Tenderbilt - Martin Cordemann - E-Book

Tenderbilt E-Book

Martin Cordemann

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Beschreibung

Die Chronik einer Chronik… gewissermaßen. So eine Art Familienchronik. Über die bekannte Familie Tenderbilt. Sie erinnern sich? Nun, bis vor kurzem war die Familie noch sehr bekannt und in aller Munde. Dabei kam natürlich heraus, dass sie alle unter erblichem Schwachsinn leiden. Jedenfalls nimmt man das an. Aber… soll das heißen, Sie haben den ganzen Tenderbilt-Boom nicht mitbekommen? Ist er wirklich an Ihnen vorbeigegangen? Nun, für alle, die ihn verpasst haben oder ihn noch einmal erleben möchten, gibt es nun dieses Buch. Es erzählt die Geschichte der Familie, der Chronik, der Familienchronik. Diverse Generationen Tenderbilts werden darin vorgestellt, von damals bis heute… oder gestern. Es erklärt, wie es seinerzeit zu dem Boom kam, der die Familie auf einmal so bekannt machte und ins Licht der Öffentlichkeit rückte – und natürlich dürfen ein paar Werke des Familienautors auch nicht fehlen. Das bislang umfassendste Werk zu den "Tenderbilts", ein Muss für jede Sammlung!

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Seitenzahl: 331

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Martin Cordemann

Tenderbilt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Impressum neobooks

Kapitel 1

Knisternd sackte das Holz im Kamin in sich zusammen. In seinem Schaukelstuhl saß der alte Graf Benedict, eine Pfeife im Mundwinkel und leise vor sich hinrauchend. Er schüttelte den Kopf und musste lächeln. Die Geschichte, die ihm sein Enkel gerade erzählt hatte, übertraf wirklich bei weitem die Erzählungen, die er in den letzten Jahren zu hören bekommen hatte. Nicht, dass die Geschichte unglaubwürdig klang, sie war vielmehr zu verrückt, um widerspruchslos akzeptiert zu werden. Selbst in seiner Jugend hatte er nichts Derartiges ausgefressen, aber wahrscheinlich lag es daran, dass sich die Zeiten tatsächlich änderten. Jedenfalls gab es keinen Zweifel, dass der junge Teddy zu seinen Nachkommen zählte, wenn er auch gewisse Apathien gegen den Namen hegte. "Teddy" war in seinen Augen ein Stofftier, kein halbwegs erwachsener Jugendlicher. Aber wie gesagt, die Zeiten änderten sich.

"Wie bist du denn auf die Idee gekommen?" hakte Benedict noch einmal nach.

"Pffff", Teddy machte eine unbestimmte Handbewegung und grinste.

Es war an einem Samstag, die Läden schlossen gerade und Teddy befand sich auf dem Weg nach Hause. Er wohnte schon lange nicht mehr im Hause seiner Ahnen; schon sein Vater hatte das ländliche Anwesen verlassen und war in die Stadt gezogen, um seinen Kindern, Teddys Bruder Rodney war im Alter von zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, eine ausreichende Ausbildung zukommen lassen zu können. Eine unbestimmte Melodie vor sich hin pfeifend schlenderte er durch die Straßen und dachte an nichts Bestimmtes. Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums fiel ihm ein verlassener Polizeiwagen auf, die beiden Polizisten betraten gerade das Einkaufszentrum. Als er fast an dem Wagen vorbei war, kam ihm plötzlich eine, wie sein Großvater später sagen sollte, immens dumme Idee. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen, er sah sich um, bückte sich und schraubte das vordere Nummernschild des Polizeiwagens ab, dann das hintere. Schnell lief er vier Wagen weiter, entfernte die Nummernschilder, lief zurück, brachte sie am Polizeiwagen an und umgekehrt. Dann, um dem Spiel die Krone aufzusetzen, knackte er den Privatwagen mit den fremden Nummernschildern und parkte ihn, weitgehend unbeschädigt, drei Querstraßen entfernt. Grinsend setzte er seinen Weg fort.

"Ich fürchte, an sowas musst du dich gewöhnen", meinte Graf Benedict zu seinem Sohn, als er wegen der Geschichte mit den Nummernschildern in das ländliche Anwesen kam, um mit seinem Vater die Angelegenheit zu besprechen.

"Es ist doch nicht normal." Benedicts Sohn, Teddys Vater und Veronikas Mann, Frederico, lief nervös auf und ab, wobei er hin und wieder einen Blick durch eines der Fenster hinab in den Garten warf. Rot leuchteten ihm die Rosen entgegen, Benedict liebte diese Farbe. Sie erinnerte ihn an seine Jugend. Früher hatte er oft im Garten gespielt, oder er hatte Rosen für seine Freundinnen gepflückt. Einmal hatte er sich auch hinter das Rosenbeet flüchten müssen, um nicht erschossen zu werden. Der Anblick des Gartens barg viele Erinnerungen für ihn, gute wie schlechte. Für Frederico, der hin und wieder nervös hinuntersah, bedeuteten die Rosen nichts. Er nahm sie kaum wahr, lediglich der helle rote Schein war ihm bewusst. "Wie kann ein Junge auf so eine Idee kommen?"

Benedict hob die Schultern. Es war auch ihm ein Rätsel. Er hatte so etwas nie gemacht. Allerdings gab es zu seiner Zeit weder Polizeiwagen noch Nummernschilder. Aber im Prinzip fand er die Idee auch nicht besonders gut, vielleicht ganz reizvoll, aber nicht gut. "Das Schlimme ist, es gibt nur einen, der für so einen Unsinn in Frage kommt, die Stadt ist eben auch nur ein Dorf."

"Ja, mein Junge, du musstest ja unbedingt wegziehen von Haus Senkmoor."

"Fang nicht wieder mit dieser alten Geschichte an." Frederico starrte auf das Rosenbeet, so dass sich Benedict zu fragen begann, ob er dort vielleicht etwas Entscheidendes übersehen hatte, als er das letzte Mal einen Blick darauf geworfen hatte. Vielleicht verbuddelte gerade ein Hund einen Knochen, oder, was noch schlimmer wäre, Barrings, der Gärtner, eine Leiche. Es wäre schade, er wollte Barrings nicht verlieren, er war ein guter Gärtner. Was nicht hieß, dass so etwas nicht schon einmal vorgekommen wäre. Im Gegenteil.

"Siehst du dort im Garten eine schöne Nixe, die, nackt wie sie ist, sich in der Sonne badet?"

"Was?"

"Schade, na, vielleicht ist sie im Gästehaus?!"

Unsicher blickte Frederico zwischen seinem Vater und den Rosen hin und her, dann verstand er, nickte und setzte seinen kurz unterbrochenen Weg fort. Vor Benedict verharrte er und fragte ihn: "Was ist es nur? Was liegt uns im Blut, dass wir immer solches dummes Zeug machen müssen?"

"Hmm, das hat noch niemand herausgefunden. Aber dieser Hang zur Destruktivität existiert in unserer Familie schon lange, schon sehr lange. Allerdings ist diese freundliche Beschreibung neu."

Aus der Familienchronik, die unter Zuhilfenahme alter Stadtbücher der umliegenden Kleinstädte von einem nahen Verwandten, Stefano di Calbrizzi, vervollständigt wurde, ließ sich folgendes entnehmen:

"Schon der Begründer des Hauses Senkmoor und sein Erbauer, der Edelmann Eduardo Tenderbilt, war gefürchtet für seinen derben Humor. Oft besuchte er Schenken um zu zechen und sich mit dem Weibe herumzutreiben. Als er dann heiratete, legte sich letzterliches. Auch sein ungeschriebener Hang zu groben Späßen ließ nach, ward er doch für die Irreführung eines königlichen Soldaten verantwortlich, welcher da nach dem Weg nach Edinburgh fragte und welchen der Edelmann irrtümlicherweise nach Dublin schickte. Hier sei angemerkt, dass besagter Soldat sich im britannischen Raume erbärmlich schlecht ausgekannt habe, dessen Nachricht, welche der Maria Stewart den Kopf gerettet hätte, allerdings nie ihr Ziel erreichte, jedenfalls nicht rechtzeitig. Als seine Nachkommen, Malcolm und Angelica Tenderbilt, in das Vorerwachsenenalter kamen, wurden die Stadtväter sich der Tatsache bewusst, dass es sich bei dem Edelmann nicht um einfachen derben Humor gehandelt haben musste, sondern um erblichen Schwachsinn."

In ihrer Hochzeitsnacht hatte Frederico seiner Frau Veronika gestanden, dass man in seiner Familie erblichen Schwachsinn vermutete. Erschreckt blickte sie ihn an, sank dann in ihr Kissen zurück und starrte die Wand an. Zärtlich streichelte Frederico ihre Schulter. Sie wehrte sich nicht dagegen, starrte nur die Wand an. Nach einiger Zeit fragte sie: "Man merkt es dir gar nicht an, dass..."

"Dass ich spinne?" Er lächelte bei der Bezeichnung. "Es heißt ja nicht, dass ich mich für Napoleon oder eine andere historische Persönlichkeit halte." Sie atmete auf. "Ich glaube zum Beispiel, Marie Bellingel zu sein, und bei der kann man ja wohl kaum von einer historischen Persönlichkeit sprechen."

"Du Untier." Sie fiel ihm lachend in die Arme.

"Vielleicht haben sich die Geschichtsschreiber ja auch geirrt", mutmaßte Frederico. Hatten sie nicht, versicherte Stefano di Calbrizzi, der eigentlich nah genug verwandt war, um auch betroffen zu sein. Er wusste jedoch zu beweisen, dass es in seinem Zweig der Familie keinen erblichen Schwachsinn gebe. "Stört es dich denn, mit einem Irren zusammenzuleben?"

"Solange ich diesen Irren liebe, nicht. Aber eines hättest du doch tun können."

"Neugierig sah Frederico sie an.

"Du hättest mir das mit der Krankheit sagen sollen, bevor wir uns geliebt haben!"

Niemand hätte je bestritten, dass die Tenderbilts adelig waren. Zwar gab es außer ihrem erblichen Schwachsinn kein auffallendes Familienmerkmal, wie zum Beispiel fehlende Ohrläppchen, besonders geformte Nasen oder auf der Schulter sitzende Falken, die auf jedem Portrait der betreffenden Person zu sehen waren. Nicht einmal mit einem chronischen Zucken unter dem rechten Auge konnten die Tenderbilts aufwarten, seltsamerweise stellte man es aber bei Stefano di Calbrizzi fest, jedoch ohne ihm weitere Bedeutsamkeit beizumessen.

Seit Eduardo Tenderbilt sich niedergelassen und Haus Senkmoor gebaut hatte, ließ sich die Geschichte der Tenderbilts (und ihrer Erbkrankheit) verfolgen. Neben den Informationen aus der hiesigen Chronik kursierten lange Jahre Gerüchte, dass er auf dem Festland (Europa!) gewütet und unzählige Französinnen, Holländerinnen und Deutsche geschwängert haben soll, dann habe ihn ein schrecklicher Heuschnupfen zum Umkehren gezwungen und er konnte nicht vorstoßen bis nach Griechenland, was er eigentlich vorgehabt habe.

Fairerweise muss man bemerken, dass eher bei den Leuten, die derlei Gerüchte verbreiten, nach vererbtem Schwachsinn gefahndet werden sollte. Tatsächlich ist über die Herkunft des Geschlechtes der Tenderbilts bis zu ihrer Niederlassung nichts Genaues bekannt. Ob sich also die Folgen bis aufs Festland verfolgen ließen, bleibt ein Geheimnis der Geschichte.

Jedenfalls, so geht aus der Chronik hervor, hielt man Eduardo, dessen Name schon verdächtig klang, nicht für einen reinen Engländer, da er einen ausgeprägten Akzent gehabt haben soll. Er sei, so hieß es, nicht schottischer Herkunft, wahrscheinlich zumindest, möglicherweise doch. Demnach besteht die Möglichkeit, dass die Tenderbilts ihren Weg aus den schottischen Highlands hinunter ins tiefe britische England fanden, wo sie bis heute noch anzutreffen sind.

Einen möglichen Hinweis über den Stamm der Familie konnte man vor wenigen Jahrzehnten in einem leider verbrannten Dokument in London finden. Offenbart hatte dort ein Ehepaar ein kleines Haus gemietet. Das an sich ist noch kein strafbares Vergehen, jedoch schrieb man über den Mann, er habe die Besucher eines bekannten Londoner Theaters nach den Aufführungen gefragt, ob ihnen die Stücke denn gefallen hätten – und wenn ja, ob sie sie denn auch verstanden hätten. Oft zog dies die Androhung eines Duells nach sich, in sieben Fällen wurde der Mann herausgefordert. Da sich alle sieben Herausforderungen an nur einem Abend ergaben, so hieß es in dem Dokument, hielt er es für klüger, sich aus der Stadt zurückzuziehen, was er auch tat und die Miete schuldig blieb. Dieses auffällige Verhalten deutet, so die Experten, eindeutig auf einen Tenderbilt hin. Der gleiche Mann soll vor den erwähnten Theatern behauptet haben, seine Stücke seien viel besser als die, die man hier spiele. Wahrscheinlich kam aus diesem Grund das Gerücht auf, einer der Duellanten sei der hiesige Schriftsteller gewesen. Kaum jemand nahm jedoch das sich daraus ergebende Gerücht, ein nicht unbekannter Autor namens William Shakespeare sei in Wirklichkeit erwähnter Pöbler und angenommener Vorfahre der Tenderbiltfamilie gewesen, für voll.

Kapitel 2

Noch am gleichen Abend wurde der Wagen als gestohlen gemeldet. Als der Besitzer, ein gewisser Waldur Eppening, auf dem Nachhauseweg zornig und mit zwei schweren Einkaufstüten beladen, an seinem Wagen vorbeiging, stutzte er, wollte gerade probieren, ob sein Schlüssel wohl passen könnte, sah dann aber das falsche Nummernschild und ging, noch immer zornig und schwer beladen, weiter. Zwei geschlagene Tage blieb die Suchaktion der Polizei, die auch auf drei weitere Bezirke ausgedehnt wurde, erfolglos. Gerade, als man Eppening mitteilen wollte, dass sein Wagen wahrscheinlich schon über alle Berge war, stürmte ebendieser wutentbrannt und zwei Nummernschilder schwingend das Polizeibüro.

Da es sich um groben Unfug handelte und der Polizeichef schon in dritter Generation Polizeichef war, fiel, nach einem kurzen Blick auf die Einwohnerliste, der Verdacht sofort auf Theodor Tenderbilt, genannt Teddy. Es war doch immer das gleiche mit diesen Tenderbilts, aber was konnte man schon von Leuten erwarten, deren Vorfahren in Europa sämtliche Huren geschwängert hatten? Dass hier die Gerüchte etwas vermischt worden waren, ist sicher, ironisch dagegen erscheint es, dass ausgerechnet einer der Vorfahren des Polizeichefs in früher Jugend verschleppt worden war – es hatte sich um einen Hunnen gehandelt, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort, in diesem Fall in England, gewesen war. Dass sich seine Nachfahren, so auch der Polizeichef, um ein sauberes England bemühten, sei dahingestellt.

Als erster fiel ihm sein Großvater ein. Wenn er fliehen musste, würde er zu Benedict Tenderbilt fliehen, dem ältesten der noch lebenden Tenderbilts. In der ganzen Gegend war Haus Senkmoor bekannt, früher war es berüchtigt gewesen, aus diversen Gründen. Mittlerweile gab es mehr Geschichten um die Familie Tenderbilt und ihre verrückten Streiche, als dass sie alle der Wahrheit entsprechen konnten, obgleich ihre Anzahl auch auf natürlichem Wege ständig stieg, wie sich Teddy auf dem Weg zu seinem Großvater eingestehen musste. Vielleicht würden die Polizisten zu große Angst vor dem Haus und seiner Vergangenheit haben, um ihm dorthin zu folgen. Das war jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Heutzutage war man immer mehr geneigt, Schwachsinn, ob erblich oder im Fernsehen, zu akzeptieren. Wie Benedict, der alte Fuchs, wohl auf seine Geschichte reagieren würde? Wahrscheinlich gnädiger als die Polizei, die noch 14 Stunden brauchen sollte, bis sie seine Spuren aufnahm.

Schreiend nahm ihn die Hebamme entgegen, er, Benedict, schrie, wohlgemerkt, nicht etwa die Hebamme.

"Ein Junge", rief sie, dem Geschrei nach hätte es auch ein Mädchen sein können. Wie alle frühen Tenderbilts fand die Niederkunft von Benedicts Mutter, Adelheit Tenderbilt, in den Gemächern von Haus Senkmoor statt, abgesehen von der Eduard Tenderbilts, welcher das Haus erbaut hatte. Das Gerücht, ein junger Tenderbilt habe das Licht der Welt erblickt, verbreitete sich schnell im Dorf.

"Einer mehr von diesen Verrückten", murmelte man, oder: "Die sterben auch nicht aus, die Irren!", oder: "Ich hab Hunger, Mami." Zu dieser Zeit gab es wenig zu essen im nahe gelegenen Dorf Brindige, aus dem später die kleine Stadt Brindige werden sollte, in der der Name Tenderbilt ein Begriff war, wenn auch kein guter.

Freudestrahlend verließ Sir Henry Tenderbilt das Zimmer, nachdem er seiner Gattin und jetzigen Mutter seines Sohnes einen dicken Kuss gegeben hatte, trank noch schnell die andere Hälfte der Flasche Whisky, die neben der Geburt seine Aufmerksamkeit erfordert hatte, schwang sich auf sein Pferd und ritt ins Dorf. Die Schenke war gerade im Begriff zu schließen, was ihn, Henry Tenderbilt, jedoch nicht aufhalten konnte. Angeheitert wie er war, was sowohl von Whisky, als auch von der Geburt seines Sohnes herrührte, betrat er die Schenke, wurde sich dann jedoch der Tatsache bewusst, dass er sein Pferd nicht etwa draußen angebunden hatte, vielmehr saß er noch immer obenauf, was ihn zu einem, zurecht mit irre bezeichneten Gelächter veranlasste. Der Wirt war sehr erbost, erbost genug, um zu seiner Schrotflinte zu greifen, was Henry Tenderbilt veranlasste, Schenke und Dorf möglichst schnell zu verlassen, eine Spezialität der Tenderbilts, ohne die die Familie wahrscheinlich schon seit mehreren Generationen ausgestorben wäre.

Wie eingangs erwähnt, handelte es sich bei Eduard Tenderbilt um den ersten bestimmbaren Vorfahren dieser Familie, jedoch auch die Informationen über ihn sind mehr Sage als geschichtliche Tatsache. In späteren Jahren schrieb ein nicht weiter bekannter Historiker über ihn:

"Tenderbilt, Eduard. Edelmann, verheiratet mit Eleonora Strangeler, zwei Kinder: Malcolm und Angelica. Erster bekannter Tenderbilt in GB, Vater unbekannt, Mutter unbekannt, Herkunft unbekannt. Schien unter erblichem Schwachsinn zu leiden."

Nur die Tatsache, dass ein noch weniger bekannter Historiker in einem seiner Werke über die Epoche in keiner Weise über ihn schrieb, übertrifft diese Darstellung. Jedoch gelangte ein Zeitgenosse Eduards mit ihm einmal in Streit, so hieß es, den ein anderer Zeitgenosse, ein bekannter Dichter und Autor, folgendermaßen wiedergab:

"Ich kam also gerade aus der Schenke, da stand dieser Kerl vor mir und schnitt Grimassen. Ich sagte ihm, ich hätte keine Verwendung für einen Hofnarren, da besaß er doch die Frechheit, mich zu fragen, ob ich John Mosster sei. Natürlich war ich John Mosster, verneinte aber. Lächelnd meinte er, dann sei es mir ja egal, ob John Mossters Pferde noch an seiner Kutsche angebunden oder aber auf dem Weg in die Highlands wären. Erschrocken lief ich zu meiner Kutsche, wo jedoch keine Pferde mehr waren. Als ich zur Schenke zurückkehrte, war der Mann verschwunden, der Schuft."

Obgleich kein Name erwähnt wird, nimmt man an, es handele sich bei diesem Mann um Eduard Tenderbilt, zumal er ganz in der Nähe in einem großen Haus gewohnt haben soll. Ein weiteres Dokument aus dieser Zeit, ein Brief eines wenig bekannten Winzers aus Solwwellowcastle an den Neffen Shakespeares, Antonelli Shakespeare, der sich Tony Pear nannte, lautete folgendermaßen:

"Gestern habe ich ein gutes Faß Whisky an einen Landedelmann aus der Nähe von Brindige verkauft. Er machte einige Späße, meinte, das Haar meiner Frau sei zu lang, als ich ihm erklärte, es handele sich um meine Kuh, meinte er, wie müsse dann meine Frau aussehen? Bevor er ging, fütterte er die Tiere und meinen Sohn. Das klingt sehr nett, doch leider fütterte er meinen Sohn mit den Tieren. Was ich sagen wollte, wie geht es Willi? Hat er wieder 'n Drama geschrieben? 'Macbeth' hat mir sehr gut gefallen, vor allem an der Stelle, an der das Mädchen ins Wasser geht. Schöne Grüße, bis Weihnachten."

Der geneigte Leser wird gemerkt haben, dass mit keinem Wort der Name Tenderbilt erwähnt wurde, wohingegen er sich eindeutig auf 'Hamlet' bezieht, da die Personen in 'Macbeth' nur erstochen oder geköpft werden. Der springende Punkt ist jedoch, dass der Mann, welcher das Fass Whisky gekauft hatte, ein recht eigenwilliges Verhalten an den Tag legte, was tatsächlich den Verdacht nahe legt, dass es sich um Edurad Tenderbilt handelte. Wir können nur mit Sicherheit sagen, dass es nicht William Shakespeare war.

Der Duft der Rosen erfüllte Haus Senkmoor. Frederic ging in den Garten, auch dort roch es nach den Rosen. Es schien keine Möglichkeit zu geben, dem Duft zu entgehen. Höchstens im Weinkeller, aber dort durfte er nicht hinein. Er lief über den Rasen, sog den Duft ein und versuchte, ihn zu mögen. Es klappte nicht. Missmutig lief er um das Haus herum und dann den Weg hinunter zum Tor. Er wollte sehen, ob er im Dorf irgendjemanden finden konnte. Wahrscheinlich nicht, es war Sommer und alle Kinder im Dorf waren verreist. Nur er nicht. Manchmal dachte er, es wäre besser, ein Kreuzritter zu sein, als in seiner Zeit zu leben. Damals hatte es wenigstens noch Abenteuer gegeben, aber heute? Das Leben war sicher, sicher war es langweiliger als früher. Die Straßen des Dorfes waren menschenverlassen, er lief weiter, hinunter zum See. Niemand, es war glühend heiß, aber niemand war am See. Er legte sich unter einem Baum in den Schatten und starrte nach oben. Was war es doch langweilig, in der Zivilisation zu leben, besonders in den Ferien.

Angsterfüllt flüchteten sich die Leute in die Häuser. Schon vor weitem konnte man das helle Geräusch hören, wenn Metall auf Metall traf, das Geräusch, das es gab, wenn Metall auf Fleisch traf, wurde von den Schreien der Verwundeten und Sterbenden übertönt. Schnell schlossen die Menschen ihre Türen, verbarrikadierten sich in panischer Angst vor dem, der da nahte. Als er den Rand des Dorfes erreichte, war niemand mehr auf den Straßen. Grimmig grinste er, ließ sein großes Breitschwert durch die Luft kreisen und ritt langsam auf den Dorfplatz zu.

"Kommt raus, Ihr Leute, kommt raus", rief er und begann, ein wenig irre zu lachen. "Kein Grund zur Sorge." Seltsamerweise schien ihm niemand zu glauben. Auf dem Dorfplatz führte er sein Pferd zur Tränke, band es an und schritt auf die ihm am nächsten gelegene Tür zu. Mit seiner eisenbehandschuhten Hand klopfte er gegen die Tür. Ein dumpfes, bollerndes Geräusch, das das ganze Haus erfüllte.

"Macht auf, Leute." Keine Antwort. "Ihr macht es nur noch schlimmer!" Wieder nichts. "Gut." Er trat einen Schritt zurück, als wolle er sich einer anderen Tür zuwenden, da ließ er sein Schwert vorschnellen und die Tür zersplitterte. "Kommt Ihr heraus?" fragte er, doch niemand wagte ihm zu antworten. Also ging er hinein. Wenig später trat er wieder heraus, die Klinge blutig, während sein Pferd in Ruhe Wasser trank. Kaum einer in den anderen Häusern hatte mitbekommen, was er getan hatte, drum kam es für jeden im Dorf überraschend, als seine Tür und wenig später sein Kopf zu splittern begann. Noch immer grimmig lächelnd schritt der Ritter langsam auf sein Pferd zu, welches ruhig an der Tränke stand. "Komm", sagte er zu ihm und streichelte ihm zärtlich das Ohr, "In diesem Ort sind wir nicht willkommen." Er verließ den Ort, ohne noch einmal im Gasthof eingekehrt zu sein, obgleich man sagte, der Gasthof führe den besten Wein in der ganzen Provinz.

Erschrocken fuhr Frederic hoch. Ein kleines Mädchen stand vor ihm im Gras und sah ihn fragend an. Frederic stellte fest, dass seine Zunge am Gaumen klebte und er einen ganz trockenen Mund hatte.

"Was hast du denn?" wollte das Mädchen wissen, das in seinem Alter zu sein schien.

"Nichts", murmelte er, "Ich hab nur gerade das Dorf ausgerottet!"

"Man kann viel über die Familie Tenderbilt sagen", sagte Stefano di Calbrizzi, als man ihn, einen nicht unbekannten Historiker, der er in den Jahren geworden war, leider zu diesem Thema fragte, "aber sie sind nie durch die Wälder geritten und haben Jungfrauen vergewaltigt, oder sowas wie geplündert." Es war damals schwierig, im Wald zu plündern, weil dort nur wenige Menschen lebten, und wer schon im Wald leben musste, besaß in den wenigsten Fällen genug, dass man, hätte man es ihm weggenommen, von Plündern sprechen konnte. "Sie waren zwar irgendwie alle etwas irre, aber nie gewalttätig." In diesem Falle irrte sich Stefano di Calbrizzi leider, oder aber er versuchte, einige Fakten zu vertuschen. Tatsächlich handelte es sich um Vittorio di Calbrizzi-Tenderbilt, den Gemahl Sybylle Tenderbilts, welche die Tochter von Malcolm Tenderbilt (Sohn des Eduard) war. Erwähnter Vittorio, dessen Namen wir in diesem Falle abkürzen wollen und welcher ein Vorfahre von Stefano di Calbrizzi war, welcher nur von der weiblichen Linie her von den Tenderbilts abstammt, war seinerzeit für seine belegten Fladenbrote mehr als berüchtigt. In London eröffnete er eine Schenke, in der er diese Brote anbot, denen er den Namen Vittoris gegeben hatte. Die damalige Königin Elisabeth 00VII soll sogar an einem solchen Sandwich gestorben sein, während eine andere Legende behauptet, Fortinbrass habe eine Schlacht nur deswegen gewonnen, weil er ein solches Brötchen in seinem Beutel getragen habe, als ihn ein feindliches Schwert an eben dieser Stelle treffen sollte. Er erschlug darauf sofort den Gegner und überlebte, dank des Vittoris. Als sich jedoch eines Abends ein Gast darüber beschwerte, das Vittoris (Vittorio di Calbrizzi hatte einige Probleme mit der englischen Sprache) sei vom vorangegangenen Tage, meinte Vittorio, er solle doch in den Regen ziehen. Da sein Sprachproblem bestand, wurde allgemein Degenziehen verstanden, was Vittorio zwar nicht ganz verstand, als Italiener aber durchaus abzuwenden wusste. Vorsichtshalber erschlug er auch die anderen Gäste des Lokals, schon damals galt es, sich Augenzeugen vom Leib zu halten. Nach diesem unglücklichen Zwischenfall entzog man ihm dann seine Lizenz und er musste aus London wegziehen, zumal einige Verwandte der Opfer seiner Speise und Sprachkenntnisse ein reges Interesse an ihm hatten, beziehungsweise an seinem Kopf. Stefano di Calbrizzi zog es vor, diesen Vorfahren nicht zu erwähnen, dessen Frau einmal einen lebenden Frosch serviert haben soll. Der Gast war ein Franzose und sie sagte, in Frankreich sei so etwas doch üblich, sie habe ihm nur eine Freude machen wollen. Diese Geschichte ereignete sich etwa ein Jahr nach ihrem Umzug aus London, doch der Franzose verstand weder Spaß noch Englisch, wurde jedoch abberufen, bevor er gegen die Frau vorgehen konnte: von Vittorio, der zufällig gerade an diesem Tag sein altes Breitschwert geputzt hatte. Er beklagte sich bitterlich, dass die ganze Arbeit umsonst gewesen sei, ging auf sein Zimmer und begann zu packen. Auch diese Geschichte fand sich in keiner der Chroniken, die Stefano di Calbrizzi über die Familie Tenderbilt schrieb.

Kapitel 3

Benedict Tenderbilt lag auf dem Rasen neben den Rosen und atmete die Luft tief in sich hinein. Ein herrlicher Sommer. Er lächelte breit und rollte sich auf die Seite, um besser sehen zu können. Es war ein phantastischer Anblick. Sanft bestrahlte sie die Sonne, zeigte sie in all ihrer Schönheit, in all ihrer unschuldigen Sanftheit, die sie erst Lügen strafte, wenn man sie berührte, langsam mit dem Finger an ihr entlang glitt. Er liebte es, im Garten zu liegen und sie anzusehen. Was gab es Schöneres? Er wusste es. Sie zu berühren. Müde öffnete sie ein Auge und sah ihn fragend an, Benedict lächelte. Sie hatte schöne Augen, das kam noch hinzu.

"Was denkst du?" fragte sie.

"Ich denke über deine Schönheit nach."

"Hast du keine anderen Sorgen?"

Im Moment hatte er keine anderen Sorgen, nein, im Moment gab es da nur sie und die Rosen. Und in diesem Fall zog er sie den Rosen vor, was er jetzt auch tat.

"Kann ich meinen Großvater sprechen?"

"Natürlich, junger Herr." Maximilian Hawellshim, Butler im Hause der Tenderbilts, schloss sanft die Tür hinter Teddy, welcher ihm dann zum Studierzimmer Benedicts folgte. Wie würde der Alte wohl auf seine Geschichte reagieren?

"Teddy?", man konnte förmlich hören, dass er den Namen nicht mochte. "Was führt dich denn hierher?" Benedict erhob sich ohne Probleme aus seinem Stuhl und ging auf Teddy zu. "Nein, sag nichts. Ich kann es mir denken. Bist du ein Opfer deines Blutes geworden?"

"Wie meinst du das...?"

"Was möchtest du trinken? Cola, Wasser, Scotch, Tee?"

"Scotch, bitte."

Benedict lächelte. "Also bist du ein Opfer deines Blutes geworden."

Berühmte Wissenschaftler fast aller Gattungen beschäftigten sich mit der Familie Tenderbilt. Astrologen berechneten ihre Aszendenten, Dentisten ihre Brücken, Mathematiker ihre Quotienten, Botaniker ihre Akazien und vieles mehr. Ein berühmter Architekt fand heraus, dass Haus Senkmoor nach dem gleichen Prinzip gebaut sei, wie die Golden Gate Bridge in San Francisco, von unten nach oben. Später stellte sich heraus, dass gerade dieser Architekt sich in den Parkanlagen eines nahe gelegenen Sanatoriums vor kleinen Mädchen schamlos entblößte, was ihn seine letzte Glaubwürdigkeit kostete.

Die verschiedensten Experten versuchten, sich über die Tenderbilts klar zu werden, was von Seiten der Familie immer mit einem spöttischen Auge beobachtet wurde. Selbst in den Schriften Siegmund Freuds findet sich etwas über seinen Zeitgenossen Francis Tenderbilt:

"Der menschliche Verstand ist für uns alle ein Mysterium. Da gibt es zum Beispiel diesen Engländer, der über einen bemerkenswerten Verstand zu verfügen scheint und dennoch von den Menschen in seinem Nachbardorf als verrückt bezeichnet wird. Wie ist es also möglich, dass so ein Goj gleichzeitig unheimlich klug und auch verrückt sein kann?" (Auszug aus: 'Unveröffentlichte Gedanken' von Siegmund Freud, Pellberg Verlag, Iselhofen 1952)

Freud versuchte, dieses Phänomen mit einer Theorie über Sex zu klären, scheiterte jedoch und verlagerte seine Untersuchungen, die ihn zur Erstellung seines Ich-Über-ich-Es-Schemas brachten.

Ein weiterer Hinweis darauf, dass Francis Tenderbilt zu dieser Zeit eine ausgedehnte Europareise machte, wird in dem Roman des Spaniers Fernando Mallorcio gesehen, dem er den Titel "Mann im Wahn" gab, der jedoch nicht mit Charles Bronson in der Hauptrolle verfilmt wurde.

"Die Stadt lag verlassen da. Es musste einen Grund dafür geben. Ich fuhr langsam bis zu der großen Kirche, dort hielt ich und kurbelte das Fenster herunter. In der Ferne konnte man das Zwitschern der Vögel vernehmen. Kein Motorengeräusch, kein Auto auf der Straße, keine spielenden Kinder, kein Leben. Was mochte in dieser Stadt passiert sein? Langsam fuhr ich weiter. An der nächsten Kreuzung funktionierte die Ampel nicht. Ob diese Stadt verhext war? Es war das erste Mal, dass ich in England war, zwar beherrschte ich die Sprache ohne Schwierigkeiten, doch wusste ich nicht, ob dies ein besonderer Feiertag war. Als ich am vergangenen Abend losgefahren war, schien alles ganz normal zu sein, in England. Neben der Straße sah ich einen Wegweiser. 'Castle Moorbold' stand darauf zu lesen, und: '5 Meilen'. Ich war nach England gekommen, um mich mit Land und Leuten vertraut zu machen, etwas zu lernen und vor allem auch die alten Schlösser und Castles zu sehen. Ich kurbelte das Fenster hoch und fuhr in die angegebene Richtung. Unterwegs sah ich keinen einzigen Menschen.

Das Schloss war groß, aber in keiner Weise unheimlich. Während ich die Auffahrt hinauffuhr, fiel mir etwas Eigenartiges auf. Ich wusste nicht, was mich an dem Anblick störte, was nicht hineinzupassen schien. Irgendetwas stimmte nicht, das wusste ich sofort. Vor dem Portal brachte ich meinen Wagen zum Stehen und stieg aus. Vor mir erhob sich die Fassade dieses Schlosses und dann wusste ich, was so auffällig war: im ganzen Schloss brannte Licht. Noch bevor ich mich ganz damit hatte abfinden können, wurde das Portal geöffnet und ein kleiner, fein gekleideter Mann trat heraus, er musste einer dieser berühmten englischen Butler sein.

'Kann ich etwas für Sie tun' fragte er.

'Ich kam gerade durch die Gegend und wollte mir mal das Schloss ansehen', stotterte ich.

'Kommen Sie doch bitter herein, der gnädige Herr hat es gerne, Besuch um sich zu haben. Es bereitet ihm ein diebisches Vergnügen', fügte er noch hinzu, dann führte er mich hinein. Die Eingangshalle was riesig, man hätte dort bestimmt zwanzig von meinen Wagen unterstellen können. Der Butler führte mich in einen Saal, in dem eine große Tafel aufgebaut war. Am Ende dieser Tafel saß ein Mann.

'Wen haben wir denn da?' rief er durch den gewaltigen Raum.

'Ein Fremder, Sir.' Der Butler deutete mir an, weiterzugehen, während er sich zurückzog.

'Guten Tag, Sir', rief ich

'Kommen Sie doch näher, junger Mann.'

Es handelte sich um einen großen Mann, ein dünner Schnurrbart zierte seine Oberlippe und er hatte ein leicht irres Grinsen. Er stellte sich mir als Graf Philippe Fendergast vor. Als ich mich gesetzt hatte, bot er mir einen Drink an, den ich dankend annahm. Er goss ihn mir über die Hose.

'Niemand hat etwas von trinken gesagt', meinte er grinsend.

Mich noch nicht ganz von meinem Erschrecken erholt habend, fragte ich: 'Ich bin eben durch dieses kleine Dorf gefahren.'

'Hat es Ihnen gefallen?'

'Ja, danke, sehr hübsch. Aber es schien niemand in diesem Dorf zu leben.'

'Das ist richtig, es leben nur Niemands in diesem Dorf.'

'Ich meine, es war verlassen', fuhr ich auf. 'Fast, als wäre die Bevölkerung geflüchtet!'

'Ich denke, das kann ich erklären. Noch einen Drink?' Ich verneinte, meine feuchte Hose betastend. 'Die Familie Fendergast gilt als verrückt. Ich verstehe nicht ganz, warum, immerhin hat man bei uns im Garten noch keine einzige Leiche gefunden.' Er lächelte hintergründig und fügte hinzu: 'Wir schicken sie immer ins Dorf. Wo war ich? Ach ja, naja, jedenfalls glaubt man, wir seien verrückt, was natürlich nicht stimmt.' Er lachte irre und begann, mir einen Krug Wein über die Hose zu gießen. Ich fuhr zurück.

'Ich kann die Leute im Dorf verstehen.'

'Das glaube ich kaum. Sie sprechen nur Gälisch!'

Ich verstand ihn nicht, aber es schien nichts Gutes zu verheißen. 'Danke für die Drinks', sagte ich. Ich hatte genug, mochten die Leute doch fliehen, auch ich wollte nicht länger hier bleiben.

'Junger Mann, Sie haben das Haus betreten, Sie denken doch nicht, dass Sie so einfach wieder herauskommen?' Graf Fendergast grinste.

'Sie sind ja wahnsinnig.'

'Das stimmt. Ich war mal Priester, wussten Sie das?'

Als ich die Tür fast erreicht hatte, trat mir der Butler, mit einem Schwert bewaffnet, in den Weg. 'Sie wollen schon gehen?' fragte er. Er öffnete mir die Tür und ich landete im Kerker. An der Luke erschien das Gesicht des Grafen, der wie irre lachte und fragte: 'Wollen Sie wissen, warum das Dorf leergefegt ist?'

'Weil Sie alle Bürger umgebracht haben, nehme ich an', mutmaßte ich.

'Nein. Wir haben heute in Schloss Moorbold eine Familienfeier und Fendergasts aus ganz England kommen zu Besuch!' Das erklärte alles."

Im Verlauf des Romans treten noch diverse Fendergasts auf, die sich alle als durch die Bank weg irre erweisen, was sich bei ihnen in Gewalt äußert. Philippe Fendergast macht den Erzähler zu seinem Diener, da der alte durch ein Ungeschick eines Verwandten stirbt – er hatte einen Trick aus einem Varieté probieren und ihn durchsägen wollen, was letztlich fehlschlug. Als Butler lernt er endlich die seit langem gefangen gehaltene Tochter Philippe Fendergasts, Juliane, kennen, sie verlieben sich ineinander und er befreit sie aus den Händen des verrückten und brutalen Grafen, der am Ende zusammen mit seinem Schloss und seinem Wahnsinn verbrennt, während die beiden eine glückliche Existenz aufbauen, was jedoch nur angedeutet wird..

Angebliche Fachleute, die sich nicht in der Materie auskennen, behaupten, in Werken wie Bram Stokers "Dracula" oder diversen Frankensteinerzählungen handle es sich ebenfalls um eine Bearbeitung des Tenderbilt-Stoffes, doch man habe die Geschichte [Draculas] angeblich absichtlich nach Transsylvanien verlegt, um sich vor einem Prozess zu schützen. Dies ist natürlich völliger Schwachsinn. So verrückt die Tenderbilts auch gewesen sein sollen, sie waren, von einer Ausnahme einmal abgesehen, nie brutal, sondern im Gegenteil eher sanft, doch von einem eigenwilligen Sinn für Humor bestimmt. Behauptungen, sie haben Blut getrunken, erweisen sich dagegen als völlig unhaltbar. Auch wer sagt, die Tenderbilts haben ein Monster geschaffen, sollte sich lieber an die eigene Nase fassen und nach seiner Herkunft fragen. Durch derlei pseudowissenschaftliche Ergebnisse und Gerüchte lässt sich der immer schlechter werdende Ruf der Tenderbilts erklären.

Kapitel 4

"Spreche ich mit Frederic Tenderbilt?" Da er sich mit seinem vollen Namen gemeldet hatte, hielt er die Frage für ziemlich dumm und überflüssig. Die Erklärung kam sofort: "Hier spricht Polizeichef Quarreling."

"Was kann ich für Sie tun?"

"Liefern Sie mir Ihren Sohn aus, auf der Stelle."

"Meinen Sohn?" Frederic schwante schlimmes.

"Er hat sich eines schlimmen Vergehens... äh, vergangen! Sagen Sie mir, wo er ist. Ihr Haus ist umstellt."

"Er ist nicht hier. Wie haben Sie denn das Haus umstellt?"

"Das ist mein Problem. Wo ist er?"

"Das... weiß ich nicht." Er hatte nur eine bestimmte Ahnung. "Was hat er denn getan?"

"Das ist auch mein Problem."

"Haben Sie Beweise?"

"Das ist mein Problem. Wo ist er?"

"Das ist Ihr Problem!"

Auf einem seiner Streifzüge durch das Dorf und seine Umgebung lernte Sir Henry Tenderbilt die junge Adelheit kennen. Adelheit, geborene Braunwald, befand sich mit ihrem Vater Hannes und ihrem Verlobten, einem jungen Mann namens Andreas Hellberger, auf einer Reise durch England. Ihre Muter war vor wenigen Monaten an der Pest gestorben, vor der sie sich nach England geflüchtet hatten. Die drei speisten gerade in einem Gasthof, als Henry mit einem lauten "Heyheyhey" eintrat und sich einen doppelten Scotch bestellte. Mit seinem Getränk nahm er am Tisch der Reisenden Platz und begann zu erzählen: "Tag. Sind Sie aus der Gegend? Habe Sie noch nie hier gesehen. Ausgezeichneter Whisky. Nettes Mädchen. Gehört Sie zu Ihnen?" Dann, als keine Resonanz auf seine Bemerkungen kam, machte er noch ein paar anzügliche Sprüche. Dummerweise suchte er sich dafür Andreas Hellberger aus, der ein hoch dekorierter Soldat und als solcher gefürchtet war. Sogleich zog er seinen Degen, Henry eine Flappe und so schnell es ging wieder ab.

Wie kam es aber, dass Henry Adelheit ehelichte? Selbstverständlich ist es nach dieser kleinen Episode verwunderlich, da Henry in einem Duell sehr wahrscheinlich den Kürzeren gezogen hätte. Aber er war schnell und Andreas Hellberger erreichte ihn nie. Die kleine Gruppe zog weiter durchs Land. Durch seine soldatische Art erweckte Andreas Hellberger oft Aufmerksamkeit und Spott. Es kam oft zu Duellen. Die wenigsten verlor er. Zufällig traf Henry in einem anderen Gasthof auf die um ein Drittel dezimierte Reisegruppe und sprach die junge Frau an, schüchtern, wie er immer gewesen war: "Guten Abend, junge Frau. Mein Name ist Sir Henry Tenderbilt (er wurde erst viel später geadelt), ich stamme hier aus der Gegend, möchten Sie mich heiraten?"

Aus der Familienchronik:

"Henry Tenderbilt war ein Aufschneider. Wie alle anderen Tenderbilts war er feige. Schon im Alter von 16 Jahren legte er sich einen Adelstitel zu, nannte sich 'Sir Henry'. Später, als man ihn dann tatsächlich zum Ritter erhob, lachte er nur und sagte: 'Ich habe es euch doch immer gesagt!' Von da an nannte er sich 'Lord'."

In einem deutschen Geschichtsbuch, das etwa 1945 aus dem Verkehr gezogen wurde, wurde tatsächlich ein Soldat namens Andreas Hellberger erwähnt. Man sagt über ihn, dass er von hoher Gestalt gewesen sein soll, das Haar stets kurz geschoren trug und leicht zu einem Duell zu bewegen war. Kurz vor seiner Heirat soll er nach England gereist sein, wo er infolge eines hinterhältigen brutalen Mordes ums Leben gekommen sein soll. Ob Adolf Hitler in einer Rede gesagt haben soll: "Jeder Deutsche soll sich ein Beispiel nehmen an dem Hellberger Andreas und niemand soll so heimtückisch ermordet werden wie er!!!" kann von Historikern nicht bestätigt werden, etwas Ähnliches wird aber nicht ausgeschlossen.

Als sich die Zellentür hinter Teddy Tenderbilt schloss, nahm niemand an, dass er einmal eine bedeutende und nicht unwichtige Persönlichkeit werden würde. Wie konnte man auch annehmen, dass dieser Spross der Tenderbilts, der erste Tenderbilt, der im Gefängnis landete, der erste Tenderbilt, der nicht schnell genug gewesen war, um dem Fortschritt zu entkommen, einmal den Namen Tenderbilt groß schreiben würde? Benedict murmelte, dass es gut war, dass es keine Duelle mehr gab, "sonst hätten wir den kleinen schon verloren!" Nichts davon konnte verhindern, dass Teddy stinksauer war.

Im ganzen Land gab es niemanden, der nicht vor dem bösen Ritter Angst hatte, Zu recht, denn kaum einer, der den Ritter je zu Gesicht bekommen hatte, weilte heute noch unter den Lebenden. Nicht einmal Kranke, Alte oder Kinder verschonte er, was ihm allgemein seinen schlechten Ruf eingebracht hatte. Sah man auch nur von weitem eine Gestalt, die dieser böse Ritter sein konnte, verließ man Haus und Hof, ließ die, die nicht laufen konnten zurück und versteckte sich in den Wäldern. Viele kleine Gauner gelangten auf diesem Weg zu Reichtum, während ihn viele große Gauner so verloren. Allein die Tatsache von mehreren ausgerotteten Dörfern verhinderte, den Ritter zu einer Schauerlegende werden zu lassen, Schauer gab es zwar, doch war die Legende blanke Realität. Kinder fürchteten sich vor dem Geräusch, das seine kettenbewehrten Füße auf dem gepflasterten Straßen verursachten, Frauen hatten Angst um sich und ihre Kinder und ihre Männer. Wenn der Ritter auftauchte, war niemand vor ihm sicher.

"Träumen wir?" Teagau, eigentlich Peter Teagau, Lehrer, stand fragend vor Frederico Tenderbilt. Erschrocken fuhr Frederico hoch und blickte in das...

...böse Gesicht des Ritters. Niemand hatte bemerkt, dass er das Dorf erreicht hatte, niemand hatte mit seinem Kommen gerechnet. Plötzlich, ohne Warnung, stand er vor ihnen, sein Breitschwert, auf dem sich die Sonne spiegelte, in siegessicherer Arroganz in die Hüfte gestützt und darauf lehnend.

"Wäre es nicht besser, wenn du dem Unterricht folgen würdest?"

Die Frage verhallte, niemand reagierte, die Gesichter waren starr auf den Ritter gerichtet und niemand war in der Lage, etwas zu sagen. Da stand er vor ihnen, der Todesengel, seine Anwesenheit bewies, dass ihre Lebenszeit begrenzt war. Wer noch am Morgen an die Unsterblichkeit geglaubt hatte, sah sich jetzt eines Besseren belehrt. Jeder konnte nur hoffen, dass es seinen Nachbarn traf, gegen den er eigentlich nichts hatte, aber wenn schon jemand sterben musste, dann lieber er. Obgleich man zugeben musste, dass der Ritter, was das anging, sehr gerecht war. Er zog niemanden vor, er tötete wirklich jeden, den er vorfand.

"Damit du dich besser im Stoff zurechtfinden kannst, schreibst du am besten einen Aufsatz über das Thema..."

Mit einer ungeahnten Geschwindigkeit, die aus ständiger Übung erwachsen sein musste, schwang der Ritter das Schwert, auf dem er kurz zuvor noch geruht hatte, hoch und ließ es kreisen. Seine Aktion wurde mit dem üblichen Geschrei und dem üblichen Tod belohnt. Es brauchte nicht lange, das ganze Dorf leer zu fegen. Es hatte länger gebraucht, es aufzubauen. Als er sich später neben seinem Pferd in den Sand setzte, spiegelte sein Schwert nicht mehr das Licht der Sonne. Es war ein Zeichen, dass er hart gearbeitet hatte.

"...und darüber hinaus wirst du auch nachsitzen." Teagau lächelte gemein.

Wie kam ein normaler Mann dazu, solche Verwüstung und Tod anzurichten? Was hatte ihn dazu veranlasst? Der Ritter saß noch immer im Staub und blickte auf den Horizont, die Sonne ging langsam unter. Ein wundervoller Anblick. Er liebte es, der Sonne beim Untergehen zuzusehen. Eigentlich war er sehr romantisch. Er wäre bestimmt ein netter Kerl geworden. Aber etwas war dazwischen gekommen. Diese gottverdammten Lehrer. Wenn diese Lehrer nicht gewesen wären, er hätte vielleicht ein friedliches Leben führen können. Doch es war ganz anders geworden.

Frederico hasste Unterricht, er hasste Schulen und er hasste Lehrer. Wofür waren sie gut? Sie versauten einem nur die Zukunft. Von den Nachmittagen ganz zu schweigen!

Kapitel 5

Es war unerfreulich, wirklich unerfreulich. Percy Tenderbilt, Vater des Sir Henry Tenderbilt, schüttelte den Kopf. Man bekam kein gutes Personal mehr heutzutage. Und der Mann hatte so seriös gewirkt. Es war zu schade. Er nickte den Beamten zu und schloss leise die Tür.