Wo bist du, Mama? - Carina Lind - E-Book

Wo bist du, Mama? E-Book

Carina Lind

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Abends lag Sabrina auf ihrer Couch und daddelte auf dem Handy. Sie hatte sich in eine mollige Decke gewickelt und es sich so richtig gemütlich gemacht. Gleichzeitig lief der Fernseher, und eine Flasche kühles Bier stand natürlich auch bereit. Der Arbeitstag heute war sehr anstrengend gewesen, nun wollte sie schauen, was es Neues auf TikTok gab, und wie viele Likes sie auf den anderen Social-Media-Kanälen bekommen hatte. Eigentlich hatte Sabrina nur einen Halbtagsjob in einem Kaufhaus in Maibach. Mit dem Geld, das sie dort verdiente, mit Kindergeld und Alimente konnte sie so gerade über die Runden kommen. Doch heute hatte ihr Vorgesetzter sie gebeten, einen zusätzlichen Arbeitstag einzulegen, und sie hatte nicht ›Nein‹ sagen können. Da die Kita samstags geschlossen hatte, hatte sie ihren kleinen Sohn zur Nachbarin gebracht und sie darum gebeten, ein paar Stunden auf Angelo aufzupassen. Frau Osterkamp war eine sehr freundliche ältere Dame, Sabrina hatte nicht lange bitten müssen. Jetzt war Sabrina so in die virtuelle Welt vertieft, dass sie heftig zusammenzuckte, als es plötzlich an ihrer Tür schellte. Wer kommt denn jetzt noch?, dachte sie, als sie aufstand und in die Diele eilte, hoffentlich ist Angelo nicht durch das Klingeln wach geworden! Rasch drückte sie den Türöffner, um ihren abendlichen Besucher, wer auch immer es sein mochte, ins Haus einzulassen. Dann ging Sabrina ins Treppenhaus, sie beugte sich über das Geländer und blickte nach unten. Aha, es war Nicole, ihre Freundin, und die war mal wieder ziemlich aufgebrezelt. Nicoles Schuhe klapperten laut im Treppenhaus, als sie bis ganz nach oben trippelte. Sabrina hatte ihre Wohnung nämlich im vierten Stock, und einen Aufzug gab es nicht. »Pst! Nicht so laut!«, flüsterte Sabrina.

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Seitenzahl: 130

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust - Die nächste Generation – 116 –Wo bist du, Mama?

Unveröffentlichter Roman

Carina Lind

Abends lag Sabrina auf ihrer Couch und daddelte auf dem Handy. Sie hatte sich in eine mollige Decke gewickelt und es sich so richtig gemütlich gemacht. Gleichzeitig lief der Fernseher, und eine Flasche kühles Bier stand natürlich auch bereit. Der Arbeitstag heute war sehr anstrengend gewesen, nun wollte sie schauen, was es Neues auf TikTok gab, und wie viele Likes sie auf den anderen Social-Media-Kanälen bekommen hatte. Eigentlich hatte Sabrina nur einen Halbtagsjob in einem Kaufhaus in Maibach. Mit dem Geld, das sie dort verdiente, mit Kindergeld und Alimente konnte sie so gerade über die Runden kommen. Doch heute hatte ihr Vorgesetzter sie gebeten, einen zusätzlichen Arbeitstag einzulegen, und sie hatte nicht ›Nein‹ sagen können. Da die Kita samstags geschlossen hatte, hatte sie ihren kleinen Sohn zur Nachbarin gebracht und sie darum gebeten, ein paar Stunden auf Angelo aufzupassen. Frau Osterkamp war eine sehr freundliche ältere Dame, Sabrina hatte nicht lange bitten müssen.

Jetzt war Sabrina so in die virtuelle Welt vertieft, dass sie heftig zusammenzuckte, als es plötzlich an ihrer Tür schellte. Wer kommt denn jetzt noch?, dachte sie, als sie aufstand und in die Diele eilte, hoffentlich ist Angelo nicht durch das Klingeln wach geworden! Rasch drückte sie den Türöffner, um ihren abendlichen Besucher, wer auch immer es sein mochte, ins Haus einzulassen. Dann ging Sabrina ins Treppenhaus, sie beugte sich über das Geländer und blickte nach unten. Aha, es war Nicole, ihre Freundin, und die war mal wieder ziemlich aufgebrezelt.

Nicoles Schuhe klapperten laut im Treppenhaus, als sie bis ganz nach oben trippelte. Sabrina hatte ihre Wohnung nämlich im vierten Stock, und einen Aufzug gab es nicht.

»Pst! Nicht so laut!«, flüsterte Sabrina. »Angelo schläft schon. Ich will ihn nicht wecken.«

»Alles klar«, grinste Nicole und ging auf Sabrina zu, um sie kurz in den Arm zu nehmen.

»Mannomann, was ist denn mit dir los?«, fragte Sabrina, als sie ihre Freundin näher in Augenschein nahm. »Du hast dich ja mächtig herausgeputzt! So habe ich dich ja noch nie gesehen!«

»Man tut, was man kann«, meinte Nicole und drängte sich an Sabrina vorbei in die Wohnung. »Auch für dich wird es höchste Zeit, dich in Schale zu werfen. Ich habe nämlich eine Überraschung für dich. Wir gehen gleich aus.«

»Wir gehen gleich aus? Ich glaube wohl eher nicht. Ich habe einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir, außerdem kann ich Angelo nicht allein lassen.«

»Ach was.« Nicole machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nach einem anstrengenden Tag brauchst du unbedingt Abwechslung. Deshalb fahren wir in die Disco nach Leiningen. Da treten heute Abend die ›Never Boys‹ auf.«

Plötzlich war Sabrina wie elektrisiert. »Die ›Never Boys‹?«, fragte sie aufgeregt. »Die treten in Leiningen auf?«

»Ganz genau! Die kommen heute Abend ins ›Crazy Downtown‹. Ich hatte mir bereits eine Eintrittskarte gekauft, dann aber ganz zufällig noch eine zweite geschenkt bekommen.«

Die ›Never Boys‹ waren die angesagteste Rockgruppe in der ganzen Umgebung. Fünf knackige Kerle im hautengen Lederdress. Voll tätowiert natürlich, mit Piercings und knallrot gefärbter Irokesen-Frisur. Vor allem Schocky, der Leadsänger, stand bei den Mädels ganz hoch im Kurs. Wenn er so richtig abrockte, lag ihm die holde Weiblichkeit förmlich zu Füßen.

»Eine Karte hatte ich mir selbst gekauft«, erklärte Nicole. »Die andere ist von Vanessa. Hat sie mir geschenkt, weil sie plötzlich etwas Besseres vorhat. Sie hat nämlich einen süßen Jungen kennengelernt, und der will mit ihr zum Stockcar-Rennen nach Attenburg. Stockcar-Rennen! Wie doof ist das denn?! Und dafür lässt Vanessa die ›Never Boys‹ sausen!«

»Du hast tatsächlich zwei Eintrittskarten?«, fragte Sabrina ungläubig.

»Natürlich. Wenn ich es dir doch sage.« Nicole griff in ihr paillettenbesticktes Täschchen und holte zwei Eintrittskarten heraus. Damit wedelte sie der Freundin triumphierend vor der Nase herum.

»Toll! Eintrittskarten für diese Band‘«, staunte Sabrina, indem sie Nicole die Karten aus der Hand nahm. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Foto von Schocky, das sich auf den Karten befand.

»Nun hör‘ schon auf zu glotzen«, sagte Nicole »Und jetzt entscheide dich endlich! Kommst du nun mit oder nicht?«

Hin- und hergerissen zwischen Verantwortungsbewusstsein und dem Vergnügen, welches Nicole ihr in Aussicht stellte, wusste Sabrina nicht, was sie tun sollte. Das war ihr sehr deutlich anzusehen. »Nun steh‘ hier nicht lange rum!«, sagte Nicole schließlich. »Abmarsch ins Schlafzimmer und ran an den Kleiderschrank! Du musst dich umziehen! Mit deinen Gammel-Klamotten kannst du nicht in die Disco!«

»Ich weiß nicht ... Soll ich wirklich ...?«, zögerte Sabrina.

»Oh Mann! Diesen Auftritt willst du dir doch nicht entgehen lassen! Also nicht lange rumlamentiert! Du ziehst dich jetzt um und legst ordentlich Schminke auf! Mit deinen Haaren müssen wir auch noch etwas machen. So, wie du gerade herumläufst, geht es natürlich nicht!«

»Ich kann Angelo aber doch nicht alleine lassen!«

»Vorhin hast du gesagt, dass er schläft«, sagte Nicole mit einem Blick auf ihr Handy. »Es ist gleich halb neun. Vor morgen früh wacht der nicht auf, und bis dahin sind wir längst wieder zurück. Du wärst ja vollkommen bescheuert, wenn du nicht mitkommst!«

»Ja ... nein ... ich weiß nicht«, sagte Sabrina zögernd. »Ich glaube, ich sollte doch nicht nach Leiningen fahren. Ich sollte besser hierbleiben.«

Die Aussicht, den Auftritt dieser sagenumwobenen Band zu erleben, war schließlich doch zu verlockend. Hinzu kamen die Überredungskünste ihrer Freundin, die bald immer eindringlicher wurden. Schließlich ging Sabrina doch an ihren Kleiderschrank. Dort schälte sie sich aus ihren gemütlichen Klamotten und zog ein sexy Outfit an. Danach setzte sie sich an ihren Schminktisch, um Rouge, Lippenstift und Wimperntusche aufzutragen, gleichzeitig ließ sie sich von Nicole eine schicke Flechtfrisur machen.

Als alles fertig war, sagte Nicole: »Endlich siehst du wieder ansehnlich aus, mein Schatz! Und jetzt nichts wie auf nach Leiningen! Wir müssen uns schon ziemlich beeilen.«

Als Sabrina und Nicole das Schlafzimmer verließen und in die Diele kamen, blieb Sabrina stehen. Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte ihren Kopf. »Nein«, sagte sie schließlich leise. »Ich kann doch nicht mitkommen. Ich muss hierbleiben, bei meinem Kind.«

»Quatsch«, meinte Nicole. »Der Junge schläft doch!«

Sabrina wandte sich von Nicole ab und ging zum Kinderzimmer. Ganz leise öffnete sie die Tür und blickte hinein. Das Kinderzimmer war winzig, der Lichtschein, der aus dem Flur in den Raum drang, erhellte Angelos Bett. Der Kleine schlief so tief und fest, dass er weder das Licht noch seine Mama bemerkte. Als Sabrina die Tür wieder schloss, war sie sich noch immer nicht hundertprozentig sicher, ob sie Nicole folgen sollte. Doch als die nach ihrem Arm griff, um sie aus der Wohnung zu führen, war ihr Widerstand gebrochen. Sabrina schloss die Wohnungstür sorgfältig ab, dann eilte sie mit ihrer Freundin durch das Treppenhaus.

Nicoles Auto stand direkt vor dem Haus, in dem Sabrina wohnte. Nicole klemmte sich hinter das Steuer, und Sabrina setzte sich auf den Beifahrersitz. Nicole ließ den Motor aufheulen und preschte los. Der Auftritt der Band war für halb elf angekündigt. Nicole wollte nichts verpassen, deshalb fuhr sie so schnell, wie sie nur konnte.

*

Nicole hatte bereits den größten Teil der Strecke zurückgelegt, als sich das schlechte Gewissen bei Sabrina meldete. Doch sie sagte nichts, stattdessen blickte sie gedankenverloren durch die Windschutzscheibe. Einerseits war ihr vollkommen klar, dass man einen Vierjährigen nicht allein in der Wohnung zurücklässt. Andererseits wusste sie, dass Angelo tief schlafend in seinem Bettchen lag, da konnte ihm nichts passieren. Gleichzeitig dachte sie auch daran, dass sie mit ihrer Arbeit, der Kindererziehung und dem Haushalt immer so viel zu tun hatte, dass eine kleine Abwechslung genau das Richtige war. Sabrina war noch sehr jung, zweiundzwanzig Jahre alt, das ganze, pralle Leben stand noch vor ihr, da sollte man sich doch mal einen Spaß gönnen dürfen!

Schließlich hatte Nicole die Abfahrt nach Leiningen erreicht. Ein Hinweisschild verkündete, dass sie nur noch fünf Kilometer von ihrem Ziel trennten. Nicole bog von der Hauptstraße ab und folgte einer Nebenstrecke, von der sie wusste, dass sie bis zu dem Parkplatz führte, der sich bei der Disco befand.

»Glück gehabt«, lachte Nicole, als sie mit ihrem Wagen in eine Parklücke einschwenkte. »Wir haben den letzten Parkplatz erwischt.« Schon wollte sie aussteigen, doch Sabrina griff nach ihrem Arm. »Lass uns wieder zurückfahren«, sagte sie.

»Zurückfahren? Wieso das denn?«

»Ich habe so ein mulmiges Gefühl im Magen, ich mache mir Sorgen wegen Angelo. Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.«

»Wie bitte? Jetzt auf einmal? Das hättest du dir vorher überlegen können.«

Nicole riss ihren Arm aus Sabrinas Hand und stieg aus. Also stieg auch Sabrina aus, sie lief um den Wagen herum und stellte sich direkt vor Nicole. »Bitte!«, sagte Sabrina flehentlich. »Was, wenn Angelo wach wird? Was, wenn er in der Wohnung herumläuft und merkt, dass ich nicht da bin?«

»Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!«, rief Nicole.

»Bitte!«, wiederholte Sabrina noch einmal. »Ich muss wieder nach Maibach!«

»Wenn du wieder nach Hause willst, dann kannst du den Bus nehmen!«, sagte Nicole.

»Aber jetzt fährt doch gar kein Bus mehr!«

»Ist mir doch egal! Dann fährst du eben per Anhalter! Meinetwegen kannst du auch zu Fuß gehen! Ich jedenfalls will in die Disco! Ich will den Auftritt sehen! Wenn du nicht mitkommst, kann ich die Karte, die ich von Vanessa bekommen habe, sogar noch verkaufen. Es gibt immer jemanden, der keine Karte hat und sie mir mit Kusshand abnimmt.«

Nicole drängte ihre Freundin beiseite und stöckelte auf den Eingang der Disco zu, vor dem sich eine große Menschenmenge versammelt hatte.

»Nicole! So bleib doch stehen!« Sabrina lief hinter Nicole her, doch die war schneller. Bald war Nicole in der Menschenmenge verschwunden und nicht mehr zu sehen. »Nicole, wo bist du?«, rief Sabrina und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach ihr Ausschau zu halten. Doch sie konnte sie nicht entdecken. Also streckte Sabrina ihre Arme in die Höhe, um ein Foto mit ihrem Handy zu machen. Auf dem Foto entdeckte sie Nicoles rabenschwarze Punkfrisur dicht vor dem Eingang. Nicole war also noch nicht hineingegangen, wahrscheinlich versuchte sie gerade, die zweite Eintrittskarte zu verkaufen. Wenn ich nicht nach Hause kann, dann sollte ich doch mit Nicole in die Disco gehen, dachte Sabrina, das ist allemal besser, als hier draußen zu warten, bis der Auftritt der Band vorbei ist. Also versuchte sie vehement, sich durch die Menge zu drängen, um zu ihrer Freundin zu gelangen.

»Was ist denn mit dir los? Du spinnst ja wohl!«, rief ein rothaariger Junge und schubste Sabrina heftig beiseite.

»Autsch, was soll denn das?«, schimpfte Sabrina. »Willst du ich mich etwa anmachen?«

»Dich? Was bildest du dir denn ein?«, lachte der Rothaarige. Er war nicht nur einen Kopf größer als Sabrina, er war auch recht stämmig. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich auf alte Frauen stehe?« Er rückte ganz nah an Sabrina heran und machte sich einen Spaß daraus, sie immer weiter zurückzudrängen.

»Fass mich nicht an, du Vollpfosten!«, schimpfte Sabrina.

»Lass die Frau gefälligst in Ruhe!«, mischte sich ein anderer Junge ein. Es war ein schmächtiger Blonder, der einen dunkelblauen Anzug trug, was hier völlig fehl am Platz war.

»Was willst denn du, du geschniegelter Fatzke?«, grinste der Rothaarige. »Pass nur auf, sonst fängst du dir eine!«

»Pah! Du bist doch nur ein Würstchen. Ein Würstchen mit großer Klappe, der Frauen angreift!« Der Blonde setzte ein breites Grinsen auf, danach zog er eine Grimasse und verdrehte die Augen. Das wollte sich der Rothaarige nicht gefallen lassen, er ballte seine Hand zur Faust, um dem kleinen Anzugträger vor die Brust zu boxen. Doch der konnte zur Seite springen, und das so blitzschnell, dass der Rothaarige ihn verfehlte und stattdessen ein junges Mädchen am Arm traf.

»Mann! Der Typ hat mich geboxt!«, schrie das Mädchen.

»Du hast meine Freundin geschlagen!«, rief ein breitschultriger Junge und funkelte den Rothaarigen böse an. Er trat ganz dicht an den heran und griff nach dessen T-Shirt.

»Keine Prügelei! Keine Prügelei!«, rief der Anzugträger. Er und noch zwei andere versuchten, sich zwischen die beiden Kontrahenten zu drängen.

»Was? Es gibt eine Schlägerei?«, rief jemand von hinten.

»Der Rotfuchs da vorne will sich mit jemandem prügeln!«, meinte ein anderer.

»Wer? Der Rotfuchs? Meinst du den Gerald?«, rief ein sehr junges Mädchen.

»Ja, genau den! Der stänkert sowieso immer herum!«

»Gerald ist da? Ja, wo denn? Wo denn?«

Schon bald entstand eine allgemeine Aufregung, ein Palaver und Gedränge, ein Geschiebe und Gerangel, bei dem jeder den anderen anpöbelte und ihm auf die Füße trat. Sabrina wurde die Enge so unangenehm, dass sie versuchte, zur Seite auszuweichen, doch es war vergeblich, sie war regelrecht zwischen den anderen eingekeilt. Inzwischen versuchten mehrere Jungen, Gerald festzuhalten und wegzuziehen, doch der riss sich mit solcher Vehemenz los, dass er über die eigenen Füße stolperte und mit zwei, drei anderen Jugendlichen zusammenstieß. Darauf entstand ein Handgemenge, jeder fing an, mit jedem zu streiten und den anderen anzurempeln. Plötzlich spürte Sabrina, wie ihr jemand heftig in den Rücken stieß, hastig drehte sie sich um, dabei traf sie ein Ellenbogen an der Schläfe. Sabrina taumelte, jemand fing sie auf und versuchte, sie wieder auf die Beine zu stellen. Doch er konnte sich nicht halten, sie stürzte zu Boden und knallte heftig mit dem Kopf auf die Bordsteinkante. Dabei fiel ihr das Handy aus der Hand, es schlitterte meterweise über das Pflaster, und jemand trat zufällig - oder extra? - darauf, sodass das Displayglas in Stücke zersprang.

Ungeachtet seines schicken, dunkelblauen Anzugs kniete sich der schmächtige Blonde neben Sabrina auf den Boden. »Was ist mit dir? Steh‘ doch auf!«, rief er ihr zu. Doch Sabrina reagierte nicht, sie lag einfach nur da, mit geschlossenen Augen, fast wie eine Tote. Inzwischen hatte das Gedränge und Geschubste endlich aufgehört, alle standen in einem großen Kreis um Sabrina herum. Viele hatten ihr Handy gezückt und machten Fotos.

»So tut doch etwas!«, rief der Blonde verzweifelt. »Steht nicht rum und glotzt! Jemand muss den Notarzt rufen!«

»Mach‘ es doch selbst!«, rief jemand aus der Menge.

»Mein Akku ist leer«, murmelte der schmächtige Blonde, worauf alle lachten.

»Was ist denn hier los?« Inzwischen hatte der Manager des Etablissements von dem Handgemenge erfahren, das vor seiner Disco stattgefunden hatte. Mit aller Macht drängte er sich durch die Menschenmenge. »Verdammt noch mal!«, rief er aufgebracht, als er Sabrina auf dem Pflaster liegen sah. »Alle stehen herum und gaffen! Wer von euch Gaffern hat den Notarzt bestellt?«

Als niemand antwortete, zückte der Manager in aller Eile sein Handy und wählte die Nummer 112. Es meldete sich eine freundliche, männliche Stimme, der er erklärte, dass es vor seiner Disco einen Unfall gegeben hatte. Dass es sich um eine junge Frau handelte, und dass die nicht mehr ansprechbar war. Nach dem Gespräch zog der Manager seinen Pullunder aus und legte ihn unter Sabrinas Kopf. Immer wieder versuchte er, die junge Frau anzusprechen, doch es war zwecklos, Sabrina lag da wie tot.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis in der Ferne ein Martinshorn zu hören war. Zehn Minuten, die dem Manager wie eine Ewigkeit erschienen, zehn Minuten, in denen er förmlich Blut und Wasser schwitzte. Zwischendurch telefonierte er mit seinen Mitarbeitern, die in der Disco für die Sicherheit zuständig waren, und sagte ihnen, dass sie sofort nach draußen kommen sollten.

Als sich der Rettungswagen näherte, versuchten die Sicherheitskräfte die gaffende Menge zurückzudrängen und einen Weg für die Sanitäter und den Notarzt frei zu machen. Mit einem versierten Blick auf Sabrina stellte der Notarzt fest, dass die Lage ernst war. Viel ernster, als der Manager befürchtet hatte.

»Und was passiert jetzt?«, fragte der Manager aufgeregt und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn.

»Wir bringen die junge Dame ins Leininger Klinikum«, sagte der Notarzt trocken. »Dann sehen wir weiter.«