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Marlene Streeruwitz

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Beschreibung

»Entfernung.« ist die Chronik eines Lebens im Moment seiner drohenden Zerstörung. Selma Brechthold erlebt die Globalisierung als Angriff auf ihre Person. Sie verliert, was sie ausmacht. Der Strudel der Ereignisse wird zum Abgrund. Die Angst wird Wirklichkeit, als der Terror London lahm legt. Um Überleben zu können, muss sie ihre Wahrheit finden. Die Sprache dieses Romans ringt um das Überleben der Figur. In dieser präzise komponierten, virtuos instrumentierten Geschichte entfaltet Marlene Streeruwitz ihre Kunst der genauen Beobachtung auf höchstem Niveau. »Entfernung.« ist ein Zeitdokument, ein künstlerisches Statement, ein großer Roman von Marlene Streeruwitz.

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Seitenzahl: 656

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Marlene Streeruwitz

Entfernung.

31 Abschnitte Roman

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Inhalt

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Entfernung.

1

Was sollte sie tun. Sie stand auf der Schwelle der Wohnungstür. Zwischen den beiden Türflügeln. Was sollte sie tun. Er hatte seinen Wohnungsschlüssel vergessen. Sie hatte die äußere Wohnungstür aufgemacht. Hatte nach ihrem Schlüssel gegriffen. Hatte ihren Schlüssel aus der Silberschale auf der Biedermeier Eckkonsole genommen. Wollte hinausgehen. Die innere Tür hinter sich zumachen. Und hatte seinen Schlüssel liegen gesehen. Silbern gegen den silbernen Boden der Schale. Er hatte den Schlüssel liegen gelassen. Wieder. Schon wieder. Sie stand. Lehnte sich gegen den Türstock. Das Holz kühl durch das Leinen der Jacke. Der Rucksack war über die Schulter gerutscht. Der Riemen. Ein tiefer Schnitt in den Oberarm. Sie konnte ins Café »Eiles« gehen. Sie konnte ihm den Schlüssel bringen. Ihm den Schlüssel nachtragen. Sie konnte an seinen Tisch treten. Den Schlüssel auf den Marmortisch legen. Sie konnte sich zu ihm setzen. Sie konnte sich eine der auf der Sitzbank gestapelten Zeitungen nehmen. Die Süddeutsche. Die Neue Zürcher. Die Herald Tribune. Sie konnte einen kleinen Schwarzen bestellen. Zeitunglesen. Und mit ihm wieder nach Hause. Sie konnte ihm den Schlüssel bringen und gleich wieder gehen. Den Schlüssel auf den Marmortisch. Ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich fahre jetzt. Pass auf dich auf.« Und weg. Zum Auto. Zum Flughafen. Und weg. Warum ließ er den Schlüssel liegen. War das schon länger so. War das seit kurzem. Diese Vergesslichkeit. Sie stand da. Auf dem Gang. Die Sonne hatte die riesigen Fenster erreicht. Mittag. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel unter den Fenstern auf den Boden. Ließ die gelblichen Specksteinplatten weiß aussehen. Das Licht warf wässrige Wellen an die Wand links. Es war noch nicht heiß. Es war gerade noch nicht heiß. Die Hitze erst noch flirrend. Beweglich. Bis Abend fest. Bis zum Abend der Gang ein Hitzetunnel wurde. Im Sommer. Im Stiegenhaus dann ein Luftzug und im Hauseingang unten war es wieder kalt. Zwischen dem Tor zum Hof und dem Haustor. Die Luft noch vom Winter und schwer. In der Wohnung. Sie schaute zurück. Die Zimmer dämmrig. Alle Türen zum Balkon offen. Der Blick in die Linden. Die Baumkronen. Ein Gewirr von Grün. Die Sonnenstrahlen in das Grün und verschwanden und in zackigen Flecken auf den Boden des Balkons fielen. Schwimmende zittrige Flecken auf dem Holzrost. Sie konnte auch auf den Balkon gehen. Sie konnte in ihr Zimmer gehen. Den Rucksack auf dem Bett abstellen. Die Jacke aufhängen. Auf den Balkon gehen. Sich auf ihren Liegestuhl legen. Und ein Buch. Oder Musik. Oder nur liegen. Im leisen Rascheln der Blätter liegen. In der mittäglichen Stille des Hofs. Vor den Stadtgeräuschen. Sie konnte sich ausstrecken und sich weit weg fühlen. Von den Stadtgeräuschen. Und sie die Einzige sein würde. Niemand sonst auf einem der Balkone. Alle anderen im Urlaub. Im Job. Beschäftigt. Sie. Sie konnte lesen. Oder Musik hören. Sie konnte einen kostbaren Augenblick an den anderen reihen. Einen kostbaren Augenblick an den anderen fügen. Und auf den Vater warten. Ihm aufmachen, wenn er klingelte. Aber er würde mit der Sydler kommen. Die Sydler würde ihm mit dem Ersatzschlüssel aufsperren. Er war gar nicht vergesslich. Er wollte die Sydler sehen. Das Ganze war eine Ausrede, die Sydler in die Wohnung zu holen. Und wahrscheinlich war das ihretwegen. Wahrscheinlich war das seine taktvolle Art. Er wollte ihr nicht sagen, dass er die Sydler sehen wollte. Sah. Dass er die Sydler sah. Und dass die Sydler und er. Sie stieß sich vom Türrahmen ab. Griff nach dem Schlüssel. Sie musste den Schlüssel vom Boden der Schale ablösen. Die Fingernägel über das kalte Metall. Sie erschauerte. Sie musste die Schulterblätter nach oben ziehen. Gegen den Schauer. Sie schloss die weiße Innentür. Trat auf den Gang. Schob die Außentür zu. Versperrte das Türschloss und das Balkenschloss. Sie rüttelte an der Klinke. Vergewisserte sich. Wohnungseinbrüche hatten ein neues Hoch erreicht. In diesem Sommer. In Wien. Sie sah die Tür an. Dr. Karl Brechthold. Türschild. Briefschlitz. Drehklingel. Türknauf. Das Messing war stumpf und schartig. Die Tür abgewetzt. Der braune Anstrich matt und zerkratzt. Alle anderen im Haus hatten Alarmanlagen installiert. Wenn die Tür so arm aussähe. Das würde die Diebe decouragieren. Meinte der Vater. Das Balkenschloss hatte die Mutter einbauen lassen. Aber ein einziger Schlüssel musste alle Schlösser sperren. Der Vater wollte keinen Schlüsselbund. Auf einem einzigen Schlüssel für alle Schlösser hatte er bestanden. Damit er ihn bequem im Täschchen in der Weste tragen konnte. Und jetzt ließ er ihn liegen. Sie drehte sich von der Tür weg. Sie ging zum Asparagus zwischen den Fenstern. Der Blumenstock auf einem niedrigen schmiedeeisernen Tischchen mit hellgrünen Kacheln als Tischplatte zwischen den Fenstern. Das grün durchsichtige Gewirr der nadeligen Zweige reichte bis hoch in die Mitte der Fenster hinauf. Fielen in großen Bögen fast bis zum Boden hinunter. Sie beugte sich zu dem Blumenstock. Griff in den Topf. Die Asparagusnadelchen sanft stichelig auf dem Handrücken. Sie fühlte die Erde. Nass. Die Erde war nicht feucht. Die Blumenerde war nass. Die Sydler war also wieder gegangen und hatte den Blumenstock gegossen. Nachdem sie ihn schon gegossen hatte. Also auch der Asparagus eingehen würde. Auch dieses Blumentischchen würde auf die anderen Blumentischchen gestapelt werden. Das Blumentischlager in der Dienstmädchenkammer hinter der Küche würde dann vollständig sein. Dann waren alle da gelagert. Die hohen Blumentischchen mit den Blechwannen aus dem 19. Jahrhundert. Die niedrigen art-déco-Tischchen. Helles Holz und abgerundete Tischbeine. Die schmiedeeisernen Blumentische mit den Kacheln. Aus den 50er Jahren. Wenn der Asparagus tot war. Dann waren alle Blumentische in der Kammer gelandet. Dann war der letzte Blumenstock von der Mutter tot. Und Asparagus. Da gab es eine Regel. Asparagus durfte nicht gegossen werden. Irgendwann. Sie wusste nicht mehr, wann das sein sollte. Sie griff noch einmal in den Topf. Griff in die feuchte Erde. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie konnte sich an keine dieser Regeln erinnern. Sie war hier gestanden. Sie hatte ihre kleine Kindergießkanne gehabt. Sie war mit der Mutter hier gestanden und hatte Blumen gießen dürfen. Sie konnte sich fühlen. Wie sie da gestanden war. Die Spannung in den Füßen vom Auf-den Zehenspitzen-Stehen. Vom Sich-Hochrecken, um alle diese Blumen erreichen zu können. Es war nicht aus den Fenstern zu sehen gewesen. Vor Blumen. Sie konnte sich fühlen. Klein. Angespannt. Sich hochstreckend. Begierig, das Wasser in die Blumentöpfe zu leeren. Dem Wasser zuzusehen, wie es in die Erde rann. Wie es in der Erde verschwand. Die Mutter hinter ihr. Die Mutter stand hinter ihr. Sie konnte sie fühlen. Hinter sich. Ein Wesen. Vorstellen konnte sie sie nicht. Vorstellen konnte sie sich die Mutter nicht mehr. Und der Asparagus hatte nun schon lange überlebt. Sie stand da. Sah hinaus. Sie sah auf den Schönborn-Park. Auf die Feuermauern dahinter. Die Dächer. Die Hügel des Wienerwalds. Weit hinten. Dunstig verschleiert. Sie musste aufpassen. Sie durfte nicht verbittert werden. Verbitterung. Das sah man in den Gesichtern. Und sie hatte diese Linien von der Mutter geerbt. Diese Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Die die Mundwinkel nach unten zogen. Sie richtete sich auf. Zog die Schultern nach hinten. Vielleicht war es ja gut, wenn der Asparagus so viel Wasser bekam. Bei dieser Hitze. Die Pflanze sah nicht krank aus. Und man musste alles innen behalten. Es durfte nichts zu sehen sein. Außen. Auch in der Haltung nicht. Sie trat an das Fenster. Sah hinunter. Die Autos auf der Lange Gasse Grün hatten. Die Ampel an der Kreuzung zur Florianigasse auf Grün umgeschaltet. Sie sah die Autodächer anfahren. Eine Prozession von silbernen und grauen Autos zwischen den parkenden Autos durch. Die Gehsteige fast leer. Sie schob den Riemen des Rucksacks über die Schulter zurück hinauf. Sie ging den Gang entlang. Am Stiegenhaus vorbei. Sie trat immer nur einmal auf eine der großen Specksteinplatten. Als Kind hatte sie hüpfen müssen. Jetzt musste sie nur längere Schritte machen. Aus dem Stiegenhaus ein Lufthauch. Kein Geräusch. Ihre Schuhe lautlos. Die Pradaschuhe hatten Gummisohlen. Sie hatte sie genommen, weil sie »Prada« in Weiß auf ein schmales glänzend rotes Bändchen auf der Zunge unter den Schuhbändern geschrieben hatten und an der Sohle. Die Ferse herauf. Für Jonathan Gilchrist waren solche Signale wichtig. Und wenn es regnete. Dann hielten diese Schuhe die Nässe aus. Die Wettervorhersage hatte nichts von Regen gesagt. Aber in London wusste man nie. Sie blieb vor der Tür am anderen Ende des Gangs stehen. Die Tür weiß. Neu gestrichen. Ein Spion über dem Namensschild. Dr. Evelyn Sydler. Psychotherapie. Über der Tür links oben der kleine beige Kasten mit der orangeroten Lampe der Alarmanlage. Sie läutete. Ein Summen. Sie wartete. Stand da. Zögerte, ein zweites Mal zu läuten. Wenn die Sydler nicht da war. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass die Sydler nicht daheim sein könnte. Dann musste sie ihm den Schlüssel bringen. Dann musste sie ins »Eiles«. Und wenn er nicht da war. Dann musste sie nach Hause und warten. Der Ärger ballte sich kurz um die Mitte. In der Magengrube. Alles spannte sich um diesen Punkt. Dann zerfiel ihr innen gleich wieder alles. Sie konnte spüren, wie ihre Schultern nach vorne sackten. Wie die Rippen sich über den Oberbauch stülpten. Wie sie gleich flacher atmete. Wie die Hoffnungslosigkeit sich ausbreitete. Die Arme schwer machte. Vor Schwere baumeln machte. Und der Kopf seitlich nach vorne sackte. Der Spion wurde von innen aufgemacht. Sie hörte die Klappe wieder schließen. »Ach. Selma. Warte. Einen Augenblick.« Schlüssel wurden umgedreht. Die Tür ging auf. Sie trat zur Seite. Dr. Sydler machte die Tür weit auf. Sie stand in der Tür. »Fährst du also doch.« sagte sie. Sie lächelte zu Selma hinauf. Selma nickte. Sie lächelte. Sie zwang sich zu lächeln. Ja, sie mache sich auf den Weg. Sie stellte die Tasche ab, nahm ihren Schlüsselbund in die linke Hand. Hielt den einzelnen Schlüssel der Frau hin. Die lachte leise. Zufrieden. Selma dachte, die Sydler lache zufrieden. Sie nahm den Schlüssel. Sie nahm den Schlüssel Selma von der Handfläche. Nahm ihn mit 2 Fingern. Selma spürte die Finger in der Handfläche. Seidig. Sie nahm ihre Handtasche wieder auf. Behielt den Schlüsselbund in der Linken. Hob den Rucksack über die Schulter. Hielt den Riemen da fest. Sie fände das gut, dass Selma reise, sagte die Sydler. Und London. London. Das wäre doch eine der schönsten Städte. Oder. Sie legte den Kopf zur Seite. Sah Selma fragend an. Lächelte. Sie, sagte sie. Sie habe sehr interessante Zeiten gehabt. In London. Sie sah Selma in die Augen. Selma trat einen Schritt zurück. Wollte die Sydler ihr Geschichten erzählen. Von sich. Wollte die Sydler von Frau zu Frau mit ihr reden. Die Frau schaute an ihr vorbei. Lächelte an ihr vorbei. Das Theater in London. Das wäre in den 70er Jahren international richtungsweisend gewesen. Sie wüsste ja nicht, wie das heute wäre. Und Selma wüsste überhaupt das alles besser. Ganz sicher. Aber damals. Damals wären alle nach London gefahren. Wegen des Theaters. Peter Hall und Peter Brook hätten da gearbeitet. Und die Ausstellungen. Wien war damals noch ein richtiges Provinznest gewesen. Selma nickte. Sie machte sich an ihrer Tasche zu schaffen. Öffnete den Zippverschluss. Verstaute ihren Schlüsselbund. Sie fühlte sich ertappt. Sie fürchtete, es wäre ihrem Gesicht anzusehen. Es wäre ihrem Gesicht abzulesen, dass sie dachte, die Sydler wüsste ganz genau, was sie gerade dachte. Dass die Sydler wusste, dass sie Angst gehabt hatte, die Sydler würde sich auf eine Affäre beziehen. Von sich. Auf eine Liebesgeschichte. Dass Selma befürchtete, dass die Sydler ganz genau wüsste, dass Selma nichts wissen wollte. Von ihr. Über sie. Und schon gar nichts Genaueres. Intimes. Womöglich. Dass es eine Grenze gab. Eine Grenze von ihr zu dieser Frau. Dass sie fürchtete, diese Frau überschritte diese Linie. Und dass sie dann zu weinen beginnen müsste und dann nicht aufhören könnte. Sie zog den Zippverschluss der Tasche wieder zu. Sie sah wieder auf. Das wäre doch alles sehr interessant. Das sollte sie einmal genau hören. Das sollte sie ausführlich erzählt bekommen. Jetzt. Ja jetzt. Jetzt müsse sie weiter. Der Weg zum Flughafen. Man könne ja nie wissen. Der Verkehr. Wenigstens habe sie kein Gepäck aufzugeben, sagte Dr. Sydler und nickte. Sie stand in der Tür und sah zu Selma auf. Die Arme locker hinunterhängend. Weißer Leinenrock. Mintfarbener Pullover. Helle Schuhe. Strümpfe. Weiße Schuhe mit einer winzigen Goldschnalle. Klein. Zart. Hübsch. Die Haare fast weiß. Sie war immer so gestanden. Sie war sicher immer so dagestanden. Selma konnte sich vorstellen, wie diese Frau schon als kleines Mädchen so dagestanden war. Ruhig. Erwartungsvoll. Abwartend. Delikat. Selma fühlte sich verschwitzt. Dunkel und eckig. Sie beneidete die Frau. Sie konnte das nicht. So ruhig dastehen. Sie hätte nicht so in der Tür stehen bleiben können. Sie hätte jeden in die Wohnung bitten müssen. Oder sie wäre auf den Gang getreten. Sie kam immer zu nahe. Oder war gleich ganz weit weg. Sie war zu offen. Sie drängte sich auf. Deshalb erfuhr sie dann nie. Deshalb fand sie nie heraus, was jemand wollte. Was die anderen wollten. Sie überschüttete alle. Umarmte alle. Vertraute allen. Vertraute allen gleich in allem. Sie sah die Frau an. Die Frau blickte zu ihr hinauf. Sie sahen einander in die Augen. Einen Augenblick hatte Selma Vertrauen. Verstand die Frau. Fühlte sich von der Frau verstanden. Einen Augenblick. Ein großes, warmes Gefühl. Die Möglichkeit eines großen, warmen Gefühls. Sie kannte diese Person ihr Leben lang. Fast ihr ganzes Leben lang. Die Dr. Sydler konnte sich an sie erinnern. Die Dr. Sydler konnte sich an sie als kleines Mädchen erinnern. Die Dr. Sydler hatte sie schon als kleines Mädchen so angesehen. So aufmerksam. Abwartend. Freundlich. Und dann gleich der Druck um den Hals. Die Kehle verschlossen. Tränen aus dem Druck zu quellen drohten. »Ich gehe jetzt besser.« sagte sie. »Ja. Selma. Gib Acht auf dich.« Ganz kurz hätte sie die Frau umarmen können. Aber sie stand zu weit weg. Die Entfernung war zu groß. Sie ging. Sie wandte sich um. Schaute über die Schulter auf die Frau zurück. »Bis dann.« rief sie. Und sie wäre ja gleich wieder zurück. Sie ging schnell. Sie drehte sich an der Stiege um. Die Frau stand in der Tür. Sie nickte ihr zu. Hob die Hand mit dem Schlüssel. Hielt den Schlüssel in die Höhe. Selma winkte. Sie lief die Stiegen hinunter. Sprang die Stiegen hinunter. Ihre Sprünge nur einen dumpfen Widerhall von den Stufen. Die Schuhe lautlos. Sie fuhr nach London. Alles funktionierte. Sie flog nach London. Eine Reise. Sie konnte nachdenken. Unterwegs. Sie konnte unterwegs über alles nachdenken. Durchdenken. Alles durchdenken. Sie fuhr weg. Fort. Allein sein. Sie war in transit. Nicht erreichbar. Und das Allein-Sein ein Bestandteil der Reise. Das Allein-Sein richtig. Notwendig. Anerkannt. Von allen verstanden. Für die anderen verständlich. Es war nicht dieses Allein-Sein in Wien. Dieses Sich-in-die Ecken-Drücken. Sie musste nicht diesen Blick spielen. Sich ganz nach hinten setzen und dann so schauen, als erwarte sie noch jemanden. Sie musste nicht immer eine Zeitung oder ein Buch in der Tasche haben und sich beschäftigen. Unterwegs. Da durfte sie vor sich hin starren. Da durfte sie dösen. Da konnte sie in Anblicke versinken. Da kam niemand auf die Idee zu fragen, wo der Toni wäre. Sie durfte fraglos allein sein. Sie ging ja mittlerweile nur noch aus Trotz aus. Ging irgendwohin. Die meisten. Und das waren sogar die Netteren. Niemand wollte mit ihr reden. Nur die Monster mochten sich noch mit ihr abgeben. Mit ihrer Unglücksserie. Die Netteren fragten gar nichts mehr. Gingen einem aus dem Weg. Und sie hatte das ja auch immer getan. Sie war ja auch irgendwie verschwunden, wenn sie auftauchten. Die Beladenen. Die Verlassenen. Die Entlassenen. Sie sah sich selber. Nach hinten gehen. In die Menge verschwinden. Sich ein Glas holen. Ans Buffet gehen. Sich umdrehen. Langsam. So nebenbei. Den Blick weglenken. Langsam. Fließend. Die Person gerade noch in den Blick gekommen. Der Umriss. Und das Weggleiten hatte eingesetzt. Jetzt kannte sie diese Welle des Wegwendens als Umriss. Jetzt war sie eine Silhouette, deren Auftauchen dieses sanfte Abwenden auslöste. Es war auch komisch. Es war kitschig komisch. Und immer ein kleiner Funke, es verdient zu haben. Dass das alles verdient war. Ihr recht geschah. Aber sie war nicht schuld. Es war keine Schuld, Leuten zu vertrauen. Sie ging langsamer. Der Stiegenabsatz im 2. Stock dunkel. Beide Parteien hatten ihre Wohnungstüren an den Stiegenabsatz vorgeschoben. Hatten ihre Wohnungen verlängert. Um den Gang. Brachten die Hitze in ihre Wohnungen, sagte der Vater. Verstauten die Hitze hinter den vorgeschobenen Doppeltüren. Eine Reihe Glasziegel entlang der neuen Türen. Das Sonnenlicht verfing sich im Glas. Erreichte den Raum nicht. Es roch nach Knoblauch. Nach frisch geröstetem Knoblauch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass bei den Dallmayers jemand zu Hause war. Sie hatte gedacht, die wären alle weggefahren. Sie ging die Steinbrüstung entlang. Da hatte sie schon nicht mehr zu Hause gewohnt. Diese Umbauten. Die hatte sie dann schon vorgefunden. Da war sie aus Mailand gekommen. Zu Weihnachten. Die Veränderungen abgeschlossen. Die Dallmayers sich die Sommerhitze schon in die Wohnung geholt hatten. Die Mutter über den Baustaub geklagt hatte. Und ihr war das alles gleichgültig gewesen. Vollkommen gleichgültig. Ihr Leben hatte gerade begonnen. Was hatte sie ein Umbau in diesem Haus interessiert. Oder wie die Eltern lebten. Beim Hinuntersteigen in den ersten Stock. Sie hob den Kopf. Sie zog das Genick hoch und schob den Kopf in die Rundung des Gelenks. Hob das Kinn. Ein Knacken. Ein Knacksen. Der Arzt hatte ihr gesagt, wie das hieß. Wie diese Ablagerungen hießen. Weiter nicht schlimm. Altersgemäß. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt, etwas von innen zu hören. Etwas von sich innen. Sie stieg vorsichtiger. Federte in den Knien. Der Gedanke, hier als Kind hinuntergehüpft zu sein. So spinnenleicht gewesen zu sein. Sie zog den Riemen des Rucksacks zurecht. Schwang die Handtasche auf die linke Schulter. Sie sollte den Rucksack richtig tragen. Mit beiden Riemen über die Schultern. Das Genick weniger belasten. Die Schultern entlasten. Aber sie war ja gleich beim Auto. Bis dahin reichte diese Art von Gleichgewicht. Musste diese Art von Gleichgewicht reichen. Sie musste hart bleiben. Härter. Sie durfte sich nicht so überwältigen lassen. Der Geschichtsträchtigkeit ihrer Probleme so viel Raum lassen. Kämpfen, sagte sie sich. Kämpfen. Vorsichtig und kämpfen. Alles war neu. Alle Reaktionen und Umstände unbekannt. Und niemandem zu vertrauen. Das war das Neueste. Daran konnte sie sich am schlechtesten gewöhnen. Das musste sie sich jeden Augenblick vorsagen. Immer wieder. Dass niemandem zu vertrauen war. Weil niemand das Ausmaß ihrer Zerstörung wissen durfte. Niemand durfte auch nur ahnen, dass sie wirklich alles verloren hatte. Keiner. Keiner wollte mit einer so unglücklichen Person auch nur reden. Sie sah sich selbst. Die Stiegen hinuntersteigen. Eine gut aussehende Frau. Eine interessante Frau. Eine Frau im schwarzen Strenesse-Hosenanzug und in Pradaschuhen auf dem Weg zum Flughafen. Eine dünne Schicht Haut konnte sie sich noch vorstellen. Glasdick diese Schicht Haut. Und dann hohl. Leer. Und der Weinanfall vor der Sydler Nachweis genug. Sie musste wirklich sehr vorsichtig sein. Wenn sie noch einen Augenblick länger an sich als Kind dachte. Und dass sie nun hierher zurückkommen hatte müssen. Mit nichts. Dass sie nichts vorzuweisen hatte. Für das ganze Leben bisher. Dass sie alles verloren hatte. Sie ging. Sie dachte nach, ob diese Außenhülle. Würde sie zerbrechen. Zerschellen. Wenn jemand es aussprach. Oder sie es laut sagte. Was für eine Versagerin sie war. Und wie bedrängt. Und dass das ihr Leben bedeutete. Ihr Leben bedrohte. Oder würde diese Hülle in sich zusammen. Dann doch nur die Kleider und ein Bündel auf dem Boden. Und was würde mit dem dunklen Inneren geschehen. Würde sie eine hautlose Dunkelheit sich weiter quälen müssen. Würde sie dann noch einen Sitz brauchen. Im Theater. Beim »Ottokar«. Bei den Salzburger Festspielen. Sie lachte auf. Sie hatte jetzt viele soziale Ideen. »You live and learn«, sagte sie sich vor. Sie ging wieder schneller. Im ersten Stock alles genau so wie bei ihnen oben. Der weite Gang. Die Helligkeit. Die Hitze. Die Wellen Licht an der beigen Wand. Das Licht auf dem Stiegenabsatz von beiden Seiten zusammenfloss und jede Linie und Farbtönung auf den Steinplatten genau zu sehen. Sie ging wieder mit den längeren Schritten. 5 Schritte waren das zwischen den Stiegen. Pass. Ticket. Kreditkarten. Handy. Sie hatte alles mit. Der Vertragsentwurf. Englisch und deutsch. Sie musste noch einen Kugelschreiber kaufen. Aber wahrscheinlich war im Hotel einer zu finden. Jonathan Gilchrist musste noch beim Abendessen festgenagelt werden. Und die Unterschrift durfte nicht am Fehlen eines Schreibgeräts scheitern. Bis man sich vom Kellner etwas zum Schreiben ausgeborgt hatte, hatte Jonathan sich das schon wieder überlegt. Und sie durfte ihre Probleme nicht auf das Projekt übertragen. Sie musste das auseinander halten. Jonathan wusste nichts von ihren Problemen. Er durfte nichts von ihren Problemen ahnen. Nicht einmal irgendetwas durfte er ahnen. Sie musste sich vorsagen, dass es immer schwierig gewesen war. Mit ihm. Mit dem Royal Court. Das waren immer jahrelange Verhandlungen gewesen. Das hatte immer nur jedes fünfte Mal funktioniert. Sie durfte auch nicht zu uninteressiert wirken. Sie musste das richtige Maß an Leidenschaft finden. Für ihr Projekt. Aber es durfte nie durchscheinen, dass es lebensnotwendig war. Für sie. »Sprezzata desinvoltura.« murmelte sie sich vor. »Gerade das richtige Maß an sprezzata desinvoltura. Meine Liebe.« Sie stieg hinunter. Federnd. Hielt sich am Geländer fest. Mit der Rechten hielt sie die Riemen ihrer Tasche und des Rucksacks zusammen. Hielt die Riemen mit der Faust vor dem Brustbein. Sie fuhr den Holzlauf entlang. Mit der Linken. Glatt und kalt. Die Rundung passte genau in ihre Hand. Wenn sie die Hand um den Holzlauf schloss, konnte sie unten das Metallband spüren. Ihre Fingerspitzen glitten die Metallkanten entlang. Das Metall einen Geschmack auslöste. Sie konnte sich vorstellen, wie das Metall schmeckte. Ihr Pass war gültig. Noch 2 Jahre. Die Engländer waren da genau gewesen. Aber da waren sie noch nicht in der EU gewesen, wie sie einen zurückgeschickt hatten. Wenn der Pass nur noch 2 Monate gültig gewesen war. Das passierte einem jetzt nicht mehr. Mit einem EU-Pass. Im Mezzanin standen 2 Männer vor der Tür zu den Büchelrieders. Die Männer standen ruhig da. Still. Zur Wohnungstür gewandt. Sie konnte nur die Rücken sehen. Anzüge. Dunkel. Dunkle Haare. Sie redeten nicht. Selma hatte die Männer nicht heraufgehen gehört. Waren diese Männer schon die ganze Zeit vor dieser Tür. Wer hatte diesen Männern aufgemacht. Wenn bei den Büchelrieders niemand aufmachte. Sollte sie sie fragen. Was sie wollten. Was sie da machten. Sie zögerte. Machte kleinere Schritte. Sie war schon wieder auf der Stiege, als sie die Frau Büchelrieder hörte. Sie hörte die Frau grüßen. »Ja. Kommen Sie herein.« hörte Selma sagen. Sie ging weiter. Sie hielt die Riemen mit beiden Händen vor ihrer Brust fest. Sie wollte nicht nachdenken, wer diese Männer waren. Was sie bedeuteten. Man stellte sich ja ohnehin nur vor, was einem einfallen konnte. Sie dachte, dass das die Leichenabholer von der Wiener Städtischen Bestattung waren. Und dass der Herr Büchelrieder von der Frau Büchelrieder heute Morgen tot im Badezimmer aufgefunden worden war. Während er sich seinen Schnauzbart gestutzt hatte, war er tot zusammengebrochen und die Bartschere hatte sich in ein Auge gebohrt. Beim Fallen. Und in Wirklichkeit waren das 2 Installateure gewesen, die den tropfenden Abfluss in der Küche reparieren sollten. Sie ging über den gekachelten Zwischenabsatz. Senffarbene Kacheln mit blauem Mäander rund um den Rand. Am Küchenfenster zur Hausmeisterwohnung vorbei. Ein Radio lief. »Theo, wir fahr’n nach Lodz.« Geschirr klapperte. Sie stieg die 3 Stufen zur Einfahrt. Das Stöckelpflaster weich. Wie federnd. Die Tür zum Hof geschlossen. Das blaue Glas in den Türfenstern das Licht draußen hielt. Beim Tor war es fast schon dunkel. Sie ließ die Handtasche von der Schulter gleiten. Warum hatte sie den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Sie suchte nach dem Schlüssel. Sie musste den Rucksack abstellen. Auf dem Boden neben der Haustür. Die Haustür in das große Holztor geschnitten. Sie lehnte sich gegen das Tor. Hielt die Tasche vor sich. Griff in der Tasche herum. Tastete nach dem Schlüssel. Sie sah auf das Tor zum Hof. Die blauen Scheiben hatten grüne Mäander an den Rändern. Das Licht das Grün leuchten ließ. Das Blau stumpf. Sie fand den Schlüssel. Hielt ihn in der Tasche in der Hand. Sie ließ die Tasche sinken. Ließ die Tasche zu Boden gleiten. Hielt den Schlüsselbund in ihrer Hand. Das Gefühl war wieder da. Das Gefühl schon eine Erinnerung. Aber die Erinnerung. Sie war nach einem Mittagsschlaf aufgewacht. Sie war aus einem Dösen nach dem Mittagessen. Sie war auf dem Bett gelegen. Die Pölster hoch aufgetürmt. Sie war mehr gesessen als gelegen. Sie hatte das Buch weggelegt und die Augen zugemacht. Eine wohlige Schläfrigkeit. Wegsinken. Und beim Aufwachen. Beim Zu-sich-Kommen. Beim Wieder-an-sich-Denken. In ihrer Brust zog sich die Erinnerung an diesen Augenblick zusammen. Eine Schwere. Eine Schwere versammelte sich an der Stelle. An der Stelle zwischen Brustbein und Nabel. In der Bucht unter dem Brustbein. Aber auch in der Erinnerung sprach sich der Satz selber. An dieser Stelle. Sie spürte es wieder. Da. Eine Wiederholung war das. Eine Vorführung. Eine Wiederaufführung. »Das bist du, die sterben wird.« Hatte der Satz sich gesagt. Der Satz hatte sich selbst gesprochen. An dieser Stelle. Sie hatte im Dösen nach dem Mittagsschlaf auf diesen Satz an sich selber hinuntergesehen. Hinuntergehört. Die Betonung war auf dem Du gelegen. Auf diesem Du. In der Wiederholung hatte sie den Relativsatz verbessert. »Die sterben wird müssen.« sagte es sich vor. »Das bist du, die sterben wird müssen.« Mit der Erinnerung in der Wiederholung des Satzes an dieser Stelle. Dieses schwere Aufsprudeln im Oberbauch aufstieg. Immer gleich schwer. Zu schwer. Gleich eine Erschöpfung. Ein Zusammensinken über dieser Schwere. Um diese Schwere. Die Erinnerung nichts abschliff. Nichts lernen ließ. Keine Übung. Keine Gewöhnung. Sich gegen- über stand. Mit diesem Satz. Sich gegenüber lag. Sie hörte Schritte. Vor dem Tor. Jemand ging schnell. Mit hohen Absätzen. Jemand ging langsam. Sie richtete sich auf. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Das kommt davon, dachte sie. Arbeitslose hatten eine 7-mal höhere Chance, eine Depression zu entwickeln, hatten sie in einem Fernsehmagazin gestern Abend behauptet. Die Moderatorin hatte bedeutungsvoll geschaut. Dazu. Ihre blonden Haare hatten sich keinen Millimeter bewegt, wie sie den Kopf auf die Seite gelegt hatte. Ihrem bedeutungsvollen Sehen noch mehr Bedeutung zu verleihen. Selma nahm den Rucksack auf. Hob ihn auf die Schulter. Sie zog die Tür auf. Lehnte sich gegen die Tür. Hielt die Tür offen. Sie schwang die Tasche über die rechte Schulter über den Rucksack. Schob den Daumen unter die Riemen. Sie trat auf die Straße. Die Hitze warm umfangend. Nach der kalten Hauseinfahrt. Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.

2

Sie wandte sich nach links. Wo stand das Auto. Sie ging. Steckte die Schlüssel in die Jackentasche. War das Auto in dieser Richtung. Hatte sie das Auto hier irgendwo geparkt. Wann hatte sie das Auto zuletzt gebraucht. Was hatte sie am Abend gemacht. Gestern. Sie ging auf das Eisgeschäft zu. Ein paar Tische besetzt. Sie zwang sich, geradeaus zu sehen. Nicht über die Straße zu gehen. Auszuweichen. Und wenn sie jemand aus dem Büro da sitzen sah. Sie musste nichts anderes tun, als zu grüßen. Freundlich zu grüßen. Sie hatte es eilig. Festen Schritts musste sie freundlich grüßend vorbeigehen. Sie ging. Die Hitze. Die Straße in der Sonne. Kein Schatten. Sie schwitzte. Die Luft beim Atmen. Dehnten sich die Lungen aus, wenn man so heiße Luft atmete. Sie fragte sich. Die Mosaiksteinchen an der Wand beim Eisgeschäft glitzerten in der Sonne. Gelb. Blau. Das Eisgeschäft schon ewig hier. Sie war beneidet worden. In der Schule. Ein Eisgeschäft gleich beim Haus. Sie konnten Eis holen. Sie hatten immer Eis essen können. Damals ja der Transport. Ohne Styroporschachteln. Das Eis war nach 5 Minuten schon ein Brei. Die Mutter hatte sie immer mit einer im Eiskasten gekühlten Schüssel Eis holen geschickt. 2 junge Frauen an einem Tisch. Sie bekamen gerade ihren Eiskaffee serviert. Sie schauten die hoch aufgetürmten Schlagobersgipfel an. Kicherten. Sie nahmen die langen Löffel. Die eine fuchtelte mit dem Löffel herum. Die andere lachte. Die jungen Frauen trugen Tops mit Spaghettiträgern. Dottergelb und rosa. Kurze bunte Röcke. Sandalen mit sehr hohen Absätzen. Sie waren gebräunt. Überall gleichmäßig. Nirgends eine Stelle weißer Haut. Ein weißer Streifen. Die Haare duftig hinaufgetürmt. Selma spürte den Schweiß im Genick. Sie hätte die Haare wenigstens. Sie fühlte sich dunkel. Beim Vorbeigehen. Sie ging auf die Kreuzung zu. Wie eine Witwe. Wie eine sehr alte Frau. Wie eine Person in Trauer. Sie ging schnell. Das Futter der Jacke bei jeder Bewegung klebriger. Sie hatte Grün. Sie musste nicht stehen bleiben. Sie ging weiter. Über die Florianigasse. Aber das bin ich ja, sagte sie sich. Ich bin eine Witwe. Die Witwe meines eigenen Lebens. Das Bild gefiel ihr. Sie trug dieses Bild in sich. Den Kopf hoch erhoben. Den Kopf ins Genick gestemmt. Die Schultern zurückgezogen. Sie ging. Wenigstens war niemand vom Büro im Eissalon gesessen. Sie war oft hier heraufgekommen. In der Mittagspause. Auf einen Eiskaffee. Mit der Puntschi. Und der Kathi. Und auch mit der Clara. Sie waren dagesessen und hatten genauso gekichert. Über die riesigen Schlagoberstürmchen. Und wie man das essen sollte. Sie hatten auch miteinander so geflirtet. Dass das zu viel wäre. So viel Schlagobers könne man nicht essen. Dass wäre nun wirklich tödlich für die Figur. Sie waren dagesessen und hatten dieses frauenfreundschaftliche Flirttraining absolviert. Hatten alle Argumente durchgespielt. Und die Clara war dann gegangen und hatte ihre Trainingseinheit auf den Intendanten angewandt. Der Ärger quoll so schnell hoch. Selma musste sich zwingen, nicht stehen zu bleiben. Sie ging weiter. Langsamer. Zwang sich Schritt für Schritt. Ruhe. Sie befahl sich Ruhe. Ruhig zu bleiben. Sich auf das Gehen zu beschränken. Den Ärger durch sie hindurch. Den rasenden Ball von Wut in den Bauch. Gegen den Nabel und sich dann ausbreiten. Alles zusammenballen lassen und dann langsam aus. Verebben. Zerfließen. Und nicht weinen. Nicht über die Ursache. Nicht über die Wirkung. Nicht weinen. Gehen. An der Reinigung vorbei. Am Biofriseur. Gehen. Atmen. Weiteratmen. Nicht den Atem anhalten. Am Anfang hatte sie vergessen zu atmen. Bei diesen Anfällen. Und dann in einen Taumel geraten. Und in Tränen. Weinkrämpfe. Ohnmachten auf dem Bett. Die Hilflosigkeit in bleischweren Schlaf und dann Schlaflosigkeit. Aber jetzt hatte sie keine Zeit. Sie hatte keine Zeit für einen ausführlichen Anfall. Sie musste zum Flughafen. Sie musste nach London. Sie musste eine Chance nutzen. Sie konnte sich nicht um sich selber kümmern. Und sie konnte sich nicht um die Reaktionen der anderen kümmern. Im Gegenteil. Sie musste die Reaktionen der anderen verdrängen. Sie musste sich vollkommen entfernen. Absetzen. Und dann alles selbst bestimmen. Sie musste begreifen. Sie war außerhalb geraten. Gestoßen. Und ihre Aufgabe war es jetzt, dieses Außerhalb. Sie musste lachen. Sie lachte laut auf. Die Straße leer. Kaum jemand ging. Aber sie sah sich gar nicht um. Es musste ihr gleichgültig sein, wie irgendwelche Passanten sie beurteilten. Sie musste zielgerichtet agieren. »Aber bitte keinen Psychotalk.« Sie sagte das laut. Die Tasche und der Rucksack schlugen bei jedem Schritt gegen ihr Schulterblatt. Die Riemen würden Striemen hinterlassen. Auf der Schulter. Auf Reisen war das immer so. Blaue Flecken. Striemen. Knieschmerzen vom verkrampften Sitzen im Flugzeug. Aber niemand würde sie nackt sehen. Niemand würde sie je wieder nackt sehen. Außer medizinischem Personal. Sie konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Sie konnte sich das nicht mehr vorstellen. Libido. Sie hatte keinen Platz für Lust. Das war gerade noch so wichtig gewesen. War das der eigentliche Verlust. Hatte die Kette von Schicksalsschlägen. Sie dachte nach. Konnte sie das so nennen. Aber es bot sich kein anderes Wort an. Schicksalsschläge. Hatte sie das die Lust gekostet. Hatte sie das auf die Seite der Todessehnsucht gestoßen. Ohne Umwege über die Lust gleich der Tod der Ausweg. Aber wenn sie es ernsthaft überlegte. Wenn jetzt noch etwas passierte. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Als Strotterin konnte sie sich nicht sehen. Noch nicht. Auch wenn die Bandion sicher war, den Prozess gegen den Anton zu gewinnen. Dass sie ihr Geld bekam. Dass sie ihr Geld bekommen sollte. Das war dann trotzdem noch nicht sicher. Sie ging. Es war einfach zu heiß, an irgendetwas zu denken. Und es war nur natürlich, diesen Teil von sich einmal stillzulegen. Das war wahrscheinlich sogar gesund. Irgendwie. Diese Stille im Körper. In der ihr der Körper nichts zuraunte. Kein Wollen. Kein Wünschen. Nur das Verlangen nach Ruhe und richtigem Schlaf. Nach tiefem Schlaf. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen können. Das hätte sie alles mit der Sydler besprechen sollen. Aber sollte sie wegen ihrer Umstände alle Vorhaben aufgeben. Sollte sie, weil ihr Chef und ihr Mann Schweine waren. Weil die Welt am Ende doch nur ein Schweinestall. Sollte sie deshalb auch. Sollte sie sich einreihen. Und der Mutter nicht mehr die Treue halten. Sie musste sich verändern. Sie musste alles ändern. Es war ihr alles umgestoßen worden, und sie musste einen neuen Weg finden. Die Schritte neu. Sie musste etwas lernen aus diesen neuen Umständen. Aber sie musste nicht gleich alles aufgeben. Und die Sydler wartete darauf, dass sie zusammenbrach. Dass sie sich ausweinen kam. Die Mutter war ja dann auch. Am Ende. Und sie musste der Mutter treuer sein als die Mutter sich selbst. Sie ging am Hafnermeister vorbei. In der schattigen Auslage ein Empirekachelofen. Weiß. Rund. Mit Füßchen. Schlank. Und jetzt im Sommer kühl beim Anlehnen. Der Hafnermeister war schon immer da. An diesem Geschäft war sie immer schon vorbeigegangen. Zur Schule. Zum Papiergeschäft an der Ecke zur Schmidgasse. Am Vorsprung zum Haus vom »Schnattl« ein bisschen Schatten. Zwei Schritte im Schatten. Aber gleich der dunkle Stoff weniger Last um den Oberkörper. In London war es nicht so heiß. In London hatte es heute 25 Grad. Das war für London ohnehin schon warm. Der schwarze Hosenanzug war für London gerade richtig. Jonathan hatte einen Tisch bei einem Italiener bestellt. Das konnte in London alles heißen. Aber Jonathan war stolz auf seine hohen Spesen. Jonathan erzählte einem immer, wie der kaufmännische Direktor des Royal Court sich aufregte. Über seine Rechnungen. Aber diesmal musste sie zahlen. Da konnte sie sicher sein, dass es sich um ein gutes Lokal handeln würde. Die Adresse war Kensington Highstreet. Das klang nicht nach Pizzeria. Und richtig sommerliche Kleidung. Das war nicht professionell. Jedenfalls nicht in ihrem Alter. Beim »Schnattl« stand das Schild auf dem Gehsteig. Das Mittagsmenu waren gefüllte Paprika für 7 Euro 20. Die Fenster zum Restaurant standen weit offen. Sie ging auf die andere Straßenseite. Im Restaurant gingen die Kellner in ihren schwarzen Jacken und weißen Hemden. Die Kellnerin in Zagreb fiel ihr ein. Wie die bei der Hitze hin und her gelaufen war. Schweißüberströmt. Freundlich. Da hatte sie noch gedacht, dass sie das nicht könnte. Dass sie sich so ihren Lebensunterhalt nicht verdienen könnte. Sie ging in den Schatten der Maria-Treu-Gasse. Das Auto musste da stehen. Sie hatte es doch gestern hier abgestellt. Nach dem Film. Sie hatte noch der Filmemacherin zugehört. Kurz. Sie war dann bald gegangen. Alle Frauen kämpften um ihre Positionen. Alle hatten es nicht leicht. Aber die, die zurückfielen. Die sich an die Väter anschmiegten. Wieder anschmiegten. Das konnte sie nicht aushalten. Das musste sie sich nicht anhö- ren. Das Publikum. Ein Publikum heute. Das war fürchterlich tolerant. Das fällte keine Urteile mehr. Das sagte nicht einmal seine Meinung. Das war nur mehr wie bei den kleinen Kindern und dem Onkel, der ihnen Zuckerln anbot. Die einen nahmen es. Die anderen nahmen es nicht. Aber niemand redete über die Onkels. Und die Onkels hatten die Zuckerln zum Verteilen. Sie sah ihr Auto vorne auf der anderen Straßenseite. Sie verließ den Schatten. Stieg auf die Straße. Zwängte sich zwischen 2 eng geparkten Autos durch. Überquerte die Gasse. Ein silberner BMW musste bremsen. Ihretwegen. Der Fahrer ließ das Auto aber weiterrollen. Bremste nicht ganz ab. Beim Gehen über die Straße rollte die Kühlerhaube in ihr Blickfeld. Rechts. Rollte auf sie zu. Wenn sie gestolpert wäre, der Fahrer hätte nicht mehr bremsen können. Sie hätte stehen bleiben wollen. Stehen bleiben und den Fahrer zwingen, doch noch. Eine Notbremsung. Das Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Stillzustehen. Ihr Platz lassen. Platz machen. Das Auto hetzte sie. Trieb sie über die Straße. Rechnete mit ihrer Flucht. Sie hatte Lust, auf die Kühlerhaube einzuschlagen. Am liebsten mit einem Hammer. Einer Eisenstange. Sie lief die letzten Schritte über die Straße. Sprang zwischen 2 Autos durch auf den Gehsteig. Schaute gerade vor sich hin. Auf den Gehsteig. Nicht kümmern, sagte sie sich. Nicht kümmern. Die Lust blieb. Der Wunsch auf dieses Auto einzuschlagen. Auf diese Kühlerhaube einzudreschen. Oder noch lieber. Auf den Fahrer losgehen. Sie hatte ihn nur aus dem Augenwinkel gesehen. Zurückgelehnt war er dagesessen. Den einen Arm auf der Autotür aufgestützt. Helles Hemd. Krawatte. Sonnenbrille. Braun gebrannt. »Hallo Selma.« Sie sah auf. »Eva.« sagte sie. »Was machst du hier.« Sie blieb stehen. Die Frau stand vor ihr. Sie lächelte die Frau an. »Ich wohne hier.« sagte die Frau. Selma wüsste das doch. »Hast du die Wohnung noch.« sagte Selma. Sie wollte schon sagen, dass sie auch. Dass sie auch wieder hier wohne. Dass es sie wieder hierher zurückverschlagen hatte. Sie hätte lachen wollen dazu. Sich lustig machen. Sich über die Wechselfälle des Lebens lustig machen. Als stünde sie über dem allem. Als wäre das normal für sie. Als hätte sie solche Krisen immer schon bewältigt. Sie sagte dann, dass sie leider keine Zeit habe. Für einen Kaffee. Sie sei auf dem Weg zum Flughafen. Ein Termin in London. Es klang angeberisch, wie sie das sagte. Die Frau sah sie spöttisch an. Ihre Termine führten sie nur noch nach Kalksburg, sagte sie. Spöttisch vorwurfsvoll. Selma wusste nichts zu sagen. Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es hilft.« sagte sie dann. Die Frau war dünn. Mager. Die schmierigen Jeans hingen an den hervorstehenden Hüftknochen. Das T-Shirt reichte nur bis über den Nabel. Der Bauch. Nach innen gefallen. Blaue Adern zogen sich durch die fahle Haut. Der Nabel von einem Kreis bläulicher Adern umgeben. Das weiße T-Shirt lose. Die Schultern nach vorne gefallen und sich kein Busen abzeichnete. Die Arme knochendünn. »Geht es dir gar nicht besser.« fragte Selma. Die Frau steckte die Hände in die Jeanstaschen. Zog die Schultern hoch. Das würde wohl nichts mehr, meinte sie. Ihr Gesicht war voll. Die Backen und die Stirn. Wie geschwollen. Die zerplatzten Adern zeichneten sich genau ab. Die Nase war oben eingesunken. Zerbrochen. Das Gesicht sah fröhlich aus. Ein Mondgesicht. Ein rotes Mondgesicht. Mehr ein Mann als eine Frau. Die Haut großporig und glänzend. Die Frau sah Selma ins Gesicht. Sah sie aufmerksam an. Langsam. Dann wandte sie sich ab. Sah zu Boden. Sie schaute auf den Gehsteig. Auf ihre alten Birkenstock-Sandalen hinunter. Die Hände in den Hosentaschen. Sie drehte eine Schulter nach vorne. Dann die andere. Abwechselnd. Schaukelte sich so. Kam in ein Wiegen. Verharrte in der Bewegung. Dann sah sie plötzlich wieder auf. Hielt still. Schaute in Selmas Blick. Schaute Selma wieder in die Augen. »Sei froh, dass es dir gut geht.« sagte sie. Sie war wie früher. Während sie Selma in die Augen schaute und diesen Satz sagte, war sie wie früher. In der Mittelschule. Die beste Sportlerin. Die beste Tänzerin. Die beste Skifahrerin. Mühelos. Sie war die Erste gewesen, die Sex gehabt hatte. Die dann im Umkleideraum auf den Metallspinden oben gestanden hatte und es allen vorgespielt. Sie hatte den Mann gegeben. Und die Gritschi Perlinger hatte die Frau spielen müssen. Wie eine Gymnastiklektion hatte sie das vorgemacht. Liebe machen. Sie hatte der Gritschi Perlinger genau gesagt, wie sie die Beine spreizen musste. Und wann einen kleinen Schrei ausstoßen. Selma wollte sagen, dass es bei ihr auch nicht so. So ideal aussähe. Sie wollte gerade die Serie der Schickssalsschläge aufzählen. Wollte sich dieser Person über die Aufzählung ihres Unglücks nähern. Ihr alles erzählen. Mitteilen. Ihr Unglück ausbreiten, damit die andere sich nicht allein fühlen solle. In ihrem Unglück. Sie dachte, das wäre eine Basis. Eine Verständigungsbasis. Und ein Gespräch. In dem sie diese Person erreichen konnte. In dem sie einander erreichen konnten. Wie früher. Und nicht so. Sie standen einander gegenüber. Die Frau musterte sie. Bevor sie zu reden beginnen konnte, wandte sich die Frau ab. Sie drehte sich weg. Sprach die Frage schon an Selma vorbei. Sie ging weg, während sie Selma fragte. »Mit dem Toni bist du aber nicht mehr zusammen. Was?« Selma sah ihr nach. Die Frau ging mit gesenktem Kopf. Die Arme an den Oberkörper gepresst. Die Hände tief in den Jeanstaschen. Die Schultern hochgezogen. Sie war dünn. Ein Skelett. Sie schob die Füße knapp über dem Boden nach vorne. In kleinen Halbkreisen schob sie den einen Fuß am anderen vorbei. Die Sohlen der Birkenstock-Sandalen schliffen über den Gehsteig. »Eva.« sagte Selma. »Eva.« Die Frau bewegte sich auf die Hausmauer zu. Knapp bevor sie anstieß, wandte sie sich zu Selma zurück. »Der hat doch jetzt ein Kind.« sagte sie. Sie ging weiter. Von der Hausmauer bewegte sie sich auf den Gehsteigrand. Und wieder zur Hausmauer zurück. Selma sah ihr nach. Sie sah ihr nach, bis sie um die Ecke gegangen war. Bis sie in die Lange Gasse eingebogen war. Dann ging sie ihr nach. Die Frau war weitergegangen. Schlurfte die Hausmauer entlang. Selma schaute nur um die Ecke. Die Handtasche fiel ihr von der Schulter. Sie fing sie mit dem Unterarm auf. Stand. Schaute die Gasse hinunter. Schaute auf den Boden vor sich. Hundekot am Gehsteigrand. Vertrockneter, vom Regen verwaschener Hundekot. Frischer Hundekot. Braun glänzend. Die Schulfreundin ging weiter. Langsam taumelnd. Sie drehte um. Ging die Maria-Treu-Gasse hinunter. Ihr Auto der vorletzte Wagen vor der Piaristengasse. Sie ging auf das Auto zu. Eilte. Holte den Schlüssel aus der Tasche. Beim Auto blieb sie stehen. Die Beine blieben stehen. Bewegten sich nicht. Bewegten sich nicht nach vorne. Sie wollte zurück. Sie stellte sich den Vater vor. In der Lange Gasse. Wie er die Florianigasse heraufkam und um die Ecke bog. Um diese Zeit kam er aus dem Kaffeehaus wieder zurück. Sie sah ihn gehen. Der Khakianzug. Die grüne Krawatte. Die korrekten Schuhe. Sie wollte ihm nachlaufen. Rufen. Dass er stehen bleiben solle. Warten. Auf sie warten. Sie sah das kleine Lächeln, mit dem er sich umdrehte. Mit dem er sich umgedreht hätte. Und wie sie dann nebeneinander in die Wohnung hinauf. Sie sperrte die rechte Autotür auf. Stellte die Handtasche und den Rucksack auf den Beifahrersitz. Sie ging um das Auto herum. Wartete, bis ein schwarzer Mercedes an ihr vorbeigefahren war und sie Platz hatte, die Autotür zu öffnen. Sie stieg in das Auto. In die zusammengepresste Hitze. Das Lenkrad glühend. Sie suchte nach ihren Handschuhen. Die Handschuhe immer in der Seitentasche der Autotür. Sie schnitt sich am Eiskratzer in der Seitentasche. Der Eiskratzer in den Parkscheinen versteckt. Die Handschuhe waren im Handschuhfach. Selma hielt inne. Saß ruhig. Wann hatte sie die Handschuhe ins Handschuhfach gelegt. Sie machte das nicht. Warum sollte sie das gemacht haben. Sie war immer allein. Im Auto. Jetzt. Sie musste nicht aufräumen. Oder Platz machen. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie konnte sich schon wieder an so eine Kleinigkeit nicht mehr erinnern. War das Stress. Oder verließ sie ihr Hirn. Ihr Kopf. Das Gedächtnis. Jemand hupte hinter ihr. Sie schreckte auf. Sah in den Rückspiegel. Ein dunkelblauer Ford stand hinter ihr. Die Frau am Steuer beugte sich vor und deutete auf den Parkplatz. Ob sie wegfahre. Selma winkte und startete. Sie schnallte sich an. Hastig. Verwickelte den Gurt. Verdrehte ihn. Hatte ein zusammengedrehtes Gurtseil vor ihrer Brust. Sie fuhr an. Sie musste zweimal vor und zurück. Der Parkplatz so eng. Die Frau ließ das Auto vorrollen. Blinkte. Hinter ihr die kurze Straße hinunter andere Autos. Die laufenden Motoren. Selma merkte erst beim Einbiegen in die Piaristengasse. Sie hatte den Atem angehalten. Ihr Herzschlag den Hals herauf. Sie holte tief Luft. Sie fuhr. In der Lederergasse schnallte sie sich ab. Drehte mit der rechten Hand den Gurt gerade. An der Ampel zur Josefstädterstraße schnallte sie sich wieder an. Sie glitt im Strom der anderen Autos dahin. Rumpelte über die Stra- ßenbahnschienen. In der Mittagshitze kaum jemand auf der Straße. Sie bog dann wieder in die Lange Gasse ein. Schlängelte sich an Lieferwagen vorbei. Beim Billa und bei GEA. Auf der Lerchenfelderstraße alles frei. Sie konnte sofort einbiegen. Die Ampel zur 2er Linie grün. Dann der Stau. Auf der 2er Linie um diese Zeit. Immer nur schrittweise. Und erst Ende Juli Wien dann so leer, dass man zu jeder Zeit mit Schwung durchfahren konnte. Selma kam hinter einem riesigen grünen SUV zu stehen. »Pathfinder« stand hinten links. Sie fuhr hinter diesem Wagen her. Sie konnte nichts sehen. Nur die grüne Hinterfront. Sie schaltete. Bremste. Fuhr wieder an. Schaltete. Mehr als der zweite Gang war nicht notwendig. Sie starrte vor sich hin. Sah die grüne Front vor sich verschwommen. Folgte dem Grün. Beim Volkstheater kam sie dann kurz mitten auf der Kreuzung zu stehen. Aber es ging sich dann doch noch aus. Die Kolonne fuhr gerade wieder an, als der Querverkehr Grün bekam. Es interessierte sie aber nicht. Nicht sehr. Beim Museumsquartier fiel ihr ein. Sie konnte die Klimaanlage einschalten. Sie saß in der Hitze. Sie hatte kein Fenster geöffnet. Die Hitze umfing sie. Drängte auf sie ein. Umfasste sie. Die trockene heiße Luft ein Korsett. Für das Gesicht. Für den Hals. Sie schwitzte in den Handschuhen. Aber sie wollte die Hände nicht in die Sonne halten. Am Steuer. Sie hatte Altersflecken. Nur vom Autofahren hatten sich braune kleine Flecken auf den Handrücken gebildet. Blasse braune Flecken. Die Mutter keinen einzigen Altersfleck gehabt hatte. Aber sie hatte auch nicht die Haut der Mutter geerbt. Sie war nach dem Vater gekommen. Brünett mit einem roten Stich. Und die sommersprossige Haut. Und noch so viele sommersprossige Models in der »Vogue« zeigen konnten. Sie mochte sie nicht. Sie fuhr dahin. Die schlechte Laune über sie gegossen. Sie war wund. Tief innen. Weh. Sah die Gestalt die Lange Gasse hinunterschlurfen. Sah dieses Unglück sich über den Gehsteig schleppen. Weiter außen war sie wütend. Ihr Unglück hatte keinen Platz neben dieser Zerstörung. Auch darin Konkurrenz, dachte sie. Nicht einmal in der Tragödie unbehelligt. Noch im größten Unglück maximieren notwendig. Und das Überleben immer nur vom Superlativ gewährleistet. An der Oberfläche. Sie schimpfte über den »Pathfinder«. »Arschlöcher.« sagte sie vor sich hin. Wenn sie einen automatischen Fensterheber in ihrem alten Golf gehabt hätte. Sie hätte das Fenster heruntergleiten lassen und »Arschlöcher.« hinausgeschrien. Das Fenster herunterkurbeln. Sie war zu müde dazu. Zu eingefangen in diesem Sitzen hinter dem Lenkrad. Er hatte gesessen. Der Satz »Der hat ja jetzt ein Kind.« Die Szene in den Kopf holte. Die Szene in den Kopf stopfte. Sie sich selber sehen musste. Vor der eigenen Wohnungstür. Mit dem Köfferchen aus Zagreb zurück. Wie ihr diese Frau einen Koffer nach dem anderen auf den Gang stellte. Wie sie dem zugesehen. Gebannt zugesehen hatte. Wie nach dem vierten Koffer die Tür zugefallen war. Und ihr Schlüssel ihre eigene Tür nicht aufsperren hatte können. Diese Frau musste hinter der Tür gewartet haben. Gelauert auf sie. Und das Baby geschrien. Die ganze Zeit. Während die Frau ihr die Koffer vor die Füße gestellt in ihrer Wohnung. In ihrer eigenen Wohnung das Baby geschrien. Und die Frau keinen Augenblick reagiert darauf. Fortgefahren. Grimmig entschlossen. Und eigentlich hatte sie nur dieses Babygeschrei im Kopf. Und der hatte jetzt ein Kind. Aber verwundert über diese Geschichte war nur sie. Diese Geschichte hatte nur sie erstaunt. Niemand sonst. Bei der Polizei hatten sie sich nicht gewundert. Die Bandion war nicht einmal beeindruckt gewesen. Sie habe schon Scheuß- licheres gesehen, hatte sie gesagt. Und der Polizist war erleichtert gewesen. Es sei ja niemand verletzt, hatte er ihr gesagt. Und hatte ihr geholfen, die Koffer ins Auto zu schleppen. Aber die Eva. Die war ja immer ein Arschloch gewesen. Das hatte alles lustig ausgesehen. Was sie so angestellt hatte. Es war das gewesen, was man damals von pubertierenden Mädchen erwartet hatte. Selbstverletzungen. Sie hatte geholfen, diese Selbstverletzungen auf die Spitze zu treiben. Und sie musste kein Mitleid haben. Sie verdankte dieser Person schließlich. Jedes Mal. Fast jedes Mal beim Vögeln. Irgendwann war die Erinnerung aufgeblitzt. Wie sie oben herumgeturnt hatte. Auf der Gritschi. Und gekreischt. »Spreizen. Weiter auseinander. Spreizen.« Da musste sie nicht dankbar sein. Zum Naschmarkt hin das Fahren nur noch schrittweise. Die Hitze im Auto. Sie ließ sich einfangen von der Hitze. Dämpfen. Beschränken. Die Wut in ihr. Die Traurigkeit. Der Zorn. Die Hilflosigkeit. Sie hätte dieser Person nachlaufen können und auf sie einschlagen. Ihr eine Ohrfeige geben. Sie aufhalten. Dieses schlurfende Gehen unterbrechen. Sich vor sie hinstellen. Und ausholen. Aber die Eva so dünn. Aber die Lust groß. Ein Verlangen, dass bestimmte Menschen verschwanden. Nicht mehr existierten. Die Ungarin. Der Anton. Die Eva. Sie wünschte sich, dass die alle einfach nicht mehr waren. Und wenn sie dazu sterben mussten. Dann war ihr das auch gleichgültig. Sie kroch in der Kolonne an der Secession vorbei. Ein Wohlgefühl aus diesen schwarzen Gedanken. Aus diesen Vorstellungen. Ein dunkles Wohlgefühl. Alles innen. Alles innen wieder Platz hatte. Kein Druck. Kein Pulsieren. Keine Fremdkörper, die sich zwischen die Organe drängten. Raum, den Atem auszubreiten. Innen. Ein Singen in der Scheide. Ein winziges Singen. Sie lehnte sich zurück. Legte den Kopf gegen die Kopfstütze. Erschöpft. Plötzlich war sie vollkommen erschöpft. Der Schweiß. Im Genick. Vom Genick ein Tropfen den Rücken hinunter. Brennend. Juckend. Der Rücken bleiern. Die Arme gegen die Schwere da anheben musste. Sie blieb gegen den Sitz gepresst sitzen. Den Kopf gegen die Kopfstütze. Die Zeit. Langsam wurde es eng. Sie musste auf diesen Flughafen kommen. Wenn sie nach London wollte, dann musste sie bald auf diesem Flughafen sein. Der »Pathfinder« war am Naschmarkt in die Wienzeile abgebogen. Ab dem Karlsplatz der Verkehr wieder fließend. Sie fuhr dahin. Automatisch. Ohne Ehrgeiz. Sie hätte sich nicht nach vorne kämpfen können. Sie reihte sich in die Fahrspuren ein. Lange bevor das notwendig war. Sie ließ sich von anderen Autos schneiden. Sie konnte nur fahren. Bei der Unterführung an der Franzensbrücke. Die Müdigkeit hatte sich in eine Starre verwandelt. Sie wusste nicht, ob sie sich überhaupt noch bewegen konnte. Ihr Körper ein Panzer. Rund um sich ein Panzer. Und die Hitze rundherum. Erst auf der Autobahn war es ihr möglich. Sie kurbelte das Fenster herunter. Der heiße Wind. Aber kühler als im Auto. Sie kurbelte das Fenster ganz auf. Und dann begann auch die Klimaanlage zu arbeiten. Eiskalte Luft. Sie schaltete sie auf die Beine. Ihre Füße kalt umweht. Ihr Gesicht im Fahrtwind. Sollte sie bei der Tankstelle gleich beim Abstellplatz für die abgeschleppten Autos ein Wasser besorgen. Es ging ihr sicher nur so, weil sie kein Wasser mithatte. Bei dieser Hitze brauchte man Wasser. Sie schwitzte ja wie ein. Und nur gut. Es war ja doch eine gute Idee gewesen, sich die Schweißdrüsen entfernen zu lassen. Die Jacke wurde nicht verschwitzt. Unter den Ärmeln. Wenigstens diese Handlung des Aufbegehrens gegen die Eltern. Die Mutter entsetzt gewesen. Nur über den Gedanken. Den Schweiß zu stoppen. Aber in Italien alle gemacht hatten. Damals. Routine. Wie Augenbrauen zupfen. Oder Lippenstift. Und diese Sorge wenigstens nicht. Sie fuhr. Ab der Abfahrt Simmering fuhr sie auf der linken Spur. 110. Zuerst. Nach dem Aufheben der Geschwindigkeitsbeschränkung 150. Wenn sie jetzt auch noch den Führerschein verlor. Das würde sie nicht aushalten können. Sie wollte das nicht riskieren. Sie wollte nicht riskieren herauszufinden, dass sie noch mehr aushalten konnte. Wenn sie musste. Sie fuhr die Raffinerie entlang. Am Tag die Tanks und Rohre und Rauchfänge schäbig. Rostig. Das Gras vertrocknet gelb. Die Straßen zwischen den Tanks brüchig. Der Geruch nach Benzin. Sie fuhr schneller. Diesen Geruch wieder aus dem Auto zu jagen. Vor der Abfahrt eine Kolonne von Lastwagen. Sie fuhr die Lastwagen entlang. Zwängte sich zwischen einen ungarischen Laster und einen Tankwagen. Der Tankwagen musste bremsen. Der Fahrer hupte. Gestikulierte. Sie schwang sich auf die Ausfahrt. Schnitt einen grünen Toyota. Bremste. Sie rollte mit den vorgeschriebenen 80 auf den Flughafen zu. Sie wurde von der Polizei durch die Straßenkontrolle durchgewinkt. Sie fuhr die Auffahrt zum Abflugterminal hinauf. Schlängelte sich zwischen den Taxis und Bussen und Abschied nehmenden Paaren und Gruppen durch. Die Kurven durch die neuen Baustellen fuhr sie schnell. Zügig. Sie überholte alle. Rechts. Links. Jeder von denen konnte sie den Parkplatz kosten. Sie fuhr zum Parkplatz C. Zog die Parkkarte. Kreiste auf dem Parkplatz. Suchte nach einem Parkplatz in der Nähe des Ausgangs. Es war aber alles voll. Auto neben Auto. Reihe um Reihe. Sie fand einen Parkplatz in der Nähe von 17 C. Da musste sie wenigstens nur gerade auf den Ausgang zusteuern. Sie wendete. Fuhr nach hinten in die Parklücke. Sie hatte ihr Auto auch schon so eingezwängt hier gefunden, dass sie es kaum herausmanövrieren hatte können. Sie kurbelte das Fenster hinauf.

3

Die Parkkarte. Sie steckte die Parkkarte in die Handtasche. In das Seitenfach. Zum Pass und zum Ticket. Sie sagte es sich vor. »Die Parkkarte ist in der Handtasche.« Im Seitenfach. Sie zerrte den Rucksack vom Beifahrersitz zu sich. Stieg aus. Sperrte das Auto ab. Hatte sie das Licht ausgeschaltet. Dieses Fahren mit Licht am Tag. Es hatte sie schon eine Batterie gekostet. Sie stand vor dem Auto. Nach vorne die Autos so dicht geparkt. Kein Weg zwischen den Autos durch. Die Einfassung der Scheinwerfer glänzte in der Sonne. Das Licht war abgedreht. Sie legte den Rucksack. Stellte die Tasche auf das Autodach. Sperrte auf. Kontrollierte noch einmal den Schalter für die Scheinwerfer. Der Schalter nach links gedreht. Alles in Ordnung. Sie machte alles richtig. Aber sie glaubte es sich nicht. Und die Batterie. Da hatte sie das Licht in der Garage in Salzburg nicht ausgeschaltet. In der Garage im Untersberg. Im hellen Licht da. Taghell ausgeleuchtet. Sie war davongegangen und einen Tag später zurückgekommen. Sie hatte dann noch gedacht, die neue Batterie wäre eine Verschwendung. Für dieses alte Auto. Aber jetzt. Jetzt war ein neues Auto. Ein neuer Wagen. Das war ganz unvorstellbar. Das war vollkommen unmöglich. Das war vielleicht nie wieder möglich. Sie sperrte das Auto ab. Ging die parkenden Autos entlang. Sie folgte den Schildern »Überdachter Gehweg«. Ging zwischen Bauzäunen auf die Einfahrt zu. Ein Wind. Sie ging im Wind. Ließ die heiße Luft um sich streichen. Durch die Haare fahren. Die Kopfhaut trocknen. Sie sah sich auf dem Arbeitsamt sitzen. Die dicke Frau. Maglott hieß die. Oder so ähnlich. Die immer mit dem Bildschirm sprach. Sie sah einen an. Am Anfang. Im Lauf des Gesprächs rutschte ihr Blick immer häufiger dem Bildschirm zu. Bis sie dann gar nicht mehr versuchte, einen anzusehen. Oder ihren Blick vom Bildschirm. Loszureißen. Die würde ihr das dann erlauben müssen. Die würde das abzeichnen müssen. Dass ein Auto eine berechtigte Ausgabe wäre. Für sie. Die Vorstellung dieser Frau. Die einen nicht sehen wollte. Die niemanden sehen wollte. Sehen konnte. Die darüber entschied. Was sie. Wie sie. In der Hitze. Ein Schwindel. Ein leichter Schwindel. Im Kopf wirbelte alles. Leicht. Wehte im Kreis. Und versammelte alles im Hinterkopf. In der Rundung des Schädels. Hinten. Oben. Das Denken vorne dünn. Nebelig. Auseinander gezogen. Sie ging weiter. Sie setzte die Schritte. Schaute auf den Betonboden. Folgte den Zebrastreifen über die Straße. Sah nicht auf. Hörte ein Auto bremsen. Nicht stark. Sie ging über die Straße. Schaute nicht links oder rechts. Stelzte über die Straße. Hob die Beine. Beugte die Knie. Setzte die Füße auf. Im Kopf. Sie konnte wieder weiter sehen. Weiter nach vorne. Nicht nur den Boden. Unter sich. Sie musste nur schnell gehen. Der Blutdruck. Die Hitze. Sie war zu lange in der Hitze gesessen. Sie musste nur ein Wasser kaufen. Dann würde alles wieder in Ordnung kommen. Sie drückte auf den Knopf beim Lift zur Unterführung zu den Terminals. Wartete. Die Lifttüren glitten auf. Niemand im Lift. Sie war erleichtert. Sie trat in den Lift. Drückte auf den Knopf, nach unten zu kommen. Sie drückte mehrmals. Suchte nach einem Knopf, die Türen schließen zu können. Sie sah ein Paar mit riesigen Koffern auf den Lift zukommen. Der Mann lachte. Die Frau schüttelte den Kopf. Die beiden waren vergnügt. Sie zogen die Riesenkoffer hinter sich her. Unbeschwert. Der Mann nestelte Sonnenbrillen aus der Brusttasche von seinem Hemd. Urlauber. Aufbruch zu einer guten Zeit. Die Türen schlossen sich. Sie überlegte, ob sie den Fuß in die Lichtschranke halten sollte. Das Lichtsignal unterbrechen und die Tür für diese Leute offen halten. Sie konnte nicht. Sie konnte nicht mit diesen Menschen im Lift stehen. Und sich anhören. Anschauen. Fühlen, wie sich die beiden verstanden. Wie sie nebeneinander standen. Diese kleinen Bemerkungen machten. Nähe und Einverständnis. Selbstverständlichkeit. Sie konne sich selbst nicht garantieren, dieser Frau zu sagen. Dieser Frau zu erzählen. Erzählen zu müssen. Sie wäre genau so dagestanden. Genau so eine Reise war geplant gewesen. Für genau diese Zeit. Nach dem Ende der Festwochen. Urlaub. Erholung. Entspannung. Und vielleicht ein oder zwei Termine. Und vielleicht ein besonders spannendes Projekt entdecken. Etwas Unbekanntes. Wo immer diese Reise hingeführt hätte. Sie hatten über die Reiseziele geredet. Hatten sich nicht einigen können. Nicht so richtig. Aber auch kein Streit gewesen war. Und diese Frau. Sie hätte ihr das nicht geglaubt. Sie hätte es selbst niemandem geglaubt. Wenn ihr irgendjemand gesagt hätte, dass der Anton. Und das musste ja nun mindestens 11 Monate gegangen sein. Der kleine Moritz jetzt 2 Monate. Ein Doppelleben. Und der Anton es ihr ja auch nie gesagt hatte. Der Anton nie ein Geständnis. Es zugegeben. Das hatte die Ungarin erledigen müssen. Das hatte die Ungarin für ihn erledigen müssen. Das hatte die gerne gemacht. Der war dieses Verdrängen ein Vergnügen gewesen. Eine Erfüllung. Ihres Platzes. Sie ging um die Ecke in den langen Gang. Links Fensterluken. Unter der Decke. Ein Kunstwerk. Rechts. An der Stirnwand des Gangs. Etwas Weißes. Glattes. Ein dunkler Sockel. Hatte sie das aus dem Fundus. Aus den 60er Jahren. Sie ging an der Plastik vorbei. Ein weiß glänzender schräger Bogen auf einem dunkelholzigen Podest. Das war typisch für diesen Flughafen. Der war gebaut. Als würde eine wild gewordene Hausfrau aus den 70ern ihre Makrameearbeiten in Beton verwandeln. Und überall ein Häkeldeckchen und Topfpflanzen. War das der Grund für die vielen Russen in Wien. Dass sie am Flughafen in einem Stil empfangen wurden, der als nächster in der Reihe kam. Nach ihren 50