Emma Watson - Joan Aiken - E-Book

Emma Watson E-Book

Joan Aiken

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Beschreibung

Emma Watson (Heldin von Jane Austens gleichnamigem unvollendeten Roman) ist mit neunzehn zu dem kränkelnden Vater und ihrer Lieblingsschwester Elizabeth zurückgekehrt. Bruder Robert wohnt mit seiner habgierigen Frau in Croydon; die Schwester Penelope hat scheinbar eine gute Partie gemacht; ihr Bruder Sam bemüht sich um beruflichen Erfolg als Arzt, und Emmas Schwester Margaret glaubt, Tom Musgrave zu lieben.

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Joan Aiken

Emma Watson

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Diogenes

1

»Was für ein glücklicher Umstand, daß Robert und Jane ausgerechnet heute ihre Freunde in Alford besuchen«, sagte Emma Watson, während sie mit einem großen Bündel Tischwäsche beladen das Waschhaus betrat.

»Ja, wirklich«, bestätigte ihre Schwester Elizabeth und rührte eifrig in den Bottichen herum, die Wäsche in einer Lösung aus Haushaltssoda und ungelöschtem Kalk zum Einweichen enthielten. »Was du da bringst, Emma, können wir, wenn es nicht ganz bös verfleckt ist, gleich in den Kessel geben.«

»Da wäre nur dieses Taschentuch von Vater, auf dem sind Tintenflecke.«

»Dann legst du es am besten in einen Tiegel mit Oxalsäure oder Kleesalz. Die Flaschen stehen nebenan im Regal.«

Das Waschhaus der Pfarre von Stanton war ein großer, zugiger, mit gelben Steinplatten ausgelegter Raum, in dem ein Kupferkessel und mehrere Holzbottiche standen. Der Bleichraum nebenan wurde auch zum Bügeln, Mangeln und Trocknen benutzt. Beide Räume waren zu ebener Erde gelegen, die Fenster gingen auf den Wirtschaftshof hinaus. Im Augenblick standen alle Fenster offen, damit der Dampf abziehen konnte.

Beide Schwestern trugen Holzschuhe und große Leinenschürzen über den Kattunkleidern.

»Ich finde, zumindest Margaret hätte hierbleiben und uns helfen können. Sie weiß doch, daß die arme alte Nanny einen schlimmen Fuß hat und liegen muß«, stellte Emma sachlich fest und breitete das verfleckte Taschentuch in einem Tiegel mit Bleichlösung aus.

»Wo denkst du hin! An Margaret hätten wir so viel Hilfe wie an einer Dreijährigen – oder eher noch weniger. Sie würde nur quengeln und herumstehen und sich darüber beschweren, daß ihr das Soda die weißen Hände verdirbt. Nein, Emma, ohne sie kommen wir besser zurecht. Es ist sehr lieb von dir, daß du mir ein Stück Arbeit abnimmst, und ich bin heilfroh, daß es ein so schöner Tag zum Trocknen ist. Wenn es uns gelingt, bis neun die Bettwäsche im Obstgarten aufzuhängen, können wir vielleicht alles wieder hereinholen, ehe unsere Gäste abends zum Essen kommen. Wie gut, daß spätes Essen neuerdings in Mode gekommen ist.«

»Ein Jammer, daß du nicht mitfahren konntest, Elizabeth. Ich habe den Eindruck, daß du nie einen freien Tag hast.«

»Wenn ich die große Wäsche rasch hinter mich bringen kann, macht mir das viel mehr Freude als ein freier Tag«, sagte Elizabeth ehrlich. »Und gerade heute hätte ich Robert und Jane nicht um alles in der Welt begleiten mögen. Der Besuch hätte nur schmerzliche Erinnerungen geweckt, ich –« Die letzten Worte hatte sie mit erstickter Stimme gesprochen. Jetzt stand sie stumm am Waschkessel und biß sich auf die Lippen, um das Schluchzen zu unterdrücken, während sie mit einem Waschholz in dem weißdampfenden Gebräu herumrührte.

Emma warf ihrer älteren Schwester einen bekümmerten Blick zu. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war Elizabeth Watson über das Alter hinaus, in dem eine Frau sich noch Hoffnungen auf eine Ehe machen konnte. Die Schwestern hatten sich vierzehn Jahre nicht gesehen; als Emma damals ihr Elternhaus verlassen hatte, war Elizabeth fünfzehn gewesen, ein hochgewachsenes, lebhaftes, hübsches Mädchen mit frischen Farben, das mit ihrem prachtvoll dichten, blaßgoldenen Haar aussah wie eine nordische Prinzessin. Jetzt war ihr Gesicht schmal und verhärmt und im Augenblick feucht und gerötet vom Wäschedunst. Das strähnige Haar versteckte sie seit langem unter einer altjüngferlichen Haube.

Wie ungerecht ist doch das Leben, dachte Emma in hilflosem Zorn. Eliza ist viel hübscher als Margaret oder Penelope. Warum muß sie ihre Jugend und ihr gutes Aussehen opfern, um sich bei solchen Arbeiten abzuschuften, während die anderen beiden Besuche machen und sich amüsieren dürfen?

Um die Schwester von ihren trüben Gedanken abzulenken, fragte sie: »Wer ist denn dieser Freund unseres Bruders, den sie in Alford besuchen wollen?«

Die Frage war nicht glücklich gewählt. Um Elizabeths Lippen zuckte es erneut, aber sie beherrschte sich.

»Er heißt Purvis. Ich glaube, ich habe dir schon einmal von ihm gesprochen …«

»Ja, ich erinnere mich, du hast ihn neulich erwähnt, als du mich zum Ball nach Dorking gefahren hast.«

Doch als sie sich den Zusammenhang in Erinnerung rief, sank Emma der Mut, denn jetzt begriff sie, daß diese Bemerkung nun wirklich nicht geeignet war, die traurigen Erinnerungen ihrer Schwester zu verscheuchen. Diese aber schien froh zu sein, daß sie sich einmal aussprechen konnte.

»Purvis war meine erste und einzige Liebe«, fuhr sie fort. »Damals war er Hilfspfarrer in Abinger. Er hat Vater manchmal am Sonntag vertreten. Und er … ich … wir waren einander sehr gut. Alle sahen uns schon als Paar. Leider hat ihn unsere Schwester Penelope gegen mich aufgebracht. Sie hat ihm Unwahrheiten über mich erzählt, hat behauptet, ich sei flatterhaft veranlagt und schon Jeffrey Fortescue versprochen – was völlig aus der Luft gegriffen war – und … und damit hat sie mein Glück zerstört.«

»Aber … warum hat Penelope dir einen so schlimmen Streich gespielt?«

»Weil sie es selbst auf ihn abgesehen hatte. Sie meint wohl, daß jeder Trick erlaubt ist, wenn es um den Mann fürs Leben geht. Ich kann ihr nur wünschen, daß sie bald ihr Ziel erreicht.«

»Es ist ihr also nicht gelungen, Purvis einzufangen?«

»Nein. Ihm gefiel wohl ihre Art nicht. Das Ende vom Lied war, daß er seine Besuche einstellte. Bald darauf zog er fort und heiratete eine nicht unvermögende junge Dame aus Leith Hill.« Elizabeth seufzte. »Ich wünsche ihm, daß er glücklich geworden ist. Aber seither ist mir kein Mann begegnet, den ich so hätte lieben können, wie ich Purvis geliebt habe. Nun ja, um ehrlich zu sein: Mir sind seither überhaupt nicht viele Männer begegnet …«

»Wie kann eine Schwester der anderen so übel mitspielen?« empörte sich Emma, während sie energisch zwei Servietten auswrang und ins Spülwasser warf. »Unerhört ist das … Penelope scheint eine sehr unangenehme Person zu sein, ich habe jetzt schon Angst vor ihr. Hoffentlich kommt sie nicht so bald nach Hause.«

»Sie wird wohl bei den Shaws in Chichester bleiben, so lange es eben geht. Sie hat nämlich ein Auge auf einen reichen Herrn dort geworfen, einen gewissen Dr. Harding, den Onkel ihrer Freundin Miss Shaw. Er ist sehr viel älter als Penelope, aber sie ist inzwischen ja auch schon fünfundzwanzig und hat nicht mehr viel Zeit, sich umzuschauen. Wir können es uns nicht leisten, wählerisch zu sein, denn wir sind unversorgt und müssen alle versuchen, noch einen Mann zu bekommen. Aber in alle Ewigkeit kann Penelope natürlich nicht in Chichester bleiben, früher oder später wirst du sie also kennenlernen, und ich rate dir gut: Trau ihr nicht über den Weg! Sie kennt keine Skrupel, wenn es darum geht, etwas zu ihrem eigenen Vorteil zu wenden. Ich denke aber, daß sie vor dir Respekt haben wird, auch wenn du die Jüngste bist.«

»Vor mir? Ich wüßte nicht warum, zumal man mich wie eine nicht bestellte Warensendung nach Hause expediert hat«, sagte Emma trocken.

»Weil du so vornehm wirkst, Emma. Weil du Stil und Lebensart hast. Derlei imponiert Penelope. In den vierzehn Jahren bei Tante Turner bist du eine feine Dame geworden.«

»Was mir jetzt, da sie – oder vielmehr ihr frischgebackener Ehemann – mich fortgejagt hat, auch nicht weiterhilft«, versetzte Emma seufzend.

»Das war abscheulich! Wenn ich denke, was für Erwartungen man bei dir geweckt hatte, tust du mir herzlich leid. Aber du brauchst die Hoffnung auf eine wünschenswerte Verbindung noch nicht aufzugeben. Bei deinem Aussehen, deiner Eleganz, deiner gebildeten Ausdrucksweise … Denk nur, welchen Eindruck du auf Tom Musgrave und Lord Osborne gemacht hast, dabei haben sie dich nur dieses eine Mal beim Ball in Dorking gesehen. Ich war völlig überrascht, als sie plötzlich bei uns vor der Tür standen …«

»Und was haben wir von diesen beiden Nichtsnutzen?«

»Wie kannst du so stolz, so anspruchsvoll sein«, ereiferte sich Elizabeth. »Andere Mädchen würden alles dafür geben, von solch feinen Herren mit einem Besuch beehrt und bewundernd gemustert zu werden. Und danach ist Tom Musgrave noch einmal allein gekommen und zum Kartenspielen geblieben. Das hat er noch nie gemacht.«

»Ja, aber als er hörte, daß unsere Schwester Margaret heimkommen würde, hat er sich nicht mehr blicken lassen.«

»Die Ärmste«, sagte Elizabeth. »Sie lebt in dem Wahn, Tom Musgrave hätte sich ernsthaft in sie verliebt. Seit Januar wartet sie darauf, daß er das entscheidende Wort spricht. Aber ich fürchte, sie wartet vergebens. Unter uns gesagt, Emma: Ich denke, er würde nur eine Dame aus den besten Kreisen heiraten, Miss Osborne vom Schloß vielleicht oder zumindest eine junge Dame mit Vermögen.«

»Ich gönne ihm jede«, sagte Emma trocken. »Er ist ein rechter Schwadroneur.« Sie griff nach dem Korb mit der nassen Wäsche und ging damit zum Obstgarten, der hinter dem Wirtschaftshof und einem Ententeich lag.

Der trockene, windige Oktobertag war so recht für die große Wäsche geeignet. Die letzten welken Blätter waren schon zusammengerecht und verbrannt, aber immer noch fanden sich ein paar späte Äpfel im Gras. Emma hob einen auf und biß hinein. Er war süß und fest. Während sie die Wäsche an die Leine klammerte, hob sich unwillkürlich ihre Stimmung. Es war ein so schöner Tag, und mit neunzehn scheint nichts unmöglich, selbst wenn man wie ein Paket nicht bestellter Ware retourniert worden ist. Beglückt sah sie sich um. Der Blick war schöner und ging weiter als bei Tante Turner in Shrewsbury.

Die Pfarre von Stanton lag in einer Senke der North Downs, von der man weit über das Dörfchen Stanton bis nach Dorking sehen konnte. Das Pfarrhaus war alt, aber schmuck und geräumig, der von einer Fichtenhecke eingegrenzte Garten hübsch und gepflegt. Auf der Anhöhe lag, umgeben von Eiben, das alte Kirchlein.

Hier werde ich mich bestimmt wohlfühlen, sagte sich Emma. Elizabeth und der Vater sind so offen und gutherzig. Wäre nur meine Schwester Margaret nicht nach Hause gekommen! Mit ihr werde ich wohl kaum warm werden.

Besagte Margaret, die mit ihren zweiundzwanzig Jahren Emma altersmäßig am nächsten stand, war vor einigen Tagen in Begleitung ihres Bruders Robert und dessen Frau Jane, bei denen sie in Croydon zu Besuch gewesen war, in Stanton erschienen. Robert war Jurist und als einziger aus der Familie nicht unvermögend, da er das Glück gehabt hatte, die Tochter des Anwalts zu heiraten, bei dem er Bürovorsteher gewesen war. Jane besaß sechstausend Pfund eigenes Vermögen. Sie wohnten in einem sehr eleganten Haus in Croydon, in dem sie hochvornehme Gesellschaften gaben.

Auch Elizabeth war jetzt mit einem großen Korb voller Bettwäsche herausgekommen. Gemeinsam legten die beiden Schwestern die Bettücher zusammen und hängten sie auf die Leine.

»Nur gut, daß Jane uns jetzt nicht sieht«, sagte Eizabeth vergnügt und breitete die Handtücher über die Hecke. »Sie müßte sich ja in Croydon in ein Mauseloch verkriechen, wenn bekannt würde, daß ihre Schwestern die große Wäsche selber machen.«

»Wann, glaubst du, werden sie und Robert wieder abreisen?« fragte Emma, die eine starke Abneigung gegen ihre Schwägerin gefaßt hatte. »Und meinst du, daß sie Margaret mitnehmen?«

»Ich habe den Eindruck, daß sie lieber dich mitnehmen würden«, erwiderte Elizabeth lachend. »Jane ist sehr beeindruckt von deinem Aussehen und deiner Eleganz und würde dich gewiß gern ihren vornehmen Freunden in Croydon vorführen.«

»Ja. Und ihnen erzählen, wie schlecht es mir ergangen ist. Danke, auf ihr Mitleid und ihre Schadenfreude kann ich verzichten. Ich habe keine Lust, mich denen in Croydon als eine Art Aschenputtel zu präsentieren.«

»Wie Tante Turner dich behandelt hat, das war schon sehr unschön«, sagte Elizabeth und nahm damit ein bereits häufig behandeltes Thema wieder auf. »Wie konnte sie sich nur zwei Jahre nach Mr. Turners Tod einem irischen Hauptmann an den Hals werfen? Und dabei galt es doch vorher als ausgemacht, daß du sie einmal beerben würdest. Das war wirklich sehr schlimm. Und daß sie sich geweigert hat, dich nach Irland mitzunehmen …«

»Ich glaube, daß sie sich dazu von Hauptmann O’Brien hat überreden lassen«, sagte Emma. »Aber ehrlich gesagt mochte ich ihn gar nicht leiden und hätte wohl auch bei einer ausdrücklichen Einladung gezögert, mit ihnen nach Irland zu gehen. Ich will nicht sagen, daß man ihm nicht über den Weg trauen könnte, aber eine Freundin von mir, Miss Squires, hielt ihn für einen recht sittenlosen Menschen und wußte empörende Geschichten über seine Tändeleien mit anderen Damen zu erzählen. Und ein-, zweimal hat er mich tüchtig gezwickt und mir gewisse Blicke zugeworfen, so daß ich mich allein mit ihm in einem fremden Land sehr unwohl gefühlt hätte.«

»Und das ist der Mann, mit dem unsere Tante nun verheiratet ist …«

Emma seufzte. »Es macht mich sehr traurig, wenn ich ihn mit unserem Onkel vergleiche, der immer gütig wie ein Vater zu mir war, stets rücksichtsvoll und sanftmütig. Aber eins muß man Hauptmann O’Brien lassen: Er ist sehr unterhaltsam, und damit hat er die Tante wohl bestrickt. Ich kann nur hoffen, daß sie es nicht bereut, ihm die Hand fürs Leben gereicht zu haben.«

»Irland ist so weit weg. Falls ihr etwas zustößt …«

»Ja, eben. Mir fehlt sie sehr, das gebe ich gern zu, und ich mache mir oft Sorgen um sie. Ich kannte ihre Wünsche und Bedürfnisse so gut wie niemand sonst. Wie mag es ihr ohne mich ergehen? Aber da kommt eine Kutsche den Hang hoch, Eliza. Wer kann das sein? Doch noch nicht unser Bruder?«

»Barmherzigkeit«, stöhnte Elizabeth. »Besuch um diese Zeit? Und im Waschhaus stehen noch überall Pfützen, und gerade erst ist die alte Betsey King gekommen, um uns ein wenig zur Hand zu gehen. Etwa wieder Tom Musgrave und sein Freund, der Lord?«

Emma legte die Hand über die Augen, weil die Sonne sie blendete. »Nein«, entschied sie. »Tom Musgrave fährt einen Zweispänner, und ich sehe nur ein Pferd.«

»Ja, wer kann denn das nur sein? Der Besuch will zu uns, soviel steht fest, der Weg führt nicht über unser Haus hinaus. Guter Himmel! Ich muß Vater vorwarnen.«

Elizabeth nahm die Schürze ab und eilte ins Haus, und Emma folgte ihr, wobei sie hin und wieder stehenblieb, um ein paar verstreute Wäscheklammern aufzuheben.

Die Diele des Pfarrhauses von Stanton war klein und dunkel. Als Emma das Haus betrat, schien ihr, als wimmelte es dort von – allerdings hauptsächlich sehr kleinen – Menschen. Rasch machte sie die Tür zum Wohnzimmer auf, um ein wenig Licht in die düstere Szenerie zu bringen, und stellte fest, daß es sich bei ihrem Besuch um eine Dame und vier Kinder handelte.

»Mrs. Blake!« Elizabeth gelang es, nervös wie sie war, nur unvollkommen, ihr Erstaunen zu verbergen. »Wie liebenswürdig … Ich bin … Aber jetzt muß ich meinem Vater in seiner Studierstube Bescheid sagen. Er wird es sehr bedauern … er ist leicht schwerhörig und hat wohl nicht gemerkt, daß Sie gekommen sind. Bei uns ist alles ein bißchen durcheinander, unsere alte Kinderfrau ist krank, und mein Bruder, seine Frau und meine Schwester sind nicht zu Hause, was sehr schade ist, denn wahrscheinlich sind sie es, die … Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich sage meinem Vater Bescheid … Ach, da bist du ja, Emma! Führe doch Mrs. Blake ins Wohnzimmer. Auf der Anrichte steht Kuchen … vielleicht möchten die Kinder … oder Sie versuchen einmal unser Apfelkompott, die Äpfel sind in diesem Jahr besonders gut …«

»Bitte machen Sie sich keine Umstände, liebe Miss Watson«, sagte Mrs. Blake freundlich. Aber Elizabeth, die Vormittagsbesuche fürchtete und verabscheute, hatte schon das Weite gesucht in der Hoffnung, die gefaßtere und gesellschaftlich gewandtere Emma würde die unerwarteten Gäste ins Wohnzimmer bitten und sie mit Erfrischungen versorgen.

Mrs. Blake war eine lebhafte, kleine Frau Mitte dreißig von angenehmem Äußeren. Sie war schlicht, aber geschmackvoll gekleidet. Die Kinder, drei hübsche kleine Jungen und ein Mädchen, das noch in den Windeln lag, ähnelten ihr sehr, und alle waren sauber, adrett und sehr brav. Die Jungen umringten die Mutter, das Baby lag in ihren Armen und sah sich mit großen Augen um.

»Ich hätte Sie schon früher aufgesucht, meine liebe Miss Emma«, sagte Mrs. Blake mit sehr einnehmender, ungekünstelter Herzlichkeit, »hätte uns nicht vor zwei Tagen mein Mann unerwartet einen kurzen Besuch abgestattet. Als Frau eines Marineoffiziers kann man nicht frei über seine Zeit verfügen. Man muß immer damit rechnen, daß man plötzlich von einem Ende des Landes zum anderen gehetzt wird oder ohne Vorwarnung Besuch bekommt. So war es auch diesmal. Mein Mann wollte mir die Nachricht von seiner Beförderung persönlich überbringen, obschon er für die Reise hierher und zurück nach Southampton nur sechsunddreißig Stunden zur Verfügung hatte.«

»Papa ist Kapitän geworden«, sagte einer der kleineren Jungen ernsthaft zu Emma.

»Wie schön für euch alle. Herzlichen Glückwunsch!«

Verlegen und atemlos kam Elizabeth zurück.

»Mein Vater bittet Sie, ihn zu entschuldigen, Mrs. Blake. Sie wissen ja, wie kränklich er ist …«

»Kein Wort weiter, meine liebe Miss Watson, ich möchte ihn wirklich nicht stören. Und ehrlich gesagt bin ich auch nur gekommen, um mich bei Ihrer Schwester, Miss Emma, noch einmal für die große Freundlichkeit zu bedanken, die sie meinem kleinen Charles erwiesen hat.«

Elizabeth unterbrach die gastfreundliche Verteilung von Kuchen und Apfelkompott und sah überrascht auf. »Wann – wann war denn das? Ich wußte gar nicht …«

»Hat Miss Emma Ihnen das nicht erzählt? Pfui, Miss Emma, Sie dürfen Ihr Licht nicht so unter den Scheffel stellen!«

Emma war rot geworden. »Es war doch nur eine Kleinigkeit«, sagte sie lächelnd. »Jeder, der nicht gerade ein Herz von Stein besitzt, hätte ebenso gehandelt.«

»Ich spreche von dem Ball in Dorking, Miss Watson. Mein Ältester war tief enttäuscht, weil Miss Osborne ihm zwei Tänze versprochen hatte und dann doch mit Oberst Beresford getanzt hat –«

»– was ein echter Gentleman oder eine echte Lady nie tun würde, sagt Mama«, bemerkte Charles und sah Elizabeth aus seinen grauen Augen ernsthaft an.

»– und da trat, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, Miss Emma vor. ›Wenn Sie mit mir vorliebnehmen wollen, Sir‹, sagte Ihre Schwester herzlich, ›tanze ich gern mit Ihnen.‹ Und damit war mein Kleiner sofort wieder glücklich, war es nicht so, Charles?«

»Wir haben famos miteinander getanzt, nicht, Miss Emma? Und Sie haben versprochen, daß Sie sich das Pony aus den Stallungen vom Schloß anschauen, das ich manchmal reiten darf, und daß Sie mit mir Bilboquet spielen und zu dem Eishaus in Osborne Park gehen. Und daß ich Ihnen unsere Kastaniensammlung zeigen darf.«

»Ich weiß, ich weiß«, lachte Emma. »Und ich pflege meine Versprechen zu halten. Wenn es euch an einem schönen Tag einmal paßt, mache ich gern meinen Nachmittagsspaziergang in diese Richtung.«

»Ja, es ist nur eine knappe Meile«, bestätigte Elizabeth. »Mrs. Blake wohnt in Wickstead Cottage, dem kleinen weißen Haus gleich hinter dem Tor von Osborne Park, man kann es von der Straße aus sehen.«

»Wir holen Sie auch gern ab«, sagte Mrs. Blake. »Nicht wahr, Kinder?«

»Ja, Mama«, riefen sie im Chor. »Dürfen wir uns jetzt Miss Watsons Teich und die Enten ansehen?«

»Ein andermal.« Die Mutter stand auf. »Ich habe den Verdacht, daß Miss Watson uns am Montagvormittag, an dem sie gewiß alle Hände voll zu tun hat, ans andere Ende der Welt wünscht. Kommt, Charles, George, Frank, sagt auf Wiedersehen.«

Den energischen Worten ließ Mrs. Blake ebenso zielstrebige Taten folgen. Im Nu hatte sie ihre Kinderschar um sich versammelt und aus dem Haus gebracht. Ehe sie gewandt in den Einspänner stieg, drehte sie sich noch einmal um. »Daß ich es nicht vergesse, Miss Emma: Mein Bruder hat mir beste Grüße an Sie aufgetragen. Die beiden Tänze mit Ihnen seien die erfreulichste Erinnerung an den Ball gewesen, sagt er. Und er bedaure es sehr, daß er mich heute vormittag nicht begleiten konnte. Er mußte mit Lord Osborne ausreiten, um etwas für Lady Osborne zu erledigen.«

»Es hat nichts auf sich … das heißt … ich bin Mr. Howard sehr verbunden«, stotterte Emma errötend.

»Jetzt aber los. Hüh!« Der Einspänner rollte in flottem Tempo davon.

»So eine Überraschung.« Elizabeth ging wieder ins Haus. »Aber wie kommt es, daß ich noch nichts von dem Tanz mit dem kleinen Charles gehört habe?«

»Ich dachte, das hätte ich dir erzählt. So kam es ja, daß sein Onkel, Mr. Howard, mich aufforderte, und davon habe ich doch bestimmt gesprochen …«

»Ja, allerdings, und es hat mich sehr überascht, denn er trägt sonst die Nase recht hoch. Seine Schwester scheint sehr umgänglich und bescheiden zu sein, ich würde mich freuen, näher mit ihr bekannt zu werden.«

»Nur im Augenblick wünschst du sie zum Teufel«, lachte Emma, »weil sie uns am Montagvormittag überfallen hat. Soll ich Vater seinen Eierpunsch bringen, oder willst du es tun, während ich mit dem Bügeln anfange? Bei dem schönen Wind dürfte die Wäsche schon trocken genug sein.«

»Bring du ihm seinen Eierpunsch, Emma, ein kleiner Plausch mit dir tut ihm bestimmt gut. Und dann kannst du dich mit dem Tolleisen an die Rüschen der Kopfkissen und Brusttücher machen, denn darin ist dir niemand über.«

Elizabeth eilte wieder ins Waschhaus.

Der früher so gesunde, kräftige Pfarrer Watson war im Alter klein und hinfällig geworden. Da er unter schwerem Asthma litt, hatte er den größten Teil seiner seelsorgerischen Pflichten abgeben müssen, hielt aber, soweit er konnte, immer noch den Gottesdienst. Äußerlich hatte er große Ähnlichkeit mit seiner jüngsten Tochter Emma. Er war, wie sie, klein von Statur, hatte blanke, dunkle Augen und einen klaren bräunlichen Teint. Das dünne Haar war schneeweiß und weich wie Distelwolle. Er wirkte sehr gebrechlich, klagte aber kaum. Meist hielt er sich in seiner gemütlichen Studierstube im Obergeschoß auf der Sonnenseite des Hauses auf, aus dem der Blick auf den ummauerten Garten, die Fichtenhecke und die zum Pfarrhaus gehörende Wiese ging, die von hohen Ulmen umgeben war.

»Danke, liebes Kind«, sagte er, indem er seiner Jüngsten den Becher abnahm. »Es war hübsch, wieder einmal Kinderstimmen im Haus zu hören, und ich bedaure es, daß ich mich nicht um unsere Gäste kümmern konnte. Aber Robert und seine Frau im Haus zu haben ist anstrengend genug, mehr kann ich mir nicht zumuten. Jane spricht immer so laut und so schnell. Es war sehr aufmerksam von Mrs. Blake, uns einen Besuch abzustatten. Ihren Bruder, Mr. Howard, schätze ich sehr, er ist ein hervorragender Gelehrter und echter Gentleman. Erst letzte Woche war er so freundlich, mir bei der Visitation des Bischofs die steile Treppe hochzuhelfen. Erstaunlich einfühlsam für einen so jungen Mann … Sagte ich schon, daß er bei dieser Gelegenheit nach einer meiner Töchter fragte? Ich weiß nicht mehr, nach welcher, aber ihr werdet es euch schon denken können …«

»Das war sehr entgegenkommend von Mr. Howard«, sagte Emma herzlich. »Und seine Schwester gefällt mir ausnehmend gut. Jetzt muß ich gehen, Papa. Hast du alles, was du brauchst? Ich möchte Elizabeth mit der großen Wäsche nicht allein lassen.«

»Danke, liebes Kind. Ja, ich sitze behaglich und brauche weiter nichts.«

Während Emma die Treppe hinuntereilte, hörte sie zu ihrem Schrecken schon wieder die Räder einer Kutsche über den gekiesten Vorplatz rollen.

Arme Elizabeth, dachte sie. Wer um alles in der Welt kann denn das sein? Am Montagvormittag?

Kurz entschlossen ging sie zur Haustür und öffnete sie weit. Vielleicht konnte man den Besuch schnell wieder fortschicken …

Draußen war ein Landauer vorgefahren, und ein elegant livrierter Groom war abgesprungen, um den Wagenschlag zu öffnen.

Das Paar, das der Kutsche entstieg, war Emma auf den ersten Blick völlig fremd. Es handelte sich um einen beleibten, rotgesichtigen älteren Herrn, der langsam und am Stock ging, und eine sehr fesch gekleidete Dame mit vielen Federn auf der Haube.

Bei Emmas Anblick fuhr die Dame zusammen, dann stieß sie mit schriller, affektierter Stimme hervor: »Ja du lieber Himmel, kann denn das wirklich Emma sein? Meine kleine Schwester Emma? Liebe, süße Erinnerung an vergangene Tage und an unsere selige Mutter … Welch bezaubernde Überraschung! Welch erfreuliches Zusammentreffen!«

Emma stutzte und machte große Augen.

»Bist du … kannst du meine Schwester Penelope sein?«

»Aber ja, wer sonst?«

Jene Penelope, an die Emma sich erinnerte, war eine blonde, pummelige, ständig schlechtgelaunte Elfjährige gewesen, die ihre jüngeren Schwestern gnadenlos herumkommandierte, häufig aber selbst in Schwierigkeiten geriet, weil sie mit den ihr übertragenen Aufgaben nicht fertig wurde. War es denn möglich, daß aus diesem wenig einnehmenden Kind die hochelegant gekleidete Fremde geworden war, die jetzt vor ihr stand? Bei genauerem Hinsehen aber verrieten die tiefen Kerben zwischen den Augenbrauen und die scharfen Falten um die Mundwinkel, daß jene Verdrießlichkeit, die Emma von damals kannte, noch immer Penelopes ständige Begleiterin war. In diesem Moment aber war alles eitel Sonnenschein.

»Das liebe alte Heim«, seufzte sie. »Klein, aber mein …«

Emma war ausnahmsweise um Worte ebenso verlegen wie sonst ihre Schwester Elizabeth. »Ich … du … ich wußte nicht … wurdest du erwartet?« stotterte sie. »Bitte … bitte komm doch herein. Ich hole gleich Elizabeth, aber Robert, Jane und meine Schwester Margaret sind leider nicht zu Hause, sie besuchen alte Bekannte. Heute abend sind sie wieder zurück, aber …«

Bei der Überlegung, wie sie so viele Leute unterbringen sollten, wurde ihr recht unbehaglich zumute. Und wer war der alte Herr? Bisher hatte er noch nicht den Mund aufgemacht, sah sich aber interessiert um.

»Robert und Jane sind also auch hier? Das trifft sich ausgezeichnet, da können gleich alle die frohe Kunde vernehmen«, erklärte Penelope mit triumphierendem Lächeln und zwinkerte vielsagend. Sie hatte, wie Emma jetzt feststellte, von der Haar- und Hautfarbe und vom Gesichtsschnitt her viel Ähnlichkeit mit Elizabeth, war aber sehr viel korpulenter; die Lippen waren schmaler, die blauen Augen kleiner.

Elizabeth kam gehetzt und gerötet aus den hinteren Regionen des Hauses, wo sie offenbar die Nachricht von dem überraschenden Besuch erreicht hatte.

»Guter Gott, Penelope! Welche Überraschung. Wir ahnten ja nichts von deiner Rückkehr. Warum –«

»Ich ja auch nicht. Und von Rückkehr kann keine Rede sein«, frohlockte Penelope und strahlte übers ganze Gesicht. »Das ist mein Ehemann, Dr. Harding. Wir sind auf der Hochzeitsreise, und weil Stanton auf dem Weg lag, wollten wir natürlich hier Station machen, um euch die freudige Nachricht zu überbringen. Und wo ist mein lieber Vater?«

»Oben in seiner Studierstube.« Elizabeth war so konsterniert, daß sie die Mitteilung ihrer Schwester offenbar noch gar nicht recht begriffen hatte. »Dort hält er sich jetzt meistens auf … ich hole ihn sofort … du liebe Güte … die Kutsche laßt ihr am besten auf den Hof fahren. Und … ja, du lieber Himmel … eure Leute? Unsere arme alte Nanny liegt mit einem schlimmen Fuß zu Bett … ich weiß wirklich nicht … wolltet ihr hier übernachten? Gewiß, da ist noch die Dachkammer, aber ich fürchte, sie ist sehr feucht … mein Zimmer teile ich schon mit Emma, und … aber wir würden es natürlich für euch räumen …«

»Nur keine Aufregung, Kindchen«, krähte Penelope aufgeräumt. »Unsere Leute können im Alten Krug etwas essen und machen damit niemandem Umstände, und wenn du für uns eine Scheibe kaltes Fleisch und ein Schlückchen Madeira hättest …«

»Ich sage gleich Vater Bescheid. Bitte führe sie ins Wohnzimmer, Emma.«

Elizabeth, die offenbar eine kurze Atempause brauchte, um wieder zur Besinnung zu kommen, ging rasch die Treppe hoch. Emma bat die beiden Gäste höflich herein und bereute es bitter, daß sie die Spuren des Blakeschen Besuchs nicht getilgt hatte. Auf dem Fußboden lagen Kuchenkrümel, und auf dem Klapptisch standen drei Schälchen mit Löffeln und Apfelkompottresten.

»Das liebe, heimelige Wohnzimmer«, sagte Penelope gerührt, »dem ich so viele glückliche Stunden meiner Kindheit verdanke. Mein halbes Leben habe ich in diesem Zimmer verbracht, Dr. Harding, das muß man sich einmal vorstellen.«

Emily überlegte, daß das kaum der Fall sein konnte, da beim Umzug der Familie nach Stanton sie selbst vier und Penelope zehn gewesen war und man Penelope und Elizabeth mit elf und fünfzehn ins Pensionat nach Epsom geschickt hatte. Liebenswürdig bat sie das frischgebackene Paar, doch bitte Platz zu nehmen.

Dr. Harding wirkte immer noch etwas benommen, machte aber jetzt endlich auch einmal den Mund auf.

»Wie? Was? Ähem … wer sind dann wohl Sie, junge Dame? Eine von Penelopes Schwestern? Sie hat etliche davon, soviel ich weiß …«

Er hatte einen leichten nordenglischen Akzent, aber da Emma dieser Landesteil nicht vertraut war, hätte sie nicht sagen können, ob er aus Yorkshire, Cumbria oder Schottland kam. Er schien ein freundlicher, bescheidener, wohlmeinender Mensch zu sein, der nach der so plötzlich erfolgten Wende in seinem Leben noch nicht so recht zur Besinnung gekommen war.

»Ja. Ich bin Emma, die Jüngste. Später werden Sie auch Margaret, unseren Bruder Robert und dessen Frau kennenlernen.«

Mit entschieden unbehaglichen Gefühlen angesichts einer so vielköpfigen Versammlung räumte Emma rasch die Kompottschälchen weg und brachte die Madeirakaraffe, Biskuits und ein Tablett mit Gläsern. Jetzt hörte sie auch ihren Vater langsam die Treppe herunterkommen.

»Ihr wollt also heute noch weiter?« Mit ihrer Frage brachte sie Penelope aus dem Konzept, die gerade mit großer Ausführlichkeit die Porträts und Miniaturen der Familie an den Wänden erläutert hatte, aber es lag ihr sehr viel daran, sich rasch Klarheit über die Pläne der Hardings zu verschaffen. »Darf ich fragen, wohin?«

»Ja«, erklärte Penelope eifrig, »Martha, die Tochter meines lieben Mannes aus erster Ehe, schließt nächste Woche in Northampton den Bund fürs Leben. Begreiflicherweise wollte er bei diesem festlichen Anlaß nicht fehlen, und ob du es glaubst oder nicht, Martha und ich haben uns noch nie gesehen …«

»Aber ihr wollt doch nicht heute noch nach Northampton?«

»Aber nein, wo denkst du hin?« Penelope lachte herzlich. »Heute wollen wir nur bis ins Hotel Pulteney auf dem Piccadilly. Dort werden wir ein- oder zweimal übernachten, wollen in London ein wenig einkaufen und dann unsere Reise nach Northampton fortsetzen.«

Emma und Elizabeth wechselten einen Blick tiefempfundener Erleichterung. Mr. Watson, der inzwischen bedächtig das Zimmer betreten hatte, verlangte, daß man ihm alles noch einmal klar und deutlich erkläre.

»Penelope und Dr. Harding sind verheiratet, Papa. Und Penelopes Ehemann, Dr. Harding, freut sich sehr darauf, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Heiraten? Sie wollen heiraten? Dann müssen wir das Aufgebot verlesen lassen. Jemand soll Mr. Nicholls, den Hilfspfarrer, holen. Nur – wo soll der Herr in den nächsten drei Wochen wohnen?«

»Nicht doch, Papa! Sie sind bereits verheiratet, sie haben sich in Chichester trauen lassen, in der St. John’s-Kirche. Schau her, Penelope zeigt dir ihren Trauring.«

Triumphierend streckte Penelope ihrem Vater die Hand hin. Über dem Goldreif steckte ein zweiter Ring mit einem großen, sehr stattlichen Stein.

»Aber wir kommen bald wieder«, sagte sie zu Elizabeth, und Emma dachte bei sich, daß in ihrer Stimme ein Ton höchst unangebrachter Herablassung schwang. »Nicht, daß wir hier wohnen wollten – das ginge wohl nicht an und wäre auch kaum passend. Aber ratet einmal, was wir heute vormittag getan haben.«

»Ich glaube nicht, daß ich das erraten kann, Penelope«, sagte Elizabeth matt. Vermutlich, sagte sich Emma, überlegt sie gerade, ob die Erbsensuppe in der Speisekammer zusammen mit den Resten der Taubenpastete wohl als Stärkung für die unerwarteten Gäste hinreicht.

»Wir haben uns Clissocks angesehen und es gekauft.«

»Clissocks«, murmelte Mr. Watson, der offenbar einige Mühe hatte, dem Gespräch zu folgen. »Jaja, das war einstmals eine stattliche angelsächsische Behausung. Ein Jammer, daß sie derart verfallen ist. Und in so kurzer Zeit … Eine traurige Geschichte, eine ganz traurige Geschichte.«

»Ich habe an meine Freundin Tilly Sawyer geschrieben – du erinnerst dich doch bestimmt an sie, Eliza, früher hieß sie Tilly Partridge, und nach ihrer Heirat ist sie nach Guildford gezogen, und sie hat mir bestätigt, daß Clissocks noch immer leer steht. Und da habe ich zu monsieur mon mari gesagt, fahren wir doch dort vorbei, besichtigen wir das Anwesen, es liegt ja fast auf unserem Wege, nehmen wir unseren hochgeschätzten Mr. Thickstaffe mit, der sich um unsere Geschäfte kümmert – und ich kann euch sagen, nie ist ein Geschäft schneller abgeschlossen worden. Der alte Sir Meldred, der im Pförtnerhaus hockt und praktisch nur von Brot und Käse lebt, hat schon unser erstes Angebot freudig akzeptiert. Allerdings sieht er aus, als ob er’s nicht mehr lange macht, der Ärmste …«

»Clissocks?« wiederholte Mr. Watson konsterniert. »Ihr denkt daran, Clissocks zu kaufen? Aber das Haus steht seit zehn Jahren leer, weil es schon vor Lady Torridges Tod in einem so schlimmen Zustand war, daß sich partout kein Käufer fand. Nein, nein, diesen Gedanken schlagt euch nur schleunigst aus dem Kopf, hört auf meinen Rat …«

»Das Geschäft ist perfekt, Papa, da ist nichts mehr zu machen.«

»Aber besitzen Sie nicht ein Haus in Chichester, Dr. Harding?« wagte Elizabeth zu fragen.

»Ja, gewiß, ein Hühnerställchen, ein Puppenhaus mit einem eßzimmergroßen Gärtchen. Aber jetzt werden wir Nachbarn. Dr. Harding hat seine Arztpraxis aufgegeben, und ich habe ihm gesagt, daß wir mehr Bewegungsfreiheit brauchen.«

Glückselig und mit Siegermiene sah Penelope sich um. Emma mußte unwillkürlich an Mrs. Blakes Baby denken. Genauso hatte vorhin die Kleine ihre Umgebung gemustert und sich gefreut, weil sich alles um sie drehte.

Draußen ertönte Hufschlag.

»Nein«, stieß Elizabeth fast verzweifelt hervor. »Nicht noch mehr Besuch …«

»Vielleicht ist es Robert«, sagte Penelope hoffnungsvoll. »Ich bin schon sehr begierig, Jane und auch Margaret wiederzusehen. Die lieben Mädchen …«

»Nein, Robert kann es nicht sein«, sagte Emma. »Ich höre keine Kutsche. Es sind Reiter.«

Die Worte waren kaum heraus, da war ihr eine mögliche Erklärung eingefallen, die ihr einen gehörigen Schrecken einjagte. Tatsächlich – als sie rasch durchs Fenster sah, erkannte sie Tom Musgrave und seinen Freund Lord Osborne, während ein dritter Reiter sich gerade entfernte.

»Erschrick nicht«, sagte Emma halblaut zu Elizabeth. »Es ist Tom Musgrave …« Das Gesicht der Schwester zeigte nur zu deutlich, wie unwillkommen ihr diese Nachricht war.

»Tom Musgrave?« stieß Penelope hervor. »Nein, wirklich … das ist denn doch die Höhe! Ausgerechnet! Tom Musgrave, mein Lieber«, sagte sie zu ihrem Mann, »ist ein junger Bursche, der mir früher einmal äußerst hartnäckig den Hof gemacht hat. Aber dem habe ich tüchtig den Kopf zurechtgerückt. Mit einem so eingebildeten jungen Hohlkopf, einem solchen Gecken wollte ich nichts zu tun haben. Jaja, dem habe ich gezeigt, wo der Bartel den Most holt, stimmt’s, Eliza?« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Danach hat er Margaret schöne Augen gemacht, er gehört zu der Sorte von Männern, die mit jeder jungen Dame anbandeln, die ihnen vor die Augen kommt. Und jetzt hat er wohl seine Aufmerksamkeit dir zugewandt, meine kleine Emma?« Sie lachte affektiert.

Emma konnte die Antwort schuldig bleiben, denn in diesem Augenblick klopfte es, und es blieb ihr nichts weiter übrig, als Tom Musgrave und Lord Osborne einzulassen.

»Holla, Miss Emma!« Tom schien bester Laune zu sein. Gewitzt durch Erfahrungen mit dem zweiten Mann ihrer Tante und durch einen deutlichen Sherrygeruch, der sich sacht im Zimmer ausbreitete, auf die rechte Fährte gesetzt, sagte sich Emma, daß er und sein Begleiter offenbar bereits im Alten Krug oder einer anderen Gastwirtschaft eingekehrt waren. Die beiden jungen Herren waren über und über mit Schlamm bespritzt, zerkratzt und zerzaust. »Holla, alle miteinander! Wir haben verteufeltes Pech gehabt … haben den Fuchs verloren, diesen schlauen alten Schuft, in High Down Gorse ist er den Hunden einfach entschlüpft. Bis dahin lief alles prächtig, wir waren beide an der Spitze, aber dann hat sich das gewitzte Biest im Fotherby Wood einfach seitlich in die Büsche geschlagen, und damit war die Jagd zu Ende, aus und vorbei, denn Sir Giles duldet keine Jagdhunde auf seinen Ländereien. Es war überaus ärgerlich, nicht wahr, Osborne? Ja, und um es kurz zu machen, da uns der Heimweg bis auf eine halbe Meile an Ihr Haus heranführte, haben wir uns gedacht, wir schauen mal vorbei. Unterwegs haben wir noch Howard getroffen, aber der hat sich gedrückt …«

In diesem unbekümmert-lockeren Ton redete Tom Musgrave noch eine Weile weiter, ohne seine Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Lächelnd, lässig und mit gerötetem Gesicht, die Daumen in die Westentaschen gehakt, die Peitsche unter dem Arm, stand er in der Diele. Er war ein gutgebauter, ansehnlicher junger Mann mit dunklem Haar und frischer Gesichtsfarbe. Sein heiteres Selbstbewußtsein legte den Gedanken nahe, daß er erwartete, von der Welt gut behandelt zu werden, und bisher keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht hatte. Sein etwas jüngerer Freund Lord Osborne hatte helles Haar und ein schmales Aristokratengesicht und schwankte in seinem Benehmen zwischen Kälte, Befangenheit und plötzlichen Anflügen von Arroganz. Es war, als habe er das Gefühl, etwas Besseres zu sein, wisse aber nicht recht, ob er hier willkommen war. Jetzt stieß er – vielleicht weil er feinfühliger war oder vielleicht auch nur, weil er im Alten Krug nicht ganz so tief ins Glas geschaut hatte – seinen Freund an und sagte halblaut: »He, Musgrave, es sind Gäste im Haus. Nicht nur die Familie, sondern noch andere Leute.«