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Wismar, 1386. Klaus ist ein Niemand – ein Junge aus der Hafengasse, gefangen zwischen Armut und Ungerechtigkeit. Als ein Moment der Verzweiflung ihn zum Mörder macht, bleibt ihm nur die Flucht: aufs Meer, in die Gesetzlosigkeit, in ein Leben ohne Wiederkehr.Die Ostsee, 1390er Jahre. Aus dem Flüchtling wird ein Krieger, aus dem Krieger ein Kapitän. Klaus schließt sich den Vitalienbrüdern an – Kaperfahrern im Dienst schwedischer Herzöge. Unter dem legendären Godeke Michels lernt er, was Freiheit kostet: Blut, Kampf und die ständige Jagd nach dem nächsten Morgen. Als die Kaperbriefe für ungültig erklärt werden, stehen Klaus und seine Brüder vor der Wahl: Kapitulation oder vollständige Piraterie.Sie wählen die Freiheit."Gottes Freunde und aller Welt Feinde" – so nennen sich die Männer, die von nun an auf eigene Rechnung segeln. Klaus, der einst nur überleben wollte, wird zu einem der berüchtigtsten Piraten der Ostsee. Mit seinem Schiff "Die Bunte Kuh" schlägt er zu, wo Margarethe von Dänemark und die mächtige Hanse es am wenigsten erwarten. Helgoland, Stockholm, der goldene Kelch des Erzbischofs – seine Taten werden zur Legende.Doch jede Legende hat ihren Preis. Simon von Utrecht, ein fanatischer Hansejäger, macht Klaus' Vernichtung zu seiner Lebensaufgabe. Die Schlinge zieht sich zu. Verrat lauert in den eigenen Reihen. Und zwischen den Kämpfen findet Klaus etwas, das gefährlicher ist als jeder Feind: die Liebe zu einer Frau namens Ida – und die Hoffnung auf ein anderes Leben.Hamburg, 1401. Auf dem Grasbrook endet Klaus Störtebekers Reise. Doch auch im Tod trotzt er der Obrigkeit ein letztes Mal. Die Legende von den elf Schritten wird geboren – und mit ihr die unsterbliche Geschichte eines Mannes, der lieber einen Tag als Löwe leben wollte als tausend Tage als Lamm.Eine epische Roman-Adaption der berühmtesten Piratenlegende des Nordens. Historisch fundiert, dramatisch erzählt, zeitlos in ihrer Frage: Was ist Freiheit wert?
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anno Stock
Klaus Störtebeker - Kein Drama
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Table of Contents
KLAUS STÖRTEBEKER – Ein Roman über eine Legende
Kapitel 1: Die Hafengasse von Wismar
Kapitel 2: Der Kaufmannssohn
Kapitel 3: Blut auf dem Kopfsteinpflaster
Kapitel 4: Zwischen den Welten
Kapitel 5: Der Ruf nach Norden
Kapitel 6: Godeke Michels
Kapitel 7: Stockholm in Flammen
Kapitel 8: Das Kaperpatent
Kapitel 9: Die Bunte Kuh
Kapitel 10: Margarethe von Dänemark
Kapitel 11: Freunde Gottes, Feinde der Welt
Kapitel 12: Visby - Die graue Stadt
Kapitel 13: Die Hanse schlägt zurück
Kapitel 14: Liebe im Nebel
Kapitel 15: Der Überfall auf Helgoland
Kapitel 16: Der Verrat
Kapitel 17: Flucht nach Osten
Kapitel 18: Simon von Utrecht
Kapitel 19: Zwischen Rügen und Rügenwalde
Kapitel 20: Der goldene Kelch
Kapitel 21: Verhandlungen im Schatten
Kapitel 22: Die letzte Fahrt
Kapitel 23: In Hamburger Ketten
Kapitel 24: Würde in der Niederlage
Kapitel 25: Der Grasbrook
Kapitel 26: Nachhall
Nachwort
Impressum neobooks
Anno Stock
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TEIL I: Die Wurzeln
Der Geruch von gesalzenem Fisch, Teer und menschlichem Elend hing schwer über der Hafengasse. Es war ein Frühlingstag im Jahr des Herrn 1372, doch in den engen Gassen zwischen den schiefen Fachwerkhäusern spürte man wenig von der Wärme, die über dem Wasser der Ostsee lag. Die Sonne fand kaum einen Weg durch das Gewirr überhängender Stockwerke und quer gespannter Wäscheleinen.
Klaus stand barfuß auf dem nassen Kopfsteinpflaster und starrte hinunter zum Hafen. Seine Füße waren schwarz vor Dreck, seine Hosen zu kurz, sein Hemd geflickt und nachgedunkelt von unzähligen Tagen ohne Wäsche. Er war zwölf Jahre alt, vielleicht dreizehn - niemand hatte den Tag seiner Geburt aufgeschrieben. Solche Dinge wurden nur für Kinder festgehalten, die etwas bedeuteten.
"Klaus! Klaus, du Taugenichts!"
Die Stimme seiner Mutter schnitt durch den Lärm der Gasse. Er drehte sich nicht um. Er kannte diese Stimme zu gut - die Erschöpfung darin, die Verzweiflung, die sich als Ärger tarnte. Stattdessen ließ er seinen Blick über die Masten gleiten, die sich wie ein Wald aus Holz über dem Hafen erhoben. Koggen, Holken, kleine Fischerkähne. Jedes Schiff eine Welt für sich, jedes Segel ein Versprechen.
"Wenn dein Vater das wüsste!"
Klaus schnaubte leise. Sein Vater. Ein Mann, dessen Gesicht er kaum noch erinnerte. Drei Jahre war es her, dass die See ihn geholt hatte. Ein Sturm vor Bornholm, hieß es. Das Schiff war nie zurückgekommen. Nur Geschichten über hohe Wellen und Gottes Zorn.
Er setzte sich in Bewegung, nicht zurück zur Hütte, die seine Mutter Zuhause nannte, sondern hinunter. Immer hinunter, dorthin, wo die Kräne knarrten und die Fässer rollten, wo Männer in fremden Sprachen fluchten und wo die Welt größer war als die Hafengasse.
Seine nackten Füße fanden sicheren Halt auf den glitschigen Steinen. Er war diesen Weg tausendmal gegangen, seit er laufen konnte. Die Hafengasse war sein Reich, auch wenn er darin nichts besaß. Hier kannte er jeden Winkel, jede Abkürzung, jeden Platz, wo man ungesehen bleiben konnte.
Am Ende der Gasse, dort wo sie sich zum Hafenplatz weitete, blieb Klaus stehen. Sein Blick fiel auf eine Gruppe Männer, die gerade eine Kogge entluden. Schwere Säcke, vermutlich Getreide aus Stralsund oder Rostock. Die Männer arbeiteten im Rhythmus, ihre Bewegungen eingespielt, ihre Körper kräftig unter der Last.
"He, Junge!"
Klaus zuckte zusammen. Ein Mann hatte ihn entdeckt, breitschultrig, mit einem Bart wie Drahtgeflecht und Augen, die selbst aus der Ferne stachen.
"Was glotzt du so? Hast du nichts zu tun?"
Klaus öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was sollte er sagen? Dass er hierher kam, weil er nirgendwo anders hinkonnte? Dass die vier Wände ihrer Hütte ihn erstickten? Dass der Hunger in seinem Bauch leichter zu ertragen war, wenn er das Meer sehen konnte?
"Ich... ich suche Arbeit."
Die Worte kamen, bevor er darüber nachdenken konnte. Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sein Blick war nicht freundlich, aber auch nicht grausam. Eher abschätzend, wie man ein Pferd oder ein Werkzeug betrachtete.
"Du bist dünn wie eine Bohnenstange. Was willst du denn arbeiten?"
"Alles." Klaus trat einen Schritt vor. "Ich kann tragen, ich kann rennen, ich kann—"
"Kannst du schweigen?"
Klaus verstummte. Der Mann grinste, aber es war kein warmes Grinsen.
"Das ist schon mal ein Anfang." Er wandte sich ab, rief einem anderen Arbeiter etwas zu, dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter. "Siehst du die Fässer dort? Die müssen in die Halle. Einen Grösch pro zehn Fässer."
Ein Grösch. Das war fast nichts, und doch mehr, als Klaus in einer Woche zusammenbetteln konnte. Er nickte, zu schnell vielleicht, zu eifrig. Aber der Mann hatte sich schon abgewandt.
Klaus stürzte zu den Fässern. Sie waren schwerer als gedacht, schwerer als alles, was er je getragen hatte. Seine dünnen Arme zitterten unter der Last, sein Rücken schmerzte schon nach dem ersten. Aber er biss die Zähne zusammen und arbeitete weiter.
Die Sonne stand bereits tief, als er fertig war. Seine Hände waren aufgeschürft, seine Schultern fühlten sich an, als würden sie brennen. Der breitschultrige Mann warf ihm eine kleine Münze zu, die Klaus aus der Luft fing.
"Morgen wieder?"
Klaus nickte, zu erschöpft für Worte.
"Dann sei bei Sonnenaufgang hier."
Auf dem Rückweg durch die Hafengasse lag die Münze schwer in Klaus' Hand. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie seiner Mutter zu geben. Aber dann dachte er an das alte Weib, das unten am Fischmarkt Brot verkaufte. Frisches Brot, noch warm, das nach Leben schmeckte und nicht nach Verzweiflung.
Er kaufte zwei Laibe. Einen für seine Mutter, einen für sich.
Als er in die Hütte trat, saß seine Mutter am Tisch. Ihr Gesicht war eingefallen, ihre Hände knochig. Sie war erst dreißig, sah aber aus wie fünfzig. Das Leben in der Hafengasse fraß die Menschen auf, langsam aber gründlich.
"Wo warst du?" Ihre Stimme klang müde.
Klaus legte das Brot vor sie auf den Tisch. Einen langen Moment sagte sie nichts. Dann, ganz leise:
"Du bist genau wie dein Vater."
Klaus wusste nicht, ob das ein Vorwurf war oder ein Kompliment. Vielleicht beides.
Er aß schweigend, dann legte er sich auf sein Strohlager in der Ecke. Durch die Ritzen in der Wand konnte er die Sterne sehen. Irgendwo da draußen, jenseits des Horizonts, gab es eine Welt, die größer war als die Hafengasse. Eine Welt, in der man mehr sein konnte als hungrig und arm.
Sein Körper schmerzte von der Arbeit, aber es war ein guter Schmerz. Ein Schmerz, der bedeutete, dass er etwas getan hatte. Dass er nicht nur existierte, sondern lebte.
Im Halbschlaf hörte er das Knarren der Schiffe im Hafen, das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern. Es klang wie ein Versprechen.
Oder wie eine Warnung.
Vier Jahre waren vergangen, seit Klaus zum ersten Mal Fässer am Hafen geschleppt hatte. Vier Jahre, in denen sein Körper sich verändert hatte - die Knochen waren breiter geworden, die Schultern kräftiger, die Hände voller Schwielen. Er war sechzehn oder siebzehn, und die Hafengasse hatte ihre Spuren hinterlassen. Aber er war ihr entkommen.
Das Kontor von Bartholomäus van der Meer lag in der Krämerstraße, nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt. Es war ein stattliches Gebäude aus rotem Backstein, drei Stockwerke hoch, mit geschnitzten Fensterrahmen und einem Giebel, der gen Himmel ragte wie ein Zeichen von Wohlstand und Macht. Hier roch es nicht nach Fisch und Elend, sondern nach Bienenwachs, Tinte und Geld.
Klaus saß an einem schmalen Pult in der hinteren Ecke des Kontors. Vor ihm lagen Rechnungen, säuberlich aufgereiht, die er ins Hauptbuch übertragen sollte. Seine Finger, die einst nur zum Tragen und Schleppen getaugt hatten, führten nun eine Feder. Die Schrift war nicht elegant, aber lesbar. Bartholomäus hatte ihm Lesen und Schreiben beigebracht - nicht aus Güte, sondern aus Notwendigkeit. Ein Kaufmann brauchte Leute, die rechnen konnten, und junge Leute waren billiger als erfahrene Schreiber.
"Klaus!"
Die Stimme von Bartholomäus' Sohn Dietrich schnitt durch die Stille des Kontors. Klaus legte die Feder beiseite und erhob sich. Dietrich stand in der Tür, gekleidet in feines Tuch aus Flandern, eine goldene Kette um den Hals. Er war kaum älter als Klaus, vielleicht achtzehn, aber die Jahre trennten sie wie eine Kluft.
"Der Wein aus Bordeaux muss heute noch inventarisiert werden. Die Fässer im Lagerhaus."
Klaus nickte. "Ich kümmere mich darum."
"Sieh zu, dass du keine Fehler machst. Vater ist ohnehin schon missgelaunt wegen der Preise aus Lübeck."
Dietrich verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Klaus spürte, wie sich seine Kiefer zusammenzogen. Vier Jahre hatte er für diese Familie gearbeitet, hatte gelernt und geschuftet, und doch war er für sie nicht mehr als ein besserer Diener. Ein Werkzeug, das man benutzte und wieder beiseite legte.
Er griff nach seinem Umhang und verließ das Kontor. Die Krämerstraße war belebt - Händler priesen ihre Waren an, Karren rumpelten über das Pflaster, irgendwo lachte eine Frau. Klaus bahnte sich seinen Weg durch die Menge, vorbei an den Ständen mit Gewürzen und Tuchen, vorbei an den Bettlern, die in den Hauseingängen kauerten.
Das Lagerhaus lag nahe dem Hafen, ein massives Gebäude mit dicken Mauern und schweren Eichentüren. Klaus kannte jeden Winkel davon. Er hatte unzählige Stunden hier verbracht, hatte Fässer gezählt, Waren sortiert, Inventarlisten geschrieben. Die Arbeit war monoton, aber sie hatte ihm eines gebracht: Wissen.
Er wusste, wie viel ein Fass Wein aus Bordeaux wert war. Er wusste, dass die Gewürze aus dem Orient mehr kosteten als ein Mensch aus der Hafengasse in seinem ganzen Leben verdienen würde. Er wusste, dass Bartholomäus van der Meer mit einem einzigen Handel mehr Profit machte, als Klaus' Mutter in zehn Jahren hätte ausgeben können.
Die Fässer standen ordentlich aufgereiht im hinteren Teil des Lagers. Klaus begann zu zählen, seine Finger glitten über das raue Holz, seine Lippen formten lautlos die Zahlen. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn...
"Da bist du ja."
Klaus fuhr herum. In der Tür stand Gernot, ein anderer Lehrling, zwei Jahre jünger als Klaus, aber aus besserer Familie. Sein Vater war Zunftmeister der Schmiede, ein angesehener Mann.
"Was willst du?" Klaus' Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
Gernot zuckte mit den Schultern. "Dietrich schickt mich. Er will, dass du nach dem Inventar gleich die Rechnung für den Patrizier Bernward vorbereitest. Und er sagt, du sollst dich beeilen."
Klaus ballte die Fäuste. "Ich bin noch nicht fertig hier."
"Das ist mir gleich. Ich richte nur aus." Gernot grinste. "Vielleicht solltest du schneller arbeiten. Oder besser. Oder beides."
Er verschwand, bevor Klaus antworten konnte. Einen Moment lang stand Klaus einfach da, die Wut eine heiße Welle in seiner Brust. Es war immer das Gleiche. Mehr Arbeit, weniger Zeit, und am Ende die gleiche karge Bezahlung und die gleichen herablassenden Blicke.
Er zwang sich zur Ruhe und arbeitete weiter. Die Zahlen in seinem Kopf ordneten sich, mechanisch, automatisch. Achtundzwanzig Fässer. Er notierte es auf seinem Wachstäfelchen und machte sich auf den Rückweg.
Als er das Kontor betrat, war es bereits später Nachmittag. Das Licht fiel schräg durch die Butzenscheiben und malte Muster auf den Holzboden. Bartholomäus van der Meer saß an seinem großen Schreibtisch, ein Mann in den Fünfzigern mit grauem Bart und scharfen Augen, die jede Münze zweimal zählten.
"Ah, Klaus." Er blickte nicht auf. "Die Inventarliste."
Klaus legte das Wachstäfelchen vor ihm ab. Bartholomäus studierte die Zahlen, sein Gesicht undurchdringlich. Dann, nach einem langen Moment:
"Achtundzwanzig Fässer. Gut. Aber Meister Hartwig aus Lübeck schreibt von dreißig."
Klaus' Herz setzte einen Schlag aus. "Ich habe dreimal gezählt, Meister. Es sind achtundzwanzig."
"Dann sind zwei verschwunden." Bartholomäus' Stimme war ruhig, aber es lag eine Drohung darin. "Zwei Fässer Bordeaux. Weißt du, was das bedeutet?"
"Ich habe nicht—"
"Ich sage nicht, dass du es warst." Bartholomäus lehnte sich zurück. "Aber jemand muss dafür bezahlen. Und der Lagermeister ist seit zwanzig Jahren bei mir. Du hingegen..."
Klaus spürte, wie ihm kalt wurde. "Ich habe nichts gestohlen."
"Das werden wir sehen." Bartholomäus winkte ab. "Geh jetzt. Und bereite die Rechnung für Bernward vor. Fehlerfrei, versteht sich."
Klaus verließ das Büro, seine Gedanken rasten. Zwei Fässer. Vermutlich längst verkauft, irgendwo an einen Hehler, der keine Fragen stellte. Und er würde dafür zahlen - nicht mit Geld, das er nicht hatte, sondern mit seiner Stellung, vielleicht sogar mit mehr.
Er setzte sich an sein Pult und begann die Rechnung zu schreiben, aber seine Hand zitterte. Die Zahlen verschwammen vor seinen Augen. Draußen läuteten die Glocken der Marienkirche zur Vesper. Das Leben in Wismar ging weiter, gleichgültig gegenüber dem Schicksal eines jungen Mannes, der zwischen den Welten gefangen war.
Zu arm für die Reichen, zu gebildet für die Armen.
Zu ehrlich für eine Welt, in der Ehrlichkeit nichts zählte.
Als die Dunkelheit über die Stadt fiel, verließ Klaus das Kontor. Seine Füße trugen ihn nicht nach Hause, nicht in die Hafengasse, wo seine Mutter auf ihn wartete. Stattdessen ging er zum Hafen, zu den Kaimauern, wo die Schiffe im Wasser schaukelten.
Dort stand er lange und starrte auf die schwarzen Wellen. Irgendwo da draußen, jenseits des Horizonts, gab es eine Welt, in der man nicht für die Verbrechen anderer büßen musste. Eine Welt, in der ein Mann mehr wert war als die Summe dessen, was andere über ihn dachten.
Oder vielleicht war das nur ein Traum.
Ein Traum, den die See flüsterte, wenn die Nacht hereinbrach.
Drei Tage waren vergangen, seit Bartholomäus van der Meer von den verschwundenen Fässern gesprochen hatte. Drei Tage, in denen Klaus mit wachsender Unruhe gearbeitet hatte, in denen jeder Blick, jedes Wort wie eine unausgesprochene Anklage gewirkt hatte.
Es war Markttag, und die Krämerstraße quoll über vor Menschen. Bauern aus dem Umland boten ihre Waren feil, Handwerker priesen ihr Können an, und zwischen den Ständen drängten sich Bürger und Bettler, Kinder und Hunde. Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Händler, vom Gackern der Hühner, vom Klappern der Hufe auf dem Pflaster.
Klaus war auf dem Weg zum Kontor, eine Tasche voller Münzen am Gürtel - die Einnahmen aus einem Handel, den er für Bartholomäus abgewickelt hatte. Sein Kopf schmerzte. Er hatte schlecht geschlafen, hatte von dunklen Kellern und Anklagen geträumt, von Richtern mit steinernen Gesichtern.
"Klaus!"
Er drehte sich um. Seine Mutter stand zwischen den Marktständen, ein Bündel Wäsche unter dem Arm. Sie arbeitete für wohlhabende Familien, wusch ihre Hemden und Tücher für ein paar Pfennige. Ihr Gesicht war gezeichnet von der Arbeit, die Hände rau und rissig.
"Mutter." Er trat zu ihr. "Was machst du hier?"
"Ich bringe die Wäsche zu Frau Köpke." Sie musterte ihn besorgt. "Du siehst müde aus."
"Alles in Ordnung." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. "Ich muss weiter, Bartholomäus—"
"Klaus Störtebeker!"
Die Stimme donnerte über den Marktplatz. Klaus erstarrte. Er kannte diese Stimme - tief, volltönend, gewohnt, gehört zu werden. Er drehte sich langsam um.
Henning von Rentelen stand keine zwanzig Schritte entfernt. Er war Ratsherr von Wismar, ein Patrizier aus alter Familie, ein Mann, dessen Wort in dieser Stadt Gesetz war. Sein Umhang war aus feinstem Tuch, seine Schuhe aus weichem Leder. Hinter ihm standen zwei Knechte, breitschultrig und bewaffnet.
"Ihr seid Klaus Störtebeker? Lehrling bei Bartholomäus van der Meer?"
Klaus' Mund war trocken. "Ja, Herr."
Von Rentelen kam näher, jeder Schritt eine Demonstration von Macht. Die Menge wich zurück, bildete einen Kreis. Niemand wollte in die Nähe dessen geraten, was hier geschah.
"Zwei Fässer Bordeaux-Wein sind aus dem Lagerhaus eures Meisters verschwunden. Ich habe Grund zu der Annahme, dass Ihr dafür verantwortlich seid."
Klaus spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. "Ich habe nichts gestohlen, Herr."
"Ein Mann namens Tibbolt, ein Hehler aus Rostock, wurde mit genau diesem Wein erwischt. Er behauptet, ein junger Bursche aus dem Kontor van der Meer habe ihm die Fässer verkauft. Ein dünner Kerl mit dunklem Haar."
"Das war nicht ich!"
"Eure Beteuerungen interessieren mich nicht." Von Rentelens Augen waren kalt wie Wintereis. "Ihr werdet mitkommen. Der Rat wird über Euch urteilen."
Klaus' Gedanken rasten. Ein Prozess. Das bedeutete Gefängnis, vielleicht Wochen in einem dunklen Loch. Und dann? Im besten Fall würde man ihn auspeitschen und aus der Stadt jagen. Im schlimmsten Fall würde man ihm die Hand abhacken - das war die Strafe für Diebe.
"Mein Sohn hat nichts getan!" Seine Mutter trat vor, das Wäschebündel fest an die Brust gedrückt. "Er ist ein ehrlicher Junge, er würde niemals—"
"Schweigt, Weib!" Von Rentelen warf ihr kaum einen Blick zu. "Zurück mit Euch, oder Ihr kommt mit ins Verlies."
"Lasst sie in Ruhe." Klaus' Stimme war leise, aber etwas darin ließ von Rentelen innehalten.
"Was habt Ihr gesagt?"
"Ich sagte: Lasst. Sie. In. Ruhe." Klaus trat einen Schritt vor. Die Wut, die sich in den letzten Tagen in ihm aufgestaut hatte, brach sich Bahn. "Ihr wisst genau, dass ich nichts gestohlen habe. Ihr braucht nur einen Schuldigen, damit Eure reichen Freunde zufrieden sind."
Von Rentelens Gesicht lief rot an. "Ihr wagt es, mir zu widersprechen?"
"Ich wage es, die Wahrheit zu sagen."
Einen Moment lang herrschte Stille auf dem Marktplatz. Selbst die Händler hatten aufgehört zu rufen. Alle Augen waren auf Klaus und den Ratsherrn gerichtet.
Dann nickte von Rentelen einem seiner Knechte zu.
Der Mann war schnell, aber Klaus war schneller. Jahre harter Arbeit hatten seinen Körper gestählt, und die Hafengasse hatte ihn gelehrt, sich zu wehren. Er wich dem Griff aus, schlug dem Knecht die Faust ins Gesicht. Der Mann taumelte zurück, Blut schoss aus seiner Nase.
"Ergreift ihn!"
Der zweite Knecht stürzte vor. Klaus duckte sich unter seinem Schwerthieb hinweg, rammte ihm die Schulter in den Bauch. Der Mann keuchte, stolperte. Klaus nutzte die Sekunde, riss sich los, rannte.
Die Menge explodierte in Geschrei. Hände griffen nach ihm, aber er war bereits durch, hastete die Krämerstraße hinunter, das Herz wie ein Hammer in seiner Brust.
"Haltet ihn! Haltet den Dieb!"
Schritte hinter ihm, schwer und schnell. Klaus bog in eine Seitengasse ab, seine Füße fanden instinktiv den Weg. Er kannte diese Straßen besser als jeder Patrizierknecht. Links, rechts, durch einen überdachten Durchgang, über einen Hinterhof.
Aber sie waren viele, und sie kannten die Stadt auch. Klaus hörte Rufe von allen Seiten, hörte das Klirren von Waffen. Er hetzte weiter, die Lungen brannten, die Beine wurden schwer.
Er erreichte die Hafengasse. Seine Hafengasse. Für einen Moment überlegte er, ob er zu seiner Mutter laufen sollte, sich verstecken. Aber dann sah er die Knechte am anderen Ende der Gasse. Sie hatten den Weg abgeschnitten.
Klaus wirbelte herum. Hinter ihm näherten sich weitere Männer. Er war in der Falle.
Sein Blick fiel auf einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Kaum breiter als seine Schultern, aber er passte hindurch. Er zwängte sich in die Lücke, schob sich seitwärts durch, das raue Holz schabte über seine Haut.
Am anderen Ende öffnete sich der Durchgang auf einen kleinen Platz. Klaus atmete schwer, wischte sich den Schweiß aus den Augen. Vor ihm lag eine Werkstatt - die Schmiede von Gernots Vater. Die Tür stand offen, der Schmied war nicht da.
Klaus schlüpfte hinein. Drinnen war es dunkel und heiß, die Glut im Ofen glomm noch. Werkzeuge hingen an den Wänden, Eisen in allen Formen und Größen. Und dort, in der Ecke - ein schwerer Hammer.
Klaus griff danach, mehr aus Instinkt als aus Überlegung. Das Gewicht fühlte sich vertraut an, solide. Er versteckte sich hinter der Tür, den Hammer in beiden Händen.
Schritte näherten sich. Stimmen.
"Er muss hier irgendwo sein!"
"Durchsucht alles!"
Die Tür wurde aufgerissen. Ein Knecht trat ein, das Schwert gezogen. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Einen Moment zu lang.
Klaus schwang den Hammer. Er zielte auf den Arm, wollte nur entwaffnen, aber der Mann drehte sich im letzten Moment. Der Hammer traf ihn an der Schläfe mit einem widerlichen Geräusch.
Der Knecht sackte zusammen wie ein Sack Mehl.
Klaus starrte auf ihn hinab. Blut sickerte aus der Wunde, dunkel und dick, bildete eine Pfütze auf dem Lehmboden. Der Mann atmete nicht mehr.
"Nein." Das Wort kam als Flüstern. "Nein, nein, nein..."
"Heinrich! Heinrich, wo bist du?"
Mehr Stimmen. Sie kamen näher. Klaus ließ den Hammer fallen, trat über den Leichnam, stolperte aus der Schmiede. Seine Hände zitterten, sein ganzer Körper zitterte.
Er hatte einen Mann getötet.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Nicht verwundet, nicht niedergeschlagen. Getötet. Tot.
Er rannte wieder, ohne nachzudenken, ohne zu planen. Seine Füße trugen ihn zum Hafen, zu den Schiffen. Rufe hinter ihm, immer mehr Rufe. Die ganze Stadt schien hinter ihm her zu sein.
Am Kai lag eine kleine Kogge, die Segel noch nicht gehisst, aber die Mannschaft bereits an Bord. Klaus erkannte das Schiff - es gehörte einem Händler aus Stralsund, sollte heute auslaufen.
Ohne zu zögern sprang er über die Reling. Die Seeleute starrten ihn überrascht an.
"Was zum—"
"Legt ab!" Klaus keuchte. "Legt ab, sofort, ich zahle doppelt!"
"Wir haben noch nicht—"
"Jetzt!"
Die Dringlichkeit in seiner Stimme, das Blut an seinen Händen, ließ die Männer innehalten. Dann, von der Kaimauer:
"Haltet das Schiff! Im Namen des Rates von Wismar!"
Der Kapitän, ein wettergegerbter Mann mit grauem Bart, wechselte einen Blick mit Klaus. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann grinste er.
"Die Leinen los! Setzt die Segel!"
Die Mannschaft bewegte sich wie auf Kommando. Die Taue wurden gelöst, das Segel knarrte hoch. Der Wind, der vom Meer kam, erfasste das Tuch, blähte es. Die Kogge glitt vom Kai.
Klaus stand an der Reling und sah zurück. Die Knechte standen auf der Kaimauer, von Rentelen zwischen ihnen, sein Gesicht eine Maske des Zorns. Die Stadt, in der Klaus geboren worden war, in der er aufgewachsen war, zog sich zurück.
Seine Mutter stand irgendwo dort drinnen. Seine Vergangenheit. Sein altes Leben.
Alles verloren in einem einzigen Moment.
Das Blut an seinen Händen war bereits getrocknet. Es fühlte sich an wie eine Brandmarkung, wie ein Urteil. Er war jetzt ein Mörder. Ein Flüchtling. Ein Geächteter.
Die Kogge glitt hinaus auf die offene See. Die Wellen schlugen gegen den Bug, die Möwen kreischten über ihnen. Klaus schloss die Augen und spürte die Gischt auf seinem Gesicht.
Er hatte keine Wahl mehr. Der Weg zurück war versperrt, für immer.
Vor ihm lag nur das Meer.
Und was auch immer das Schicksal für ihn bereithielt in den Ländern jenseits des Horizonts.
Die ersten drei Tage auf See verbrachte Klaus damit, sich zu übergeben. Er hing über der Reling und spie seine Eingeweide ins Wasser, während die Mannschaft lachte und Wetten abschloss, wie lange der Landratte es noch ausmachen würde. Das Schiff stampfte und rollte, und sein Magen drehte sich mit jeder Welle.
"Du gewöhnst dich dran", sagte der Kapitän, als Klaus zum wiederholten Mal seinen Mageninhalt dem Meer übergab. "Oder du stirbst. Beides ist mir recht, solange du zahlst."
Klaus zahlte. Das Geld, das er bei sich getragen hatte - die Einnahmen aus Bartholomäus' Handel - reichte gerade für die Überfahrt nach Stralsund und ein wenig mehr. Als die Kogge schließlich in den Hafen einlief, war Klaus um zehn Pfund leichter und um Jahre älter.
Stralsund war größer als Wismar, lauter, dreckiger. Die Stadt drängte sich zwischen Wasser und Himmel, ein Gewirr aus Giebeln und Türmen. Der Hafen war ein Wald aus Masten, Hunderte von Schiffen aus allen Teilen der Ostsee. Klaus stand am Kai und fühlte sich verloren.
Niemand kannte ihn hier. Das war gut. Aber niemand kannte ihn hier. Das war schlecht.
Er hatte kein Dach über dem Kopf, keine Arbeit, keine Zukunft. Und in seinen Träumen sah er immer wieder das Gesicht des Knechts, den Moment, als der Hammer traf, das Blut auf dem Lehmboden.
In der ersten Nacht schlief er unter einer Treppe nahe dem Fischmarkt. Der Gestank war unerträglich, aber er war müde genug, um trotzdem einzuschlafen. Als er aufwachte, waren seine letzten Münzen verschwunden. Ein anderer Bettler, vermutlich, oder ein Dieb. Klaus lachte bitter. Der Dieb bestohlen.
Er fand Arbeit am Hafen - schwere, stumpfsinnige Arbeit für ein paar Pfennige am Tag. Fässer schleppen, Schiffe entladen, Fische ausnehmen. Seine Hände, die einmal eine Feder geführt hatten, waren nun wieder nur noch Werkzeuge. Aber er stellte keine Fragen, er klagte nicht, und er hielt den Mund. Das brachte ihm einen gewissen Respekt ein.
Nach zwei Wochen sprach ihn ein Mann an.
Es war Abend, die Sonne war gerade untergegangen, und Klaus saß auf einer Kiste am Rand des Hafens. Er aß trockenes Brot und starrte auf das Wasser. Der Mann kam aus dem Schatten, so leise, dass Klaus ihn erst bemerkte, als er direkt neben ihm stand.
"Du bist der Neue aus Wismar."
Klaus fuhr herum. Der Mann war mittelgroß, drahtig, mit einem Gesicht, das aussah, als wäre es aus Leder geschnitzt. Seine Augen waren schmal und wachsam, seine Kleidung unauffällig aber nicht arm.
"Woher—"
"Wismar ist nicht weit. Nachrichten reisen." Der Mann setzte sich unaufgefordert. "Man sagt, du hättest einen von Rentelens Knechten erschlagen. Stimmt das?"
Klaus schwieg. Sein Herz hämmerte.
"Keine Angst." Der Mann grinste, aber es war kein freundliches Grinsen. "Ich bin kein Büttel. Im Gegenteil. Mein Name ist Ludolf. Ludolf der Rote, nennen sie mich, wegen..." Er deutete auf sein rötliches Haar. "Du siehst aus, als könntest du einen Freund gebrauchen."
