Espresso - Olaf Hauke - E-Book

Espresso E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Raimund ist tot. Wie kann Valerie sich damit abfinden nach all den Jahren? Nur die alte Espresso-Maschine begleitet sie, als sie die Flucht in ein neues Leben antritt, fern von all den schmerzlichen Erinnerungen an ihr vergangenes Leben, das unwiderruflich vorbei ist. Dann trifft sie Alexandro. Er ist viel jünger als sie. Marion, ihre Tochter, ist alles andere als begeistert. Aber Valerie ist bereit, um ihr Glück zu kämpfen, auch als ihr langsam dämmert, dass nicht alles so rosa ist, wie es scheint.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Ende

Espresso

Olaf Hauke

2016/23

Copyright 2023 by Olaf Hauke

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 01575 889 7019

[email protected]

Cover Shutterstock

Kapitel 1

„Soll ich Ihnen nicht doch ein Taxi rufen?“

Valerie David brauchte einen Moment, ehe sie begriff, dass die freundliche, sanfte Stimme sie gemeint hatte. Sie öffnete die Augen und atmete einige Male tief durch.

„Nein, nein, mein Fahrer wartet hinten auf mich, vielen Dank.“ Ihre Hand schloss sich mit einer energischen Geste um den Griff ihrer Handtasche. Sie versuchte aufzustehen, doch sie merkte, dass ihr ihre Knie nicht recht gehorchen wollten.

„Ich kann Ihnen ein Zimmer richten lassen und Ihnen ein Mittel geben, dass Sie eine Weile schlafen lässt“, sagte die ruhige Stimme direkt neben ihrem Ohr. Valerie drehte sich um und sah dem jungen Mann mit dem langgezogenen Gesicht und dem funkelnden Ohrring direkt in die Augen.

„Haben Sie auch ein Mittel, das ihn wieder aufwachen lässt?“ fragte sie und wunderte sich über den blechernen Unterton in ihrer Stimme. Sie wusste nicht, weshalb sie das gesagt hatte, der junge Arzt war sehr bemüht und freundlich gewesen in den letzten Tagen. Was hätte er auch sonst tun können außer freundlich zu sein, ihr Trost zuzusprechen und das unumstößliche Schicksal einfach ein Stück weniger kalt und hart zu gestalten?

Die schmalen Lippen des Mannes zuckten nur hilflos. Valerie verzog die Mundwinkel. „Entschuldigen Sie“, stammelte sie leise.

„Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen“, sagte der Mann freundlich. Sie merkte, wie er eine Hand unter ihre Achsel schob. Valerie blieb ihm eine Antwort schuldig.

„Sie können natürlich nach Hause fahren. Ich werde Ihren Hausarzt kontaktieren, er wird Sie dann im Laufe des Abends aufsuchen und Sie unterstützen.“ Der Arzt machte eine kleine Pause. Valerie kramte in ihren Gedanken. Wie hieß er doch gleich? Sie hatte es tatsächlich vergessen. Dabei vergaß sie so selten etwas, weder Namen noch Orte, Anlässe oder Termine. Es war immer eine ihrer Stärken gewesen, sich alles ohne elektronische Unterstützung merken zu können.

„Haben Sie sich schon um ein Institut gekümmert?“ fragte der Mediziner unvermittelt.

„Ein Institut?“ Valerie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, dann verstand sie. „Sie meinen, ein Beerdigungsinstitut?“ Sie überlegte eine Sekunde. Der Arzt verstand ihr Zögern falsch.

„Sehen Sie, wir haben leider unsere Vorschriften, wir müssen dafür Sorge tragen, dass ... “

Valerie nickte nur und griff in ihre Handtasche. Sie zog ihr Mobiltelefon heraus und wählte die Kurzwahl ihres Büros. „Marlene? Ja, es ist soweit. Ja, ja, vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen. Hören Sie, ich bin nicht in der Lage, mich um die Regelung ... vielen Dank, ja natürlich. Sie wissen ja, was ich mir vorstelle. Soll ich Ihnen die Nummer ... ach, natürlich haben Sie die bereits.“ Unwillkürlich musste sie lächeln. Marlene, ihre Sekretärin, war ihr einen Schritt voraus. Natürlich hatte sie längst alles geplant.

„Mein Sekretariat wird sich mit Ihnen in den nächsten Stunden in Verbindung setzen, sie werden alles regeln.“ Sie steckte ihr Mobiltelefon zurück in ihre Tasche, doch sie hatte die Öffnung verfehlt, es fiel mit einem dumpfen Poltern auf den graugefliesten Boden des Krankenhauses.

Der Arzt bückte sich und hielt mehrere Teile in der Hand. Valerie starrte die abgebrochene, schwarze Verschalung an. „Ist es kaputt?“ fragte sie überflüssigerweise.

„Man kann die Karte in einen anderen Apparat stecken, dann gehen keine Daten verloren“, meinte der junge Mann und klang dabei weit weg.

„Ach ja?“ Selbstverständlich kann man das, du blöde Kuh, schrie eine Stimme in ihrem Innern. Reiß dich für einen Augenblick zusammen, nur für einen gottverdammten Augenblick, bis du hier heraus bist. Raimund ist tot, er kommt nicht zurück, ob du nun durchdrehst oder nicht. Du hast es seit Monaten gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Und du hast dir und ihm geschworen, nicht zusammenzubrechen.

„Hören Sie, ich halte es für besser, wenn Sie noch eine Nacht bei uns bleiben. Ihr Fahrer bringt Ihnen ein paar Sachen für die Nacht, jemand kümmert sich um Sie, Sie könnten ... “

Valerie räusperte sich. „Nein, rufen Sie bitte meinen Fahrer.“ Sie nannte auswendig die Nummer seines Mobiltelefons. „Haben Sie so etwas wie eine, hm, Kaffeekasse?“ Sie griff in ihre Tasche und zog einige Fünfzig-Euro-Scheine hervor. Sie hatte Bargeld schon immer diesen unsicheren Plastik-Karten vorgezogen.

Der Mediziner wirkte alles andere als begeistert, ging zu seinem Schreibtisch und rief ihren Fahrer. Nur wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür. Erst später begriff Valerie, dass Herr Schmied direkt vor dem Zimmer gewartet hatte. Er kam auf sie zu, drückte ihr nur kurz die Hand. Schmied war kein Mann von vielen Worten, das hatte sie stets an ihm geschätzt. Er nahm ihre Tasche und stützte sie erst, als ihr die Beine erneut den Dienst versagten.

Kapitel 2

Valerie trat an den Herd und schaltete die Platte aus, auf die die kleine, uralte Espresso-Maschine stand. Das Blubbern hatte aufgehört, das Getränk war fertig.

Vor einigen Jahren hatte Raimund so einen teuren, riesigen Kasten gekauft, der für zweitausend Euro alle möglichen Arten von Kaffee bereiten sollte. Doch Valerie hatte weiterhin ihrer alten, kleinen Maschine die Treue gehalten, schließlich hatte die sie schon durch das Studium begleitet, auf der Kochplatte in dem möblierten Zimmer, das sie für hundert Mark gemietet und von dem man diesen wunderschönen Ausblick auf den Hinterhof gehabt hatte.

Sie goss sich die Tasse voll und füllte mit ein wenig Milch auf, um den vielen starken Kaffee ein wenig zu tarnen. Doktor Helmer hatte ihr eine ganze Batterie an Schlafmitteln und Beruhigungstropfen dagelassen, vermutlich hätte sie damit die halbe Belegschaft für mehrere Tage außer Gefecht setzen können. Sie hatte zwei Tabletten genommen, obwohl ihr der Arzt zunächst zu einer geraten hatte – genützt hatte es nichts.

Der Wille war stärker als die Chemie, die durch ihre Adern jagte, um den Körper zu lähmen. Sie war schon immer so schrecklich willensstark gewesen. Valerie setzte sich an den großen Tisch neben dem offenen Herd und starrte nach draußen in die Dunkelheit des Gartens. Nun war sie also tatsächlich allein. Nach siebenundzwanzig Jahren Ehe hatte sich Raimund einfach davon gemacht, war eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.

Sie wusste sofort, was geschehen war, als der Kopf sich ein wenig weiter zur Seite geneigt hatte als sonst. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass dies geschehen würde, nachdem man, auch auf seinen Willen hin, die Apparate ausgeschaltet hatte. Sie hörte noch seine letzten Worte, wie sie zusammen leise über das Abendessen gesprochen hatten, was er hatte essen wollen. Er hatte sich so sehr noch einmal Rindfleisch gewünscht, diese dünnen, feinen, mageren Scheiben, zusammen mit jungen Kartoffeln und dieser Buttersauce. Er würde nie wieder Buttersauce essen.

Valerie stand langsam und schwerfällig vom Tisch auf, ging an einen der Schränke und nahm sich eine Flasche Cognac und einen Schwenker heraus. Sie dachte nicht an die Medikamente, als sie sich einen Schluck Alkohol eingoss und dann langsam trank. Danach holte sie sich eine Zigarette aus einer der Schubladen und zündete sie sich an. Dabei hatten sie beide nie im Haus rauchen wollen.

Er hatte gelächelt, als er eingeschlafen war, die Schmerzen waren endlich aus seinem Körper verschwunden. „Es kommen keine Wellen mehr“, hatte er wenige Stunden zuvor gesagt. Wellen waren ein Synonym für die Schmerzwellen gewesen, die seinen Körper geschüttelt hatten. Jedes Mal hatte sie hilflos dagesessen, hatte sie seine Hand ganz fest an ihre Brust gepresst und die aufkommenden Tränen unterdrückt. Valerie ist ein starkes Mädchen, das hatte doch schon ihre Mutter immer gesagt.

Unvermittelt griff sie zu der halbvollen Tasse und warf sie ansatzlos in Richtung des großen Glasfensters. Die Tasse zersprang, das Getränk verteilte sich auf der Scheibe. Valerie hörte einen wütenden Schrei und begriff nicht, dass sie selbst geschrien hatte.

Wenige Augenblicke später kam Schmied in die Küche. „Ist etwas passiert?“ Sie blickte hoch und sah in seine weit aufgerissenen Augen.

Mit einem resignierenden Seufzer sank sie auf den Stuhl zurück wischte sich mit dem Handrücken über die müden, feuchten Augen. „Warum hat er das getan?“ flüsterte sie. „Warum hat er mich verlassen? Er hatte kein Recht dazu!“

Ihr Chauffeur, mit dem sie vorher so gut wie nie über private Dinge gesprochen hatte, zog sich einen Stuhl heran. „Wo kommen Sie überhaupt her?“ fragte Valerie, nachdem sie einen Moment schweigend am Tisch gesessen hatten.

„Sie glauben doch nicht, dass ich Sie in diesem Zustand alleine lassen würde. Frau Ritter und ich sind nebenan im Wohnzimmer.“ Erst jetzt sah Valerie die Gestalt in der Tür stehen. Ihre Sekretärin und ihr Fahrer, beide besorgt um ihre Chefin.

Valerie griff nach dem Cognac. Dann sah sie auf den Kaffee, der noch immer die Scheibe herunterlief. „Sie müssen mich für verrückt halten“, brachte sie hervor und versuchte, dabei die Fassung wieder zu erlangen.

Marlene Ritter trat an den Tisch heran. „Als mein erster Mann starb, bin ich in den Hof gegangen und habe in einer Nacht den Holzvorrat für einen ganzen Winter gehackt. Danach haben sie mir beide Arme eingegipst, weil ich solche Schmerzen hatte.“

„Das war wenigstens produktiv“, grunzte Valerie und nahm einen Schluck Cognac. „Die Tasse ist zerbrochen und der Kaffee verloren.“

„Ich mache Ihnen neuen“, sagte die Sekretärin geschäftig und wandte sich an die große Teufelsmaschine.

„Haben Sie mit dem Krankenhaus gesprochen?“ fragte Valerie und starrte dabei unverwandt auf den hellbraunen Fleck auf der Scheibe.

„Es ist alles erledigt, genauso wie wir es durchgesprochen haben.“

Valerie nickte und überlegte einen Moment. „Hätte ich das als Ehefrau nicht selbst machen müssen?“

„Ach, Unsinn!“ Für einen Augenblick schien Marlene regelrecht die Fassung zu verlieren. Sie räusperte sich und gewann sofort wieder ihre ursprüngliche, unerschütterliche Haltung. Valerie sah sie noch in dem Hotel in Berlin, als sie mit den Arabern verhandelt hatten und die ihr tatsächlich die Sekretärin hatten abkaufen wollen. Aber das war alles Vergangenheit, waren Fußnoten einer Geschichte, die niemanden mehr interessierte. „Sie haben es schwer genug“, fügte sie ein wenig leiser hinzu.

„Ich weiß schon, was Sie meinen, vielen Dank.“ Valerie massierte sich mit den Ballen ihrer Hände ihre Schläfen. Es war kurz nach Mitternacht.

Raimund war tot, was sollte nun werden? Sie hatten die Firma zusammen aufgebaut, aus dem Nichts erschaffen. Fast sechstausend Angestellte, wenn man die beiden Tochterunternehmen hinzurechnete. Wäre die Krankheit von Raimund nicht dazwischen gekommen, sie wären vermutlich an die Börse gegangen. Doch so hatte sie zwei Geschäftsführer eingestellt, die in den vergangenen Monaten gute Arbeit geleistet hatten, wenn sie auch weder Raimund noch sie selbst vollständig ersetzen konnten.

Marlene stellte ihr einen frischen Kaffee hin, dazu einen Teller mit Keksen, wo immer sie das Gebäck auch hergezaubert hatte.

„Setzen Sie sich, Marlene“, sagte Valerie und spürte, wie der Hauch von Festigkeit in ihre Stimme zurückgekehrte. Sie fühlte sich wie damals, als sie die ersten Verhandlungen über die Gründung des Senders geführt hatte. Sie hatte die leicht blasierten, ironischen Gesichter der Männer nie vergessen, die ihr damals gegenüber gesessen hatten. Ein Ehepaar, die einen Fernsehsender gründen wollen, um ihre Kosmetika selbst zu verkaufen. Nein, so eine verrückte Idee hatte es bis dahin nie gegeben. Wie lange war das her? Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahrzehnt? Oder doch erst gestern?

Sie sah Marlene und Herrn Schmied an, beide Gesichter wirkten fahl und müde. Wie lange arbeitete Marlene eigentlich für sie? Aber heute war kein Tag, um sich an Daten erinnern zu können.

„Wie Sie wissen, habe ich vor einem halben Jahr ein Angebot für den Sender und den Rest der Firma bekommen, einschließlich der Produktionsstätten.“ Valerie sah auf ihre Hände. Sie waren alt und müde geworden, die Adern traten langsam hervor, die Nägel wirkten stumpf und grau.

Valerie lachte freudlos auf. „Vermutlich haben sie damals einen Tipp über die Krankheit meines Mannes bekommen. Wir haben zwar alles so lange wie möglich geheim gehalten, aber für Geld verraten die Menschen alles.“ Sie sah auf. „Damit meine ich um Gottes Willen nicht sie beide.“

Valerie fiel ein, dass Marlene am Beginn einige Zeit sogar auf ihr Gehalt verzichtet hatte. Waren die Zeiten der Gründung glücklicher gewesen? Auf jeden Fall waren sie aufregender gewesen, und vor allem waren sie jung und gesund gewesen. Gesund, gesund, gesund – das Wort kreiste für einen Moment in ihrem Kopf herum. Sie griff zu den Zigaretten.

„Ich habe mich entschlossen, das Angebot anzunehmen“, meinte Valerie leise und ließ dabei das Feuerzeug aufflammen.

Kapitel 3

Valerie schreckte hoch, als sie das Motorengeräusch von der Einfahrt her hörte. Sie musste ein paar Minuten eingenickt sein. Erstaunlicherweise hatte sie nicht mal eine müde Phase, sie war sofort hellwach, ihr Verstand funktionierte sofort. Sie saß in der Küche, vor sich die halbvolle Tasse Kaffee, den Ascher mit den Kippen und den kleinen Teller, auf dem noch ein einzelner Keks lag. Sie hatte diese Nugat-Füllung nie gemocht.

Sie hatte in der Nacht mehrere Anläufe unternommen, ins Schlafzimmer zu gehen, aber sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte sich nicht in das gemeinsame Bett legen können, die Augen schließen und auf den Schlaf warten, der sich sowieso nicht eingestellt hätte.

Sie hörte den Schlüssel im Schloss an der Nebentür des Hauses, kurz darauf eine gedämpfte Stimme. Anscheinend hatten sowohl Marlene als auch Herr Schmied die Nacht in einem der Nebenzimmer verbracht.

Sie erhob sich und nahm mechanisch die Tasse auf, goss den Rest des Inhalts in die Spüle und stellte sie in den Spüler. Im gleichen Moment ging die Küchentür auf. „Hallo Marion“, sagte Valerie leise und drehte sich dabei nicht einmal um. Sie spürte eine Berührung an der Schulter.

„Hat er es hinter sich?“ flüsterte Marion. In ihrer Stimme schwangen Tränen mit. Der Tod stimmte manchmal milde, ging es Valerie durch den Kopf.

„Ja, er ist gestern eingeschlafen“, sagte Valerie leise und war erschreckt über diese Worte. Ihr war, als begriff sie zum ersten Mal die Endgültigkeit, die hinter diesem simplen Satz stand. Ein Leben war verschwunden, einfach so, als hätte man es mit einem Tastendruck auf dem Computer gelöscht. Jedes Lachen war erloschen, jeder noch so kleine Funken Hoffnung, der in den letzten Monaten ihr Leben bestimmt hatte. All das war vorbei, Geschichte, ein Bild in einem Fotoalbum, das in ein Regal wanderte und vielleicht nie wieder herausgezogen werden würde.

Valerie drehte sich um. Marion wirkte gefasst, aber sie war noch dabei, die Nachricht zu verarbeiten, das konnte man an ihren feinen Gesichtszügen ablesen. Erst jetzt fiel Valerie auf, wie ähnlich sie ihrem Vater war. Sie hatte Vater immer mehr geliebt als Valerie. Es hatte einige Situationen gegeben, in denen Valerie durchaus eifersüchtig gewesen war auf diese Beziehung, die erst in den letzten Jahren erkaltet war.

Valerie stieß sich von der Spüle ab. Wenn sie ihre Tochter jetzt nicht in die Arme schließen würde, dann würde sie es nie wieder tun, das wurde ihr in diesem Augenblick klar. Der Tod des Mannes, der über so viele Jahre der Vater und der Ehemann gewesen war – was konnte mehr zusammenschweißen als dieses gemeinsame Leid?

Marion ließ die Umarmung geschehen, aber sie erwiderte sie nicht. Valerie spürte, wie sie dastand, hilflos, voller Schmerz, aber auch nicht in der Lage, die Vergangenheit, so wie sie sie sah, für einen Moment abzuschütteln und sich einfach der Trauer zu ergeben, die ihr Herz fest im Griff haben musste.

Schließlich lösten sich die beiden Frauen voneinander, standen einen Augenblick schweigend und ratlos da, jede in ihre eigene Dunkelheit versunken. Unvermittelt öffnete sich die Küchentür. „Wir fahren dann jetzt“, sagte Marlene in die Stille hinein und wartete eine Antwort erst gar nicht ab. Schritte hallten in Richtung Ausgang.

„Kommst du direkt aus Japan?“ fragte Valerie nach einer Weile. Marion nickte nur stumm, zog sich einen Küchenstuhl heran und ließ sich nieder. Dabei schlug sie die Beine übereinander und faltete die Hände in ihrem Schoß. So hatte sie damals gesessen, als man die Laudatio auf sie gehalten hatte anlässlich ihrer Promotion. Valerie musste ein Lächeln unterdrücken.

„Der Markt ist hart umkämpft, wir werden es schwer haben. Außerdem hassen es die Japaner anscheinend, mit einer Frau zu verhandeln.“ Marion verzog den Mund. Sie arbeitete für eine Unternehmensberatung, die weltweit tätig war. Nach Studium und Promotion hatte sie es nicht in die Firma ihrer Eltern gezogen, ganz im Gegenteil. Sie war eine ganze Weile in den Vereinigten Staaten gewesen, danach war sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Die Zeit in der Fremde hatte Mutter und Tochter zusätzlich voneinander getrennt.

Valerie griff nach der Cognac-Flasche. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass sie weder müde war noch einen schalen Geschmack im Mund hatte. Ihr war, als wäre sie die ganze Nacht auf gewesen, ohne jedoch die geringste Müdigkeit zu verspüren. Marion schüttelte nur leicht missbilligend den Kopf.

„Wie wird es nun weitergehen?“ Marion erhob sich und machte sich an der monströsen Kaffeemaschine zu schaffen. Offenbar konnte jeder Idiot mit dem Ding umgehen, dachte Valerie etwas verärgert. Sie stellte die Flasche mit dem Schnaps beiseite und griff zu ihrer alten, einfachen Espresso-Maschine.

„Lass, ich mache dir auch einen“, sagte Marion ruhig und schraubte irgendein Ventil auf, es begann zu brummen und zu zischen. Valerie ging zum Kühlschrank und holte sich gedankenverloren einen Joghurt.

„Ich werde die Firma verkaufen“, sagte sie und tauchte den Löffel in die weiße, cremige Masse. Sie betrachtete den Löffel genau, wie er langsam versank und sah nicht hoch.

Sie hörte, wie Marion einige Male tief durchatmete und dabei eine Tasse unter den Apparat schob. Sie füllte sich fast sofort mit einer hellbraunen, aromatisch duftenden Flüssigkeit. „Wie viel wird sie bringen?“ fragte Marion nach einer Weile. Sie machte eine kleine Pause.

„Nicht das du mich falsch verstehst, ich will nicht gefühllos klingen oder so. Aber Vater ist tot, das ist eine Tatsache. Und mit jedem Tag wird der Wert der Firma schmelzen.“

Nein, Valerie nahm ihrer Tochter die Frage nicht übel. Sie hatte sie ja selbst mit den Geschäftsführern und den Steuerberatern erörtert. Ein Wirtschaftsprüfer hatte bereits ein Gutachten erstellt, Raimund hatte es nie erfahren. Sie hatte deswegen Gewissensbisse gehabt, aber weshalb hatte sie ihn damit belasten sollen? Er hatte den weitaus schwereren Kampf geführt.

„Du meinst den Reingewinn nach Steuern? Eine vernünftige Schätzung geht von ungefähr vier Millionen aus, die übrig sein werden.“

„Mehr nicht?“

Valerie musste lachen. „Ich finde, das ist eine Menge Geld. Dein Vater und ich haben mit Null angefangen.“

„Und warum führst du das Unternehmen nicht weiter?“ Sie stellte Valerie eine Kaffee-Tasse hin und setzte sich wieder in ihre abwartende Haltung.

„Weil ich müde bin. Ich bin dieses Jahr fünfzig geworden, ich habe meinen Mann verloren, ich kann nicht hierbleiben in dieser Arbeit, diesem Haus.“

„Ich könnte dich unterstützen“, sagte Marion leise und nahm einen Schluck Kaffee.

Kapitel 4

Valerie sah überrascht auf, Marion wich ihrem Blick aus. Im Hintergrund blubberte der Kaffeeautomat. „Du hast nie in die Firma gewollt?“ Valerie wusste nicht mal, ob es eine Frage oder eine Feststellung war.

Ihre Tochter holte tief Luft. „Japan war meine letzte Chance, ich habe sie in den Sand gesetzt. Ich werde morgen ein Gespräch mit unserem Executive-Manager haben, in dem er mir irgendwann freundlich aber bestimmt nahelegen wird, dass ich meine Kündigung einreichen soll. Und ich werde genauso freundlich akzeptieren, in mein Büro gehen und ein entsprechendes Schreiben aufsetzen. Dann bin ich zum Monatsende ohne Job.“

„Aber es gibt doch hundert andere Möglichkeiten!“ Valerie merkte erst zu spät, wie fürchterlich diese Worte klangen. Sie biss sich vor Wut auf die Zunge.

„Du denkst, du kannst nicht mit mir zusammenarbeiten?“ fragte Marion ganz direkt und schoss damit einen giftigen Pfeil in Valeries Herz.

„Das ist nicht der Punkt!“ Doch, dachte Valerie, genau das ist der Punkt, aber du kannst und darfst ihn nicht aussprechen. Eine Mutter darf solche Worte niemals sagen, vermutlich nicht mal denken. Marion sah sie an, schob ihren Unterkiefer ein kleines Stück vor und zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Nein, Marion, ich kann den Gedanken nicht ertragen, dort weiterzuarbeiten. Dein Vater und ich haben das alles aufgebaut, es ist unser … Werk.“

Marion sah sie kämpferisch an. „Warum sprichst du es nicht aus?“ fragte sie herausfordernd.

„Was? Was soll ich nicht aussprechen?“

Marion erhob sich schwungvoll von ihrem Stuhl. Die Haltung von ihr war plötzlich eine ganz andere geworden, sie war nicht mehr die schüchterne Doktorandin, sie war eine kämpferische Frau von siebenundzwanzig Jahren.

„Die Firma war euer gemeinsames Kind“, stieß sie hervor.

„Unsinn, du bist unser Kind. Die Firma war … war nur ein Ort, um Geld für die Familie zu verdienen.“ Valerie glaubte sich nicht mal selbst auch nur ein einziges Wort.

„Dann übernehme ich die Firma, zusammen mit einem Geschäftsführer, der mich einarbeitet.“

Marion schien verzweifelter zu sein als sie zunächst vorgegeben hatte. „Kind, du bist siebenundzwanzig, du hast bis vor einigen Jahren studiert und promoviert. Diese Stelle würdest du nie im Leben ausfüllen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Wenn ich eine Geschäftsführerin suchen würde für eine Position, wie du sie forderst, würde ich eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung voraussetzen in einer ähnlichen Branche. Du wolltest nicht in die Medien gehen, du wolltest von Kosmetika nichts wissen. Das ist völlig in Ordnung, aber es disqualifiziert dich eben auch für eine solche Stelle.“

Marion drehte sich ohne jede Vorwarnung um. „Ich verstehe“, sagte sie. Valerie konnte die unterdrückte Wut förmlich mit den Händen greifen, die sich im Raum breit gemacht hatte.

„Nein, warte, so habe ich es nicht gemeint. Du könntest doch durchaus eine Position in der Firma bekleiden, das halte ich für absolut unproblematisch, auch unter einem anderen Management.“

„Wie stellst du dir das vor?“ Marion kreiselte herum. Die Wut flackerte in ihren Augen. Valerie kannte diesen Blick, sie hatte ihn bereits als Kind gehabt. „Was soll ich machen? Kabel tragen oder vielleicht Päckchen packen für die alten Frauen, die gelangweilt vor dem Fernseher sitzen und sich Puder und Lippenstift bestellen?“

„Wir drehen nicht mehr selbst. Und den Versand haben wir auch längst ausgegliedert.“ Für einen Moment hatte sich Valerie von der Aggressivität ihrer Tochter anstecken lassen.

„Ah, herzlichen Glückwunsch. So konntest du deiner Tochter also beweisen, dass sie keine Ahnung vom Geschäft hat. Bist du jetzt stolz auf dich?“

Valerie konnte nur bedingt den Gedanken ihrer Tochter folgen. „Nein, bitte nicht. So darf es nicht weitergehen. Vater ist tot. Unsere Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, wir sind übermüdet und voller Zorn auf den Tod. Du hast zig Stunden im Flieger gesessen, ich war die ganze Nacht über wach. Bitte komm erst einmal nach Hause, leg dich hin, dann reden wir. Was hältst du von der Idee?“ Valerie versuchte eine einladende Geste zu machen.

„Ja, du hast recht – doch ich halte es für besser, wenn ich in ein Hotel gehe. Ich melde mich später bei dir!“ Marion drehte sich herum und war einen Moment danach aus dem Haus verschwunden. Valerie legte hilflos den Kopf in den Nacken. Einen Moment später setzte der Schwindel ein, ließ sie taumeln und zusammenbrechen.

Kapitel 5

„Oh, ein ziemlich großes Pflaster. Haben Sie sich gestoßen?“ Valerie brauchte nur einmal in die Augen des Mannes zu sehen um sofort zu wissen, dass es ihm absolut einerlei war, wie sie sich fühlte. Natürlich hatte er ihr kondoliert, ebenso wie die anderen drei Männer der Delegation, die sich im Meeting-Raum versammelt hatten. Doch das Mitgefühl hatte seine Augen nicht erreicht, obwohl die Stimme ziemlich überzeugend geklungen hatte. Wie viele dieser Männer hatte Valerie in den letzten Jahren kennengelernt? Sie wollte lieber nicht nachzählen.

„Na, Sie wissen ja wie so etwas ist“, sagte sie mit fester, ruhiger Stimme und machte eine einladende Handbewegung in Richtung des runden Besprechungstisches. Das hier war noch immer ihr Haus, es war ihr Spiel.

Die Anzugträger folgten ihrer Aufforderung. Sie stand allein gegen alle, nur Marlene war an ihrer Seite. Von der ersten bis zur letzten Schlacht, dachte Valerie und ließ sich von ihr einen Kaffee einschenken.

---ENDE DER LESEPROBE---