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In ihrem weltberühmten Roman ›Gefühl und Verstand‹ berichtet Jane Austen von Eliza, Colonel Brandons Mündel, die etwa 1795 mit ihrem unehelichen Kind aufs Land geschickt wird. Dieses Ende war Joan Aiken zu langweilig. Jetzt erzählt sie, wie Elizas schöne energische Tochter, die den Namen ihrer Mutter trägt, sich nicht so einfach abschieben läßt, sondern, kaum erwachsen, aufbricht, um ihre Eltern zu suchen.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2021
Joan Aiken
Roman
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann
Diogenes
Für Julius
Heute habe ich mich entschlossen, zur Feder zu greifen, um meine Geschichte zu erzählen, denn jetzt, da ich gewissermaßen sicher und trockenen Fußes auf einer freundlichen Anhöhe stehe, kann ich auf die Sümpfe, Überschwemmungen, Stürme und tobenden Fluten meines bisherigen Lebens mit einiger Gelassenheit zurückblicken. Überdies mögen andere, denen das Schicksal zur Zeit nicht so wohlgesonnen ist, aus meinen Erlebnissen Nutzen ziehen oder sich zumindest damit zerstreuen.
Was aber im Schoß der Zukunft für uns verborgen liegt – wer mag das ermessen?
Und so will ich denn ohne weitere Vorrede beginnen.
Über die Umstände meiner Geburt habe ich keine Kenntnis, ja ich weiß nicht einmal, in welchem Land ich zur Welt kam und ob es darüber irgendwelche schriftlichen Unterlagen gibt.
Meine Erinnerungen reichen zurück bis ins Jahr 1797. Damals war ich etwa drei oder vier Jahre alt und aufgrund meiner Lebensumstände schon ein aufgewecktes kleines Mädchen. Als Kleinkind soll ich anfällig und schwächlich gewesen sein und wurde wegen meines unseligen Makels von den einen mißachtet, von anderen gefürchtet. Meine Pflegemutter Hannah Wellcome betreute damals außer mir mehrere Jungen, die größer waren als ich, und weil sie Angst hatte, ich könne durch sie zu Schaden kommen (und sie selbst dadurch ihres Pflegegeldes verlustig gehen), drückte sie mir, sobald ich laufen konnte, täglich einen Halfpenny in die Hand und schickte mich zum Pfarrhaus in die fragwürdige Obhut von Hochwürden Dr. Moultrie. Für den Halfpenny bekam ich beim Dorfbäcker drei Stückchen Kuchen als Mittagessen, und um von mir nicht durch Fragen gestört zu werden, beeilte sich der Herr Pfarrer, ein träger alter Kerl, der tagsüber viele Stunden in seinem Lehnstuhl verdämmerte, mich das Lesen zu lehren. Danach ließ er mich auf seine Bibliothek los. Die Bücher über Tom Hickathrift, Jack Riesentöter und Goldlocks, die wohl seinen inzwischen längst erwachsenen Kindern gehört hatten, waren schnell ausgelesen, so daß ich mich wohl oder übel an schwererverdauliche Kost wagen mußte – Goldsmiths Englische Geschichte, Sammelbände des Spectator, Shakespeares Dramen, Gedichte und theologische Abhandlungen, außerdem Berquins Ami des Enfants und einfache italienische Erzählungen (dank deren ich Geschmack an fremden Sprachen fand und mir erste Kenntnisse erwarb, die mir später gut zustatten kamen).
Einen Band nahm ich immer wieder zur Hand. Er hieß König Arthurs Tod, erzählte von Rittern und Schlachten, von Sir Beaumain, Sir Persaint, dem Zauberer Merlin und König Arthur und fesselte mich ganz ungemein. Wochenlang hielt mich das Buch in seinem Bann. Eines Tages aber fiel, als ich gerade atemlos las, wie der König Hermance zu Tode kam, ein großer Klecks Marmelade von meinem Törtchen auf die Buchseite. Dr. Moultrie kam dahinter, verabreichte mir eine so schreckliche Tracht Prügel, daß ich mich kaum nach Hause schleppen konnte, und schloß das Buch weg; ich habe es nie wieder gesehen.
Zu seiner Ehre sei gesagt, daß sich Hochwürden, da ich mich als gelehrige Schülerin erwies, jeden Tag ein, zwei Stunden aus seinem Dämmerzustand aufraffte, um mich die Anfangsgründe der griechischen und lateinischen Sprache zu lehren, mir Euklid nahezubringen und die Freude am Erwerb weiteren Wissens in mir zu wecken.
Doch ich greife vor.
Hannah Wellcome, meine Pflegemutter, konnte man auf den ersten Blick für eine muntere, gutherzige Frau halten; die vollen roten Wangen und die krausen weizenblonden Locken, die sich unter ihrer Haube hervorstahlen, mußten Fremde zu ihren Gunsten einnehmen. Ein gewisses Maß an angeborener Schläue hatte sie wohl dazu bewogen, eine Ehe einzugehen, was ihr einen ehrbaren Namen und den Stand einer verheirateten Frau einbrachte. Tom, ihr Ehemann, hielt sich im Hintergrund, man bekam ihn selten zu sehen. Er war ein dunkler, hagerer Mensch mit eingefallenen Wangen, der in finsteren Gassen zweifelhaften Geschäften nachging. Sie aber erweckte, wenn sie mit sauberer Schürze, Brusttuch und Haube lächelnd und knicksend unter der Tür ihres Strohdachhäuschens stand, durchaus den Eindruck wackerer Redlichkeit und hatte stets so viele junge Pfleglinge, als die kleine Behausung fassen konnte.
Das kleine, weiß getünchte Haus mit Garten stand am hintersten Ende eines lang hingestreckten Weilers, der in einer Talmulde an der Grenze zwischen Somerset und Devon lag. Wie die Falte einer zerknitterten grünen Bettdecke zog sich unsere unbefestigte Dorfstraße zwischen steil ansteigenden Weideflächen und dichten Waldstücken hin. Alles in allem hatte der Ort nicht mehr als zwanzig Häuser, dazu das alte Kirchlein, in dem Dr. Moultrie amtierte. Zu seinem Sprengel gehörte auch Over Othery, ein Dorf sieben Meilen weiter westlich, das auf einem windgezausten Hochmoor stand. Unser Dorf hieß eigentlich Nether Othery, aber in der ganzen Umgebung nannte man es nur Bankertheim.
Ich erzähle hier von längst vergangenen Tagen, als es unter den Damen der besseren Gesellschaft auch von bescheidenerem Stand, ja sogar unter den Frauen von Anwälten, Pfarrern und wohlhabenden Kaufleuten, üblich war, ihre Kinder nicht selbst zu stillen, sondern sie einer Amme anzuvertrauen. Der Busen einer Dame diente damals offenbar nicht praktischen Zwecken, sondern war ausschließlich zur Ansicht gedacht (und in der Zeit, von der ich spreche, war die Sicht auf das, was – allenfalls durch ein Fetzchen Schleierstoff und einen Streifen Batist verhüllt – aus knapp geschnittenen Kleidern mit hoher Taille hervorquoll, recht beachtlich; diese Mode und die Gewohnheit, außer Haus feuchte Unterröcke und dünne Ziegenlederschuhe zu tragen, dürfte zahlreiche junge Damen in ein frühes Grab gebracht und Pflegemüttern noch mehr Kundschaft zugetrieben haben). Man war damals aus unerfindlichen Gründen der Meinung, daß die Babys der Oberschicht besser gediehen und schneller wuchsen, wenn Frauen der Unterschicht sie stillten und pflegten, und so wurden die Neugeborenen sofort aus dem Haus gegeben, manchmal vielleicht nur von einem Ende des Dorfes zum anderen, zuweilen durch halb England auf irgendein großes Gut, wo sie dann zwei, drei oder gar vier Jahre in einer bescheidenen Kate aufwuchsen, ohne in dieser Zeit die eigene Mutter auch nur ein einziges Mal zu sehen. Gewiß, die Regel war das nicht, viele Mütter besuchten ihre Kinder sehr oft und sehr regelmäßig, es gab aber genug andere, bei denen das nicht der Fall war.
Unser Dorf war seit vielen Jahren wegen seiner vortrefflichen Ammen berühmt. Mag sein, daß diese ihre Qualitäten unter anderem auch den fleißigen Kühen des West Country verdankten, die so schöne fette Butter und Sahne lieferten. Seit zwanzig Jahren hatte Nether Othery auch noch in anderer Beziehung einen guten Namen – als entlegener, vor Klatsch und schädlichen Einflüssen sicherer Zufluchtsort mit mildem Klima in gesunder, unverdorbener Umgebung, wo unerwünschte, oft aber durchaus wohlgelittene leibliche Kinder hochstehender Persönlichkeiten (die diesem Nachwuchs häufig sehr zugetan sind, seine Existenz aber nicht an die große Glocke zu hängen wünschen) in natürlicher Umgebung, frischer Luft und aller Diskretion aufgezogen werden konnten.
So schickte beispielsweise Lord S. alle fünfzehn Kinder, die er mit seiner hübschen, entgegenkommenden Mätresse Mrs. R. zeugte, nach Nether Othery. Ebenso hielten es der Herzog von C., Mr. G.-H. und noch viele andere.
Folglich überstieg die tatsächliche und ständig schwankende Einwohnerzahl unseres Dörfchens das offizielle Ergebnis der jeweiligen Volkszählung stets bei weitem, und die meisten Einwohner waren jünger als zwölf.
Die ehelich geborenen Kinder kehrten gewöhnlich ins Elternhaus zurück, wenn sie drei oder vier waren; die anderen aber waren, wenn sie abgeholt wurden, meist schon elf oder zwölf; die Jungen kamen dann gewöhnlich aufs Internat, die Mädchen wurden je nach Stand bei einer Putzmacherin in die Lehre oder auf ein paar Jahre in ein Pensionat nach Bristol oder Exeter gegeben, um all das zu lernen, was sie später als Gouvernante in einem vornehmen Haus brauchen würden.
Als ich drei oder vier war – zu der Zeit also, da meine Geschichte beginnt –, hatte ich viele dieser Zugvögel kommen und gehen sehen, und es war mir, so jung ich war, durchaus bewußt, daß die meisten von uns erhebliche Beschwerlichkeiten und Ungemach erwarteten. Die Kinder von Bankertheim hielten zusammen; wir sprachen über unsere Hoffnungen und Ängste, tauschten das dürftige Wissen über unsere Herkunft aus und das, was an Nachrichten über das spätere Schicksal unserer Gespielinnen und Gespielen zu uns gelangte. Ich wähle diesen Begriff ganz bewußt, denn ich will nicht leugnen, daß unter den älteren Mitgliedern unserer Gruppe geschlechtliche Kontakte nicht selten waren. Da sie sich als Kuckuckseier im Nest von Nether Othery sahen, fühlten sie sich nicht an die Regeln einer Gesellschaft gebunden, die ihnen bislang noch keinerlei Wohltaten erwiesen hatte.
Die fünfzehn Anhängsel von Lord S., von denen meist mehrere gleichzeitig bei uns im Dorf lebten, korrespondierten regelmäßig miteinander, und die älteren, die sich inzwischen wieder in London aufhielten, schickten ihren jüngeren Geschwistern muntere Berichte über die unkonventionelle Lebensweise im Haus des Lords am Grosvenor Square. Ehefrau und Mätresse lebten dort einträchtig Seite an Seite, und zwischen den ehelichen und unehelichen Kindern, die zwanglos und unbefangen miteinander umgingen, wurden kaum Unterschiede gemacht. So gut sollten es die meisten von uns natürlich nicht treffen.
Über meine Herkunft war ich nur sehr unvollkommen unterrichtet. Meine Mutter sei bei meiner Geburt gestorben, so hieß es, was, wie man mir deutlich zu verstehen gab, im Grunde ein Glück für sie gewesen war, denn sie war mit sechzehn durchgebrannt und mit siebzehn von ihrem herzlosen Verführer im Stich gelassen worden. Über die Person dieses Mannes grübelte ich als Kind so manche Stunde nach, wenn der Regen an Dr. Moultries Fensterscheiben herunterrann und ich darauf wartete, daß er mich zu einer Lateinstunde rief, oder wenn ich im Nebel über die Brendon Hills streifte.
Denn wenn es mir auch in Bankertheim an Gesellschaft nie mangelte und zwischen den jungen Leuten, die gewissermaßen nur auf der Durchreise waren, und der Minderheit der ortsansässigen Kinder so etwas wie eine rauhe, aber herzliche Spiel- und Zweckgemeinschaft bestand, spürte ich ständig in mir eine Sehnsucht, ein heftiges Verlangen – nicht so sehr nach Einsamkeit als nach anderen Eindrücken, anderen Gesprächen als solchen, die mir meine jungen Freunde bieten konnten. Ein wenig immerhin legte sich meine innere Unruhe, wenn ich allein durch die hügelige, windzerzauste Landschaft streifte.
Meine Geschichte beginnt an einem Tag im Frühherbst. Das Laub hatte sich noch nicht verfärbt (unser salzgeschwängertes Küstenklima brachte ohnehin nur ein rostigstumpfes Braun zustande), aber die Sonne schien milde, die Blätter hingen müde und traurig an den Bäumen, die Vögel tschilpten vor sich hin, und die See war glatt wie ein Spiegel, als hätte sie noch nie etwas von Herbststürmen gehört.
Der dicke Mr. Moultrie hatte wieder einmal einen seiner Gichtschübe, die so schmerzhaft waren, daß er kein Wort herausbringen und keine Bewegung machen konnte. Er hatte mir gesagt, ich brauche erst in drei Tagen wiederzukommen, was ich aber Mrs. Wellcome wohlweislich verschwieg, weil ich wußte, daß sie für mich reichlich Arbeit im Haus finden würde. So klein ich war, stellte sie mich schon zum Bohnenpflücken, Hühnerfüttern und Jäten an; ich mußte den Talg für den Pastetenteig zerkleinern und den Buben die Strümpfe stopfen, wäre also bis zur Schlafenszeit vollauf beschäftigt gewesen, was ich überaus ungerecht fand, denn Will, Rob und Jonathan wurde so etwas nie abverlangt, sie durften nach Herzenslust im Bach fischen, durchs Moor streifen oder schwimmen gehen. Meist aber nahm Tom Wellcome sie mit zum Wildern oder lehrte sie andere Fertigkeiten, von denen ihre Familien sich nichts träumen ließen. Zwischendurch gingen sie in die Dorfschule, denn Dr. Moultrie hatte es abgelehnt, sie zu unterrichten, weil sie ihm zu laut und zu unruhig waren.
So freute ich mich denn meiner Freiheit und machte mich auf den Weg nach Ashett, der nächstgelegenen Stadt, die einen kleinen Fischereihafen hatte. Dort wollte ich den Hummerfischern beim Netzeflicken und beim Entladen ihrer Boote zusehen und mir die spanische Brigg anschauen, die unter dem Verdacht, ein Freibeuter- oder Schmugglerschiff zu sein, aufgebracht worden war.
Am Kai suchte ich mir einen umgedrehten Fischkorb als Sitzgelegenheit, mußte aber zu meiner Enttäuschung feststellen, daß die spanische Brigg schon wieder freigegeben worden war und abgelegt hatte. Es war Ebbe; ich sah Will, Rob und Jonathan mit ein paar Fischerjungen nackt auf dem schlammigen Strand östlich der Hafeneinfahrt herumlaufen und Unfug treiben.
Weil ich dabei nicht mittun wollte, ging ich weiter und blieb auf der hohen Buckelbrücke stehen, die das steinige Flüßchen Ashe an der Stelle überspannt, wo es in den Hafen mündet und die Farbe seines Wassers von einem klaren topasfarbenen Braun zu einem salzig-trüben Grün wechselt.
Die Brücke liebte ich sehr. Stundenlang konnte ich dort verweilen und schauen – manchmal flußaufwärts, wo sich der Fluß, von den Hochmooren kommend, durch die stille kleine Stadt schlängelte, dann wieder flußabwärts bis zu dem lebhaften Treiben im Hafen und zu der wogenden See.
Als ich heute dort stand – auf Zehenspitzen, damit ich Ellbogen und Kinn auf die steinerne Brüstung stützen konnte –, drang nach und nach in mein Bewußtsein, daß sich über meinen Kopf hinweg zwei offenbar männliche Wesen miteinander unterhielten.
Zuerst vernahm ich nur einzelne Wörter, ganz erstaunliche Wörter, denen ich bisher nur in Dr. Moultries Büchern begegnet war und von denen ich mir nie hätte träumen lassen, sie einmal im wirklichen Leben zu hören: Glitzern, Windhauch, Herausforderung, Wasserfall, Meditation, tyrannisch, spektral, bestirntes Firmament …
Die Wörter schlugen mich in ihren Bann wie Zauberformeln. Minutenlang hatte ich sogar den Eindruck, sie kämen aus den Tiefen meines eigenen Gemüts gleich Blasen, die aus dem Moor aufsteigen. Dann aber begriff ich, daß die beiden Männer neben mir auf der Brücke standen, gefesselt von dem Bild, das sich vor ihnen auftat, noch mehr aber von ihrem Gespräch, das schneller als der strudelnde Ashe dahinfloß.
Die Fremden waren beide so groß, daß ich mir den Hals verrenken mußte, um sie gründlich betrachten zu können. Ich sah sie heute zum erstenmal; Einheimische waren es gewiß nicht. Der Größere sprach rauh und abgehackt, wie es im Norden üblich ist, so daß ich zuerst Mühe hatte, ihn zu verstehen.
Die Stimme des anderen, etwas kleineren Mannes hatte vertraute Untertöne; der freundlich-behäbige Klang verwies auf Devon oder Somerset. Von der Erscheinung her aber war er der Auffallendere. Ich war von ihm ganz hingerissen. Dabei war er kein schöner Mann. Er hatte einen blassen Teint, einen breiten Mund und dicke Lippen, aber eine wunderbar hohe Stirn und strahlende Augen. Das dichte, schwarz glänzende Haar reichte ihm fast bis auf die Schultern. Er und sein Freund waren nach der Art feiner Leute gekleidet, aber Rock und Hose hatten bei beiden schon bessere Tage gesehen und saßen erstaunlich schlecht. Die Halstücher waren locker gebunden und nicht mehr ganz weiß, die Schuhe abgetreten. Beide hatten Mappen mit Papieren bei sich und alle Taschen voller Bücher. Der Größere, den der andere als ›Will‹ oder ›Bill‹ anredete, war hager und knochig und hatte eine so gewaltige Nase, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, sie könne ihn aus dem Gleichgewicht bringen und zu Boden ziehen. Mit dem gespitzten kleinen Mund über dem fliehenden Kinn wirkte er – das war zumindest mein erster Eindruck – eine Spur selbstgerecht. Doch auch er hatte eine edle Stirn, und die Augen – nicht so dunkel und strahlend wie die seines Freundes – blickten klug und verständnisvoll. Beider Schwung und Begeisterung war so außerordentlich, daß ich mich im ersten Moment fragte, ob sie getrunken hatten. Aber ich sollte bald erfahren, daß die Wirkung des einen auf den anderen sie unweigerlich in diese Stimmung versetzte.
»Der wesentliche Unterschied ergibt sich nicht aus dem Metrum, nicht aus der Wortfolge, sondern aus der Sache selbst«, verkündete Bill im Brustton der Überzeugung, ja er trompetete es geradezu durch seine große Nase.
Sein Freund lachte. »Ich setz den Hut mir auf den Kopf und gehe flugs zum Strand, da treff ich einen andren Tropf, den Hut brav in der Hand«, sagte er.
»Genau. Oder so: ›Und du bist hager, lang und braun wie der See gerippter Sand.‹«
»Bravo, Bill, alter Freund, du hast mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen! Wie stellst du es an, daß dir ständig diese Perlen über die Lippen kommen? Warte, das muß ich gleich notieren.«
Er holte ein Büchlein heraus und schrieb eifrig.
Auch sein Freund lachte jetzt. »Aufgepaßt, mein lieber Sam! Unser getreuer Verfolger vom Innenministerium beobachtet aus der Ferne unser Tun und Treiben durch sein Perspektiv. Wahrscheinlich argwöhnt er, daß du dir Notizen über die Küstenbefestigungen machst, um einer französischen Invasion Tür und Tor zu öffnen.«
»Der Teufel hole den albernen Wicht! Achte gar nicht auf ihn. Aber höre, Bill, eins geht mir nicht aus dem Kopf: Wie um alles in der Welt sollen wir das Schiff wieder in die Heimat zurückbringen, wenn die ganze Mannschaft umgekommen ist? Du bist so viel scharfsinniger als ich, wenn es darum geht, diese praktischen Fragen zu lösen.«
»Zwei Ideen habe ich dazu schon«, sagte Bill. »Aber laß uns weitergehen, sonst ist der Tag hin. Außerdem arbeitet mein Verstand immer besser, wenn ich in Bewegung bin.«
Sie schlenderten weiter, und ich ging ihnen nach, wie von einem starken Magneten angezogen.
Auf dem steilen Klippenweg lief ich hinter ihnen her, und als sie oben innehielten, um Atem zu schöpfen und das Licht auf dem stillen, blauen herbstlichen Meer zu bewundern, hockte ich mich in der Nähe hin. Jenseits des Kanals zeichneten sich die walisischen Berge vor den Wolken ab wie eine Rüsche an den Röcken des Firmaments.
»Holla!« sagte Sam, als er mich bemerkte. »Wer ist uns denn da nachgeschlichen?«
»Ein Dorfkind.«
»Bist du eine Agentin des Innenministeriums, meine Kleine?«
»Nein, Sir, bitte, ich weiß nicht, was das ist.«
»Laß nur. Wie alt bist du, Kind?«
»Bitte, Sir, das weiß ich auch nicht genau. Ich bin nämlich Waise.«
»Du hast keine Eltern?« fragte Sam.
»Nein, Sir. Ich bin eine von denen aus Bankertheim.«
»Und wer zahlt für deinen Lebensunterhalt?« fragte Bill fürsorglich. »Auch ich verwaiste in jungen Jahren. Es ist ein schweres Schicksal.«
»Bitte, Sir, ein Gentleman, der Oberst Brandon heißt, zahlt für mich, aber er kommt mich nie besuchen, er schreibt mir nur, und auch das nicht sehr oft. Ich soll brav sein, schreibt er, und schön meine Gebete lesen.«
»Und liest du die?« wollte Sam wissen.
»Aber ja, Sir, und vieles andere auch.«
»Was denn? Aschenbrödel?«
»Aber nein, Sir. Cicero und Sir Roger de Coverley.«
Woraufhin beide anfingen zu lachen und mich mit einiger Verwunderung betrachteten.
»Und von wem bekommst du diese Lektüre, kleines Wunderkind?« fragte Bill.
»Von Dr. Moultrie, Sir, bei dem habe ich Unterricht, aber jetzt hat er die Gicht. Darf ich mit Ihnen kommen?«
»Wir gehen zu schnell, Kind. Außerdem schickt es sich nicht, daß ein kleines Mädchen in so zartem Alter mit zwei erwachsenen Männern herumstreunt.«
»Gott behüte, Sir, ich streune ja nicht erst seit heute! Mrs. Wellcome schert sich nicht darum, wenn sie mich nicht gerade zum Hühnerfüttern braucht. Bitte, lassen Sie mich mitkommen. Ich will Sie auch bestimmt nicht stören oder plagen.«
Sie wechselten einen Blick und zuckten die Achseln. »Sie wird bald nicht mehr Schritt halten können«, sagte Mr. Sam.
Aber da kannte er mich schlecht. Hin und wieder ging ich mit den Jungen auf Hasenhatz. Am liebsten war es mir zwar immer, wenn der Hase entkam, aber von all ihren Unternehmungen machte mir diese am meisten Vergnügen, weil ich dabei fast allen davonlaufen konnte, und wenn es in gleichmäßigen Trab übers Moor ging, hielt ich leicht mit den größeren Jungen mit.
»Ich will Sie gewiß nicht mit Fragen quälen, Dr. Moultrie leidet das auch nicht«, versuchte ich es noch einmal. »Aber wenn Sie so miteinander reden, ist das schöner als das schönste Bilderbuch.«
»Wer könnte da widerstehen«, sagte Mr. Sam lachend, und sie ließen mich gewähren.
Nie vorher und nie danach habe ich Menschen in dieser Art reden hören, zwei Menschen, von denen ich erst viel später erfahren sollte, daß es die berühmten Dichter Samuel Coleridge und William Wordsworth waren. Zahllose Themen wurden abgehandelt – Nachtigallen, Dichtung, Metaphysik, Träume, Nachtmahre, das Tastgefühl, der Unterschied zwischen Willen und Wollen, zwischen Einbildung und Phantasie … Der schwarzhaarige Mr. Sam redete und redete, der glitzernde Schwall nur halb verständlicher Worte wollte kein Ende nehmen. Hin und wieder warf Mr. Bill eine Antwort ein, die meist knapp, stets aber treffend war. Und immer wieder erörterten sie ein gemeinsames Projekt, bei dem es um die Geschichte eines Schiffes und einer gespenstischen Seereise ging.
Ab und zu wandten sie sich auch an mich.
»Trifft es zu, Kleine, daß man in dieser Gegend Hasen für Hexen hält?«
»Aber ja, das weiß doch jedes Kind. Erst im August haben die Jungen auf dem Wildersmouth Head einen schwarzen Hasen gehetzt und gefangen, und in der nämlichen Woche lag Großmutter Pollard mausetot in ihrem Häuschen, und daneben saß ihr Hund und heulte zum Steinerweichen. Der Hase – das war sie gewesen.«
»Erstaunlich«, sagte Mr. Bill, »daß eine Frau, die ihr halbes Leben als Hase verbringt, sich einen Hund hält …«
»Mit Verlaub, Sir, das finde ich gar nicht. Jede Hexe hat ihren vierbeinigen Hausgenossen. Warum nicht mal einen Hund statt einer Katze?«
Mr. Sam kam auf Wechselbälger zu sprechen. »In einem Dorf, in dem so viele Kinder ohne Eltern aufwachsen, müßte es eigentlich auch Vermutungen geben, daß das eine oder andere ein Feenkind ist. Du zum Beispiel.«
Ich gab bereitwillig Bescheid. »Mich würde niemand für ein Feenkind halten, Sir, weil ich so häßlich bin mit meinen roten Haaren und wegen meiner Hände …« Ich spreizte die Finger vor ihnen, und beide nickten ernst. »Aber es heißt, die Großmutter von Squire Vexford, dem Gutsherrn, der in dem Herrenhaus in Growly Head wohnt, sei ein Wechselbalg gewesen.«
Und ich erzählte die Geschichte, die in Othery jedes Kind kannte, wie eines Tages, als die Amme die neugeborene Tochter des Gutsherrn an der Brust hatte, eine feine Dame ihr Häuschen betrat. Die Dame hatte ein Kleinkind im Arm, das in grüne Seide gehüllt war. »Gib meinem Herzblatt auch zu trinken«, sagt sie, und als die Amme das Kind nimmt, ist die feine Dame plötzlich verschwunden, als hätte sich die Erde unter ihr aufgetan. Die beiden Kinder wuchsen wie Zwillinge miteinander auf, und als eins kränkelte und starb, wußte niemand, ob es das Menschenkind oder das Feenkind war. Seit diesem Tag gibt es in jeder Vexford-Generation ein Mädchen, das blond, blaß und schwächlich ist, während die anderen Kinder dunkles Haar und rote Backen haben wie der Gutsherr.
»Das ist eine hübsche Geschichte, meine Kleine«, sagte Mr. Bill. »Und gibt es in der Familie des Gutsherrn zur Zeit auch wieder so ein Kind?«
»Nein, Sir, aber Lady Hariot ist schwanger, und die Leute sagen, es wird ein Mädchen, weil es so tief liegt.«
Auch Mrs. Wellcomes Tochter Biddy erwartete etwas Kleines, und beide Frauen machten sich Hoffnungen, daß sie das Kind des Gutsherrn würden stillen dürfen. Auch ich wünschte mir das sehr. Das Herrenhaus Kinn Hall auf Growly Head mit seinen Gärten und Koppeln, Höfen und Stallungen war verbotenes Terrain für mich, zog mich aber unwiderstehlich an. Wenn das Kleine des Gutsherrn in Biddy Wellcomes Obhut gegeben wurde, gab es gewiß ein lebhaftes Kommen und Gehen zwischen Dorf und Herrenhaus, da brauchte man sicher jemanden für Botschaften und Besorgungen, so daß sich womöglich das schmiedeeiserne Tor für mich auftun würde.
Ich weiß nicht mehr, wie lange mir die große Freude und Ehre vergönnt war, Mr. Bill und Mr. Sam auf ihren Streifzügen zu begleiten. Es kann gut und gern ein Jahr gewesen sein. Die Erinnerung an meine erste Begegnung mit ihnen steht mir noch heute in aller Deutlichkeit vor Augen, während die späteren Ereignisse wie in einen goldenen Nebel gehüllt sind. Durchaus nicht immer konnte ich entwischen, um die beiden Fremden zu begleiten, und nicht immer fand ich sie. Sie wohnten nicht zusammen und gingen nicht immer gemeinsam aus. Mr. Sam hatte eine Frau und ein kleines Kind, Mr. Bill eine Schwester. Manchmal verschwor sich das Wetter gegen mich, und die sturmgepeitschte See donnerte gegen die Steilküste, so daß ich im Haus bleiben mußte; manchmal forderte Dr. Moultrie energisch sein Recht. Trotzdem habe ich sie mindestens acht- oder neunmal auf langen Fußmärschen begleitet, denn beide waren begeisterte Wanderer. Der Weg führte uns an der Küste entlang nach Hurlhoe, übers Moor nach Folworthy oder an den gewundenen Ufern des Ashe entlang nach Ottermill. Die Freunde schwärmten für Flüsse, Bäche und Wasserfälle. Wasserrauschen konnte sie zu langen Umwegen veranlassen. Stundenlang konnten sie dann dastehen oder dasitzen und die in gischtenden Kaskaden zu Tal stürzenden Fluten betrachten. Unsere erste gemeinsame Wanderung – an die ich mich, eben weil es die erste war, deutlich erinnere – ging über mehrere Meilen an den baumbewachsenen Steilklippen entlang zu dem entlegenen Kirchlein St. Lucy of Godsend, zu dem ich mich nie allein getraut hätte, weil es dort angeblich spukte. Das war durchaus glaubhaft, denn die Kirche stand, von hohen Eichen umgeben, in einem tiefen Einschnitt zwischen steilen bewaldeten Hängen an einem Bach, der zwischen farnbestandenen Ufern dahineilte und weiter unten in eine schmale Bucht mündete. Die Bäume verdeckten die Sicht aufs Meer, das sich aber unüberhörbar bemerkbar machte. Das Seufzen der Tide war wie ein Herzschlag, und hin und wieder hörte man ein tiefes, drohendes Dröhnen oder einen dumpfen Aufprall, wenn ein besonders großer Brecher an die Felsen schlug.
»Ein furchterregender Ort«, sagte Mr. Sam, als die beiden, die barhäuptig die kleine Kirche (angeblich das kleinste Gotteshaus im ganzen Königreich) betreten hatten, wieder herauskamen, um den gezackten Schatten zu bestaunen, den sie in der Mittagssonne auf den kleinen Friedhof warf.
»Hier braucht man nicht zu beten«, sagte Mr. Bill. »Das Geräusch des Wassers sagt mehr als viele Worte.«
»Aber nachts«, wandte ich ein, »könnte man den Bach nicht hören. Wegen der Jammernden Sal.«
»Und wer, bitte, ist die Jammernde Sal?«
»Ein Mädchen, das sich mit ihrem Liebsten hier auf dem Friedhof traf, bis der Vater es ihr verbot. Ihr Liebster war nämlich der Gottseibeiuns, das hatte sie nur nicht gewußt. Sie hat sich dann doch wieder mit ihm getroffen und ihm drei Tropfen Blut von ihrem Finger geschenkt, und nun gehörte sie ihm auf immer und ewig. Aber eines Nachts blieb er weg, und sie grämte sich und welkte dahin. Man begrub sie unter Kies, und man begrub sie unter Sand, aber als Gespenst kommt sie immer wieder heraus, weil sie Sehnsucht nach ihrem Liebsten hat und böse auf ihren Vater ist, der sie von ihm getrennt hat. Es heißt, daß ihr Geist sich langsam hügelan zum Gehöft ihres Vaters bewegt. Einen Hahnentritt jedes Jahr.«
»Allmächtiger!« Mr. Sam zückte sein Notizbuch. »Und was geschieht, wenn sie ihr Ziel erreicht hat?«
»Das weiß ich nicht, Sir. Vielleicht ist dann schon Jüngstes Gericht.«
»Und was ist aus dem Vater der Jammernden Sal geworden?«
»Der ist längst gestorben, noch zu Zeiten der guten Königin Bess. Seither haben sechs Pfarrer mit der Bibel in der Hand versucht, den Geist zu bannen, aber das hat noch keiner geschafft. Die Jammernde Sal läßt sich nicht bannen.«
»Was für eine traurige Geschichte!«
Mr. Sam lehnte an der Kirchhofmauer und sah auf die strudelnden Wassermassen in dem schmalen Bachbett hinunter.
»Sam«, mahnte sein Freund nach einer Weile, »es wird Zeit umzukehren, die Sonne sinkt schon. Wir haben versprochen, nicht zu spät zu kommen. Und die Freunde dieser kleinen Dame werden sich Sorgen machen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mr. Sam.
Aber es war, als könne er sich nicht trennen.
Im Frühjahr brachte Lady Hariot ihre Tochter Thérèse zur Welt. Sie wurde Biddy Wellcome anvertraut, die etwa zur gleichen Zeit niedergekommen war, und wuchs zusammen mit der kleinen Polly auf. Biddy war wie ihre Mutter eine derbe, füllige Frau mit roten Backen und von aufbrausendem Temperament. Pollys Vater war ein Matrose aus Dänemark gewesen (so hieß es jedenfalls, er kam nie wieder, so daß das Gegenteil nicht bewiesen werden konnte). Biddy verdiente sich wie die Mutter ihren Lebensunterhalt mit der Betreuung von Pflegekindern und hatte damals zwei Jungen aus einer Anwaltsfamilie in Exeter in ihrer Obhut, außerdem die mißgestaltete Tochter des Dekans von Wells. Die arme Charlotte Gaveston war nicht ganz richtig im Kopf – was man den verzweifelten Versuchen der Mutter zuschrieb, sich ihrer vor der Geburt zu entledigen –, so daß man ihr die Säuglinge nicht anvertrauen konnte, wenn Biddy das Haus verließ, um Besorgungen zu machen. Die Jungen kamen für so eine Aufgabe auch nicht in Frage, sie waren viel zu gedankenlos. Deshalb gab Biddy – sie wohnte direkt neben uns – die Körbchen mit den beiden Kleinen einfach bei ihrer Mutter ab, wenn sie Korn zum Mahlen in die Mühle brachte oder unten am Strand frisch gefangene Schellfische erstand. Meist wurden die Kinder dann mir anvertraut. Wie oft habe ich sie in Hannah Wellcomes Küche – oder später, als es wärmer wurde, draußen zwischen Kohlköpfen und Stachelbeerbüschen – gewiegt und eingelullt.
Die beiden kleinen Mädchen waren völlig unterschiedlich. Während Polly Wellcome gleich ihrer Mutter und Großmutter rote Backen, weizenblondes Haar und runde porzellanblaue Augen hatte, war Lady Hariots Tochter Thérèse hellblond. Das flachsfarbene Haar war fein wie Distelwolle, das Gesichtchen blaß, und ihre Augen schimmerten unbestimmt wie das Meer, bei dem man auch nie genau weiß, ob es grün oder grau ist. Wenn man die zartknochige Kleine vor sich sah, kam einem die alte Geschichte von der Fee und ihrem Kind in grüner Seide durchaus glaubhaft vor. Obgleich sie dünn und schwächlich war, weinte sie sehr selten, während die dicke Polly sich beim geringsten Anlaß die Lunge aus dem Leib schrie. Die kleine Thérèse lag still und nachdenklich in ihrem Körbchen, und die großen traurigen Augen schienen deutlich wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Schon sehr früh erkannte sie mich offenbar und lächelte ein wenig, wenn ich sie aufnahm, wusch oder wickelte. Und ich gewann sie von Herzen lieb.
Wo aber war inzwischen Lady Hariot? Warum besuchte sie ihre Tochter nie? Die Ärmste hatte nach der Geburt das Kindbettfieber bekommen und schwebte wochenlang zwischen Leben und Tod, wobei sich, wie der alte Dr. Parracombe sagte, die Waage immer mehr dem Tode zuneigte. Viele Wochen ritt er täglich nach Kinn Hall. Hin und wieder schaute er dann bei uns vorbei, um nach der Kleinen zu sehen, und schien sehr verwundert, daß sie trotz der schweren Geburt so gut gedieh.
»Aber Sie und Ihre Tochter, Mrs. Wellcome«, sagte er dann, »sind ja auch beispielhafte Pflegemütter.« Worauf Hannah Wellcome ihn anstrahlte und knickste und sagte: »Jaja, Sir, wir schenken ihnen eben Liebe.«
Lady Hariot kam mit dem Leben davon, mußte aber monatelang das Bett hüten und war so schwach, daß man es für gefährlichen Leichtsinn gehalten hätte, ihr das Kind auch nur zu zeigen. Die Aufregung, befand man, hätte ihre Kräfte über Gebühr beansprucht. Sie reiste dann ins Ausland, auf die Insel Madeira, glaube ich, wo ihre Schwester lebte und die warme Sonne sie wieder gesund machen sollte. Monatelang hörten wir nichts mehr von ihr.
In großen Abständen kam mit schweren Schritten Squire Vexford, um sich nach dem Kind zu erkundigen. Er war ein jähzorniger Mensch mit harten Zügen, schmalen Lippen und bösen kleinen Augen. Im Dorf war bekannt, daß das Gut nur über die männliche Linie vererbt werden konnte, und er war deshalb sehr ungehalten, daß Lady Hariot nach all den Mühen nur eine Tochter zur Welt gebracht hatte und möglicherweise keine Kinder mehr bekommen würde. Wohlergehen oder Fortschritte seiner Tochter scherten ihn herzlich wenig. Meist steckte er nur den Kopf zur Tür herein, warf einen kurzen Blick auf die Wiege, stellte in barschem Ton die eine oder andere Frage und begab sich dann zur Otternjagd oder zum Lachsfischen am Oberlauf des Ashe. Manchmal kam Willsworthy, der Diener des Gutsherrn, vorbei, ein verschlossener, wortkarger Bursche, der sich von niemandem in die Karten sehen ließ. Nur wenn sein Blick auf Biddy Wellcome fiel, schillerten seine Augen zuweilen ganz seltsam – wie ein Stück Fisch, das zu lange in der Vorratskammer gelegen hat.
Weil ich so oft die beiden Kleinen hüten mußte, hatte ich immer weniger Zeit, draußen herumzustreifen und auf eine Begegnung mit Mr. Sam und Mr. Bill zu hoffen. Doch mit dem nüchternen Wirklichkeitssinn eines Kindes wußte ich wohl schon längst, daß ich auf die Expeditionen mit meinen beiden großen Freunden keinen selbstverständlichen Anspruch hatte, sondern daß sie ein seltenes, unverdientes Glück für mich waren. Daß sie mich mit Gedanken, Bildern und Vorstellungen versorgt hatten, die mir über so manche Unbill hinweghelfen würden, begriff ich erst später.
Noch ein Vorfall ist in meinem Gedächtnis mit diesen schönen Stunden verbunden. Er trug sich nach meiner Rückkehr von einem dieser Ausflüge zu. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir bis zu den Kain-und-Abel-Steinen auf dem Ashe-Moor gewandert, die Mr. Sam dazu anregten, mir eine merkwürdige Geschichte über Kain und seinen kleinen Sohn Enos zu erzählen, in der der Junge seinen Vater fragt, warum die Eichhörnchen nicht mit ihm spielen wollen. Mr. Sams Geschichten hatten alle etwas Rätselhaftes, ich mußte mir tüchtig den Kopf zerbrechen, um ihren Sinn zu ergründen.
Ich kam spät heim und schob mich wie gewöhnlich so leise wie möglich durch die Küchentür, denn ich wußte, daß es ein paar kräftige Schläge mit Hannah Wellcomes Pantoffel setzen würde, wenn sie mich kommen hörte. Nicht so sehr, weil ihr meine Herumtreiberei nicht recht gewesen wäre, sondern wegen all der Arbeiten, die sie selbst hatte verrichten müssen, weil ich nicht dagewesen war. Zum Glück saß sie an diesem Abend mit Tom und Biddy in der Stube, wo alle drei fleißig dem heurigen Apfelwein zusprachen. Ich schlich die schmale Stiege hoch bis zu dem Winkel unter den Dachbalken, wo ich meinen Schlafplatz hatte. Ein Fenster gab es dort nicht, aber durch die Ritzen im Strohdach drang reichlich frische Luft.
Dabei kam ich an der Kammer der Jungen vorbei, die wie gewöhnlich dort balgten und Unsinn trieben.
»Holla, bist du das, Liza?« flüsterte Rob, als ich auf Zehenspitzen vorbeiging.
Rob Hobart war mein bester Freund. Ich nannte ihn Hob oder Hoby oder auch Hobgoblin, so hießen bei uns die Kobolde. Sein Vater war Postminister, seine Mutter hatte in London Muscheln auf der Straße verkauft. Hoby war ein magerer sommersprossiger Blondschopf mit flinker Zunge und scharfem Verstand, der die anderen Jungen ständig in die Klemme brachte und sie dann durch kühne Kniffe und gescheite Einfälle wieder herausholte. Wenn wir beide allein waren, konnte er der liebste, beste Spielgefährte sein, aber weil er gesellig und sehr beliebt war, hatte er meist eine große Gefolgschaft um sich herum. Und dann machte er sich, genau wie die anderen Kinder, über mich lustig, nannte mich Hexenkrallen-Lizzie oder Missis Sechsfinger oder Wegweiser.
An diesem Abend aber schien er friedlich und milde gestimmt. Er setzte sich zu mir auf den Stiegenabsatz unterhalb meiner Schlafnische.
»Heute nachmittag ist eine Dame in einem Zweispänner durchs Dorf gefahren«, flüsterte er, »und hat gefragt, ob du hier wohnst.«
»Ach Hoby! Daß ich nicht da war …« Zum ersten und einzigen Mal bereute ich meine Streif züge mit Mr. Bill und Mr. Sam. »Wer kann denn das bloß gewesen sein?«
»Sie hat keinen Namen genannt und mochte nicht anhalten. Neben ihr saß ein vornehmer Gentleman, der wollte unbedingt weiter. ›Sonst kommen wir nie vor Einbruch der Dunkelheit nach Bristol‹, hat er gesagt.«
»Bristol? Da waren sie aber weit vom Schuß … Wer war das wohl, Hoby?«
»Keinen Schimmer, aber sie war fein herausgeputzt, mit Federn am Hut und Ringen an den Fingern. Sie hätte dich gern gesehen, hat sie gesagt, und es täte ihr leid, daß es nicht sein sollte. Mir scheint, auf dich kann man sich verlassen, kleiner Mann, hat sie gemeint …« Er lachte in sich hinein, und ich lachte mit und dachte mir, daß sie auch mit diesem Urteil weit vom Schuß war. »… und dann hat sie mir ein Präsent für dich gegeben. Hier!«
Er reichte mir einen länglichen, dünnen, ziemlich kleinen Gegenstand in einer Hülle, die sich nach Rohseide anfühlte und mit vielen Fäden umwickelt war.
»Was kann das sein? Wie sah die Dame aus, Hoby? War sie hübsch?«
»Hm … ja …«, setzte er an, aber ich wußte schon, daß bildhafte Schilderungen nicht seine Stärke waren. In diesem Moment ging die Stubentür auf, und eine Lichtbahn fiel auf den Gang.
»Was soll das Gebrabbel und Gekrabbel?« dröhnte eine zornige Stimme.
»Linkmichel!« zischelte Hoby, und wir flüchteten uns schleunigst in unsere Schlafquartiere, während schwere Schritte die Stiege hinaufkamen. Das geheimnisvolle Geschenk schob ich in eine Höhlung des Strohdachs, das mir als Versteck diente, wenn ich einmal einen Apfel oder ein Stück Kuchen ergattert hatte.
Oben angekommen, blieb Tom Wellcome, schwer atmend und säuerliche Apfelweindünste verbreitend, einen Augenblick stehen, dann stapfte er wieder nach unten, ließ aber die Tür zur Stube offen, so daß ich mich nicht mehr aus meinem Winkel herauswagte.
Danach lag ich noch mindestens eine Stunde wach. Die Neugier ließ mich nicht schlafen. Wer mochte die unbekannte Dame gewesen sein? Die Frau von Oberst Brandon, der meinen Unterhalt zahlte? Und war der unbekannte Gentleman dann am Ende Oberst Brandon gewesen? Der aber hätte doch wohl angehalten, um zumindest ein paar Worte mit Hannah Wellcome zu wechseln. Oft hatte ich mir überlegt, warum er mich nicht besuchen kam, was andere Vormunde oder Gönner wenigstens hin und wieder taten. Auch Briefe oder Geschenke schickte er nicht. Nur das Geld kam regelmäßig von einer Bank in Dorsetshire, verbunden mit der Mahnung, ich möge brav sein und fleißig lernen. Das Päckchen in meinem Strohdachversteck – von der Größe und Form her konnte es ein Kamm oder eine Schere sein – war das erste Geschenk, das ich je bekommen hatte. Zitternd vor Aufregung befühlte und betastete ich es immer wieder, konnte aber in der Dunkelheit die vielen Fäden nicht lösen, so daß ich mich wohl oder übel bis zur Morgendämmerung gedulden mußte.
Lange vor dem ersten Hahnenschrei war ich wach und knabberte und nagte mit scharfen Kinderzähnen an den Fäden, bis die weißseidene Umhüllung einen Gegenstand freigab, den ich bei Dr. Moultrie im Gentleman’s Magazine abgebildet, aber nie im wirklichen Leben gesehen hatte, denn die Frauen von Ashett und Othery besaßen so etwas nicht. Es war ein Fächer aus hauchdünnen Elfenbeinblättchen, die auf eine für mich völlig unbegreifliche Weise zusammengefügt waren und deren kostbare Schönheit ich zunächst gar nicht richtig ermessen konnte, weil ich es nicht fertigbrachte, ihn zu öffnen.
Nach dem Frühstück stöberte ich hinter dem Hühnerstall Hob auf und ging ihn um Hilfe an.
»Hier, du Gänschen. So macht man das.« Er schob den Riegel mit dem Daumen zurück, öffnete den Fächer und bewegte ihn hin und her. Dabei senkte er die dichten blonden Wimpern und warf mir schmachtende Blicke zu, so daß ich mich vor Lachen kaum halten konnte.
»Wie spaßig du bist, Hoby! Wo hast du das bloß her?«
»Kann dir egal sein.« Geschickt klappte er den Fächer zu und gab ihn mir zurück. »Die lustigen Damen in Bristol machen es so, aber mit solchen Spielchen kannst du dir gut und gern noch zehn Jahre Zeit lassen.«
Hobys Vater unternahm gelegentlich Dienstreisen durch die westlichen Grafschaften, die er gewöhnlich mit einer Vergnügungstour in Gesellschaft seines Sohnes verband.
»Aber ich hab jetzt was bei dir gut, Kleines«, fuhr er fort. »Wäre Biddy Wellcome im Haus gewesen, hättest du den Fächer nie in die Hand bekommen. Am besten suchst du dir ein Versteck für deinen Schatz.«
Den Fächer im Haus zu verstecken erschien mir nicht sicher genug. Ich ging damit in das Wäldchen, in dem wir manchmal Feuerholz sammelten, und steckte ihn dort in eine hohle Eiche.
Wenn ich mich unbeobachtet wußte, fächerte ich mich genüßlich und warf, getreulich Hobys Beispiel folgend, schmelzende Blicke in die Runde.
Mr. Bill und Mr. Sam zeigte ich meinen Schatz nicht. So jung ich war, spürte ich doch, daß sie sich für derlei Tand nicht interessierten. Für sie zählte nur die Natur; Wildnis, Wasserfälle und Stürme, Felsen und Regenbogen – das war ihnen wichtig, nicht aber ein so triviales Weiberding wie ein Fächer. So lernte ich früh, die einzelnen Bereiche meines Lebens sorgfältig gegeneinander abzugrenzen und mich verschiedenen Menschen gegenüber ganz unterschiedlich zu geben.
Der nächste Vorfall, der des Berichtens wert ist, ereignete sich zu Michaelis, als ich sieben oder acht war. Mr. Bill und Mr. Sam waren zu meinem großen Kummer nicht mehr in unserer Gegend. Sie waren ins Ausland gegangen, nach Deutschland, wenn ich nicht irre, und das tat meinem Kinderherzen sehr weh. Wenn ich in Ashett war, hielt ich an jeder Straßenecke Ausschau nach Mr. Sams wallenden schwarzen Locken und feurigen Augen, nach Mr. Bills hochgewachsener Gestalt und seiner Römernase. Ich konnte noch nicht ganz fassen, daß sie nie wiederkommen würden, und malte mir unermüdlich aus, wie ich ihre Rückkehr feiern, was für Geschichten ich ihnen erzählen, welch wunderbare geheime Orte ich ihnen zeigen würde. Es dauerte viele Jahre, bis ich endgültig begriffen hatte, daß aus all diesen schönen Plänen nie etwas werden konnte.
Inzwischen waren Thérèse und Polly zu blondgelockten Kleinkindern herangewachsen, die vom Wesen her völlig unterschiedlich waren, sich aber in einer Hinsicht ähnelten: Beide lernten ungewöhnlich spät sprechen. Das kann unter anderem auch daran gelegen haben, daß sich Biddy Wellcome, wenn sie lustlos im Haus herumwerkelte, nie die Mühe machte, ein richtiges Gespräch mit ihnen zu führen. Sie beschränkte sich auf barsche Anweisungen oder Verbote. Polly war überdies, genau wie ihre Mutter, von Natur aus ein wenig einfältig und lernte langsam. Thérèse (deren unbequem fremdländischer Name ganz Bankertheim längst zu dem praktischen Triz zurechtgestutzt hatte) war alles andere als dumm, blieb aber zart und ein wenig teilnahmslos. Lieber versagte sie sich irgend etwas Schönes, als sich dafür anzustrengen, und eben deshalb verzichtete sie auch aufs Sprechen. Ich mußte Triz immer gegen die gefräßige, eigensüchtige Polly in Schutz nehmen, die schnell dabei war, sich irgendeinen Leckerbissen zu schnappen. In ihrer stillen Art hing Triz deshalb sehr an mir.
Sie hatte einen besonderen Namen für mich. »Alize«, sagte sie leise und lächelte mich vertrauensvoll an, wenn ich auf sie zuging. »Alize …«
Es war, wie gesagt, Michaelistag. Dr. Moultrie war zu einer Beerdigung nach Over Othery gerufen worden und führte bewegte Klage über die Rücksichtslosigkeit seines Pfarrkindes, das sich ausgerechnet an diesem Tag von der Welt hatte verabschieden müssen. Mir bescherte das einen schulfreien Tag. In Ashett war der dreitägige Dienstbotenmarkt in vollem Gange. Aus dem ganzen Land strömten Schäfer, Landarbeiter und Milchmädchen herbei, die sich zu verändern und nach Möglichkeit zu verbessern suchten. Auch Gaukler hatten sich eingefunden, es gab Guckkastenbühnen, Musik und Tanz, wahrsagende Zigeunerinnen und Buden, an denen man Spielzeug und Geschenke kaufen konnte. Mich zog nichts nach Ashett; der Anblick der Straßen, auf denen mir kein Mr. Bill und Mr. Sam mehr begegnen würde, stimmte mich traurig. Außerdem hatte ich kein Geld.
Die Jungen von Bankertheim wollten natürlich alle hin. Sie hatten sich Geld zusammengespart (das meist aus trüben Quellen, vor allem vom Wildern, stammte) und waren fest entschlossen, sich damit einen schönen Tag zu machen.
»Kannst mitkommen, Kleines«, sagte Hoby großmütig. »Ich schenk dir auch ’nen Sixpence.«
»Was sollen wir denn mit der?« maulten seine Gefährten. »Die ist doch bloß ein Klotz am Bein.« Ich schüttelte den Kopf. In meinem Hals saß ein dicker Kloß, und nur mühsam brachte ich heraus: »Nein, ich mag nicht.«
»Nicht auf den Jahrmarkt? Hannah und Tom sind hin, um Werkzeug und Stoff zu kaufen. Alle wollen hin.«
»Ich aber nicht.«
»Die ist doch verdreht, die Krallenlizzie«, sagte Jonathan verächtlich. »Nicht ganz richtig im Oberstübchen. Komm, laß sie gehen, mit der ist eh nichts anzufangen.«
Hoby hatte noch nicht aufgegeben. »Es wird dir gefallen, Liza, bestimmt.«
Je länger er auf mich einredete, desto bockiger wurde ich, und schließlich lief ich einfach weg und versteckte mich in Bauer Dunleighs Heuschober, bis die Jungen außer Sicht waren. Ein bißchen reute es mich schon, daß mir der Jahrmarkt entging, und ich wußte, daß Hoby es gut mit mir meinte, aber ich wußte auch, daß die Jungen, wenn sie reichlich dem Apfelwein zugesprochen hatten, über die Stränge schlagen würden und ich dann in ihrer Gesellschaft schlechter dran war als allein.
Langsam ging ich über die verlassene Dorfstraße. Tom und Hannah hatten sich frühzeitig auf den Weg gemacht, weil sie hofften, dann besonders vorteilhaft einkaufen zu können. Biddy hatte sich ihnen wohl angeschlossen, jedenfalls war ihre Haustür verriegelt. Ich wunderte mich ein bißchen, daß sie Polly und Triz nicht bei mir abgegeben hatte, war aber nicht böse, einmal ganz frei und ungebunden zu sein. Vorbei an der Pferdeschwemme und den Obstgärten mit den krummen, windschiefen Apfelbäumen, die zum Herrenhaus gehörten, machte ich mich auf den Weg nach Growly Point, einem meiner Lieblingsplätze. Auf dem höchsten Punkt der Landzunge thronte hinter einem Bestand sturmgezauster Buchen das Herrenhaus, daneben standen eine Kapelle und die Stallungen. Der Garten zog sich in Terrassen am Hang entlang. Ein Bach durchschnitt ihn, der weiter unten die Grenze der Ländereien von Kinn Hall markierte und neben dem öffentlichen Fußweg herlief. Das war ein mit Steinen befestigter Pfad, der durch ein sogenanntes Wunschtor und vorbei an Weide- und Ackerland zu den Klippen führte. Beim Durchschreiten des Törchens wünschte ich mir, wie immer, ›daß Mr. Bill und Mr. Sam wiederkommen‹, und ging dann rasch weiter. Links sah man einen kleinen Ausschnitt des Gartens mit einer Fülle später Margeriten, Rosen und rosa-weißen hochstieligen Blumen, deren Namen ich nicht kannte. Der größte Teil der Gartenanlagen aber war hinter hohen immergrünen Hecken verborgen. Erst als ich die Anhöhe erreicht hatte und zurückblickte, konnte ich das Haus selbst sehen; groß und bedrohlich kam es mir vor mit seinen beiden hohen gedrehten Backsteinschornsteinen, die aussahen wie Wolfsohren, und den vielen Fenstern, die mit funkelnden Augen aufs Meer hinausblickten.
Der Fußpfad war kein verbotenes Terrain, trotzdem bekam ich auch heute beim Anblick dieser großen, wachsamen Fenster wieder eine Gänsehaut. Nach einer Biegung führte der Pfad zwischen den Felsen steil nach unten zum Strand. Ich aber wandte mich nach Westen und ging hügelan zu einer kleinen Mulde. In diesem behaglichen Nest hielt ich mich häufig auf, seit Mr. Sam und Mr. Bill fort waren. Stundenlang konnte ich hier, geschützt zwischen Disteln und trockenem Gras, Schlehen und Brombeergerank, sitzen und Ebbe und Flut wechseln sehen, was hier ein beachtliches Schauspiel war.
Von Ashett her führte ein Fußweg am Meer entlang, der aber von den Einheimischen nur mit Vorsicht benutzt wurde und auf dem trotz eindringlicher Warnungen jedes Jahr etliche leichtsinnige Ortsfremde zu Tode kamen. Denn die Küste war hier, jenseits der Landspitze, sehr gefährlich. Es gab keinen Sandstrand, sondern nur seltsam geschichtete flache Felsen, die komplizierte Muster bildeten. Manche waren so regelmäßig, daß man sie für Menschenwerk halten konnte, andere sahen aus wie die konfusen Krakel eines Riesenbleistifts. Mr. Sam hatte oft hier oben gestanden und versucht, eine Beschreibung dieser Muster in seinem Notizbuch festzuhalten. Zwischen den Felsvorsprüngen konnte man leicht von der Flut abgeschnitten werden, die meist sehr schnell hereinkam, und das Wasser in den unterschiedlich tiefen Rinnen zwischen den Felsen bewegte sich in unberechenbaren Strudeln und Strömungen.
Unterhalb meiner Mulde verliefen die Felsmuster in großen, konzentrischen Kreisen, die aussahen wie die Zeichnung auf der Schale einer gewaltigen Auster. Blaue halbmondförmige Tümpel ließen erkennen, daß die Flut hereinkam. Möwen und Austernfischer hatten sich dort versammelt, stießen kreischend auf die Wasseroberfläche nieder und labten sich rasch noch an Muscheln, Krebsen und Schnecken, ehe die Flut sie wieder zudeckte.
Ich hatte große Sehnsucht nach Mr. Bill und Mr. Sam. Jene Verszeile von Mr. Bill fiel mir wieder ein: »… hager, lang und braun wie der See gerippter Sand …« Vielleicht hatte Mr. Bill dabei an diesen Strand gedacht, dessen bogenförmige Felsformationen tatsächlich an die Rippen eines großen Tieres erinnerten. Über der nächsten Landzunge stieg langsam ein großer blasser Vollmond auf, und ich dachte daran, wie sehr Mr. Sam den Mond geliebt hatte. »Es ist der einzige Freund«, sagte er, »der dich begleiten kann, ohne mit dir zu gehen.«
Wenn ich groß bin, schwor ich mir, wenn ich eine erwachsene Frau bin und eigenes Geld habe, mache ich mich auf die Suche nach den beiden. Ich malte mir aus, wie ich zu Geld kommen würde. Stücke würde ich schreiben und Romane und Verse wie meine beiden Freunde. Ein Verlag würde meine Romane herausbringen, und ich würde mit einem Schlag berühmt sein. Und so schön, daß alle Leute mich lieben und überhaupt nicht auf meine Hände achten würden.
So saß ich und träumte. Und der Nachmittag zog dahin wie eine flüchtige Wolke, die über den Himmel segelt. An die Jungen und den Jahrmarkt verschwendete ich keinen Gedanken mehr, auch wenn es mir schwergefallen war, Hoby abzuweisen und ihn damit zu kränken. Manchmal begleitete er mich hierher, und dann war er wie umgewandelt. Aber er würde sein Angebot und meine Weigerung bald genug vergessen und sich damit trösten, daß ich eben eine sonderbare kleine Person voller Grillen und Launen sei.
»Wie still du sitzest, Kind«, sagte eine Stimme über mir. »Seit zwei Stunden beobachte ich dich, und in der ganzen Zeit bist du keinen Zoll zur Seite gerückt.«
Ich fuhr zusammen und wäre um ein Haar über den Klippenrand gestürzt.
»Was haben Sie mich erschreckt, Ma’am!«
»Fall mir nicht herunter«, sagte sie lachend. »Ich wollte dir keine Angst einjagen. Aber dieser Satz, den du eben getan hast, macht die zwei Stunden Reglosigkeit leicht wieder wett.«
Sie mußte ebenso unbeweglich dagesessen haben wie ich, denn ich bemerkte die Dame, die jenseits meiner kleinen Mulde auf einem Rasenstück saß, erst in diesem Augenblick. Kleid und Umschlagtuch waren graugelblich gestreift, der Sonnenschirm war grün, als habe sie es darauf angelegt, sich ganz ihrer Umgebung anzupassen, sich möglichst unsichtbar zu machen. Das schmale Gesicht war sonnengebräunt, das schlicht frisierte Haar so hell, daß es fast weiß wirkte. Sie kam mir bekannt vor, wahrscheinlich war ich ihr irgendwann mal im Dorf begegnet. An einem Samtband hatte sie sich einen kleinen Feldstecher um den Hals gehängt.
Sie hatte sehr seltsame Augen.
»Lauf nicht gleich weg, Kind«, sagte sie, als ich mich hastig erhob. »Du sitzest mindestens mit dem gleichen Recht hier wie ich. Bist du aus Ashett?«
»Nein, Ma’am. Aus Bankertheim, will sagen aus Nether Othery.«
»Ja, richtig, ich meine dich dort schon gesehen zu haben. Hast du … bist du Waise?«
»Ja, Ma’am. Ich wohne bei Mrs. Wellcome.«
Ihr Gesicht leuchtete auf, es war, als wollte sie mir weitere Fragen stellen, aber dann ließ sie es doch sein.
Die Augen der fremden Dame ließen mich nicht los, ich betrachtete sie mit der unbefangenen Neugier eines Kindes. Sie waren dunkelgrau und sehr schön, aber das linke war gleichsam seitlich verschoben, so daß es, während das rechte auf mich gerichtet war, über meine Schulter blickte, was sehr befremdlich wirkte und den Eindruck erweckte, als sei sie nie ganz bei der Sache, wenn sie sich mit einem unterhielt.
»Ich habe Vögel beobachtet«, sagte sie lächelnd und deutete auf den Feldstecher. »Auch mir macht es große Freude zu verfolgen, was um mich herum vorgeht. Aber in Zukunft werde ich weniger Muße dafür haben.«
»Das tut mir leid, Ma’am«, sagte ich höflich. »Wenn es Ihnen doch Freude macht …«
»Nein, nein, es war eine erzwungene Ruhepause. Morgen beginnt ein neues Leben.«
Ich hörte ihr gern zu. Ihre Ausdrucksweise, ihre leise, wohltönende Stimme erinnerten mich an meine verlorenen Freunde. Doch dabei spürte ich ständig das große Haus mit seinen aufgestellten Ohren und den wachsamen Augen im Rücken. Als sie aufstand, setzte ich mich eilig in Bewegung. Sie seufzte.
»Leb wohl, Kind.«
»Guten Abend, Ma’am.« Wo mochte die Dame wohl hingehören? Ich knickste und hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen.
Dort herrschten Aufruhr und Verwirrung. Hannah und