glauben, die Vorsehung nähme derart lebhaften Anteil an meinen Angelegenheiten.«

»Waren deine Eltern nicht überrascht, als Louisa ihnen schrieb, sie würde am Ende des Schuljahrs heimkommen, und nichts mehr von ihrem Wunsch verlauten ließ, Missionarin zu werden?«

»Nicht im mindesten. Mein Vater und meine Mutter haben Louisas Wünsche nie ernst genommen. Mama interessiert sich überhaupt nicht für die Wünsche und Ziele anderer, und mein Vater hielt die Sache natürlich von Anfang an für eine törichte weibliche Laune, die von selbst vergehen würde, wenn man sie unbeachtet ließe. Der Brief war im übrigen äußerst geschickt formuliert – er enthielt von Anfang bis Ende keine einzige Lüge. Gehe ich recht in der Annahme, daß du ihn konzipiert hast? So erfinderisch könnte Louisa nie sein.«

»Ich habe ihn nicht nur konzipiert, sondern sogar geschrieben«, gestand Alvey. »Zum Glück legt Mrs. Camperdowne so großen Wert auf eine gestochene Handschrift, daß sich unsere Schriften kaum voneinander unterscheiden.«

»Und du willst wirklich Schriftstellerin werden, willst Romane schreiben? Das ist ein großes Ziel. Jetzt, da ich dich allmählich ein bißchen näher kennenlerne, glaube ich wohl, daß du es erreichen könntest. Mir scheint, du hast eine gute Beobachtungsgabe und ein großes Maß an Selbstbeherrschung. Hast du schon viel geschrieben?«

»Nie etwas Längeres. In der Abbey School hatte ich wenig Zeit, ich habe nicht nur selbst gelernt, sondern auch schon unterrichtet. Ein paar Gedichte, Erzählungen und Aufsätze, wie es alle Mädchen machen …«

»Nicht in unserer Familie«, lachte Isa.

»Wären deine Eltern über eine solche Entdeckung sehr schokkiert? Werden sie ebenso schlecht darüber denken wie über Louisas Drang, die Heiden zu bekehren?«

»Nein, nein, bei weitem nicht. Daß es schriftstellernde Damen gibt, ist mittlerweile ja bekannt. Ich erinnere an Madame de Genlis, Miss Owenson, Miss Sykes, Hannah More … Miss Waskerley hat eifrig die Romane aus der Leihbücherei in Hexham gelesen – Leiden einer Erbin, Der Schwarze Räuber, Der geheimnisvolle Baron, Die Todeskammer, Die deutsche Hexe, Die Schrecken von Oakendale Abbey –, und wenngleich Mama so etwas nie las, ja, solche Bücher als Firlefanz abtat, hat sie es uns nie untersagt, wenn wir unbedingt unsere Zeit damit vergeuden wollten.«

Sehr ermutigend fand Alvey das nun gerade nicht, doch sie tröstete sich damit, daß ihr Werk auf einer sehr viel höheren Stufe stand als Miss Waskerleys Lektüre.

»Du glaubst also nicht, daß deine Eltern allzu betrübt, allzu böse wären, wenn ein Roman von mir gedruckt erscheinen würde?«

»Je nun«, sagte Isa zurückhaltend, »das läßt sich so natürlich nicht sagen. Dieser Fall wäre, ehrlich gesagt, in unserer Familie so unerhört, daß ich unmöglich voraussagen kann, wie man reagieren würde. Aber du würdest doch dein Buch ohnehin unter einem Pseudonym veröffentlichen, nicht wahr? Dann könnte ja auch kein Schatten auf die Familienehre fallen.«

»Ja, natürlich«, lachte Alvey. »Falls ich überhaupt einen Verleger finde.«

»Wenn ich es recht überlege«, fuhr Isa fort, »brauchen sie von deiner Schriftstellerei zunächst überhaupt nichts zu erfahren. Du könntest deine Korrespondenz über Mr. Allgood leiten, dem die Buchhandlung von Hexham gehört, er ist ein guter Freund unserer Familie, von dem wir weit mehr über gute Literatur gelernt haben als von Miss Waskerley. Louisa hat gelegentlich Briefe an mich und Meg zu seinen Händen gesandt. Doch da langweile ich dich mit meinem Gerede über die Winships, dabei weiß ich so gar nichts über dich. Sei so lieb und erzähle mir deine Geschichte, sie ist gewiß sehr aufregend im Vergleich mit unserem eintönigen ländlichen Dasein an der nördlichen Grenze. Von Louisa weiß ich, daß du aus New Bedford in Massachusetts stammst. Hast du dein ganzes Leben dort verbracht? Ist es eine hübsche Stadt?«

Alvey dachte an das Städtchen am Berghang, die grasbewachsenen Sträßchen, die Holzhäuser, von denen nur einige wenige geteert, die anderen schutzlos den Unbilden der Witterung ausgesetzt waren, das Gewirr der Masten unten im Hafen. Das größte und schönste Haus dort schien klein und bescheiden im Vergleich mit der englischen Architektur, den Stein- oder Ziegelbauten, bemoost, efeuberankt, seit Hunderten von Jahren der Landschaft angepaßt. Sie dachte an die kurvenreichen englischen Straßen zwischen den kleinen Feldern, die alle so eigenartig geformt, wahrscheinlich nach irgendwelchen alten, wohl bis in angelsächsische Zeit zurückreichenden Besitzrechten zugeschnitten waren, an die sechs bis zehn Fuß hohen Böschungen und die dazwischen unter dem Schritt von Generationen immer tiefer eingesunkenen Wege. »Warum habt ihr eure Straßen so tief in den Boden gegraben?« hatte sie in der ersten Zeit im Pensionat eine Mitschülerin gefragt und hatte die Erklärung zunächst kaum glauben mögen: »Sie sind nicht eingegraben, sondern ausgetreten.« Die amerikanischen Knüppeldämme waren flach und gerade, sie lagen in der Landschaft wie Lineale.

Wie sollte man auch nur annähernd den Unterschied zwischen dem guten alten England und dem Neu-England dort über dem Meer beschreiben?

Doch Isa fuhr fort: »Und erzähl mir von deinen Eltern. Wie alt warst du, als du sie verlorst? Louisa schrieb uns, ein Vormund hätte dich erzogen und an die Abbey School geschickt. War es ein Verwandter? Oder ein Freund der Familie?«

»Ich … ich habe meine Eltern verloren, als ich zehn war.« Dankbar griff Alvey Isas Wortwahl auf, die ihr die Antwort erleichterte. Es war ein schmerzliches Thema für sie, das sie nach Möglichkeit mied.

»Aber du kannst dich deutlich an sie erinnern?«

»Gewiß. Sie waren sehr … sehr anspruchslos. Sehr fromm. Sie hatten zunächst der Gesellschaft der Freunde, den Quäkern, angehört, waren danach Unitarier gewesen und schlossen sich dann einer Sekte an, den sogenannten Universalisten.«

»Einer christlichen Sekte?« fragte Isa leicht besorgt.

»Ja, gewiß. Sie waren sehr gläubig. Sehr liebe, selbstlose Menschen.« Alvey hielt inne, überlegte und setzte hinzu: »Aber von jener großen inneren Kraft beseelt, die dem festen Glauben an die eigenen Grundsätze entspringt.«

»Wie Louisa«, sagte Isa schmunzelnd. »Und das hat es dir sicher leichter gemacht, dir über ihren Charakter klarzuwerden.«

»Mag sein. Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen.«

Kein Wunder, daß ihr Louisa irgendwie vertraut vorgekommen war. Doch hatten Mutter und Vater – oder Sarah und Paul, wie sie sich von der Tochter nennen ließen – viel mehr echtes Gefühl, wahre Frömmigkeit besessen als Louisa, die Alvey immer oberflächlich und egoistisch vorgekommen war. Wie tief ihr Kummer – oder zumindest der Mutter Kummer – gewesen war, als …

»Aber das Leben in einer Missionsstation wird vermutlich Louisa bald genug lehren, ihre Grundsätze den Notwendigkeiten des Alltags anzupassen«, fuhr Isa vergnügt fort. »In Serampore dürften ihr noch einige Überraschungen bevorstehen. Jetzt erzähl mir von deinem Vormund, Alvey.«

»Es war eine Frau, meine Base Hepzibah Babcock. Meine Eltern waren beide Einzelkinder, und ihre Eltern waren jung gestorben, so daß ich nur wenige Angehörige habe. Die Familie meines Vaters, die Clements, kam aus Devon, einer meiner Ahnen ist John Clement, ein Schützling von Sir Thomas More. Er wurde Präsident des Royal College of Physicians, flüchtete später ins Exil nach Louvain und rettete dorthin auch etliche von Mores Abhandlungen und Briefen, unter anderem A Dialogue of Comfort against Tribulation. Er starb im Exil.«

»Ein imponierender Vorfahre. Kein Wunder, daß deine Eltern fromme Menschen waren.«

»Die Alveys, meine Verwandten mütterlicherseits, kamen aus Lincolnshire, aber von ihnen ist mir weiter nichts bekannt.«

»Und deine Base Hepzibah?«

»Eine respekteinflößende Dame.« Alvey lächelte ein wenig, als sie an die Atmosphäre eisiger Mißbilligung dachte, in der sie aufgewachsen war. Drei Jahre hatte es gedauert, bis sie begriff, daß diese Mißbilligung nicht ihr, sondern ihren Eltern galt. »Aber sie hat es sehr gut mit mir gemeint und keine Mühe gescheut, mir eine gute Ausbildung zu ermöglichen.«

»War sie wohlhabend?«

»Keineswegs. Ihr Mann, ein leichtsinniger Mensch, war mit großen Erwartungen in die Neue Welt ausgewandert und vergeudete sein ganzes Vermögen an Unternehmungen, denen kein Erfolg beschieden war. Sie waren schon fast völlig verarmt, da legte meine Tante den bescheidenen Rest der gemeinsamen Ersparnisse in einer Fuhre Krämerwaren an, die sie in ihrem Haus verkaufte. Mein Großonkel war zutiefst in seiner Ehre getroffen und ging an der Schmach zugrunde, doch Base Hepzies Geschäfte florierten, und aus den Erträgen des Krämerladens konnte sie mein Schulgeld bezahlen. ›Den Stolz hat man umsonst, das Brot muß man kaufen, Sarah‹, pflegte sie zu sagen.«

»Ist sie noch am Leben?«

»Nein, sie starb vor zwei Jahren. Ich war damals schon an der Abbey School. Mein Schulgeld war bis zum Ende jenes Jahres bezahlt, und Mrs. Camperdowne bot mir freundlicherweise an, mich zu behalten, wenn ich gegen Kost und Logis den jüngeren Mädchen Unterricht gäbe.«

»Du hast also Base Hepzie nie wiedergesehen«, sagte Isa nachdenklich.

»Nein, und das ging mir recht ans Herz. Mittlerweile waren wir einander sehr gut.«

Voller Betrübnis erinnerte sich Alvey an den Abschied. Sie sah die unbeugsame alte Dame im Schneetreiben zwischen dem Gewirr von Fässern und Seilrollen am Kai von New Bedford stehen, klein und zart, aber kerzengerade unter ihrem alten Regenschirm, in verblichenes Schwarz gekleidet, mit blitzenden blauen Augen. »Sieh zu, daß du genug lernst, um eine unabhängige Frau zu werden, Sarah«, hatte sie ihr zugerufen, dann hatte sie sich umgedreht und war in das Schneetreiben hineingestapft. Ein Hafenarbeiter rief ihr etwas Despektierliches nach, und sie schoß eine so vernichtende Antwort zurück, daß er dunkelrot wurde und ihr mit offenem Mund nachsah. Noch heute tat es Alvey leid, daß sie nicht wußte, was Base Hepzie zu ihm gesagt hatte.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und fröstelte ein wenig.

»Es wird kalt«, sagte Isa. »Jetzt müssen wir wohl in diese abscheulich stickige Kajüte hinuntergehen. Es wird Mitternacht werden, bis wir in Tynemouth einlaufen.«

»Und was fangen wir dort an?«

»Mrs. Girvan übernachtet im Dean Gate Hotel und reist dann nach Morpeth weiter. So werden wir es wohl auch machen, wenn uns Papa nicht Archie mit der Kutsche geschickt hat. An solche Kleinigkeiten denkt Papa nicht immer, wenn es um uns Mädchen geht.«

 

Doch diesmal hatte Sir Aydon daran gedacht. Als die Passagiere der Bethia steif, verschlafen und verfroren an Land gerudert worden waren (denn die Untiefen vor der Mündung des Tyne waren so gefährlich, daß die Schiffe in der Fahrrinne ankern mußten, Waren und Passagiere wurden in flachen Kähnen ausgeschifft), rief Meg, die schärfere Augen hatte als Isa: »Da ist Archie, ich sehe ihn. Archie, Archie, hier sind wir mit Miss Louisa und einer ganzen Ladung Gepäck. Beeil dich, wir sind halbtot vor Kälte.«

Ein Mann in schwerem Mantel stapfte zu ihnen herüber und überschüttete Meg mit einer Flut knurriger Vorwürfe, von denen Alvey nicht ein Wort verstand.

O Himmel, dachte sie, wie soll ich mich je mit den Dienstboten unterhalten oder sie auch nur verstehen, wenn sie alle so reden wie der da? Ein unerwartetes Hindernis, in der Tat! Was ist das aber auch für eine Mundart! So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.

Meg und Isa schienen keine Mühe zu haben, Archies Vorhaltungen zu verstehen, nahmen sie sich aber offenbar nicht sonderlich zu Herzen.

»Er hat fünf Stunden warten müssen, sagt er, aber schließlich ist es ja nicht unsere Schuld, wenn das Schiff Verspätung hatte. Und er hat sich die Zeit nicht lang werden lassen, der Geruch nach Porter ist unverkennbar. Knurre nicht, Archie. Das da drüben sind alles unsere Sachen. Komm in die Chaise, Alv – Emmy, du mußt halb erfroren sein.«

»Und Mrs. Girvan?«

»Befindet sich wohl, die Zofe hat ihr eine Mietkutsche geholt. Wie gut, daß wir das alte Klageweib los sind. Meg wird, wenn wir daheim sind, einen höflichen Dankesbrief verfassen, und wir werden alle unterschreiben. Rasch, nimm das Schaffell um, Archie kümmert sich um die Koffer.«

»Wie soll ich je verstehen, was er sagt?«

Isa lachte. »Ja, dieses kleine Problem hatte ich ganz übersehen. Es heißt, dem Teufel selbst habe es so viel Mühe gemacht, den Tyneside-Dialekt zu erlernen, daß er schließlich daran verzweifelt sei. Du wirst verbreiten müssen, du hättest ihn in den Jahren im Süden verlernt. Aber du wirst dich bald hineinhören. Die Dienerschaft spricht die Mundart im allgemeinen nicht ganz so breit wie Archie.«

Nach langer, ermüdender Wartezeit war das Gepäck zusammengesucht und verstaut, Archie schwang sich auf den Bock und ließ die Peitsche knallen, und dann rumpelten sie über das Kopfsteinpflaster davon. Alvey nahm von der Stadt Newcastle kaum etwas wahr außer einer schwarzen Masse von Gebäuden, in denen zu dieser fahlen, frühen Stunde kein Licht brannte. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und rollten zwischen dunklen, stillen Feldern dahin. Die trotz der geschlossenen Wagenfenster hereindrängende Luft war bitter kalt, viel kälter als im Süden, Alvey war froh um das dicke Schaffell, in dem sie steckte. Meg hatte sich in ihre Ecke gelehnt und schien zu schlafen, Isa aber, die den Platz zwischen ihr und Alvey hatte, saß kerzengerade da und spähte erwartungsvoll in die Dunkelheit hinein.

»Ich freue mich so auf daheim!« gestand sie. »Wie Louisa es all die Jahre in der Fremde ausgehalten hat … und dann nach Indien zu reisen, ohne noch einmal nach Birkland zu kommen … Mir wäre es unerträglich, an einem anderen Ort als in Northumberland zu leben.«

»Ist Northumberland denn etwas so Besonderes? In welcher Hinsicht?«

»Du wirst schon sehen. In jeder Hinsicht. Die Luft, die Bäume, die Landschaft. Da unten im Süden«, sagte Isa verächtlich, »wirkt alles so verschwommen und formlos. Und die Luft ist dumpf und stickig, als sei sie schon tausendmal geatmet worden. Hier im Norden aber … Du als Schriftstellerin wirst die Unterschiede so viel besser darstellen können als ich. Wie ich mich darauf freue, das alles mit deinen Augen zu sehen. Und die Mitglieder unserer Familie … du wirst sie gewiß alle porträtieren? Das mag lustig werden! Wirst du Geschichten über uns schreiben?«

»Gewiß nicht.« Alvey mußte insgeheim über diese Naivität lächeln. Gewöhnliche Menschen konnten offenbar nicht begreifen, daß Schriftsteller nicht wie Elstern nach allem picken, was herumliegt und es so, wie es ist, in eine Erzählung übernehmen. Wie sollte sie Isa erklären, ohne sie zu kränken, daß die köstliche, komische, romantische Geschichte, die in ihrem Kopf bereits feste Formen angenommen hatte, mit dem alltäglichen (wenn auch für sie selbst zweifellos überaus fesselnden) Tun und Treiben der Winship-Sippe nicht das mindeste zu tun hatte, zu tun haben durfte?

»Denk doch nur, wie gefährlich es wäre, wenn ich euch alle so beschreiben wollte, daß ihr mühelos wiederzuerkennen wärt«, fügte sie hinzu. »Dann hätten deine Eltern guten Grund, mir zu grollen.«

»Aber wenn du nicht über uns schreibst«, sagte Isa verwundert, »worüber willst du denn dann schreiben?«

»Einfälle habe ich genug.« Alvey dachte liebevoll an ihren Helden. Seine Liebenden, der lockere Lord … Ihre letzten Worte endeten in einem Gähnen, und auch sie lehnte sich in ihre Ecke zurück, eingelullt durch das Schwanken der Kutsche und das eintönige Trappeln der Hufe auf der steinigen Straße. Isa aber blieb aufrecht sitzen und spähte begierig ins Land hinein, während hinter ihnen im Osten der Himmel allmählich blasser wurde und vor ihnen eine karge, schroffe Landschaft aus dem Dunkel auftauchte.

Als es heller geworden war, wandte Archie sich um und warf ihnen ein paar knurrig-gutturale Worte zu, wie man Hunden einen Knochen zuwerfen mag, den sie eigentlich nicht verdienen.

»Was sagt er?« flüsterte Alvey.

Meg murrte nur ärgerlich und rückte sich zurecht, um weiterzuschlafen.

»Meg ist es gleich, sie haben sich immer gestritten, aber ich finde es wunderschön«, gab Isa in freudigem Flüsterton zurück, und durch das offene Fensterchen rief sie: »Ist das wirklich wahr, Archie? Du hältst uns nicht zum Besten?«

»Ne, ne, hat er nich eigens n Brief an den Herrn geschrieben?«

»Wann kommt er, Archie?«

»Samstag in ner Woche.«

»So bald? Wie ich mich freue!«

»Wer kommt?« wollte Alvey wissen.

»Du wirst so tun müssen, als ob du ihn nicht magst, er und Louisa lagen sich ständig in den Haaren. Auf keinen Fall darfst du zu freundlich zu ihm sein, das würde alle sehr befremden und ihn auch, und er und mein Vater stehen sich so nah, daß wir ihn besser nicht in die Täuschung einweihen. Es wäre zu schwierig für ihn …«

»Ja, für wen denn nur, Isa?«

»Für unseren Bruder James. Eigentlich ist er unser Halbbruder, seine Mutter starb bei der Geburt, und im Jahr darauf nahm Papa Mama zur Frau, weil er eine Mutter für ihn haben wollte, aber sie hat James nie sehr gemocht.«

»Sie zieht ihre eigenen Kinder vor?«

»Sie interessiert sich überhaupt nicht für Kinder, nur wenn sie ganz klein sind, und so hat sie ja James nie erlebt.«

Vor ihnen – jetzt in hellem Tageslicht – lag eine gebirgige Landschaft mit sacht ansteigenden und jäh abfallenden Höhenzügen. Auf den Höhen standen Gehölze mit krummen, windgezausten Bäumen, die bereits ihre Blätter verloren hatten, und von Höhe zu Höhe lief eine hohe steinerne Befestigung, eine Palisade aus brökkelndem grauem Granit, verschwand hinter dem einen Gipfel, kam hinter dem nächsten wieder hervor, zog sich in kühnen Steigungen an fast senkrechten Hängen hinauf.

»Was in aller Welt ist das?« staunte Alvey.

»Pst, du mußt lernen, deine Zunge im Zaum zu halten«, mahnte Isa und deutete auf Archie.

»O Himmel, ja, du hast ganz recht. Und ich war so stolz auf meine Besonnenheit.« Alvey errötete beschämt.

»Laß gut sein, Archie ist stocktaub.«

»Aber was ist das für ein erstaunliches Bauwerk?«

»Das ist der Römerwall. Kaiser Hadrian hat ihn zum Schutz vor den Pikten und Schotten gebaut. Er steht seit zweitausend Jahren.«

3

Nish und Tot waren immer früh auf, aber am Morgen des Tages, an dem ihre Schwester Louisa zurückkommen sollte, erwachten sie noch früher als gewöhnlich, noch ehe es hell geworden war.

Nish öffnete zuerst die Augen und horchte dem Wasser des Hungry Burn nach, der auf Birkland Hall des Nachts, wenn die anderen Geräusche verstummt waren, immer zu hören war, ein stetiges einlullendes Gemurmel, eine nimmer endende, natürliche Melodie. Heute, nach den nächtlichen Regenfällen, war sie besonders laut. Das Wasser wird bis an die Wurzeln der Weiden und Erlen heranreichen, dachte Nish, und unsere Inseln werden halb untergegangen sein, wir werden sie wieder herrichten müssen. Es wird dunkelbraunes Wasser sein, dunkler als Tee, das allerlei Zweige und Treibgut mitgebracht hat, vielleicht sogar ein totes Schaf. Und das Ufergras wird seitlich im Wasser treiben, und nur die Oberseite der Trittsteine wird herausschauen.

Sie holte ihr Tagebuch unter dem Kopfkissen hervor und notierte mit dem Datum des Vortages:

»Disen Tack recht wol verbracht mit der Inspexion unserer Gühter. Den gantzen Tag hart gearbeittet.« Ihre Orthographie war äußerst eigenwillig.

Dann lehnte sie sich zu ihrem Bruder herüber und gab ihm einen Stups. »Wach auf.«

»Ich bin schon wach«, sagte er und öffnete die Augen.

»Wir müssen aufstehn. Heut kommt Louisa.«

»Ich weiß. Deshalb war ich ja wach.«

Die beiden hatten ein gemeinsames Zimmer am Ende des Hauses im zweiten Stock. Es traf sich gut für sie, daß an der nächsten Ecke eine Dienstbotentreppe zu einem Seiteneingang im Erdgeschoß führte, was ihnen schon so manchen unbemerkten Ausflug zu früher Stunde oder eine späte Heimkehr ermöglicht hatte.

Sie fuhren rasch in ihre Sachen, wobei Tot hin und wieder seiner Schwester mit freundlicher Ungeduld zur Hand ging, beim Schnüren der Unterrockbänder im Rücken etwa oder beim Befestigen des Brusttuchs. »Zieh die Schuhe nicht an, das macht zu viel Lärm, nimm sie so mit nach unten. Eil dich, ich höre schon Annie kommen.«

Barfuß, die Schuhe in der Hand, stahlen sich die Kinder die gescheuerte Holztreppe hinunter und über einen mit Steinplatten ausgelegten Gang, vorbei an Vorratskammern und Servierräumen, in die große warme Küche. An einer Wand standen mehrere Herde, zwei Feuer waren sorgfältig mit Asche zugedeckt, um die Glut über Nacht zu bewahren. Hier war schon jemand am Werk gewesen. Eine Portion dünner Haferkuchen lag zum Trocknen und Härten auf Rosten. In Schüsseln ruhten runde Teiglaibe, die vor der Esse aufgehen sollten. Es roch anheimelnd nach Hefe und Teig.

Den Kindern lief das Wasser im Mund zusammen, aber sie hatten es eilig, aus dem Haus zu kommen, und hielten sich nicht in der Küche auf. Immerhin griffen sie sich ein paar knusprige Haferkuchenkrusten, die niemand vermissen würde.

»Rasch«, zischelte Tot. »Jemand kommt über den Gang.«

Sie huschten zu einer Tür, die zum Hinterausgang führte, und traten auf den Stallvorplatz. Im Winter wurde er zu einem Morast, den man nur mit Schaftstiefeln oder Holzpantinen bewältigen konnte. Im Augenblick lag ein Netzwerk sommerlicher Unkräuter – Rainfarn, Ampfer und Wegerich – wie eine Plattform über dem Schlamm. Hühner pickten darin herum, und auf dem Stalldach flatterten und gurrten Tauben. Die Kinder spürten mit Vergnügen die Nässe unter den nackten Sohlen und gaben sich keine Mühe, der feuchtweichen Masse aus dem Weg zu gehen, obschon sie nach dem nächtlichen Regen eiskalt war.

An der Hofecke, wo ein Tor und ein Pfad auf das Weideland und hinunter zum Bach führten, liefen sie der rothaarigen Annie Herdman in die Arme, der Amme ihrer Schwester Katie.

»Schnell in die Geschirrkammer«, flüsterte Tot, aber Nish sagte: »Annie verklagt uns nicht!« und ging zuversichtlich weiter. Annie zeigte sich in der Tat nicht überrascht darüber, die beiden schon so früh auf zu sehen, sondern sagte: »Habt ihr nich Klein Geordie gesehn, Kinder? Eben hat er hier noch gespielt, an der Pferdetränke. Ich war nur eben ne Minute weg, um nen Krug Milch zu holen …«

»Nee, wir haben ihn nich gesehn, Annie«, erwiderte Tot, wie von selbst in ihre Mundart verfallend.

»Ich hab so Angst, daß er ans Wasser gegangen is«, meinte Annie besorgt. »Ganz wild is er mit seiner Wasserplanscherei.«

»Wenn wir ihn sehen, schicken wir ihn zurück«, versprach Nish.

»Ja, holt ihn mir zurück, Mädchen, er is man noch so klein und soll nich allein draußen rumlaufen.«

Sie nickten und liefen weiter und hatten, sobald sie um die Ecke waren, Annie und ihren Sohn schon vergessen. Der ausgefahrene Fahrweg zog sich zwischen dem Obstgarten und dem Weideland hin. Die Kinder wandten sich dem Obstgarten zu, kletterten ein paar in die Trockenmauer eingelassene Stufen hinauf und stopften sich die Taschen mit kleinen Äpfeln voll. Dann eilten sie weiter zu einer Furt durch das Bächlein, einen Nebenlauf des Hungry Water. Hohe lohfarbene Gräser und dunkelgrüner Ginster säumten die steinigen Ufer. Von hier aus war das Haus nicht mehr zu sehen, die Wirtschaftsgebäude und ein Eschen- und Platanengehölz verdeckten es.

Am Bach stellten sie wie erwartet fest, daß die an der Furt für die Gespanne gelegten Trittsteine nahezu unter Wasser standen, nur die Oberfläche schaute aus der strudelnden, klaren, dunkelbraunen Flut hervor. Nish benutzte aus Prinzip die Trittsteine, geschickt mit bloßen Füßen von einem Stein zum nächsten springend. Tot watete ins Wasser, das ihm bis an die Schenkel reichte. Er blieb einen Augenblick stehen, um die Nankinghosen hochzuziehen und die Schnallen festzuzurren.

»Ist es kalt?« rief Nish, die in dem silbrig betauten Gras am anderen Ufer herumhüpfte.

»Nicht gerade warm, aber es geht.«

Sie überquerten den Landzwickel zwischen Bach und Fluß und traten hinaus in die Sonne, die bisher ein steiler, heidekrautbewachsener Hang oberhalb des Herrenhauses verdeckt hatte. Sofort wirkte die Welt freundlicher. Das nasse Gras glitzerte, ein paar Vögel begannen sanfte Herbstlieder zu zwitschern, die Kinder hörten den langgezogenen, flötenden Ruf eines Brachvogels.

»Hier kann Klein Geordie nicht gewesen sein.« Nish betrachtete ihre deutlich sichtbaren schwarzen Fußabdrücke im Gras. »Wir hätten seine Spur gesehen.«

»Wahrscheinlich ist er am Löwenteich«, sagte ihr Bruder.

»Dort ist er öfter.«

»O weh! Mithras!« stieß Nish bestürzt hervor und blieb stehen.

»Was ist denn?«

»Es ist der erste Oktober. Ich wollte zum Löwenteich und mir etwas wünschen. Die gebogene Nadel hatte ich mir schon an den Kragen gesteckt.«

»Jetzt kannst du nicht mehr zurück«, versetzte ihr Bruder. »Mrs. Slaley oder Surtees oder Parthie würden rauskommen und uns abfangen.«

»Aber ich wollte mir wünschen, daß Louisa nie wieder herkommt.«

»Und du glaubst, das hätte was genutzt? Die sitzen inzwischen schon in der Kutsche, ich hab gehört, wie Papa zu Archie gesagt hat, er sollte gestern abend zeitig genug losfahren …«

»Zu dumm, daß ich es vergessen hab. Bloß, weil uns die dumme Annie über den Weg gelaufen ist.«

»Geholfen hätte es sowieso nichts«, sagte Tot. »Ich glaube, die Gebete zu Mithras sind nicht mehr wert, als was man sonst so betet.«