Ein perfekter Tod - Olaf Hauke - E-Book

Ein perfekter Tod E-Book

Olaf Hauke

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein wenig verwundert ist Helena Jäger schon, als sie von einem ehemaligen Kollegen über ihren früheren Mitarbeiter Markus Wiegand ausgefragt wird. Er soll eine junge Frau erstochen haben, die zu ihm in den Wagen stieg und die Flucht ergriff, als er zudringlich wurde. Auch Helena kann nicht viel Gutes über den Mann berichten. Der Zufall will es, dass sie an der Geschichte gegen ihren Willen hängen bleibt. Das versteht sie allerdings erst so richtig, als der erste Schuss fällt und sie nur knapp verfehlt. Sie beginnt, die Schuld eines Mannes zu hinterfragen, der kurz davor steht, das Verbrechen zu gestehen. Zu Recht? Schließlich gibt es da noch den vierzig Jahre älteren Geliebten der Toten und dessen Frau. Aber die sitzt im Rollstuhl und hat damit ein unangreifbares Alibi.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Ende

Die Jäger – Ein perfekter Tod

Olaf Hauke

2021

Copyright 2021

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover Andy

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

Helena Jäger war müde. Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt ihr Büro zu verlassen, den langen Gang zum Fahrstuhl zu laufen, nach unten zu fahren, über den Parkplatz zu marschieren, in ihren Wagen zu steigen, die halbe Stunde Fahrt in Kauf zu nehmen, zu parken, in ihre Wohnung zu kommen, die Schuhe von den Füßen zu streifen, einfach auf das Bett zu fallen, sich auf die Seite zu drehen und einige Stunden zu schlafen, im Idealfall bis zum nächsten Morgen.

Sie war doch brav gewesen, hatte alle Dienstpläne abgezeichnet, die Aufteilungen gemacht, die beiden Bewerbungsgespräche geführt, die Verhandlung mit dem alten Schneider geführt, der immer noch einen weiteren Cent Vergünstigung suchte. Sie hatte sogar den Kaffeebecher geleert und die beiden Brötchen gegessen.

Warum also tauchte Jakob Mießbach genau in dem Augenblick auf, in dem sie sich erheben wollte, nachdem der Bildschirm ihres Computers mit einem letzten Seufzer erloschen war? Und er hatte diesen verdammten Gesichtsausdruck, der ihr verriet, dass er nicht nur Hallo sagen und dann wieder verschwinden wollte?

Warum hätte er auch nur Hallo sagen wollen? Sie hatten sich seit ungefähr fünf Jahren nicht gesehen. Damals war er genauso unzufrieden wie sie bei der Truppe gewesen, doch im Gegensatz zu ihr hatte er sich tapfer weiterhin durch die Tage gekämpft. Stand er nicht kurz vor der Pensionierung? Seinem Gesicht nach zu urteilen hatte er sie auf jeden Fall noch nicht erreicht.

„Hallo Jakob, wie geht es Ihnen?“ fragte sie und versuchte erst gar nicht, den Unwillen aus ihrer Stimme zu bekommen. Wenigstens sollte er auf diese Art merken, wie sehr er sie nervte. Aber wie jeder gute Polizist ignorierte er seine Unerwünschtheit, setzte ein Lächeln wie Magermilch auf und reichte ihr die kräftige Hand.

„Schön, dass ich Sie noch erwische“, stellte er mit diesem Unterton, der erstaunlicherweise das Gegenteil besagte. Ein Hauch von Neugier schlich sich in ihr Hirn.

Sie machte eine kurze Handbewegung in Richtung der Sitzecke rechts von ihrem Schreibtisch, legte mit einer betont langatmigen Geste ihren Mantel quer über ihren Tisch und folgte ihm dann, sank in einen der Kunstledersessel, die um den kleinen runden Tisch standen, auf dem es keinen Schmuck mehr gab, seit sie die gelben Ecken an der Tischdecke gesehen und diese entsorgt hatte.

Sie hatte keine Lust, ihrem ehemaligen Kollegen etwas anzubieten, am Ende würde er sich an seiner Tasse festklammern wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring.

„Gut sehen Sie aus, Helena“, sagte er mit einem Unterton, der eine Spur zu warm war. „Der Laden scheint zu laufen. Dann haben Sie damals die richtige Entscheidung getroffen.“ Er lächelte milde, möglicherweise lag ein wenig Neid in seinen Worten. Immerhin, er hatte ihre Anrede bemerkt und sich ihr angepasst, was Helena nur recht sein konnte. Sie wollte einen gewissen Abstand zu damals, schon für ihr inneres Gleichgewicht.

„Ich kann mich nicht beklagen“, meinte sie schwerfällig und konnte nicht verhindern, dass sie gähnen musste. Sie unternahm nichts, um den Anfall an Müdigkeit zu unterdrücken. Die Schatten im Büro waren länger geworden, bald würde die Sonne untergehen. Helena hasste es, im Dunkeln ins Büro zu fahren und erst wieder in der Dunkelheit zurück nach Hause zu kommen. Sie nahm sich vor, morgen etwas später anzufangen, auch wenn sie ahnte, dass bestimmt irgendein Idiot morgens um halb sieben das dringende Bedürfnis verspüren würde, mit ihr in aller Ausführlichkeit zu sprechen.

Jakob Mießbach sah sie erwartungsvoll an. Er war deutlich älter geworden in den letzten Jahren, die Tränensäcke unter seinen Augen hatten sich vergrößert, das Gesicht war runder und breiter geworden. Sie konnte sehen, dass seine Fingernägel kurz und ungepflegt waren, das Hemd war ungebügelt, die Frisur aus dem Schnitt herausgewachsen. Nein, es ging ihrem ehemaligen Kollegen nicht gut, dazu musste man kein Detektiv sein.

Wollte er am Ende einen Job von ihr? Aber für ein oder zwei Jahre würde sie ihn kaum einstellen, abgesehen davon hatte sie zurzeit keine weiteren offenen Posten zu vergeben. Sie hatte sechs Angestellte, dazu eine Handvoll freiberuflich Tätiger, die für sie einzelne Aufträge übernahmen, meinst im Bereich Personenschutz. Beim Objektschutz waren die Jobs langfristiger, so dass sich ein Arbeitsvertrag mit einem regelmäßigen Einkommen für beide Seiten lohnte.

Sie wusste nicht genau, welchen Dienstrang Mießbach jetzt bekleidete, aber sie würde ihm kaum ein zufriedenstellendes Gehalt bezahlen können, dessen war sie sich sicher.

„Was kann ich für Sie tun, Jakob?“ fragte sie, da ihr sein Schweigen schon nach wenigen Augenblicken auf die Nerven fiel. Sie war zu lange hier, zu müde und zu hungrig um sich den üblichen Spielen von Schweigen und belangloser Plauderei hingeben zu können.

Er machte eine eigentümliche Bewegung mit den Händen, so, als hätte ihn gerade eine Fliege auf der Nasenspitze geweckt. „Sie kennen Markus Wiegand?“ fragte er unvermittelt.

Helena musste nicht lange überlegen. Sie hätte normalerweise mit einer Gegenfrage geantwortet, um mehr über den Sinn der Frage zu erfahren, aber der Name war zu unbedeutend, als dass er sie tiefer interessierte.

„Der hat letztes Jahr für mich gearbeitet, aber nur ungefähr sechs oder sieben Wochen“, sagte sie ruhig und sah dabei Jakob konzentriert an.

„Sie haben ihm wieder gekündigt?“

Helena zuckte mit den Achseln. „Ich habe einen Ruf zu verlieren, meine Leute, gerade im Objektschutz, müssen hundertprozentig zuverlässig sein. Sie brauchen gute Nerven und wache Augen. Und sie dürfen keine Schwätzer sein.“

„Und Wiegand erfüllte diese Kriterien nicht?“ Jakob lehnte sich ein Stück vor, die Frage schien ihn erkennbar zu interessieren.

„Nein, er erschien unpünktlich zum Dienst“, erklärte Helena frei heraus. „Mein Kunde beschwerte sich, sein Kollege war ebenfalls nicht begeistert, um es freundlich zu formulieren.“

„Und dann haben Sie ihn gefeuert?“

Langsam wurde Helena wieder ein Stück wacher. Jakob Mießbach stellte zu schnell zu viele Fragen. „Warum wollen Sie das von mir wissen?“ fragte sie, ohne auf seine erneute Frage einzugehen.

Jakob zögerte einen Moment, kratzte sich schließlich das massige, unrasierte Kinn. Erst jetzt fiel Helena auf, dass das Doppelkinn in den letzten Jahren erheblich gewachsen sein musste.

„Er sitzt in U-Haft“, sagte er nach einer kleinen Pause. „Er hat mutmaßlich eine junge Frau erstochen!“

Kapitel 2

Helena Jäger brauchte einen Moment, um die Aussage zu verdauen. In ihr stieg das Bild von Wiegand hoch, ein hagerer Mann mit halblangen, ungepflegten Haaren, ein hässlicher, blauer Troyer, zu weite Jeans, ein eher schlichtes Wesen, schlechte Zähne, Ende Dreißig, ungefähr in ihrem Alter. Aber sie hätte ihn jederzeit als einen harmlosen Typen eingeschätzt, der eine etwas zu hohe Meinung von sich selbst hatte, aber das Weite suchte, sobald es ernst wurde – eher ein wenig feige und faul als gefährlich für seine Umwelt.

„Eifersucht?“ fragte sie und merkte, dass inzwischen im Büro die Dunkelheit vollständig Einzug gehalten hatte. Mechanisch erhob sie sich und schaltete die Deckenbeleuchtung an.

„Nein, er hat die Frau nach Zeugenaussagen in einem Club angesprochen. Er hat sie nach Hause gefahren, wollte wohl mehr. Es kam zum Streit, sie sprang aus dem Wagen. Er ist hinterher und – Zack!“

„Sie ist zu ihm in den Wagen gestiegen?“ Helena konnte sich nur schwer vorstellen, welche Frau noch so blauäugig war und zu einem fremden Mann, noch dazu einem Typen wie Wiegand, in den Wagen stieg. „Welcher Club war es denn?“

„Das Pascha“, antwortete Jakob Mießbach mechanisch und sah Helena mit einem interessierten Blick an. „Ermordet wurde sie übrigens in der Holland-Straße, Höhe der Kreuzung zum Grünen See.“

Helena legte automatisch die Stirn in Falten. „Das sind nur ein paar hundert Meter. Wo wohnte sie denn?“

„In der Kloppstock-Straße!“ Die Straße, das wusste Helena, verlief parallel zur Holland-Straße.

Helena schwieg eine Weile, sie merkte, wie sie die aufkommenden Gedanken nicht verhindern konnte. „Und wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie.

„Kennen Sie Wiegand näher? Wissen Sie etwas über sein Privatleben?“

Helena Jäger zuckte mit den Achseln. „Ich kann Ihnen morgen Früh eine Kopie der Personalakte mailen, aber da werden Sie nichts Auffälliges finden, zumindest nichts, was auf einen möglichen Mörder hindeutet. Ich habe natürlich ein Führungszeugnis von ihm abgefragt, aber da war nichts, auch keine Sexual-Straftat oder etwas in der Art. Das hätte ich mir sicher gemerkt.“

„Dann hätten Sie ihn vermutlich auch gar nicht eingestellt. Kennen Sie jemanden aus Ihrer Firma, mit dem er näheren Kontakt hatte?“

„Ich könnte höchstens die alten Dienstpläne raussuchen und schauen, mit wem er gelaufen ist. Aber ich glaube nicht, dass Sie das bei Ihren Ermittlungen voranbringen wird.“ Helena unterbrach sich selbst und gähnte schlagartig, ohne es verhindern zu können. „Sie stellen viele Fragen zu einer Sache, die mir ziemlich eindeutig vorkommt. Hat man ihn denn nicht am Tatort gestellt?“

Sie wurde von Jakobs Handeln überrascht, denn ohne jede Erklärung erhob er sich, lächelte noch einmal leicht abwesend, nickte dann. „Nein, nein, die Sache ist eindeutig, da haben Sie Recht. Sie wissen ja, das Protokoll und so. Hat mich auf jeden Fall gefreut, Sie mal wieder gesehen zu haben.“

Auf seinem Weg zur Tür machte er noch eine aufgesetzt launige Bemerkung, dass er bald in den wohlverdienten Unruhestand gehen würde. Er lobte noch einmal ihre kleine Firma, ohne dass er anscheinend genau wusste, was Helena seit dem Ende ihrer Dienstzeit bei der Polizei genau tat. Sie nickte nur und entließ ihn mit einem schmalen Lächeln. Nach wenigen Augenblicken war er den Gang hinunter gelaufen und in den Fahrstuhl nach unten gestiegen.

Nachdenklich schloss Helena die Tür, griff nach Mantel und Tasche, löschte das Licht und ging ebenfalls nach draußen, wobei sie sich nicht mehr beeilte. Sie wollte, dass zwischen ihr und Jakob Mießbach ein paar Schritte Abstand lagen. Daher nahm sie auch nicht den Lift, sondern die Treppe nach unten.

Blicklos fuhr sie durch die Straßen, ihre Gedanken klebten noch immer im Büro auf dem Gespräch mit ihrem ehemaligen Kollegen. Um ein Haar hätte sie einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt genommen. Der Mann hupte wütend, machte eine obszöne Geste und raste mit übertrieben hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei. „Arschloch“, brummte Helena, bemühte sich in den folgenden Minuten jedoch, ihren Wagen heile nach Hause zu bekommen.

Nach einer Dusche setzte sie sich im Bademantel an den Tisch in der Küche, bereitete sich eine Tütensuppe zu und griff nach ihrem Tablet. Aber in der Presse konnte sie keinen Bericht über den Mord an einer jungen Frau in der fraglichen Gegend entdecken.

Konnte es sein, dass ihr ehemaliger Angestellter in einer Art unbefriedigter Erregung und ausgebrochener Wut eine Frau getötet hatte? Unbefriedigt löffelte Helena in ihrer Suppe, die unnatürlich stark nach Zwiebeln schmeckte. Sie sah eine Frau, die, warum auch immer, blond war, die aus dem Auto sprang und vor Wiegand in die Nacht flüchtete. Er stoppte, sprang gleichfalls aus dem Wagen und rannte wie von Sinnen hinter ihr her. Hatte er die ganze Zeit eine Waffe bei sich getragen? Wiegand war irgendwie der Typ für ein Messer, das man sich heimlich im Internet besorgen konnte.

Aber warum war sie zu ihm in den Wagen gestiegen? Ein Übergriff von ihm hätte doch bereits unmittelbar nach Fahrtantritt passieren müssen, denn sie konnten kaum länger als zwei oder drei Minuten gemeinsam im Wagen verbracht haben.

Mit einem wütenden Ruck schob Helena den Teller beiseite, das Essen war ungenießbar. Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach Neun. Aber der Hunger siegte über die Müdigkeit. Sie griff zum Telefon und bestellte beim Italiener um die Ecke Lachs und Pasta, dazu einen Salat.

Erst als sie ihre Lieferung erhalten und vor dem Fernsehen sitzend verspeist hatte, löste sich ihr Geist von der Geschichte, die ihr ihr ehemaliger Kollege erzählt hatte. Sie machte sich viel zu viele Gedanken um etwas, was sie sowieso nicht ändern konnte. Vermutlich war es tatsächlich so gewesen wie ihr Mießbach berichtet hatte. Sie wusste doch im Grunde gar nicht, was Markus Wiegand für ein Mensch war, sie kannte nicht sein Privatleben. Es hatte sie auch nie sonderlich interessiert.

Möglicherweise ärgerte es sie ein wenig, dass sie ihn damals eingestellt hatte. Aber niemand konnte einem Menschen hinter die Stirn schauen. Im Laufe der Jahre war sie besser darin geworden, Menschen einzustellen. Aber trotzdem gab es immer ein gewisses Maß an Unsicherheit. Mit schweren Schritten räumte sie die Reste ihres Essens weg und schwor sich, am nächsten Tag einen Vorrat für den Kühlschrank zu besorgen, um nicht in der Sahnesauce des Lieferdienstes zu ertrinken.

Kapitel 3

Helena hatte vergessen, den Wecker an ihrem Handy zu stellen. Und niemand hatte am Morgen um Sieben Lust, mit ihr zu telefonieren. So verschlief sie die Zeit, zu der sie normalerweise aufstand. Hektisch und wütend auf sich selbst sprang sie schließlich aus dem Bett, zog sich in Eile an und machte sich auf den Weg ins Büro. Eine genaue Erklärung, warum sie sich beeilte, konnte sie sich selbst nicht geben, schließlich war sie ihre eigene Chefin. Aber das Gefühl, gegen ihre selbst gesetzte Regel verstoßen zu haben, reichte, um sie in einen Zustand nagender Unzufriedenheit zu versetzen.

Der Tag war ruhig und relativ entspannt, alle Termine wurden wahrgenommen. Sie selbst war mehr oder weniger frei von Diensten Erst für das Wochenende hatte sie einen Personenschutz für einen wichtigen Mann aus der Industrie. Das musste sie noch vorbereiten, zunächst am Computer, am folgenden Tag dann auch, indem sie die Route abfahren würde. Das war wichtig, es war ihre Arbeit – aber zum Gutteil war es mittlerweile auch Routine. Die Angst, durch den längeren Schlaf etwas zu verpassen, erfüllte sich nicht.

Erst am Abend kam Helena wieder das Gespräch mit ihrem ehemaligen Kollegen in den Sinn. Sie konnte es selbst nicht erklären, plötzlich war die Erinnerung an Jakob wieder da. Es war irgendein Geruch, eine Geste, irgendein Impuls hatte die Erinnerung an ihren ehemaligen Angestellten und seinen Mord ausgelöst und wieder klar vor Augen treten lassen.

Helena versuchte, sich auf die Route vor ihr auf ihrem Computer-Bildschirm zu konzentrieren, doch die Bilder verloren sich in den Nebeln ihrer Gedanken.

Weshalb, so ging es ihr unvermittelt durch den Kopf, war Jakob überhaupt bei ihr aufgetaucht? Die Ermittlungen hatten es nicht nötig gemacht, sofern es tatsächlich klar war, dass Wiegand die Frau getötet hatte. Und hätte er die Gelegenheit nutzen wollen, eine alte Kollegin zu treffen, hätte er mehr persönliche Fragen gestellt, wäre ganz anders aufgetreten. Warum war er also bei ihr aufgetaucht? Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ihm nicht mal die Personaldatei geschickt hatte – er hatte auch nicht nachgehakt.

Am Ende war der Mord doch nicht so eindeutig, wie Jakob es dargestellt hatte. Helena schüttelte ihren Kopf und widmete sich wieder dem Routenplaner. Sie machte sich wiederholt Notizen und überlegte sich eine Alternative für den Notfall. Sie hatte über ihre Schutzperson gut recherchiert, kannte seine Gewohnheiten und Macken. Sie arbeitete gerne für Leute aus der Industrie, sie waren meist entspannter, konzentriert auf das Geschäft. Und solange die Sicherheit wie ein unsichtbares Uhrwerk im Hintergrund ablief, beschwerten sie sich nicht oder nur selten.

Helena lehnte sich zurück und sah hinaus auf die Straße. Sie stand auf, trat ans Fenster und ließ ein wenig von der milden Herbst-Luft in das Zimmer strömen. Der Straßenlärm drang von unten an ihr Ohr und gab ihr das Gefühl, nicht ganz alleine auf der Welt zu sein.

Auch bei dem Einsatz am Wochenende würde sie mehr oder weniger allein sein, abgesehen von zwei Angestellten, die sie begleiteten und mit denen sie kaum ein privates Wort reden würde. Vielleicht ergab sich eine kleine Plauderei über eine Zigarette oder einen Becher Kaffee hinweg, aber zu mehr würde kaum Zeit bleiben.

Sie sah eine Gruppe Männer und Frauen unter ihrem Fenster, die lautstark miteinander redeten und immer wieder auflachten. In den letzten Jahren war sie beruflich erfolgreich gewesen, keine Frage – doch sie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, was ihr erst ganz allmählich bewusst wurde.

Die Polizei war wie ein kratziger, alter Mantel gewesen, von dem man froh war, dass man ihn endlich in den Container der Altkleidersammlung geworfen hatte. Doch dann, wenn draußen die Kälte aufzog und es nach Winter roch, vermisste man ihn und erinnerte sich nur an die Wärme, die er geschenkt hatte. Den Juckreiz vergaß man allmählich.

Helena schüttelte ärgerlich den Kopf. Allmählich wurde sie wirklich sentimental, sie dachte über den Dienst, die erdrückende Hierarchie, die Unfreiheit schon wie über ein Kleidungsstück nach. Es wurde Zeit, dass sie sich ein Hobby suchte, dachte sie mit einem schmalen Lächeln.

An diesem Nachmittag machte sie deutlich früher Feierabend. Ein freundliches Gespräch mit einem der Anwälte, die ihre Büros im gleichen Gebäude wie sie hatten, munterte sie deutlich auf. Auf dem Weg nach unten hatte der Anwalt mit ihr geflirtet, sie mehr oder weniger deutlich zu einem verschwiegenen Essen eingeladen.

Der Mann war einige Jahre älter als sie gewesen, verheiratet und nur auf ein schnelles Abenteuer aus, auf das sie nie im Leben eingegangen wäre – nicht aus moralischen Bedenken, sondern allein wegen der Anstrengungen, die mit solchen heimlichen Treffen verbunden gewesen wären.

---ENDE DER LESEPROBE---