Stille die man hören kann. Bei alten Wikingern und modernen Geistern - Harald Stöber - E-Book

Stille die man hören kann. Bei alten Wikingern und modernen Geistern E-Book

Harald Stöber

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer sich als Individualtourist bis hinauf zum Nordkap begibt, sollte mental darauf eingestellt sein, nicht nur grandiose Natur zu erleben, sondern auch Abenteuerliches bis hin zum Unwahrscheinlichen. Es prickelt, Heyerdals Kon-Tiki unter seinen Füßen zu spüren, den höchsten Berg Skandinaviens, den Glittertind, erklommen zu haben und schließlich auf dem sturmumtobten Felsen des Nordkaps zu stehen. Auf Island bestaunt man zischende Geysire, blickt in tiefe Vulkankrater und lernt, dass es nicht Kolumbus war, der Amerika entdeckte. Kaum zu glauben, aber wahr: Die Hälfte selbst der modernen Isländer ist von der ständigen Anwesenheit sichtbarer und unsichtbarer Wesen überzeugt! Und es faszinieren die großartigen Eiswelten Grönlands und Spitzbergens, es verblüffen die eigenwilligen Färinger und man glaubt, im hohen Norden allenthalben »Stille, die man hört« wahrzunehmen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 302

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Harald Stöber

STILLE, DIE MAN HÖREN KANN

Bei alten Wikingern und modernen Geistern

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto:

Der Autor im ewigen Eis Grönlands

Coverrückseite:

Spontane Freundschaft mit Inuits auf Grönland

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86268-798-5

Liebe diese Erde,

als wenn es dich

morgen nicht mehr

geben würde.

Anonymus

Gewidmet meiner

lieben Familie und

allen Freunden

Skandinaviens.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

WEITES NORDKAP

Vorwort und Anreise

Historisches Århus

Fast eine Weltstadt: Göteborg

»Fram« und »Kon-Tiki« in Oslo

Über den Glittertind bis Trondheim

Bis zum Nordpolarkreis

Durch Lappland bis ans Ende Europas

2. Kapitel

EISSTRASSE SÜDWÄRTS

Wälder und tausend Seen

Viel Historie in Stockholm und Uppsala

Kopenhagener Tivoli und Weltzeituhr

3. Kapitel

LAND DER GEYSIRE

Überblick

Amerikaentdecker und Blaue Lagune

Zur »Hauptstadt alles Unwahrscheinlichen«

4. Kapitel

IM ANGESICHT EWIGEN EISES

Überblick

Via Shetland nach Island

Eisberge am Cape Farewell

Godthåb

5. Kapitel

LAND DER KALTEN KÜSTEN

Überblick und Anreise

Traumland und Kriegserinnerungen

Kohlen, Russen und Gletscher

6. Kapitel

FINNLANDS FERNWEST: ÅLAND

Überblick

Von Helsinki nach Mariehamn

Von Ort zu Ort auf Åland

7. Kapitel

EIGENWILLIGE FÄRÖER-INSELN

Überblick

Anreise nach Tórshavn

»Stille, die man hört«

Lange Rückreise

1. Kapitel

WEITES NORDKAP

Vorwort und Anreise

Es hatte Jahre gedauert, bis ich mich endlich für diese über 9.000 Kilometer lange Autoreise in den Norden Europas entschließen konnte. Als aber dann die Entscheidung gefallen war und ich mein Reiseprogramm fertig hatte, freute ich mich auf dieses »skandinavische Abenteuer«, hatte ich doch gelesen, dass in Nordeuropa die Naturfreunde ebenso auf ihre Kosten kämen wie Museumsgänger und Architekturinteressenten.

Ehrlich gesagt war es ein Vorurteil, dass mich bisher davon abgehalten hatte, als Individualtourist unseren nordischen Nachbarn einen Besuch abzustatten. Es war die Meinung vom ewig verregneten kühlen Sommer, der ungastlich ist und außer langweiligen Wäldern dem Besucher nichts zu bieten hat. Diese in der Tat unqualifizierte Auffassung habe ich binnen weniger Wochen aber gründlich revidiert! Heute freue ich mich darüber, dass für den Sommerurlaub 1978 die Entscheidung zugunsten Skandinaviens fiel, denn der Norden – das weiß ich heute – bietet tatsächlich viel mehr, als allgemein angenommen wird. Nach dieser großen Autotour durch Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland stehe ich heute sogar auf dem Standpunkt, dass der hohe Norden eigentlich ein Geheimtipp ist.

Da es nun einmal zu mir gehört, mich möglichst gründlich auf Reisen einzustellen, nahmen natürlich auch die Vorbereitungen für Skandinavien viel Zeit in Anspruch, war es doch mein Ziel, das weite Nordkap zu erreichen. Dieses Ziel reizte mich – je tiefer ich mich gedanklich mit dem Norden befasste – immer mehr, so dass es eines Tages überhaupt keine Frage mehr war: Ich musste schließlich das Kap erreichen! Als dieser Gedanke fest genug verankert war, begann ich mit dem Studium vielen Informationsmaterials, das aber überraschenderweise nicht so vollständig war, wie ich es für Skandinavien erwartet hätte. Selbst die so wichtige letzte Etappe bis zum Kap ist nicht einmal im großen Skandinavienführer beschrieben! Auch sonst entdeckte ich gravierende Ungereimtheiten und Unvollständigkeiten in den Beschreibungen, die es eigentlich nicht geben dürfte. Ich habe also den gedruckten Reiseführer an etlichen Stellen widerlegt.

Von Bedeutung ist natürlich die Frage nach den Kosten, die auf individuell reisende Nordlandfahrer zukommen. Hierüber enthält der Reiseführer ebenfalls nur unzureichende Hinweise. Man liest zwar detailliert etwas über Postgebühren, Linienflug-, Schiffs- und Benzinpreise, die jedoch längst überholt sind, aber es wird nichts über Verpflegungs- und Hotelkosten ausgesagt. Ich hatte Glück und erfuhr von Kollegen, dass Skandinavien im Vergleich zu uns relativ teuer ist. So wurde ich dazu animiert, möglichst viel Ess- und Trinkbares mitzunehmen. Dies war auch gut so, denn – vom EU-Land Dänemark abgesehen – in den skandinavischen Ländern hätte ich zur Befriedigung von Hunger und Durst glatt das Vierfache zahlen müssen.

Als ich zudem erfuhr, dass man beispielsweise in Oslo kein Zimmer unter 100 Mark bekommt und dass dort ein Bier um die fünf Mark kostet, stand für mich fest, dass ich diese Klippen mit den mir eigenen Mitteln umschiffen musste, um mir nicht die Freude an dieser weiten Tour zu vermiesen. Ich vermaß innen meinen VW-Käfer und stellte fest, dass ich meine bescheidenen 172 Zentimeter ohne weiteres würde ausstrecken können, womit eine etwas kuriose Entscheidung gefallen war: Ich entfernte den rechten Sitz und bastelte mir mit List und Tücke eine ausreichend breite und lange Liege aus noch verwendbarem Kistenholz und schuf mir so ein Bett, das mir einige Wochen lang teure skandinavische Hotelbetten ersetzte. Der Einkauf der Lebensmittel für 200 Mark war schnell erledigt, nur bereitete mir der warnende Hinweis eines Kollegen Sorge, nach dem die skandinavischen Zollbeamten angeblich dazu neigen würden, Büchsen, Würste und volle Bierflaschen hoch zu verzollen. Dieses ungute Gefühl – zumal als ehemaliger Zöllner! – wurde ich bis zur Überschreitung der ersten Grenze nicht los, aber später brauchte ich nicht mehr daran zu denken, obwohl ich zigmal innerskandinavische Grenzen passierte, denn der Grenzzoll gehört dort oben längst der Geschichte an. Auch hierüber findet übrigens der Reisende im Reiseführer keinen Hinweis.

Das Festlegen der Reiseroute machte mir wie immer viel Spaß, denn auch diesmal erlebte ich die Tour bereits im Voraus, war innerlich aber weniger gespannt, als zum Beispiel bei der Planung einer Orientreise. Dass ich dennoch gründlich die Route skizzierte und mir möglichst viele Details einprägte, erwies sich als vorteilhaft, hatte ich es doch mit dem sehr weitläufigen Skandinavien zu tun, wo mir die Sehenswürdigkeiten nicht so ohne weiteres ins Auge fallen würden. Parallel dazu musste ich ein paar innerskandinavische Schiffsbuchungen im Voraus erledigen, aber dies hat mir das hilfsbereite ABR gern abgenommen.

Nachdem ich glaubte, das Wesentlichste in die Route hineingepackt zu haben, hatte sich folgende Tour ergeben, die ich hier nur grob wiedergebe: Holland, Ruhrgebiet, Norddeutschland, Århus, Göteborg, Oslo, Trondheim, Sundsvall, Tornio, Hammerfest, Nordkap, Inari, Kuopio, Helsinki, Turku, Stockholm, Kopenhagen. Dass ich plötzlich das Bedürfnis hatte, auch Skandinaviens höchsten Berg, den 2.470 Meter hohen Glittertind in Norwegen, zu besteigen, überrascht nur den, der mich nicht kennt.

Nun rückte der Abfahrtstag, der 4. August 1978, immer näher, aber wie sich von Tag zu Tag deutlicher zeigte, fielen mir immer wieder neue Dinge ein, ohne die ich glaubte, eine so große Tour nicht unternehmen zu können. Obwohl ich aus den Erfahrungen von zwei vorausgegangenen großen Nordafrikafahrten per Auto schöpfen konnte, wurde die Liste der »unentbehrlichen Kleinigkeiten« immer länger, fügte sich Nähgarn zum Mückenspray, Notizpapier und Anschriftenmaterial zu kräftigem Schuhwerk und warmem Schal. Als ich schließlich alle Mitnehmsel beieinander hatte und den riesigen Haufen gekaufter Büchsen, Dosen und Brote vor mir liegen sah, wollte ich gar nicht mehr daran glauben, dass dies von einem VWKäfer verkraftet werden kann.

Aber alles ließ sich fabelhaft verstauen, selbst der 10-Liter-Wasserkanister, der Gaskocher und zwei Reservekanister hatten noch Platz. Kaum zu glauben, was so ein mickriger Käfer in sich aufnehmen kann! Dies setzt allerdings voraus, dass man genau weiß, was wohin kommt, denn letztlich geht es ja auch darum, sich möglichst zweckmäßig einzurichten. Als ich schließlich davon überzeugt war, alles Lebensnotwendige verstaut zu haben und nicht zuletzt über eine Liege verfügte, die sogar verhältnismäßig komfortabel war, startete ich zum letzten Arbeitstag, wohl wissend, dass ich heute zu keinen Glanzleistungen mehr in der Lage sein würde, denn mit gütiger Vorgesetztenerlaubnis wollte ich das Haus schon nach dem Mittagessen verlassen.

Wieder Abschied von der Familie, der ich gern versprach auf mich aufzupassen, vorsichtig zu fahren und die lieben Verwandten in Holland herzlich zu grüßen. Als ich am Nachmittag des 4. Augusts um 15.30 Uhr gen Holland startete, zeigte der Tacho genau 55.333 Kilometer, das Wetter war ideal und meine Reiselaune bestens. Nun freute ich mich sehr auf das »nordische Abenteuer«, ahnte ich doch, dass ich von dieser Tour viel profitieren beziehungsweise lernen würde. Ich fuhr nun einem Teil unserer Welt entgegen, der für mich noch fremd war, den ich hoffte, nun für mich persönlich erschließen zu können. Ob sich mein alter Jugendtraum würde erfüllen lassen, auf herumziehende Lappen zu treffen? Ist das legendäre Nordkap per Auto überhaupt erreichbar? In welchem Zustand sind die oft ungeteerten Straßen dort oben? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten mich, hing doch letztlich davon das Gelingen dieser »nordischen Abenteuer-Tour« ab.

Aber ich war – wie stets auf Reisen – optimistisch; ein gebürtiger Pessimist sollte gleich zu Hause bleiben! Mich konnte auch die Meinung eines Kollegen nicht beirren, der allen Ernstes gemeint hatte, ein lächerlicher Käfer könne das nicht durchhalten. Da ich aber Sachse bin, kann man mich mit derartigem Gerede nicht beleidigen oder gar aus dem Konzept bringen, so etwas bestärkt nur meine Absicht, mich trotzdem der Herausforderung zu stellen. Und eine solche war es in der Tat, aber mehr für meine eigene Kondition als für den ach so schmächtigen Käfer, denn der marschierte nämlich durch, ohne auch nur ein einziges Mal aufgemuckt zu haben!

Wie es auf bundesdeutschen Straßen und Autobahnen zugeht, weiß jeder Autofahrer. Dass ich aber aus München um diese an sich günstige Zeit wegen hartnäckiger Staus im Westen nur mit viel Mühe herauskam, konnte mir nicht gefallen, denn mein Plan bestand darin, noch heute bis ins holländische Kerkrade zu kommen, wo Verwandte auf mich warteten. Als sich die Münchener Staus auflösten, ging’s dann zügiger voran, aber vor Stuttgart – etwa in Flughafennähe – gab es dann sogenannten stehenden Verkehr, der es mir nahelegte, das Ziel für heute eventuell zu streichen. Als es dann nach über einer Stunde doch wieder weiterging, schöpfte ich Hoffnung, aber vor Koblenz geriet ich gegen 21 Uhr in den nächsten großen Stau, so dass ich mir vornahm, diesen ersten Reisetag bald zu beenden.

Nachdem ich hinter Koblenz für 93,9 Pfennige teuer getankt hatte – das waren damals noch keine 50 Eurocent! – meldete ich mich telefonisch in München und ließ wissen, dass die vielen Staus mich daran hindern würden, noch heute die holländische Grenze zu passieren und bat darum, dieses den Wartenden in Kerkrade mitzuteilen.

Für mich stellte sich nun das Problem, bei völliger Dunkelheit einen geeigneten Standort zu finden und dies in einer mir unbekannten Gegend. Ich verließ gegen 22.30 Uhr die Autobahn und fuhr rein gefühlsmäßig in die schwarze Nacht hinein, um bei erstbester Gelegenheit in irgendeinen Busch hineinzufahren. Als ich nach kaum fünf Minuten zu einem hochstämmigen Wald kam, versperrten natürlich Einfahrverbotsschilder die Wege, aber angesichts der vorgerückten Stunde hätte ich das Risiko auf mich genommen, mich trotz Verbots in eine Lichtung zu stellen, hatte ich doch vor, morgen früh schon sehr zeitig wieder weiterzufahren. Da erlebte ich jedoch eine kleine Überraschung, denn ich entdeckte im Scheinwerferlicht eine in der Tat schilderfreie Waldeinfahrt. Als ich den holprigen Weg minutenlang hineingefahren war und ich meinte, mich jetzt ungestört zur Ruhe begeben zu können, rangierte ich vom Weg weg und stellte den Wagen zwischen niedrige dichte Tannen.

Nun merkte ich, dass die bis hierher gefahrenen zirka 500 Kilometer kein Pappenstiel waren, denn mir brummte der Kopf, ich war müde und hungrig. Zunächst warf ich mich für die Nacht in meinen Trainingsanzug, und nun bewährte sich zum ersten Mal die durchdachte Ablage der vielen mitgenommenen Dinge; denn ich fand auf Anhieb alles für’s Abendessen und ließ mir Würstchen, Brot und Tee bei nur schwacher Campingbeleuchtung schmecken. Als ich mich langgestreckt und das Licht gelöscht hatte wusste ich zwar, heute mein Ziel nicht erreicht zu haben, aber ich hatte ja genügend Spielraum eingeplant, so dass mir ein halber Tag Zeitverlust nicht schaden konnte.

Draußen war es absolut windstill, wolkenfrei und mondhell. Schön, diese Nacht, in die ich aber nur noch wenige Minuten schauen konnte, denn sehr bald schlief ich fest ein.

Die zweite Etappe der Hinfahrt begann am Morgen des 5. Augusts, als mich halb sechs die hereinscheinende Sonne weckte. Bis dahin hatte ich gut geschlafen und wusste somit, dass ich auch in den vor mir liegenden drei Wochen mit dem Schlafen keine Schwierigkeiten haben würde. Und in der Tat stellte sich heraus, dass die »Bett-Idee« im Käfer sehr gut war, sich voll bewähren würde. Ich frühstückte herzhaft aber eilig, denn mir lag daran, etwas Zeit aufzuholen. Als ich kurz nach sechs Uhr den Wald verlassen hatte, konnte ich einem Straßenschild entnehmen, dass ich in einem Waldstück nahe Rheinböllen übernachtet hatte.

Die Autobahn in Richtung Aachen hatte ich rasch wieder unter mir, so dass ich zuversichtlich war, noch vor acht Uhr in Holland zu sein, aber diese Hoffnung wurde durch einen kilometerlangen Stau an der Grenze zunichte gemacht, wo die Grenzbeamten beider Seiten sehr genau die Ausweis- und Fahrzeugpapiere kontrollierten. Muss sein, dachte ich, denn es gab zu dieser Zeit zu viele Bösewichte, die sich nicht scheuten, kurzerhand auch von Maschinenpistolen Gebrauch zu machen, um politische Traumziele zu erzwingen. Nachdem ich die Kontrollen hinter mir hatte und ich beim holländischen Roten Kreuz eine Mark losgeworden war, steuerte ich auf fast freier, hier gelb markierter Autobahn gen Kerkrade.

Ein schönes Gefühl, nach längerer Zeit wieder einmal durch diese jetzt leider etwas zu ruhig gewordene Kleinstadt zu fahren, denn hier war Hilde zu Hause, von hier hatte ich sie als meine Frau nach Deutschland geholt. Ich fuhr ganz langsam, passierte jenes Tanzlokal, in dem wir einige schöne Stunden verbracht hatten und besah mir jene Straßen, die wir oft gemeinsam durchwandert hatten. Fast zwanzig Jahre ist das schon her! Damals pulsierte hier das Leben, da gab’s noch die berühmte »Dominiale«, eine Steinkohlengrube von Rang, da kamen noch die deutschen Nachbarn, um hier beste Waren billiger einzukaufen. Heute ist die Grube tot, das Leben pulsiert langsamer und statt der Deutschen hier sieht man die Holländer jetzt drüben einkaufen – meist in Aachen.

Am nächsten Tag setzte ich nach dem Verwandtenbesuch in Kerkrade meine Fahrt bei bedecktem Himmel fort, aber es regnete nicht, und von Staus war weit und breit nichts zu sehen, so dass ich zügig in Richtung Ruhrgebiet fahren konnte. Aber auch hier war alles frei, so dass ich berechtigte Hoffnung hatte, glatt bis zur Grenze zu kommen. Gegen 20 Uhr erreichte ich Deutschlands größte Hafenstadt Hamburg und war überrascht, selbst hier auf eine nur mäßige Verkehrsdichte zu treffen.

Interessant und aufregend war die Fahrt durch den Elbtunnel – ein kilometerlanger, technisch perfekter Schlauch, der das südliche mit dem nördlichen Hamburg verbindet. Vor und hinter dieser hellgelb gekachelten Röhre konnte ich – soweit mein Auge reichte – nur hässliche Industrieanlagen, protzige Gas- und Öltanks, Elektrizitätskomplexe und ein Wirrwarr von Bahnanlagen sehen. Dazwischen immer wieder alte und auch neue seelenlose Wohnsilos. Ich war froh, nach einer halben Stunde diese moderne Einöde hinter mir zu wissen.

Als ich zur Uhr schaute war mir bewusst, dass ich trotz zügiger Fahrt die deutsch-dänische Grenze heute nicht mehr erreichen würde. Zu allem Überfluss begann es jetzt auch noch heftig zu regnen, so dass ich das Tempo stark drosseln musste. Da sich der Tag aber ohnehin dem Ende zuneigte und ich heute keine Lust verspürte, bei Dunkelheit zu fahren, entschied ich, in der Nähe von Neumünster die Autobahn zu verlassen. Nachdem ich getankt und eine ganz gefährliche Verkehrssituation eines Wagens aus Pinneberg beobachtet hatte (dieser fuhr mit rasender Geschwindigkeit um Haaresbreite an einer autobahnteilenden Leitplanke vorbei), verließ ich die Autobahn und steuerte auf eine in der Nähe der Ausfahrt liegende Ortschaft zu.

Es war gegen 21 Uhr, als ich einen günstigen Platz im niedrigen Buschwerk gefunden hatte und mir sicher war, hier eine ruhige Nacht verbringen zu können. Nach dem Abendessen – heute gab es zwei gekochte Eier, Brot und Milch – befasste ich mich noch etwas mit meinem ersten Ziel für morgen, mit Århus, einer kleinen Stadt mit nur 200.000 Einwohnern, die es aber in sich hat!

Ich las auf dem »Bett« liegend noch einmal die Texte über jene vier Besichtigungspunkte durch, mit denen ich mich morgen näher befassen wollte, gab dann aber schnell meinen Geist auf. Da sich das Wetter wieder erholt beziehungsweise der Regen aufgehört hatte, hoffte ich für morgen auf gute Bedingungen.

Historisches Århus

Meinen Ohren wollte ich nicht trauen, als ich gegen halb fünf Uhr morgens den Regen aufs Auto prasseln hörte; sollte mir der heutige Sonntag wirklich verregnen? Ich war enttäuscht, denn gerade Århus ist eine Stadt, von der ein begeisterter Fotofreund eigentlich nur bei Sonnenschein etwas hat. Aber ich musste mich natürlich damit abfinden, wusste ich doch zu genau, dass Dänemark und Norddeutschland in dieser Hinsicht die unzuverlässigsten Ecken hier oben sind. »Laune nicht verderben lassen«, das musste jetzt meine Devise sein.

Ich durchfuhr zunächst ein typisch norddeutsches Örtchen, sauber und großzügig angelegt, ein Ziegelhaus so proper wie das andere, um sechs Uhr schon ein paar fleißige Frauen in ihren Gärten, so gut wie keine Zäune, alles sehr ruhig. Dass die wenigen Leute mit gefüllten Milchkannen oder Gesangsbüchern in den Händen etwas ungläubig dem Münchener Nummernschild nachschauten, wunderte mich nicht, ich hielt’s für normal.

Als ich schließlich die Bundesgrenze erreicht hatte, zeigte die Uhr 7.30 Uhr. Es war also noch früh, so dass ich mir sicher war, heute noch bis hinauf nach Frederikshavn zu kommen. Kurze Passkontrolle durch die deutschen Uniformen, aber keinerlei Kontrolle durch die Dänen. Ich konnte auf dänischer Seite nur einen einzigen Beamten im Grenzhäuschen entdecken, dessen Aufgabe wohl nur darin bestand, die passierenden Fahrzeuge zu zählen. Und nun erlebte ich die erste angenehme Überraschung des heutigen Tages, denn nur wenige Minuten nach dem Grenzübertritt hellte sich plötzlich der graue Himmel auf, und von oben strahlte eine Sonne, die mir das Herz vor Freude etwas schneller schlagen ließ. Ich drückte drauf, hoffte ich doch, auch in Århus noch genügend Sonne zu haben.

Erste Fahrt in Dänemark. Die Strecke – teils Autobahn, teils Landstraße – war hervorragend ausgebaut und wenig befahren. Die gelben Markierungen mahnten ebenso zur Vorsicht wie grüne Hinweisschildchen mit der Aufschrift, dass Geschwindigkeitssündern hohe Strafen drohen: mindestens 250 dänische Kronen! Erster Blick auf Ortschaften: Einheitsstil! Ob Farbe, Architektur oder Gärten – alles ist mehr oder weniger gleich, trist und langweilig. Aber die jetzt hell scheinende Sonne relativierte dieses etwas traurige Bild und ließ sogar die fast gleichfarbenen Häuser freundlicher wirken. Als ich Abenra, Kolding und Horsens passiert hatte, erreichte ich die Hafenstadt Århus, gelegen an der gleichnamigen Bucht im Osten des Landes.

Anhand des kleinen Stadtplanes im Reiseführer hatte ich schnell den Europaplatz in Hafennähe gefunden, wo ich am heutigen Sonntag kostenlos mein Auto parken konnte, um von hier aus die Besichtigung per pedes zu beginnen. Das Wetter meinte es gut mit mir, denn die Sonne schien immer noch, wenn mir auch ein lebhafter Wind etwas zu schaffen machte.

Mein erstes Ziel war natürlich der Dom, absoluter Mittelpunkt des heutigen Århus. Bevor nämlich dieser Dom – der längste Kirchenbau Dänemarks – um 1200 errichtet wurde, war um die Liebfrauenkirche herum, zu der ich später kam, bereits ein Stadtteil entstanden. Den Turm entdeckte ich schon lange vor meinem Eintreffen, denn mit seinen stolzen 96 Metern überragt er weithin sichtbar die ganze Stadt. Ich hatte vor, mir dieses riesige spätgotische Bauwerk innen genauer anzuschauen, aber angesichts des gerade begonnenen Sonntagsgottesdienstes war mir das nicht möglich. Ich wagte mich nur bis hinter das Eingangsportal, war ich doch alles andere als festlich gekleidet: Ich steckte ja in bequemen Khakisachen, trug leichte Sportschuhe und hatte wegen des starken Windes einen dicken Wollschal um den Hals, war also in Räuberzivil!

Der Dom war nur schwach besucht, und da mich hier niemand sonderbar anschaute, setzte ich mich einen Moment lang in die hinterste Reihe und ließ Orgelmusik, Gesang und das Innere des Domes auf mich einwirken. Mächtig sind die über 20 Meter hohen weiß gekalkten Gewölbe und Wände und sehenswert sind die sich gut abhebenden bunten Fresken aus der Reformationszeit. Ein weiterer Blickpunkt ist die 1588 geschaffene Kanzel im Stile der Hochrenaissance, der sich gegenüber ein marmornes Taufbecken aus dem Jahre 1481 befindet.

Nun führte mich der Weg zur Liebfrauenkirche, die ich nach Überqueren des Lillitoro binnen weniger Minuten erreicht hatte. Hierbei handelt es sich um die älteste Kirche der Stadt, geht doch ihre Entstehung bis auf das Jahr 1100 zurück. Doch hier erlebte ich eine Enttäuschung, denn wider Erwarten war diese Kirche am heutigen Sonntagvormittag geschlossen. So war es mir leider nicht vergönnt, das sich hier befindliche älteste Kirchengewölbe des Nordens zu sehen. Trotzdem war der Weg nicht ganz umsonst, denn auch der äußere Anblick ist von Reiz, ist doch der rote Ziegelbau mit kräftigem Efeu bewachsen und strahlt dadurch den Hauch von fast tausend Jahren beinahe fühlbar aus. Hier ließ ich mich im Klostergarten auf einer alten Bank nieder, erfreute mich dieses Anblicks und betrachtete mir auch die alten umliegenden Bürgerhäuser. Sich hier frühere Jahrhunderte vorzustellen, macht Spaß und geht ans Herz.

Nun zog es mich zur Hauptattraktion von Århus, der sogenannten Alten Stadt, die sich einen Kilometer weiter westlich der Liebfrauenkirche befindet. Dieses Freilichtmuseum hatte ich schon einmal im Fernsehen gesehen und mich derart begeistert, dass sich die Eindrücke bis heute hielten, so dass ich jetzt regelrecht darauf brannte, es endlich auch mit eigenen Augen sehen zu dürfen.

Auf dem Wege zum Museumspark machte ich erstmals die erstaunliche Erfahrung, dass man sich mitten in Dänemark deutsch oder englisch kaum verständigen kann. Ich erhielt nämlich von nicht weniger als drei angesprochenen Leuten keine Antwort; man gab mir mit Bedauern zur Kenntnis, mich nicht verstehen zu können. Der vierte Passant wies mir via Englisch schließlich den richtigen Weg. Ich wunderte mich, dass kein einziges Schild auf dieses zumindest in Dänemark berühmte Museum hinwies.

Jetzt wurde es in der am heutigen Sonntag ruhigen Stadt etwas lebendiger und farbenfroher, denn ich konnte sehen, dass der riesige Museumspark für Hunderte umherbummelnder Leute eine Stätte der Ruhe, Erholung und Kommunikation ist. Die Anlage ist jedoch so weitläufig, dass man sich in jeder der uralten Gassen alles bequem und so lange es Spaß macht anschauen kann. »Den gamle By«, so ist die dänische Bezeichnung für »Die Alte Stadt«, stellt also ein Museum ganz besonderer Art dar: Hier ist es den Restaurateuren in enger Zusammenarbeit mit der Stadt gelungen, einen viele Jahrhunderte alten Stadtteil wieder herzustellen und so zu präparieren, dass er noch zig Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte einer staunenden Welt erhalten bleiben wird.

Als ich die ersten Fachwerkhäuser sah, die Seen und Bäche, Plätze und schmalen Gassen, die holprigen engen Straßen, alten Laternen und Pumpen, die vielen historischen Schilder, Türen, Treppen, Fenster, Dachgiebel, Werkstätten und Wohnungen, die sich immer noch so gleichmäßig wie vor Jahrhunderten drehenden Mühlräder sah und deren quietschende, stöhnende Geräusche hörte, wünschte ich mir fast diese Zeit wieder zurück, wissend, dass sie für die Menschen damals schwer war. Angesichts dieser äußerst romantischen Bilder überkamen mir Kälteschauer, als ich gedanklich in die heutige seelenlose Moderne hinüberwechselte. Ich merkte es übrigens auch den meisten anderen Besuchern an, wie sie hier innehielten und offensichtlich auch über ihre derzeitige Wohnatmosphäre nachdachten.

Ein Freilichtmuseum der Sonderklasse ist »Den gamle By« in Århus.

Von dieser alten Stadt, in der übrigens ständig weitere alte Häuser für die Zukunft konserviert werden, sehr beeindruckt machte ich mich dann auf, das Wikinger-Museum zu finden, aber überraschenderweise fand ich es nicht. Ich war mir anhand meines Stadtplanes jedoch sicher, mich genau in der richtigen Straße zu befinden, doch war von diesem Museum weit und breit nichts zu sehen, ich nehme daher an, dass es sich heute in einem anderen Stadtteil befindet. Ich hatte mich jedoch damit getröstet, dass ich in Oslo ja noch viel Wikingisches sehen würde.

Ich nahm mir nun noch den Fußgängerbereich von Århus vor, der mit Fähnchen und kunstvoll gestalteten Reklameschildern im Vergleich zu unseren Fußgängerzonen zwar einen bunteren Eindruck machte, aber im Grunde natürlich keinen Unterschied aufwies: Das Warenangebot ist ebenso reichhaltig und qualitätsmäßig in Ordnung, die sonntäglich gestimmten jungen und alten Leute begutachteten nicht weniger kritisch als bei uns die Auslagen. Auch bei den Preisen konnte ich keine gravierenden Unterschiede feststellen, lediglich die Textilien kamen mir deutlich billiger vor.

Nun hatte ich Århus geschafft, die erste Stadt in Skandinavien, die auf meinem Reiseprogramm gestanden hatte. Der Besuch hatte sich sehr gelohnt, auch wenn ich nicht alle vorgenommenen Punkte hundertprozentig erfüllen konnte. Ich bin jedoch der Meinung, dass sich der Besuch allein schon wegen der Alten Stadt rentiert hat. Hier entstanden übrigens Dias, die zu den besten dieser Tour zählen.

Da mein heutiges Etappenziel lediglich das Erreichen Frederikshavns war, konnte ich es mir leisten, nach den Besichtigungen noch etwas in Århus herumzulaufen. Dabei fiel mir im Stadtzentrum vor allem eine Vielzahl sehr alter Häuser auf, die sich größtenteils in ungepflegtem Zustand befanden. Hier wurde mir klar, dass deutsche Kommunen für die Pflege und Erhaltung historisch gewachsener und noch bewohnter Häuserreihen offensichtlich etwas mehr tun. Diese Kritik betrifft natürlich nicht »Den gamle By«, denn hier wurde beziehungsweise wird Hervorragendes geleistet, und im Übrigen ist die Alte Stadt unbewohnt, weil Museum.

Mein Spaziergang – leider bei wieder stark bewölktem Himmel – führte mich auch am berühmten Marmorrathaus von Århus vorbei, bekannt wegen seiner zweckmäßigen modernen Architektur, zu der die Baumeister erstaunlicherweise schon 1941 fanden. Dieses Gebäude wurde von den dänischen Architekten Jacobsen und Möller entworfen und zum 500-jährigen Stadtjubiläum von Århus seiner Bestimmung übergeben. Wenn mir das Gebäude selbst auch nicht viel sagte, weil es mir zu nüchtern vorkam, so gefiel mir wenigstens die davor aufgestellte überlebensgroße Bronzeplastik: eine riesige Sau, die ihre Jungen säugt.

Als ich gegen 14 Uhr glaubte, Århus zu kennen beziehungsweise mir einen guten Überblick verschafft zu haben, entschloss ich mich für die Weiterfahrt in Richtung Frederikshavn, von wo aus ich morgen mit dem schon gebuchten Schiff nach Göteborg fahren wollte. Die Fahrt weiter nach Norden durch absolut flache gepflegte Kulturlandschaft verlief problemlos, schnell und bei niederschlagsfreiem Wetter.

Etwa 40 Kilometer vor Frederikshavn hatte ich nach kurzem Suchen in einem etwas hügeligen Waldgelände einen geeigneten Standplatz gefunden, der so schön war, dass ich am liebsten ein paar Tage hier geblieben wäre. Die Wege waren sandig, die Laubbäume und Sträucher frisch und die Luft süß wie in einer Bäckerei. Mir begegnete hier lediglich eine pilzesammelnde und freundlich grüßende Familie mit drei springlebendigen Hunden.

Als ich nach dem Essen zur Uhr schaute, bemerkte ich zum ersten Mal, dass hier oben die Uhren etwas anders gehen, denn gegen 21 Uhr war es fast noch taghell. Über dieses Phänomen sollte ich mich aber noch öfters wundern. – Im Autoradio hörte ich noch eine Stunde lang »Aida«, eine mich seit jeher faszinierende Verdi-Oper, dann studierte ich ein paar Zeilen über Göteborg – meinem morgigen Ziel –, ehe ich mich gegen 23 Uhr langstreckte.

Fast eine Weltstadt: Göteborg

Obwohl ich mir eigentlich viel Zeit lassen konnte, wachte ich dennoch schon um sechs Uhr auf, hatte bis dahin aber bestens geschlafen. Wenige Minuten vor dem Aufwachen hatte es angefangen leicht zu regnen, so dass ich enttäuscht war, denn eine stundenlange Überfahrt bei Regen stellte ich mir nicht als reines Vergnügen vor. Ich musste im Wagen frühstücken und hoffte, dass mir das Wetter heute doch noch hold sein würde.

Ich fuhr halb neun Uhr in Frederikshavn ein, jener kleinen Hafenstadt fast am Nordzipfel Dänemarks, von der aus die meisten Schiffe nach Schweden abfahren. Der Hafen liegt unübersehbar für einen Neuankömmling rechter Hand, sobald man die Stadtgrenze passiert hat. Ein nicht weniger unübersehbares Schild weist die Autofahrer auf die verschiedenen Piers hin, von denen aus die Schiffe nach Oslo, Göteborg oder auch zu anderen Häfen abfahren. Da ich das für mich interessante Göteborg-Schild rasch entdeckt und ich mich anhand eines Fahrplanes vergewissert hatte, dass mein Dampfer tatsächlich um 12 Uhr mittags auslaufen würde, war ich beruhigt und entschloss mich zu einem kleinen Stadtbummel.

Aber hier gab es nicht viel zu sehen, wenn ich einmal von einem protzigen Kirchenbau absehe, dessen Türen und Fenster aber leider mit Baubrettern vernagelt waren. In Kirchennähe befinden sich noch mehrere alte massive Fischerhäuser, die an frühere Jahrzehnte erinnern. Die hiesige Fußgängerzone unterschied sich prinzipiell nicht von jener in Århus, aber es war unschwer zu erkennen, dass es hier provinzieller zuging, eine Tatsache, die jedoch nicht gegen dieses kleine etwas verträumte Frederikshavn spricht – im Gegenteil.

Gegen elf kurvte ich in Richtung Pier. Hier standen bereits ein paar säuberlich hintereinander parkende Fahrzeuge, die bereits alle ein Pappschild zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe hatten mit den Großbuchstaben »Göteborg 12 Uhr«. Wenig später hatte auch ich mein schon in München beschafftes Ticket abgegeben und war nun ebenfalls stolzer Besitzer eines solchen Pappschildes. Auffallend die Ruhe, Disziplin und Korrektheit, in der die ganze Organisation ablief, kein Vergleich zu dem nervenaufreibenden Chaos beispielsweise im spanischen Algeciras, von wo ich schon zweimal per Autofähre ins nordafrikanische Ceuta abgefahren war.

Als ich meinen Wagen in den riesigen Schiffsbauch hineinbugsiert hatte und ein paar Etagen höher in einem bequemen Sessel saß, atmete ich auf, denn auf diese erste skandinavische Überfahrt hatte ich mit einiger Spannung gewartet, da ich ja von hiesigen Gepflogenheiten praktisch noch nichts wusste. Die Passagiere, zu fast hundert Prozent alles Skandinavier, kümmerten sich keinen Deut um fremde Nummernschilder, um hier recht seltene schwarze Locken oder um junge aus dem Rahmen fallende Leute. Hier ist man allein ganz auf sich gestellt.

Das Schiff, ein riesiger Fährkahn mit ein paar Hundert Autos im Bauche und fünfgeschossig, legte pünktlich 12 Uhr mittags ab. Ich freute mich auf diese erste größere Schiffstour in Skandinavien, nur machte mir das Wetter etwas Sorge; denn der Himmel war dunkelgrau, es wehte eine ziemlich steife Brise, und die Temperatur lag kaum über 15 Grad. Aber darauf hatte ich mich mental längst eingestellt, dies tat meiner Freude an dieser Tour keinerlei Abbruch. Ich wickelte meinen Wollschal um den Hals, zog mir den Anorak zu, vergrub die Hände in den Hosentaschen und beobachtete lange Zeit das Ausfahrmanöver und den immer kleiner werdenden Kirchturm von Frederikshavn.

Nach drei Stunden flotter Fahrt und trotz heftigen Wellenganges wurde es in Küstennähe des schwedischen Festlandes ruhiger, das Meer glättete sich etwas und der Wind ließ merklich nach. Meine bange, aber nichtsdestoweniger hoffnungsvolle Frage war die nach dem Wetter morgen: Würden sich diese ersten Anzeichen einer Wetterbesserung wenigstens stabilisieren? Ausfahrt aus dem Schiff. Diese ging recht schnell vonstatten, denn auch hier – ebenso wie bei der Abreise in Frederikshavn – fanden keinerlei Kontrollen statt.

Da der schlaue Reiseführer über die Lage des Hafens und der Stadt Göteborg eine nur spärliche Auskunft gibt, musste ich jetzt nach Gefühl fahren und zwar zunächst stadtauswärts. Meine Absicht für heute war lediglich, für die Nacht einen geeigneten Standplatz zu finden, denn Göteborg wollte ich mir erst morgen anschauen. Hierfür hatte ich einen vollen Tag reserviert, handelt es sich doch um eine ausgewachsene Großstadt, die man nur im Vorbeigehen nicht kennenlernen kann, sie ist fast Weltstadt!

Das Hinterland Göteborgs ist bergig und bewaldet, so dass es mir keine Schwierigkeiten bereitete, schon eine gute halbe Stunde nach dem Verlassen des Schiffes einen geeigneten Platz weit außerhalb der Stadt gefunden zu haben. Als ich in einen schmalen Waldweg eingebogen war, traute ich meinen Sinnen kaum, denn plötzlich war der Himmel blau, die Abendsonne schien und der Wind hatte sich vollends gelegt. Es sah gut aus für morgen!

Wieder einmal hörte ich Autoradio – so zwischen frischer Gurke und Tee –, diesmal zunächst einen stark durchkommenden Moskauer Sender in deutscher Sprache, eine reine Propagandawelle. Mein Gott, wie schlecht doch alles bei uns im bösen Westen ist und welch goldenem Zeitalter der Osten entgegengeht! Die einzige Information aus Moskau war die Nachricht über den Tod von Papst Paul VI., der gestern Abend verstorben war. Ein paar Millimeter weiter meldete sich ein zweiter sogenannter Friedenssender, Radio DDR 2, Studio 70, der brachte keine Holzhammerpropaganda wie üblich, sondern alpenländische Musik. Sie wurde tatsächlich auch als solche angesagt, und dagegen konnte ich als »Münchner« nun wirklich nichts haben. Wie sich doch die Zeiten geändert haben!

Da es noch relativ früh war und ich noch unverbraucht, entschloss ich mich zu einem ausgiebigen Spaziergang durch den mich umgebenden Mischwald. Dieser Wald war zwar ungewöhnlich feucht, woraus ich schloss, dass es zuvor wahrscheinlich tagelang geregnet hatte, aber das störte mich nun nicht mehr, ich wechselte in die mitgenommenen Gummistiefel und hatte Grund, mich über die jetzt milde sonnige Abendstimmung zu freuen. Es blieb zwar noch lange hell, aber dennoch entschloss ich mich bereits um halb zehn, es mir »im Bett« gemütlich zu machen, um theoretisch noch etwas über Göteborg lernen.

Am nächsten Morgen wachte ich nach ausgezeichneter ruhiger Nacht gegen sechs auf und freute mich riesig, denn am Himmel war nicht eine einzige Wolke zu entdecken! So beeilte ich mich mit dem Frühstück und den Vorbereitungen, denn diesen sonnigen Morgen wollte ich in vollen Zügen genießen.

Die Fahrt zur Stadt verlief problemlos, der Berufsverkehr zwischen sieben und acht hielt sich gottlob in Grenzen. Schwedens größte Hafenstadt mit ihrer halben Million Einwohner ist keine allzu hektische Industriestadt, hier geht es selbst in Hafennähe noch ruhig zu. Auffallend war für mich auch das vernünftige Verhalten der Autofahrer, man fuhr zwar zügig, aber diszipliniert. Übrigens kam ich mir als bescheidener »Käferfahrer« unter der erdrückenden Anzahl schwerer Volvos und Saabs ziemlich mickrig vor, aber was macht’s, Zuverlässigkeit und Sparsamkeit ist mir wichtiger als einen Meter teures Auto mehr.

Auch hier in Göteborg konnte ich mich auf meinen anscheinend angeborenen Instinkt verlassen, denn das Stadtzentrum, von dem aus alles Wesentliche zu Fuß erwandert werden kann, hatte ich direkt angesteuert. Als ich dann Göteborgs Großes Theater sah und neben mir den wassergefüllten Vallgraven, wusste ich schon Bescheid, denn hier befand ich mich bereits im Herzen der Stadt. Natürlich sind in Schweden die Parkplatzprobleme nicht viel kleiner als bei uns, da ich hier aber zu relativ früher Stunde ankam hatte ich Glück, denn ich fand auf Anhieb ein gebührenfreies Plätzchen in einer Seitenstraße. Nun konnte ich ganztags und bei bestem Wetter Göteborg »erobern«.

Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, dass hier auch bei hellstem Sonnenschein die Kraftfahrzeuge, Fahrräder und selbst die Straßenbahnen mit angeknipsten Scheinwerfern fahren – eine Unsitte, hinter deren Sinn und Zweck ich nie gekommen bin –, ging ich hinüber zum Großen Theater. Darüber, das es zu dieser Morgenstunde geschlossen war, brauchte ich mich nicht zu wundern. Stattdessen erfreute ich mich an der Außenansicht, obwohl man dieses Theater sicher nicht in die Kategorie europäischer Prachtbauten einreihen kann.

Ziel Nummer zwei war Göteborgs Rathaus, das ich nach kurzem Fußmarsch über den großen Kungsport-Platz und durch die moderne breite Hamngatan erreichte, die auf den Gustav-Adolf-Torg stößt; es befindet sich direkt am Hamn-Kanal. Dieses im 17. Jahrhundert erbaute Haus, in dem sich heute auch das Stadtgericht befindet, ist für Göteborgs Größe eigentlich zu bescheiden beziehungsweise sehr klein. Mich wundert es, dass von hier aus diese Riesenstadt regiert werden kann. Vor dem Rathaus, unter dessen niedriger, fast unauffälliger Arkade nur ein schlichtes Messingschild auf die offizielle Funktion dieses Hauses hinweist, breitet sich ein großzügig angelegter kopfsteingepflasterter und blumenkübelbestandener Platz aus, von dem aus sich der Besucher ungestört umschauen kann.

Ich ging entlang des Hamn-Kanals weiter in Richtung Hafen und stand bald vor der stark mit Efeu bewachsenen Deutschen Kirche. Aber leider war sie verschlossen, auch mein Versuch, möglichst unbemerkt durch eine Nebentür hineinzukommen, schlug fehl. Stattdessen studierte ich die deutsch- und schwedischsprachigen Kirchenbekanntmachungen, denen ich entnehmen konnte, dass sich hier reges kirchliches Leben abspielt. Darüber täuschten auch die Todesanzeigen nicht hinweg, denn die Taufen schienen die Verluste mindestens wieder auszugleichen.

An der selben Straße noch etwas weiter in Richtung Hafen liegt das Ostindienhaus, dem ich gern einen Besuch abgestattet hätte, aber Renovierungsarbeiten hinderten mich daran, wenigstens einen Teil der berühmten Sammlungen im Historischen, Archäologischen und Ethnologischen Museum zu besichtigen. Ich tröstete mich damit, dass ich erstens sowieso kein sehr begeisterter Museumsgänger bin und zweitens während dieser Reise sicher noch viele geöffnete Museen entdecken würde.

Da ich mich bereits in Hafennähe befand und die eigenartige, für Häfen typische Mischluft – Meerwasser, Fisch und Dieselöl – schon in der Nase hatte, ging ich jetzt direkt hinunter zu den Piers, bestaunte »ausgewachsene« Passagier- und Frachtschiffe, beobachtete riesige Möwen, wie sie keine Rücksicht auf Schiffsnationalitäten nahmen und sich die restlichen Brocken von russischen ebenso wie von finnischen Kähnen stahlen. Lastkähne quietschten, Polizeiboote flitzten, Sirenen dröhnten, verwitterte Seeleute standen mit dicken Schals und Pudelmützen Pfeife rauchend in kleinen Gruppen herum und Ausflugsbarkassen tuckerten mit wissensdurstigen Touristen durch das große Hafenbecken. Es ist für mich immer wieder ein faszinierendes Bild, das ich mir in keiner Hafenstadt der Welt entgehen lasse. Dass man sich hier völlig ungehindert bewegen kann und alles abknipsen darf, habe ich als wohltuend empfunden.