Gespenster-Krimi 134 - Camilla Brandner - E-Book

Gespenster-Krimi 134 E-Book

Camilla Brandner

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Adele Wraxholm lag, von Lilien und weißen Rosen, umrahmt auf ihrem Totenbett, so makellos schön wie eine Wachspuppe. Kein mühseliges, langes Leben hatte seine Spuren in ihr hinterlassen, keine Krankheit hatte ihren Körper vor dem Tode verwüstet.
Mit knapp sechzehn Jahren war sie urplötzlich gestorben. Infolge eines unerkannten Herzfehlers, sagten ihre Eltern. Durch eigene Schuld, behauptete das Gemunkel unter den Dienstboten und Nachbarn. Ungeduldig, reizbar, zu einem Jähzorn neigend, der in seinen Ausbrüchen weder Maß noch Ziel kannte, hatte sie sich in ihrem Zorn über einen kleinen Verdruss in solch eine Erregung hineingesteigert, dass sie unversehens tot zusammengebrochen war.
Es war an ihrem Totenbett, als Reverend Arthur Rowland zum ersten Mal beobachtete, wie ein deutlich sichtbarer schwarzer Schatten aus dem Leichnam stieg und mit einem gellenden Pfeifen durch das geöffnete Fenster hinausfuhr. Als der Pfarrer zum Fenster stürzte, sah er gerade noch etwas wie eine rot glühende Schlange durch den Garten verschwinden ...


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 126

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Der schwarze Garten

Vorschau

Impressum

Der schwarze Garten

Von Camilla Brandner

Adele Wraxholm lag, von Lilien und weißen Rosen umrahmt, auf ihrem Totenbett, so makellos schön wie eine Wachspuppe. Kein mühseliges, langes Leben hatte seine Spuren an ihr hinterlassen, keine Krankheit hatte ihren Körper vor dem Tode verwüstet.

Mit knapp sechzehn Jahren war sie urplötzlich gestorben. Infolge eines unerkannten Herzfehlers, sagten ihre Eltern. Durch eigene Schuld, behauptete das Gemunkel unter den Dienstboten und Nachbarn. Ungeduldig, reizbar, zu einem Jähzorn neigend, der in seinen Ausbrüchen weder Maß noch Ziel kannte, hatte sie sich in ihrem Zorn über einen kleinen Verdruss in einen solchen Paroxysmus der Erregung hineingesteigert, dass sie unversehens tot zusammengebrochen war.

Es war an ihrem Totenbett, als Reverend Arthur Rowland voller Entsetzen beobachtete, wie ein deutlich sichtbarer schwarzer Schatten aus der jungfräulichen Leiche stieg und mit einem gellenden Pfeifen durch das geöffnete Fenster hinausfuhr. Als der Pfarrer zum Fenster stürzte, sah er gerade noch so etwas wie eine rotglühende Schlange durch den Garten verschwinden ...

Mr. Everard Limpkins, Bestatter für die Londoner High Society, saß mit berufsmäßiger Trauermiene auf dem Besucherstuhl in der Bibliothek des Hauses Wraxholm. Ihm gegenüber saßen Madame Wraxholm und ihre Schwester, Mutter und Tante des verstorbenen Mädchens.

Beide hatten gerade einen ungewöhnlichen Wunsch geäußert. Es war schon Anlass für Gerede gewesen, dass diese beide Damen der feinsten Gesellschaft darauf bestanden hatten, ihre Verstorbene selbst zu waschen, zu frisieren und anzukleiden, was man in diesen Kreisen doch für gewöhnlich den bezahlten Totenfrauen überließ.

Madame Wraxholm hatte sich sehr scharf zu seinen vorsichtigen Einwänden geäußert: »Ich will Adeles jungfräulichen Körper nicht irgendwelchen Weibern überlassen, deren Hände noch schmierig sind von den Kadavern, die sie zuvor angefasst haben!«

Er verkniff sich die Antwort, dass die Totenfrauen durchaus mit dem Gebrauch von heißem Wasser, Kernseife und Bürste für ihre Hände vertraut waren, schon aus eigenem Interesse, und dass frisch Verstorbene zu säubern eine sehr ähnliche Aufgabe war, wie einem Baby die Windeln zu wechseln, was Madame und ihr Schwester gewiss auch der Amme überlassen hatten.

Aber er war von Berufs wegen diskret; er tat, als hätte er das Gewisper im Dienstbotentrakt nicht gehört – das Gerücht, die Familie sei so überaus besorgt gewesen, den unbekleideten Leichnam vor fremden Blicken zu schützen, weil mit der lieblichen Miss Adele etwas ganz und gar nicht stimmte. Das hatte man ja auch bereits zu ihren Lebzeiten öfters zu hören bekommen. Aber das alles ging den Bestatter nichts an. Er hatte sich nur um den Sarg zu kümmern. Die beiden Särge, genau genommen.

Der äußere war handelsüblich, eine kunstvoll geschnitzte und mit Kupfer beschlagene hölzerne Truhe. Der innere war ungewöhnlich.

»Aus Zink und luftdicht versiegelt, damit keine ... Sie wissen schon ... hineinkriechen können«, hatten die Wraxholms verlangt.

Limpkins war es gewohnt, dass alle Leute Angst vor leichenfressenden Würmern hatten. Er konnte und wollte ihnen nicht erklären, dass Maden und Käfer sich nur über im Freien liegende Körper hermachten. Sie bohrten nicht in einem Meter achtzig Tiefe in der Erde herum, und schon gar nicht war ihr Eindringen in ein Mausoleum zu befürchten, einen sauberen und trockenen Raum, wo die Särge in Mauernischen abgestellt wurden.

Nach den Begräbniszeremonien wurde die Nische mit einer Steinplatte verschlossen, auf der Name und Lebensdaten eingraviert waren, und zuletzt die massive steinerne Tür eingemauert, um bis zur nächsten Beisetzung unberührt zu bleiben. Keine Ameise hätte da drin überleben können. Der für die Bestattung vorgesehene Friedhof von Highgate, einer der modernsten und prächtigsten von London, war erst 1839 eröffnet worden, die Mausoleen und Krypten neuer und appetitlicher als so manches Londoner Haus.

Er beschloss, sein Wissen für sich zu behalten.

»Wie Sie wünschen, Madame. Der Zinksarg wird ins Haus geliefert, und ich werde eigenhändig die Versiegelung vornehmen. Ich ersuche Sie nur, dafür zu sorgen, dass die Dienstboten in dieser Zeit ... Sie kennen die perverse Neugier der niederen Klassen ...« Er hüstelte vielsagend.

»Wir werden dafür sorgen, dass nur Mister Wraxholm und wir beide anwesend sind.«

»Gut. Sobald wir fertig sind, können meine Gehilfen den äußeren Sarg hereinbringen und im Salon aufstellen, und sie werden dann den Zinksarg ...«

»Ihre Gehilfen fassen diesen Sarg nicht an!« Ihre Stimme war scharf und hart. »Mister Wraxholm selbst wird Ihnen behilflich sein, ihn hinunterzutragen und in den äußeren Sarg einzuschließen. Erst wenn dieser verschraubt ist, können Sie und Ihre Gehilfen sich um die Dekorationen und alles weitere kümmern.«

Der Bestatter neigte höflich den Kopf. Er war schon zu lange in seinem Beruf, um sich noch über irgendwelche Schrullen der Hinterbliebenen zu wundern. »Wie Sie wünschen. Kommen wir also jetzt zu den weiteren Arrangements ...«

Es war ein großes, ein prächtiges Begräbnis, das die Familie Wraxholm für ihre Tochter ausrichtete. Alle Honoratioren der Stadt kamen mitsamt ihrem persönlichen Gefolge, und der anglikanische Bischof persönlich hielt die Grabrede. Dennoch spürte Mr. Limpkins, der als Zeremonienmeister fungierte, ganz deutlich, dass hier keine geliebte Person zu Grabe getragen wurde. Aus langjähriger Erfahrung hatte er feine Sensoren für die Stimmung entwickelt, die bei solchen Ereignissen herrschte, ganz unabhängig davon, wie prachtvoll der Sarg und die Blumengebinde waren, wie viele Menschen sich dem Trauerzug anschlossen, wie herzergreifend der Bischof predigte.

Nicht einmal die zahlreichen Dienstboten der Wraxholms, die gezwungenermaßen teilnahmen, fühlten sich bemüßigt, Kummer vorzutäuschen. Es war ganz eindeutig, dass niemand die so umschwärmte Adele Wraxholm wirklich geliebt hatte. Selbst ihre Eltern und engsten Verwandten schienen zugleich betrübt, aber auch erleichtert zu sein.

Limpkins wurde den nagenden Gedanken nicht los, dass sie bis zuletzt befürchtet hatten, es könnte etwas Entsetzliches passieren. Warum sie so dachten, wusste er nicht, aber es hatte dieselbe angespannte Stimmung geherrscht wie bei den Begräbnissen umstrittener Politiker, bei denen man nie wusste, ob nicht plötzlich ein Anarchist aus den Büschen springen und eine Bombe auf den Sarg werfen würde. Zwar war dergleichen noch nie wirklich passiert, aber Limpkins, der – ausgerüstet mit einem Opernglas – hoch zu Ross an der Spitze des Trauerzuges alles im Blick hatte, hielt doch ein scharfes Auge auf alles.

Deshalb fiel ihm der elegant gekleidete Mann auf, der den Trauerzug aus einiger Entfernung beobachtete. Er trug keine Trauerkleidung, also mochte er ein unbeteiligter Besucher des berühmten Friedhofs sein, der nur durch Zufall in die Nähe geraten war. Aber Limpkins war vorsichtig. Er winkte seinen Gehilfen herbei, der ihm als Bote diente, und flüsterte ihm zu: »Behalt den Menschen dort im Auge; sieh zu, dass er nicht näher herankommt. Weißt schon: Mein linker Daumen sagt es mir, etwas Böses naht sich hier!«

Der Gehilfe sah hin und flüsterte: »Na, wenn er nicht bewaffnet ist – mit dem Winzling werden wir schon fertig, wenn er Stunk machen will!« Er verkniff sich ein Grinsen. »So, wie er aussieht, hat er von seiner Amme nicht genug Milch gekriegt.«

Der Zeremonienmeister hob diskret sein Opernglas an die Augen und nahm den Verdächtigen näher in Augenschein. Tatsächlich war dieser ein ziemlich klein gewachsener Mann, nicht mehr als höchstens einen Meter siebzig groß und knabenhaft zart gebaut. Seine Hände, die er wie andächtig vor dem Leib übereinander gelegt hatte, waren feingliedrig und gepflegt wie die einer Frau.

Zuerst hatte er den Blick gesenkt und den Kopf nach vorne geneigt, aber dann sah er plötzlich auf, und Limpkins schreckte förmlich zusammen, als er ihn durch das Opernglas wie auf Griffweite vor sich sah. Die Augen des Mannes waren ein scharfer Kontrast zum Rest seiner Erscheinung: schmal, an den äußeren Winkeln hochgezogen und von einem stechenden Blau wie die Augen eines sibirischen Wolfes.

Limpkins hatte das unangenehme Gefühl, dass er entdeckt worden war und in die Visage eines plötzlich misstrauisch gewordenen Raubtiers schaute. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Mann die Oberlippe hochgezogen und die Eckzähne gezeigt hätte. Kein Zweifel, der Kerl war gefährlich. Ein Blick in diese eisblauen Augen hatte genügt, um ihm zu zeigen, dass sie förmlich glühten vor Hass.

Hier stand kein Trauernder, sondern ein Feind. Triumphierte er? Nein, das nicht. Eher schien es, als grollte er, weil der Tod zwischen ihn und eine Frau getreten war, mit der er noch eine Rechnung offen hatte. Der Zeremonienmeister kannte diesen Blick. So sahen die Leute drein, wenn ein verhasster Politiker oder berüchtigter Leuteschinder friedlich in seinem Bett gestorben war, während sie ihn doch mit Vergnügen auf einer Kuhhaut zum Galgen geschleift, gehängt und gevierteilt hätten!

Er war aufs Schlimmste gefasst, aber nichts weiter geschah. Der Fremde blieb in gebührender Distanz, und als der Sarg in das Mausoleum getragen wurde, drehte sich der Mann um und schlenderte den Serpentinenpfad entlang weiter, scheinbar unbekümmert um die Zeremonien, die sich hinter seinem Rücken noch fortsetzten.

Limpkins atmete tief durch, als das Leichenbegängnis ohne irgendeine Störung zu Ende ging.

Sobald die Trauergäste sich verlaufen hatten, betrat er mit seinen Gehilfen das Mausoleum und warf einen letzten, prüfenden Blick auf sein Werk. Alles war perfekt arrangiert. In der kleinen Eingangshalle standen die Vasen mit frischen Blumen und die Ständer mit den pompösen Kränzen darauf. In ein paar Tagen, wenn sie in der Sommerhitze verwelkt waren, würden die Friedhofsgärtner sie entfernen. Dann würde auch der Steinmetz mit der Inschrift auf der Platte fertig sein. Die Nische konnte endgültig verschlossen und die Eingangstüre vermauert werden. Bis dahin hielt nur eine massive Bronzetüre mit einem Schloss Eindringlinge von den Särgen in der Krypta fern.

Von »Bodysnatchern« hatte man schon lange nichts mehr zu befürchten, seit das Anatomie-Gesetz den Diebstahl von Sektionsleichen uninteressant gemacht hatte, aber Highgate Cemetery war ein Friedhof der reichen Leute, die ihren Reichtum auch nach dem Tod noch zur Schau stellen wollten. Londons Noblesse prunkte mit prachtvoll geschmückten Grabstätten, Marmor und Granit, überkrustet mit jeder Menge Bronze, Kupfer und anderen wertvollen Metallen. Das lockte natürlich Buntmetalldiebe an, aber Highgate Cemetery war gewappnet. Die gusseisernen Lanzen der Umfriedung waren fast sieben Fuß hoch und standen eng bei einander. Nur ein Affe hätte sie überklettern können. Jede Nacht gingen außerdem zwei Wächter mit Gewehren und Laternen auf Streife. Nein, wer hier begraben lag, ruhte in Frieden.

Trotzdem war der Bestatter froh, dass eventuell noch bevorstehendes Unheil nicht mehr in seine Verantwortung fiel – und dabei dachte er vor allem an den kleinen Mann mit den Wolfsaugen.

In der Nacht, die auf das Begräbnis folgte, ging Constable »Big Bertie« O'Hara seine Runde in der Umgebung des Friedhofs. Der große, bullige Mann mit etwas zu viel Speck auf den Knochen litt unter der Sommerhitze. Selbst um zwei Uhr morgens war es in diesem August in London dumpf und schwül wie in einem Türkischen Bad.

Er war froh, als er auf seiner Runde die Swains Lane erreichte, die, von mächtigen Bäumen beschattet, ein beträchtliches Stück des Weges am Highgate Cemetery entlangführte. Dort war es kühler und frischer als im dicht verbauten Gebiet. Man konnte beinahe vergessen, dass man mitten in London war!

Schade, dass seine Runde nicht unmittelbar durch den Friedhof führte. Statt auf der holprigen Straße wäre er viel lieber durch den nur vom Vollmond erhellten Park gegangen, serpentinenähnlich verschlungene Fußwege entlang, durch Alleen von Tamarisken, Buchsbaum und Lorbeer, über gepflegte Rasenflächen. Riesenhafte alte Eichen wachten über die Mausoleen.

Die vornehmen Londoner konnten die elegante neue Nekropole nicht genug loben, und sie war auf jeden Fall ein großer Fortschritt gegenüber den mittelalterlichen, halb zerfallenen und stinkenden Gräberfeldern, aus denen bei starken Regenfällen zuweilen die Särge herausgeschwemmt wurden, weil die überfüllten Grabschächte kaum noch einen Fuß tief waren.

Das Unterfangen, diese Pestgruben zu schließen und stattdessen im Grünland außerhalb der Stadtgrenzen moderne, hygienische Friedhöfe anzulegen, war eine der großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Allerdings erinnerte der Polizist sich auch daran, wie seine Schwägerin, die eine sehr fromme Frau war, sich entrüstet hatte: »Bertie, lies nur nach, was in der Bibel steht: Eher passt ein Schiffstau durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann in den Himmel kommt! Und nun sieh dir Highgate Cemetery an, wo all die Geldsäcke begraben liegen! Kaum ein Kreuz findest du da, sondern lauter heidnisches Zeug, römische Säulen und Urnen, griechische Obelisken, Sphinxe, umgedrehte Fackeln, gestürzte Säulen und sogar ein Grab mit einer dicken bronzenen Schlange darauf, die sich in den Schwanz beißt! Eine Schlange! Soll das ewige Leben symbolisieren! Bertie, ich frage dich, was hat die alte Schlange, die doch niemand anderen symbolisiert als den Satan, auf einem christlichen Friedhof zu suchen? Nicht für viel Geld möchte ich dort begraben sein! Da kann ich meinen Sarg ja gleich in die Hölle hinabschubsen lassen!«

Sie hatte recht gehabt. Die Friedhofswächter hatten es bestätigt, als Big Bertie sie fragte. Auf manchen Mausoleen prangte tatsächlich das bronzene Abbild des Ouroboros, der ewigen Schlange, die immerzu sich selbst verzehrt und aus sich selber wieder entsteht – und sie war nicht nur ein vorchristliches Sinnbild ewigen Lebens, sondern auch gnostischer und okkulter, jedenfalls definitiv unchristlicher Erkenntnis. Und auch andere heidnische Symbole waren im Übermaß vorhanden. Big Bertie hatte zwar keine Aussichten, einmal heiliggesprochen zu werden, aber er war immerhin ein treuer Katholik, und so teilte er Bernadettes Meinung. Was hatten all die Symbole längst in den Staub gesunkener antiker Religionen im modernen Europa zu suchen?

Er schritt gemächlich und in Gedanken dahin. Die Swains Lane war bei Nacht eine stille Straße. Es kam selten vor, dass er einschreiten musste. Umso heftiger reagierte er, als aus den dunklen Gebüschen hinter den Zaunspießen urplötzlich ein gellender Schrei drang, so hell wie der einer Knabenstimme: »Nicht schießen! Bitte! Ich bin kein Dieb!«

Fast gleichzeitig ertönte eine tiefere, raue Stimme: »Meine Güte, William – schieß nicht, das ist kein Verbrecher, das ist ein Selbstmörder ...« Und gleich darauf: »Bei allen buckligen Teufeln der Hölle! Was treiben Sie hier, Sir, mitten in der Nacht und im bloßen Hemd?«

»Nichts ... nichts ...« Die junge Stimme verebbte, und der Schrei versank in einem krampfhaften Stöhnen.

Constable O´Hara machte sich bemerkbar. Einer der Wächter drängte sich durch das Tamarisken-Gebüsch zum Zaun und gab sich als Freddie, der Oberaufseher, zu erkennen. »Kommen Sie rein, Constable ... William sperrt Ihnen das Tor auf. Weiß nicht, was wir da gefangen haben, wahrscheinlich einen verliebten Spinner, der sich auf dem Grab von Fräulein Wraxholm umbringen wollte. Die starb vorige Woche und wurde gestern beigesetzt. Sie brauchen nicht zu rennen, er ist ohnmächtig. Ist einfach weggekippt.«

O´Hara schnaufte. »Wenn's bloß kein Sergeant Bertrand ist!«

Das war immer noch der Albtraum aller Friedhofswächter, jener nekrophile französische Gendarm, der 1841 dabei gefasst worden war, wie er die Gräber jüngst verstorbener Frauen aufriss und ihre Leichen herauszerrte!

»Nein, sieht nicht so aus. Er hat nichts Verdächtiges bei sich, bloß ein Buch. Vielleicht wollte er ihr Gedichte vorlesen.« Freddie, der sich in Gesellschaft des stämmigen Polizisten beträchtlich lockerer fühlte, grinste – wenn auch ein wenig schief. »Wenn Sie mich fragen, ich hab so was kommen gesehen. Das Fräulein Wraxholm war eine Schönheit; die jungen Männer waren verrückt nach ihr. Und ein kaltherziges Luder obendrein, genau der Typ, der einen gegen den anderen ausspielt und zuletzt alle zum Narren hält. Anscheinend hat es den hier ganz arg erwischt. Kommen Sie, wir sind gleich da.«

Der Polizist sah bereits das Licht zweier weiterer Laternen durch die Büsche schimmern. Sie standen auf den Marmorstufen einer glänzend weißen Familiengruft. In der schwülen Nachtluft welkende Kränze, Palmzweige und Blumengebinde gaben Zeugnis davon, dass erst kürzlich eine Beisetzung stattgefunden hatte.