Heiner, der Hütejunge - Adam Scharrer - E-Book
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Heiner, der Hütejunge E-Book

Adam Scharrer

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Beschreibung

Kindheit in rauer Zeit – ehrlich, berührend, zeitlos. Heiner wächst in einem fränkischen Dorf in ärmlichsten Verhältnissen auf. Als Hütejunge muss er früh Verantwortung übernehmen, erlebt Hunger, soziale Kälte und die Härte des Lebens. Zwischen Stallarbeit, Schule und Schneesturm ringt er um Anerkennung, Gerechtigkeit – und um ein wenig Wärme. Dabei stellt er Fragen, wo andere schweigen, widersetzt sich, wo Gehorsam gefordert wird, und sucht unbeirrt seinen eigenen Weg durch eine Welt voller Widersprüche. Adam Scharrer erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich inmitten von Armut, Gewalt und rigider Moral seine Menschlichkeit bewahrt. Mit großer Empathie und scharfer Beobachtung schildert er das Dorfleben der „kleinen Leute“ – rau, traurig, oft komisch und immer tief bewegt von Heiners Hoffnung auf ein besseres Morgen. Ein literarisches Kleinod über Freundschaft, Mut und die Suche nach dem eigenen Platz in einer ungerechten Welt – für Kinder ab 10 Jahren und Erwachsene, die sich erinnern wollen, wie es war, arm zu sein, aber reich an Träumen.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Adam Scharrer

Heiner, der Hütejunge

Die Geschichte einer Kindheit

ISBN 978-3-68912-497-7 (E–Book)

Das Buch erschien erstmals 1979 in Der Kinderbuchverlag Berlin. Entnommen aus „In jungen Jahren“. Gekürzte Ausgabe.

Für Leser von 11 Jahren.

Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.

© 2025 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Auf der Schandbank

Hier ist das Dorf, in dem ich geboren bin, und es war am 13. Juli 1889. Gersdorf heißt es, und es liegt an der Schnaittach, einem Nebenfluss der Pegnitz. Vom Nordosten her schieben sich die Berge bis an seine Flurgrenzen. Der ortsfremde Wanderer aus der Stadt, der an einem Frühlings- oder Sommertag am Abend aus dem Wald hervortritt und nach einem Nachtquartier Umschau hält, ist überrascht von dem Anblick.

Fruchtbare Wiesen und Felder umschließen das Dorf, und die Schnaittach schlängelt sich hufeisenförmig um es herum, und seine Ufer bilden einen malerischen Kranz von Pappeln und Eschen und Weiden. Mitten im Dorf, hoch aus den Obstgärten hervorragend, steht die Kapelle. Das helle Grün der Hopfenfelder wetteifert mit den Farben des Gemeindewaldes: Kiefern, Tannen, Lärchen, Eichen und Birken. Die Gemüse- und Obstgärten vor den Häusern waren stets sauber instand und auch die Häuser selbst und die Straßen und Höfe, und die Leute aus Gersdorf waren immer sehr stolz auf ihr Dorf.

Mein Vater war sehr stolz auf seinen guten Ruf als Gemeindehirt, und als ich über die Schönheit meiner Heimat hinauswuchs und recht unliebsam an meine Bürgerpflichten erinnert wurde, hatte ich das fünfte Lebensjahr wohl kaum überschritten. Es war beschlossen worden, dass ich im kommenden Sommer die Gänse zu hüten hätte, und diesem Beschluss lagen recht nüchterne Erwägungen zugrunde. Ich war damals bereits der älteste von drei Geschwistern, aber zum Hüten der Gänse hatten die Eltern bis dahin einen aus der Schule entlassenen Jungen dingen müssen, so dass wir mit sechs Menschen um den Tisch saßen, ein Umstand, der mir bis dahin wenig Kopfzerbrechen verursacht hatte; aber nun kam so etwas wie ein jähes „Frühlingserwachen“ über mich. Den ganzen Tag allein auf den Gänseanger verbannt, das schien mir ganz unfassbar, aber meine Bitten und Tränen dagegen wurden von meinem Vater mit dem Argument abgetan: „Merk dir das ein für alle Mal, Heinrich, du bist nicht bloß zum Fressen auf der Welt!“

Damit war der zweite Abschnitt meines Lebens eingeleitet, und da stand ich nun, eine Peitsche in der Hand, und hörte die Ratschläge der Mutter an, die mich lehrte: „Pass nur gut auf, dass die Gänse nicht in die Kornfelder gehen, denn im Augenblick haben sie ein großes Stück verwüstet, weil sie mehr niedertrampeln, als sie fressen, und dann müssen wir den Schaden bezahlen … Und auch heimlassen darfst du keine, sonst machen sie unterwegs Schaden … Und hinauf an den Bahndamm darfst du sie nicht lassen, dieses Gras gehört dem Bahnwärter, und die Bahnwärterin macht dann gleich einen Lärm, dass man es meilenweit im Umkreis hört. Und dass du im Wald kein Feuer anmachst, sonst kann der ganze Wald Feuer fangen … Und vor allen Dingen darfst du nicht schlafen, weil hier auf der Landstraße allerhand Menschen vorbeikommen, Handwerksburschen und Zigeuner, und wenn du schläfst, stehlen sie dir die Gänse vor der Nase weg, und für jede abgängige Gans müssen wir aufkommen …“

Die Mutter hatte wahrhaftig nicht übertrieben, und sehr bald zeigte sich auch, dass sie eine recht wichtige Angelegenheit gar nicht in Rechnung gestellt hatte. Die Gänse hatten vor mir und meiner Peitsche nicht den nötigen Respekt, weil die meisten schneller laufen konnten als ich, und wenn ich ihnen manchmal dicht auf den Fersen war, dann flogen sie mit einem höhnischen Geschrei davon. Es war ein aufreibender, widerwärtiger Kampf mit dem Gänsevolk, und wenn ich zeitweilig Sieger blieb, dann wusste ich mit meinem Sieg nichts anzufangen. Hunderte Male zählte ich die Waggons der vorbeifahrenden Züge, und ich wusste einige Dutzend Krähen- und Elstern- und sonstige Vogelnester und angelte Frösche und zwirbelte mit Grashalmen die Grillen aus ihren Löchern, aber alles nur, um die schrecklich lange Zeit von morgens bis abends totzuschlagen, denn ich war ein Kind, und dieser Gänseanger unter diesem herrlichen bayrischen Himmel war für mich schlimmer als ein Gefängnis. Ich war ein Kind und wartete vom Frühling bis zum Herbst auf den Winter, denn erst der Winter erlöste mich aus dieser Gefangenschaft, und als weitere Milderung meines Schicksals begrüßte ich den Tag, wo die Schule mich in Anspruch nahm, denn auf diese Weise blieb für mich die Gefangenschaft auf dem Gänseanger auf einen halben Tag beschränkt. Solange ich in der Schule war, hütete die Mutter.

Diese ersten Schuljahre waren für mich keine Enttäuschung, und dies lag in der Hauptsache daran, dass unser Lehrer ein ausnahmsweise gütiger Mensch war, und er konnte außerdem wunderbar erzählen. Er war als junger Mensch in Italien, Frankreich, Spanien und Amerika gewesen, und seine Berichte aus diesen Ländern bildeten einen Teil des Geografieunterrichtes.

Es war vielleicht eine Schwäche dieses schon bejahrten Mannes, dass er sich bei seinem Geografie- und Geschichtsunterricht nicht an das vorgeschriebene Schema hielt und dass er es auch mit dem Religionsunterricht so hielt. Es waren stets sehr lebendige Geschichten, die er erzählte, und ob es nun der Wahrheit entsprach, dass er „den Kindern den Kopf verdreht“, und weswegen er dann auch zwangsweise pensioniert wurde, mag dahingestellt sein. Mir und vielen anderen seiner Schüler fiel der Abschied von unserem alten Lehrer schwer aufs Herz, und bald zeigte sich auch, dass wir an ihm sehr viel verloren hatten, und für mich bedeutete der Abschied von unserem alten Lehrer den Abschluss der zweiten und den Beginn der dritten Etappe in meinem Leben.

Unser neuer Lehrer hieß Kleinhammer, war Mitte der Zwanzigerjahre, lang und dürr und kam direkt vom Kasernenhof. Die Schüler mussten fünf Minuten vor Beginn auf ihren Plätzen sitzen, und pünktlich mit dem Glockenschlag riss Kleinhammer die Tür auf. Wehe dem, der nicht vorschriftsmäßig auf seinem Platz stand und laut mitschrie: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“

Wenn er mit armen Leuten sprach, war sein Gesicht streng, seine Haltung steif, und er zwirbelte wichtigtuend an seinem weizenblonden Schnurrbart herum. Im Verkehr mit Bauern, die ihm gelegentlich ein Stück Speck oder einige Eier schickten, sonst aber weder im Gemeinderat oder sonsteinem Verein eine wichtige Rolle spielten, lüftete er den Hut ein wenig, lächelte im Gespräch freundlich und leutselig, manchmal auch krampfhaft meckernd, und der unvermittelte Übergang von diesem krampfigen, meckernden Lachen zu einem todernsten Gesichtsausdruck reizte Kinder wie mich geradezu zum Lachen. Begegnete Kleinhammer jedoch einem Mann, an dessen Gunst ihm besonders gelegen war, dann klappte er die Hacken zusammen, als wäre er immer noch auf dem Kasernenhof. Sein Rücken war dabei so schmiegsam wie sein Haselnussstock, und sein Gesicht bestand nur aus Dienstbeflissenheit. Bei jedem „Jawohl“ nickte er eifrig mit dem Kopf, manchmal zu einem „Jawohl“ zwei- oder dreimal, und diese ruckartigen Bewegungen gingen durch den ganzen Körper, wobei er bei jedem Kopfnicken die Absätze hob, sonst aber wie angewachsen stehenblieb. Erst wenn er dann verabschiedet wurde, taute er, so schien es, wieder von der Erde los. Wie ein leibhaftiger Faxenmacher hat er sein Gesicht in der Gewalt, musste ich immer wieder feststellen.

Ein solcher „Faxenmacher“ war nämlich einige Male im Dorf gewesen, und dieser Kasper, wie die Leute diesen Possenreißer nannten, war unserem Lehrer auch äußerlich nicht unähnlich.

Gerade durch unseren Lehrer bekam ich immer wieder Sehnsucht nach dem Zirkuskasper, und manchmal malte ich mir aus, wie unbändig die Leute lachen würden, wenn dieser Kasper vor allen Leuten als Herr Lehrer Kleinhammer auftreten würde. Diese Vorstellung beschäftigte mich zeitweilig so sehr, dass ich mich selbst in dieser Possenreißerei übte. Ich beobachtete mein Gesicht im Spiegel, übte mich, grimmig erschrocken dreinzuschauen und plötzlich loszulachen, und manchmal platzte ich auch in Gesellschaft einiger Schulkameraden mit einem eingeübten Lachen heraus, um sie dann plötzlich mit einem todernsten Gesicht zu überraschen. Die Wirkung war für mich ermunternd. „Ei, grad wie der Zirkuskasper“, sagten sie. So sagte auch mein Freund Sebastian Walk, der mir nun, sooft er nur konnte, auf dem Gänseanger Gesellschaft leistete.

Bald darauf wurde mir dann diese Ermunterung zum Verhängnis. Während der Schulpause kam ich dazu, als Sebastian das Gebaren unseres Lehrers nachahmte. Die Vorstellung fand in dem am Schulhof liegenden Friedhof statt, und Sebastian und sein Publikum glaubten sich durch die Mauer vor verräterischen Zudringlingen geschützt. Sebastian machte seine Sache nicht schlecht, aber ich war gar nicht befriedigt. Ich schob Sebastian beiseite, und mein Erfolg war durchschlagend. Das ganze Rudel Jungen krümmte sich vor Lachen. Ganz plötzlich jedoch brach das Lachen jäh ab, denn jenseits der Kirchhofsmauer war ein Gesicht aufgetaucht, starr und grau: das Gesicht unseres Lehrers. Er hatte sich im Schulhof an die Mauer herangepirscht.

Wie ein aufgescheuchtes Rudel Wild lief mein Publikum davon, während Kleinhammer auf mich einschlug.

„Du scheinheiliger, elendiglicher Duckmäuser, du! Du Rotzlümmel, du gottverfluchter, hundserbärmlicher!“, schimpfte er. Erst als mir das Blut aus der Nase lief, hörte er auf zu schlagen, aber das geschah erst, als er mich schon ins Schulzimmer hineingeprügelt hatte. Ich wurde sofort in die „Schandbank“ kommandiert und damit der Verachtung der ganzen Schulklasse preisgegeben. Diese Bank war die letzte in der Knabenreihe, dicht an der hinteren Wand, von der vorletzten Bank durch einen großen Zwischenraum getrennt.

Ich war schon an mancherlei Unglück gewöhnt und nahm daher die Schandbank als unvermeidlich in Kauf. Dass die Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre neun unserer Zeitrechnung stattgefunden hatte, wusste ich bereits vom ersten Schuljahr her, aber als mich Herr Kleinhammer eines Tages danach fragte, dachte ich gerade darüber nach, wie ich die Zeit nach dem Schulunterricht ausfüllen könnte. Es regnete nun schon den ganzen Morgen, aber die Eltern hatten mir streng verboten, auf dem Anger Feuer anzumachen. Die Hecke am Bahndamm war abgebrannt, wahrscheinlich durch Funken aus einer Lokomotive, aber die Frau Greller, die Frau des Bahnwärters, hatte behauptet, Sebastian und ich hätten die Hecke angezündet. Die Mutter hielt deswegen die Streichhölzer verschlossen. Sebastian hatte mir jedoch welche verschafft und dazu eine dichtschließende Blechschachtel, um die Streichhölzer vor Feuchtigkeit zu schützen.

Hätte Kleinhammer wiederholt, was er von mir wissen wollte, wäre ich trotz meiner eigenen Sorgen sicherlich nicht in Verlegenheit geraten, aber Kleinhammer hatte es darauf angelegt, mich bei einer Unaufmerksamkeit zu ertappen, und dies war ihm gelungen. Ich bekam daher auf jede Hand zwei Hiebe mit dem Haselnussstock. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um die Tränen zurückzuhalten. Aber es gelang mir. Es hätte nämlich schlimmer kommen können. Hätte Kleinhammer mir befohlen, die Taschen umzudrehen, wäre ich wahrscheinlich meine Streichhölzer losgewesen, und das hätte mich viel härter getroffen.

Unter einem Baum an der Waldspitze am Gänseanger erwartete mich die Mutter. Sie hatte zum Schutz gegen den Regen einen alten, vielmals geflickten Mantel umhängen und darunter für mich eine trockene Joppe und einen trockenen Kartoffelsack.

Ich zog die trockene Joppe an, zog den einen Sackzipfel nach innen, so dass eine spitze Haube daraus wurde, und stülpte mir die Sackhaube über den Kopf. Dann holte die Mutter ein Stück Brot und einige Äpfel aus der Tasche und sagte: „Da, das hab ich dir mitgebracht … verdient hast du es ja nicht … Sitzt du denn immer noch auf der Schandbank?“

In dieser Frage klang noch die Bestürzung meiner Eltern über mein ihnen ganz rätselhaftes Betragen gegen den Lehrer und das über mich hereingebrochene Unglück nach. Als sie davon erfahren hatten, waren sie überzeugt, dass der Lehrer mir unrecht getan habe, aber alle Erkundigungen ihrerseits bestätigten, dass ich ihn in einer geradezu respektlosen Weise lächerlich gemacht hatte. „Der beste Kasper kann es nicht besser machen!“, sagten selbst die Jungen, die es gut mit mir meinten.

Zu dieser unangenehmen Überraschung für die Eltern kam dann noch, dass ich mir keine Mühe gab, von dieser Schandbank wieder loszukommen. Ich hatte eigentlich gar nicht die Absicht gehabt, unseren Lehrer verächtlich zu machen, aber nun verachtete ich ihn. Ich legte es nicht mehr darauf an, vorbildlicher Schüler zu sein.

„Ich sitz noch auf der Schandbank und werd vielleicht noch lang drauf sitzen“, antwortete ich der Mutter und begann das Stück Brot und einen Apfel aufzuessen.

„Das liegt aber doch bloß an dir!“, schimpfte die Mutter. „Den eigenen Lehrer zum Gespött machen und dann noch so daherreden, als hättest du obendrein noch recht: Da hört aber doch alles auf!“

Die Mutter sagte dies sehr laut, aber ich hörte doch gut heraus, dass sie nicht so eindeutig Partei für Kleinhammer nahm, als sie mir dies glauben machen wollte. Bevor sie dann ging, sagte sie noch: „Mach kein Feuer an, sonst, wenn noch einmal was passiert, kommen wir nicht mehr am Gericht vorbei.“

Da stand ich nun und wartete wieder einmal auf die Sonne. Keine Libelle, kein Schmetterling flattert über den Weihern, kein Fisch schnappt nach einer Mücke, denn der Regen hat auch die Mückenschwärme vertrieben. Die aufklatschenden Regentropfen vereinigen die unzähligen Kreise auf der trägen Wasserfläche zu einem wirren Gekräusel. Nur dicke Tropfen bringen es zu einer Blase, die sich aufbläht und platzt. Die Frösche hören nicht auf zu quaken, aber ihr Quaken unterstreicht nur diese düstere Traurigkeit. Auch das Verhalten der Gänse im Regen ist dumm und traurig. Sie stehen und recken Hälse und Köpfe und Schnäbel zum Himmel. Der Teufel mag wissen, warum sie nicht müde werden, ihre Hälse in den Himmel zu recken. Die Grillen haben sich schweigend in ihre Löcher zurückgezogen. Der Sand in der „Wüste Sahara“, wie wir den Sandflecken zwischen dem oberen und unteren Anger getauft hatten, ist nass und kalt. Kein Vogel singt, die Erde ist nass, und auch der Sack über meinem Kopf wird nass, denn es tropft auch von den Bäumen. Von den Feldern sind die Bauern vetschwunden. Die auf der Landstraße vorbeifahrenden Kutscher haben den Plan über ihre Wagen gezogen. Auch die von mir erbaute Hütte aus Reisig ist nass, innen und außen.

Ich blieb also stehen und malte mir aus, was ich beginne, wenn der Regen aufhört und die Sonne wieder scheint. Man kann die nassen Kleider ablegen und trocknen, in den Schlick im vorderen Karpfenteich springen und dann, von oben bis unten voll Schlamm und Schlick, in dem klaren, frischen Wasser im „neuen“ Weiher untertauchen. Dann kann man sich in der „Wüste Sahara“ im Sand eingraben, wieder abspülen, dann auf einen Baum klettern, auf einen recht hohen, und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus. Die Gänse haben die Hälse wieder gesenkt, fressen friedlich, die Vögel singen, das Gequake der Frösche klingt lustig, und vielleicht kommt mein Igel wieder. Ich hatte nämlich einen Igel eingefangen, einen Käfig aus Draht und Holz für ihn gebaut und ihn so gut gefüttert, dass er dann von selbst bei mir blieb, in der Hütte übernachtete und am andern Tag auf mich wartete. Aber nun war er fort, und ich zürnte ihm nicht, falls er nicht wiederkam. Ich wäre auch davongelaufen, wenn ich gewusst hätte, wohin. Aber so blieb mir nur der Stolz auf meine Fähigkeiten und Entdeckungen. Trotz der Ohrfeigen des Herrn Lehrers war mir bestätigt worden: „Du hast das Zeug zu einem Kasper!“ Und als ich der Mutter meinen Igel zum ersten Male vorgeführt und sie sich überzeugt hatte, dass er auf mich hörte wie ein Hund, hatte sie gesagt: „Du verstehst dich wohl ganz und gar aufs Hexen und Zaubern?“ Auch mein „Wasserwerk“, das ich gebaut hatte, bewunderte sie aufrichtig. Am Zulauf zum neuen Weiher hatte ich es aufgestellt. Ein breitschaufliges Wasserrad trieb ein anderes Rad mit vier Hämmern, die auf hohlliegende, abgebrauchte Hufeisen schlugen, die ich beim Schmied aus dem Alteisenhaufen herausgesucht hatte. Das Werk hatte einen breiten Zulauf mit Schiebewehren. Ich konnte viel oder wenig Wasser zulassen, je nachdem, ob es schnell oder langsam hämmern sollte. Nun hämmerte es, aber auch seine Melodie klang traurig und trostlos, denn es regnete weiter.

Gegenüber dem Bahndamm lag das Bahnwärterhäuschen mit seinem Obstgarten, seinen Himbeer- und Brombeerhecken, und unweit davon am Bahnübergang stand das Wärterhäuschen aus Wellblech, gleichsam wie das Häuschen einer Schildwache vor der Kaserne. Wenn die Signalglocke einen Zug anmeldete, trat Greller, der Bahnwärter, mit Amtsmütze und umgehängtem Signalhorn vor das Blechhäuschen, legte die Schranken am Bahnübergang um, und dann kam auch schon der Zug. Greller stellte sich stramm wie ein Soldat vor den Schranken auf, und zwischen den Zügen gab er den Verkehr für Fuhrwerke und Fußgänger wieder frei. Er war ein kleines, schmalbrüstiges Männchen, und sein Gesicht mit den eingefallenen Backen war so ernst wie seine Amtsmütze, aber wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte ich mich jetzt zu ihm in das Bahnwärterhäuschen setzen, mich trocknen und wärmen können. Und dass ich mich nicht in das Häuschen setzen und mich trocknen und wärmen konnte, daran war Frau Greller schuld.

Ich hatte lange nicht begriffen, warum diese robuste Frau mich immer so mürrisch musterte, wenn ich bei Greller im Bahnwärterhäuschen saß. „Was willst du denn schon wieder hier?“, hatte sie mich dann eines Tages grob angefahren, eine Frage, deren Beantwortung für mich gar nicht so einfach war. Dass mich die Brombeeren lockten, durfte ich nicht sagen, denn Greller erlaubte mir wohl manchmal, eine Mütze voll abzupflücken, fügte aber in der Regel hinzu: „Lass dich nicht sehen!“ Sein umherschweifender Blick ließ keinen Zweifel daran, wer es nicht sehen sollte.

Eines Tages jedoch hatte Frau Greller mich trotz aller Vorsicht überlistet. Hinter dem Ziegenstall hatte sie mir aufgelauert, war dann wie besessen auf mich losgestürzt, hatte mir die Brombeeren aus der Hand geschlagen und mich zum Anger zurückgejagt. Dabei hatte sie geschrien, als wäre das grässlichste Unglück passiert, und mich mit einer Flut von Schimpfworten bedacht, als wäre ich der ausgefeimteste und durchtriebenste Verbrecher. Ich versuchte mich zu trösten, dass die Grellerin „narrisch“ sei, eine Meinung, die ziemlich stark verbreitet war. Genaugenommen gehörte ihr nämlich die Brombeerhecke gar nicht, denn sie stand außerhalb des Zauns. Aber nicht nur diese Frage war strittig. Frau Greller behauptete auch, dass ihr nicht nur das Gras auf dem Bahndamm gehöre, sondern vom Bahndamm ab noch acht Meter. Diesen acht Meter breiten Streifen, den ganzen Bahndamm entlang, hatte sie für ihre Gänse und Ziegen reserviert, weil dort das beste Gras wuchs, und sie hatte den Streifen durch Holzpflöcke abgegrenzt und dann Stangen mit Strohwischen daran eingepflöckt, zum Zeichen, dass dieser Streifen Land „Staatseigentum“ sei. Das Wort „Staat“ und die Drohung mit dem „Staat“ waren Frau Greller überdies sehr geläufig und für mich stets mit der Aussicht verbunden, dass sie mich durch diesen Staat ins Zuchthaus bringen würde. Wie eine Peitsche schwang sie das Wort Staat über mir, dem Faulpelz, dem nichtsnutzigen Lumpazi, dem gottserbärmlichen Haderlumpen, dem Lazzaroner und Dieb.

Und nun stand ich wieder vor dem Wachhäuschen und wartete darauf, dass Frau Greller ins Dorf gehen möchte, und unterdessen setzten sich einige Gänse nach dem umstrittenen Grasstreifen in Bewegung.

Los ging die Jagd! Wie wild gebärdete sie sich, und auch ihr Hund, ein weißer, hellkläffender Spitz, gebärdete sich dann wie wild. Mit lautem Gekläff sauste er über den Bahndamm, um die Gänse zurückzujagen. Und als der Spitz zurückkam, befahl sie ihm: „Such den Tagedieb, pack ihn, den Satansbankert, den elenden!“ In dem langen, verbissenen Kampf, den Frau Greller und ihr Spitz bereits gegen mich geführt hatten, war es dem Spitz begreiflich geworden, wer mit diesem Satansbankert gemeint war und dass er sich manchmal gegenüber dem von ihm bewachten Herrschaftsbereich aufhielt. Im Nu hatte er mich aufgestöbert und geiferte wie besessen um mich herum, kläglich schreiend und Reißaus nehmend, wenn ich mich nach einem Stein bückte, aber immer wieder anspringend, angefeuert von seiner schreienden Gebieterin, die nun über die Gleise gelaufen kam. In der einen Hand schwang sie einen Knüppel, mit der anderen warf sie mit Steinen nach mir und drohte: „Na wart nur, du Lump, noch heute geh ich zu deinem Lehrer. Er weiß noch lange nicht, was du für eine elende Kreatur bist!“ Mit einer unzweideutigen Entschlossenheit kam sie auf mich zu; ich stand vor der Wahl, mich mit meiner Peitsche zu wehren oder davonzulaufen. Ich lief den Abhang hinunter, hinter mir die von Frau Greller geschleuderten Steine und vor mir, aber immer außer Reichweite meiner Peitsche, den kläffenden Spitz. Vom Bahnübergang her hörte ich lautes Lachen, wohl von zufällig dort vorbeikommenden Passanten.

Ich trollte mich hinüber an die Landstraße. Mir war zum Weinen zumute. Doch nicht sehr lange. Jenseits der Landstraße stieg Rauch auf, und unter der von einem Blitz gespaltenen Eiche saßen zwei Männer bei einem Feuer. Ich gesellte mich zu ihnen.

„Willst uns nicht eine Gans verkaufen?“, fragte der eine, als ich in Sicht kam. Ein langer, bartloser Mensch war er, mit knochigem Gesicht unter einem mächtigen, breitrandigen Hut.

Froh darum, von den Männern angesprochen zu werden, trat ich näher und sah, dass sie sich Kartoffeln im Feuer brieten.

„Die Gänse gehören nicht mir“, antwortete ich. „Und sie sind auch durchweg so alt, dass sie zum Essen nichts taugen.“ Der andere der Männer, ein untersetzter, kurz geschorener Bursche mit einem Spitzbart, hatte jedoch die Gänseherde schon recht eingehend gemustert und die Gänse der Frau Greller im Weiher entdeckt: die beiden alten und circa zwanzig junge; obwohl erst halbwegs herangewachsen, schienen sie dem Spitzbärtigen aber zum Abkochen alt genug, denn er sagte, auf die jungen, laut schnatternden Gänse deutend: „Verkauf uns eine von den kleinen dort, um ihr Alter brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

Ich hatte unterdessen an der Kleidung und dem Gepäck der Männer erkannt, dass es reisende Zimmerleute waren, und nun luden sie mich ein: „Greif zu, die Kartoffeln reichen, das Salz auch, nur das Fleisch fehlt … So eine junge Gans kann doch auch ein Fuchs geholt haben …“

„Die gehören nicht zu meiner Herde … die gehören dem Bahnwärter“, sagte ich rasch, eine schreckliche Versuchung in mir niederkämpfend, denn für die Gänse der Frau Greller konnte ich nicht verantwortlich gemacht werden, und sie waren durch ein paar Brocken Brot leicht anzulocken und einzufangen. In meiner Hütte lag mein eiserner Topf. Das Feuer brannte hellauf. Bis die Gans abgerupft und ausgenommen ist, kocht schon das Wasser zum Abbrühen, und spätestens eine Stunde später ist dieses junge Fleisch butterweich, und ich selbst hatte einen solchen Hunger nach Fleisch, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief. Zum Überfluss sorgte der Spitzbärtige dann noch: „Dem Weibsbild gehören sie also, die dich vorhin mit Steinen bombardiert und den Hund hinter dir her gehetzt hat, dass du gelaufen bist, als wäre der Teufel hinter dir?“

Jetzt musste ich schon all meine Willenskraft anspannen, um nicht der Lockung nach Rache gegen meine Feindin und dem Appetit nach einer saftigen Mahlzeit zu verfallen.

„Da lasst lieber die Finger davon!“, warnte ich. „Die taucht immer grad dann auf, wenn man denkt, sie ist wer weiß wie weit, und dann seid ihr in der ganzen Gegend nicht mehr sicher.“

Das half, aber der Appetit war dadurch bei keinem von uns dreien gestillt.

„Was zahlt ihr, wenn ich euch ein paar handliche Karpfen fange?“, fragte ich nach einer Weile. Sie schauten sich beide fragend und lächelnd an.

„Schau den“, sagte der Lange, „der hat ein Geschäft gerochen.“

Der Spitzbärtige sagte: „Das kommt ganz auf die Ware an, aber ich denk, wir werden schon handelseinig.“

Ich war auch der Meinung. Die Karpfen fischte ich mit meinem Sack aus dem Weiher heraus, eine Sache, bei der ich schon einige Übung hatte. Als ich dann mit drei Karpfen und meinem eisernen Topf zurückkam, hatten die beiden Zimmerleute meine Kleider getrocknet, und die Welt sah plötzlich wieder ganz heiter aus, und wir aßen mit gutem Appetit unsere Fische.

Am Abend sagte der Vater zu mir: „Der Pfarrer ist dagewesen, und er hat verlangt, dass du deinen Lehrer um Verzeihung bittest.“ Die Mutter schien zu befürchten, dass ich es mit der Bitte um Verzeihung nicht sehr eilig haben könnte, und fügte der Mitteilung des Vaters hinzu: „Und das ist nicht mehr als recht und billig! Ein solcher Lausbub wie du hat über große Leute keine Possen zu reißen und erst recht nicht über den eigenen Lehrer!“ Was konnte ich dagegen einwenden? Vater und Mutter und Lehrer und den Pfarrer gegen mich, und außerdem wusste ich, dass es um den Brotkorb ging …

Nach dem Morgenlied: „Unsern Eingang segne Gott, unsern Ausgang gleichermaßen …“ waren alle Besonderheiten von den Schülern vorzubringen. Auch ich hätte meine Bitte um Verzeihung nun vorbringen können, aber ich zögerte noch, und die Ursache für dieses Zögern war die Fußkrankheit einiger Schüler, und diese Fußkrankheit wurde Fußheckel genannt. Durch das Herumpatschen im Wasser und die dann darauf brennende Sonne wurde die Haut auf den Füßen in den Sommermonaten so spröde, dass sie platzte und blutete und zum Schreien wehtat, wenn jemand mit der Bürste darüberfuhr.