Wenn aus Freundschaft Liebe wird … - Carina Lind - E-Book

Wenn aus Freundschaft Liebe wird … E-Book

Carina Lind

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Wie jeden Morgen wollte Silke Conradi ihre Wohnung pünktlich um halb acht Uhr verlassen. Im Hausflur stellte sie sich noch einmal kurz vor den Spiegel, um ihr Aussehen zu überprüfen. Gestern war sie beim Friseur gewesen und hatte sich eine fesche Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Silke zupfte noch ein wenig an den Fransen, dann war sie zufrieden. Leichtfüßig lief sie durch das Treppenhaus und hinaus auf die Straße. Es war nur ein kurzes Stück von ihrer Wohnung bis zum Maibacher Gymnasium, wo sie als Hausmeisterin arbeitete. Die ersten Schulkinder strömten bereits in das Gebäude, als Silke dort ankam. In der Eingangshalle wurde sie sofort von allen Seiten umringt. Silke war sehr beliebt bei den Kindern und auch bei den Lehrerinnen und Lehrern. Fast jeder hatte irgendein Anliegen an sie. Freundlich lächelnd versuchte sie, auf alle Bedürfnisse einzugehen, bis es zur ersten Stunde klingelte. Mit einem Mal war die Eingangshalle wie leergefegt. Silke eilte zu der Treppe, die ins Souterrain führte, wo sich ihr Arbeitsraum befand. Auf der Werkbank lag ein großer Bilderrahmen. Der war gestern im Zeichensaal von der Wand gefallen, Silke hatte ihn wieder zusammengesetzt und fachmännisch verleimt. Sehr genau prüfte sie, ob der Rahmen wieder vollkommen in Ordnung war, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Zuerst bestellte sie eine neue Glasscheibe für den Bilderrahmen, dann etliche Liter ›Bodenblank‹ für die Reinigungskräfte. Zwischendurch blickte Silke immer wieder auf ihre Uhr. Um neun Uhr dreißig erwartete sie zwei Handwerker, welche die Bühne in der Aula reparieren sollten. Als Silke dann ihren Arbeitsraum verließ, um zur Aula zu gehen, war sie nicht mehr ganz so fröhlich wie noch am Morgen.

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Sophienlust - Die nächste Generation – 70 –Wenn aus Freundschaft Liebe wird …

Darf sich Harald auf ein spätes Glück freuen?

Carina Lind

Wie jeden Morgen wollte Silke Conradi ihre Wohnung pünktlich um halb acht Uhr verlassen. Im Hausflur stellte sie sich noch einmal kurz vor den Spiegel, um ihr Aussehen zu überprüfen. Gestern war sie beim Friseur gewesen und hatte sich eine fesche Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Silke zupfte noch ein wenig an den Fransen, dann war sie zufrieden. Leichtfüßig lief sie durch das Treppenhaus und hinaus auf die Straße. Es war nur ein kurzes Stück von ihrer Wohnung bis zum Maibacher Gymnasium, wo sie als Hausmeisterin arbeitete. Die ersten Schulkinder strömten bereits in das Gebäude, als Silke dort ankam.

In der Eingangshalle wurde sie sofort von allen Seiten umringt. Silke war sehr beliebt bei den Kindern und auch bei den Lehrerinnen und Lehrern. Fast jeder hatte irgendein Anliegen an sie. Freundlich lächelnd versuchte sie, auf alle Bedürfnisse einzugehen, bis es zur ersten Stunde klingelte. Mit einem Mal war die Eingangshalle wie leergefegt. Silke eilte zu der Treppe, die ins Souterrain führte, wo sich ihr Arbeitsraum befand.

Auf der Werkbank lag ein großer Bilderrahmen. Der war gestern im Zeichensaal von der Wand gefallen, Silke hatte ihn wieder zusammengesetzt und fachmännisch verleimt. Sehr genau prüfte sie, ob der Rahmen wieder vollkommen in Ordnung war, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Zuerst bestellte sie eine neue Glasscheibe für den Bilderrahmen, dann etliche Liter ›Bodenblank‹ für die Reinigungskräfte. Zwischendurch blickte Silke immer wieder auf ihre Uhr. Um neun Uhr dreißig erwartete sie zwei Handwerker, welche die Bühne in der Aula reparieren sollten.

Als Silke dann ihren Arbeitsraum verließ, um zur Aula zu gehen, war sie nicht mehr ganz so fröhlich wie noch am Morgen. Die Handwerker waren bereits vor einigen Tagen in der Aula gewesen, um sich die Schäden anzusehen. Die Begegnung war für Silkes Geschmack ziemlich unerfreulich gewesen. Die Herren hatten sich nämlich für starke Kerle gehalten, die es nicht nötig hatten, eine Frau als Hausmeisterin für voll zu nehmen. Ziemlich respektlos hatten sie sich eingebildet, alles besser zu wissen, nicht ahnend, dass Silke vor ihrem Hausmeister-Job auch eine Ausbildung zur Schreinerin absolviert hatte. Dementsprechend gut kannte sie sich aus.

Auf dem langen Flur, der im Erdgeschoss zur Aula führte, beschloss Silke, sich mit Frechheit zu wappnen. Noch einmal wollte sie sich die dumm-dreisten Sprüche nicht gefallen lassen, die sie sich hatte anhören müssen.

Als sich Silke der Aula näherte, standen die beiden Handwerker bereits vor der Tür. Mit grinsenden Gesichtern taxierten sie Silke schon von Weitem. Silke konnte die begehrlichen Blicke förmlich auf ihrem Körper spüren, was extrem unangenehm war. Noch unangenehmer war das Pfeifen, welches sich der Jüngere nicht verkneifen konnte. Als Silke die Handwerker begrüßte, musste sie direkt an sich halten, um freundlich zu bleiben.

Silke schloss die Tür auf und ließ die Handwerker in die Aula hinein. Während sie mit den beiden durch den Saal ging, leckte sich der Ältere über die Lippen. »Schicke Frisur, die du plötzlich hast, Mädel«, sagte er.

Deine Frisur ist auch nicht übel, dachte Silke, mit deinem Haarkranz und der dicken Nase siehst du aus wie ein Clown. Natürlich war sie viel zu höflich, um diese Gedanken auszusprechen. Stattdessen tat sie so, als hätte sie nichts gehört.

An der Bühne beratschlagten die Handwerker, wie sie nun weiter vorgehen sollten. Es dauerte ziemlich lange. Allmählich wurde Silke ungeduldig. »Fangen Sie nun bitte endlich an«, sagte sie genervt. »Ich kann nicht ewig hier warten. Ich habe Ihnen bereits alles erklärt. Sie können Ihre Arbeit auch ohne mich machen.«

»Wenn man etwas erklärt haben will, muss man einen Mann fragen«, grinste der Jüngere. »Wenn Arbeit ansteht, muss es eine Frau machen.« Der Ältere brach in schallendes Gelächter aus. Silke drehte sich auf dem Absatz um, mit einem Kopfschütteln verließ sie den Saal.

Silke war noch immer ziemlich aufgebracht, als sie in ihre Werkstatt zurückkehrte. Vor allem ärgerte sie sich über sich selbst, weil ihr wieder keine passende Antwort auf den dummen Spruch eingefallen war, den sie sich hatte anhören müssen. Um sich von ihrem Ärger abzulenken, drehte sie das Radio voll auf, dann sägte sie einige Kanthölzer zurecht, die für den Werkunterricht gebraucht wurden. Anschließend reparierte sie den Durchlauferhitzer für die Schulküche, was ziemlich schwierig war. Nachdem es endlich geschafft war, kehrte Silke noch einmal in die Aula zurück, um sich zu vergewissern, dass dort alles so gemacht wurde, wie sie es angeordnet hatte.

Inzwischen hatten die Handwerker die hölzerne Bühnenverkleidung abgenommen. Gerade waren sie damit beschäftigt, die neue Verkleidung anzubringen. Besser gesagt, der Jüngere war damit beschäftigt. Der Ältere stand daneben und schaute zu.

Als Silke die neue Verkleidung sah, war sie geschockt. »Ich hatte Tannenholz bestellt«, stellte sie klar.

»Das ist Tanne«, meinte der Jüngere und fuhr sich mit der Hand durch sein rotes Haar.

»Keineswegs, es ist …«, begann Silke, doch der Ältere schnitt ihr das Wort ab:

»Was weißt denn du schon davon, Mädel«, grinste er.

»Es ist Fichte«, sagte Silke mit fester Stimme. »Die Schulleitung wünscht aber Tannenholz, und das habe ich auch bestellt.«

»Da gibt es doch gar keinen Unterschied«, knurrte der Ältere, wobei sich seine Miene verfinsterte.

»Tannenholz ist wesentlich feuchtigkeitsbeständiger«, erklärte Silke. »Bei Tanne kann auch kein Harz austreten, bei Fichte aber schon. Außerdem wirkt Tanne bei einer sichtbaren Konstruktion wie einer Bühnenverkleidung wesentlich hochwertiger.«

»Sichtbare Konstruktion!«, äffte der Rothaarige Silke nach. »Jetzt soll ich wohl wieder alles abnehmen und noch mal von vorne anfangen, wie?«

»Selbstverständlich!«, forderte Silke. »Und das ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf!«

Als Silke die Aula verließ, konnte sie wieder die Blicke der Handwerker auf ihrem Rücken spüren. Diesmal waren es böse Blicke.

*

Der Ärger mit den Handwerkern hatte Silke den letzten Nerv geraubt. Deshalb war sie ziemlich erschöpft, als sie am späten Nachmittag endlich Feierabend hatte. In ihrer Wohnung kochte sie sich einen Tee und bestrich sich ein paar Butterbrote. Damit wollte sie es sich vor dem Fernseher so richtig gemütlich machen und nichts weiter tun, als abzuschalten.

Kaum hatte sie sich den Tee eingeschenkt, kaum hatte sie nach der Fernbedienung gegriffen, da schrillte das Telefon. Silke hatte überhaupt keine Lust, einen Anruf entgegenzunehmen, dennoch blickte sie kurz auf das Display. Es war Philipp, ihr Bruder. Sie liebte ihn sehr. Seufzend nahm sie den Hörer ab.

Mit den Worten: »Philipp, du bist der Einzige, der mich jetzt noch stören darf«, begrüßte sie ihn.

»Tut mir leid, Schwesterherz, wenn ich dich nach getaner Arbeit noch aufscheuche, aber ich habe ein Problem«, sagte er.

»Was ist denn los, Philipp?«, fragte Silke. »Deine Stimme klingt irgendwie komisch.«

Ohne auf ihren Einwurf einzugehen, begann Philipp, sehr ausführlich von seiner Arbeit zu erzählen, die er und seine Frau Lisa für eine Hilfsorganisation leisteten. »Du weißt, wie wichtig unsere Aktivitäten sind«, erklärte er. »Jetzt werden sie sogar bis nach Afrika ausgeweitet. Unsere Organisation will in Mali ein Waisenhaus aufbauen, genauer gesagt, man hat bereits damit angefangen. Doch es sind zu wenige Hilfskräfte vor Ort. Deshalb sind Lisa und ich nach Mali beordert worden und ...«

»Ihr müsst nach Mali?«, unterbrach Silke ihren Bruder. »Ja, wann denn?«

»So schnell wie möglich, am besten sofort. Die Not dort unten ist immens. Es gibt so viele Waisenkinder! Und die sind oft auch noch krank und unterernährt. Lisa und ich werden dringend benötigt.«

»Und was ist mit Cindy?«, fragte Silke.

»Ja, Cindy«, seufzte Philipp. »Wir können unsere Tochter natürlich nicht mitnehmen. Cindy muss irgendwie betreut werden, wenn Lisa und ich in Mali sind … Deshalb habe ich ein Attentat auf dich vor …«

»Ein Attentat?« Silke ahnte bereits, was nun folgen würde.

»Könntest du Cindy so lange bei dir aufnehmen?«, fragte Philipp rundheraus.

»Wie lange seid ihr denn fort?«, wollte Silke wissen.

»Geplant sind vier Wochen. Eventuell könnte unser Aufenthalt aber auch verlängert werden. Das kann man jetzt noch nicht so genau sagen. Die Verhältnisse dort sind ziemlich unsicher.«

»Wenn Cindy bei mir ist, muss sie natürlich auch zur Schule gehen«, sagte Silke.

»Ganz genau. – Du bist doch Hausmeisterin am Gymnasium in Maibach. Lisa und ich dachten, dass Cindy vorübergehend dort die Schule besuchen könnte.«

Obwohl sich Silke ziemlich überrumpelt fühlte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzusagen. Sie tat es sogar gern, sie mochte ihre Nichte nämlich sehr. »Allerdings gibt es noch ein Problem«, sagte sie zu ihrem Bruder.

»Und das wäre?«

»Nach Schulschluss ist mein Arbeitstag natürlich noch nicht beendet. Manchmal dauert er sogar bis in den späten Nachmittag, zum Beispiel wenn Konferenzen stattfinden. Oder wenn der Maibacher Sportverein in die Turnhalle kommt. Nachmittags kann Cindy aber nicht bei mir in der Schule bleiben. Das ist aus versicherungstechnischen Gründen nicht möglich. Ich halte es aber für keine gute Idee, das Kind dann stundenlang sich selbst zu überlassen.«

»Ja, was machen wir denn da?«

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit«, überlegte Silke. »Cindy könnte nach Schulschluss in Sophienlust untergebracht werden. Es ist ein Kinderheim, ziemlich in der Nähe. Einige von unseren Schülern leben dort. Sie erzählen viel. Sophienlust muss wunderschön sein. Jeden Morgen werden die Kinder mit einem extra Bus zur Schule gebracht und mittags auch wieder abgeholt. Cindy könnte nach Schulschluss mit den anderen mitfahren, dann in Sophienlust zu Mittag essen und dort auch ihre Hausaufgaben machen. Nach Feierabend hole ich sie dann dort ab und bringe sie zu mir.«

»Und du meinst, dass Cindy in diesem Sophienlust aufgenommen wird?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher. Gleich morgen werde ich mich darum kümmern. Ich spreche auch mit unserer Schulleitung und melde Cindy für unser Gymnasium an. Dann rufe ich dich wieder an.«

»Silke, du bist ein wahrer Schatz! Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin!«, jubelte Philipp erleichtert.

Selbstverständlich machte Silke ihr Versprechen wahr. Am nächsten Tag ging sie zur Schulleitung, um Cindy anzumelden. In ihrer Frühstückspause wählte sie die Nummer von Sophienlust.

Wie üblich war der Besitzer am Apparat, Dominik von Wellentin-Schoenecker, der von allen ›Nick‹ genannt wurde. Nick, das wusste Silke sehr genau, war ein ganz besonderer Mensch. Trotz seiner jungen Jahre war er sehr pflichtbewusst und hilfsbereit. Die verantwortungsvolle Aufgabe, ein Kinderheim zu leiten, meisterte er mit Bravour.

Nachdem Silke die Situation erklärt hatte, war Nick sofort bereit, Cindy als Tagesgast in Sophienlust aufzunehmen. Dann erkundigte er sich nach dem Waisenhaus in Mali.

»Etwas Genaueres weiß ich noch nicht. Es ist alles sehr plötzlich gekommen«, erwiderte Silke.

»Vielleicht können Sie mir später mehr über das Projekt dort erzählen«, meinte Nick. »Wenn Ihr Bruder und seine Frau dort ihre Arbeit aufgenommen haben. Sicher werden Sie gelegentlich mit ihnen telefonieren. Viele Kinder, die in unterentwickelten Ländern leben, haben es sehr schwer. Es macht mich traurig, wenn ich nur daran denke. Und gleichzeitig freue ich mich, dass es unseren Schützlingen hier so gut geht.«

*

Am nächsten Sonntag schon wurde es ernst. Philipp und Lisa brachten ihre Tochter nach Maibach zu Silke.

Alle freuten sich sehr über das Wiedersehen. Noch in der Wohnungstür nahmen sie sich sehr herzlich in die Arme. Auch Cindy hatte sich natürlich auf Silke gefreut. Sie war schon des Öfteren bei ihrer Tante gewesen und hatte dort auch übernachtet. Bisher allerdings nur über das Wochenende, zwei, drei Tage, nicht mehr. Doch diesmal sollten es mindestens vier Wochen sein. Vier ganze Wochen! Einem Erwachsenen mochte das nicht lang erscheinen, für ein Kind war es eine halbe Ewigkeit. Und dabei waren die Eltern auch noch ganz weit weg im fernen Afrika, am Ende der Welt sozusagen.

Als sie später dann alle im Wohnzimmer bei Kaffee, Kuchen und Kakao zusammensaßen, erzählten Philipp und Lisa von dem Projekt der Hilfsorganisation. Cindy hörte sehr aufmerksam zu, und natürlich taten ihr die armen Kinder in Mali leid. Dennoch wünschte sich plötzlich, die Eltern würden nicht in das ferne Land fahren.

»In Mali ist Krieg«, rief sie in jäher Angst aus.

»Nicht überall, nur in bestimmten Gebieten im Norden«, versuchte Philipp seine Tochter zu beruhigen. »Unser Waisenhaus ist aber in Mubedra, ganz im Südwesten. Direkt an der Grenze zum Senegal.«

»Die Kinder werden mit einem Hilfskonvoi aus dem ganzen Land dorthin gebracht«, ergänzte Lisa. »Wenn Papa und ich in Mubedra eintreffen, sollen wir alles für ihre Ankunft vorbereiten. Viele Kinder sind wahrscheinlich schrecklich ausgehungert, und Medizin brauchen sie auch. Papa und ich und die anderen Helfer werden alles tun, damit es den Kindern bald wieder gut geht. Du willst doch auch, dass wir uns um die armen Kinder kümmern, Cindy?«

Cindy nickte. Ja, natürlich wollte sie das. Aber mussten es ausgerechnet ihre Eltern sein, die diese wichtige Aufgabe übernahmen? Das mulmige Gefühl, das Cindy seit ihrer Ankunft in Silkes Wohnung verspürte, wurde stärker und stärker. Bald ließ es sich kaum noch verdrängen, da mochten der Kakao und die Kirschtorte noch so lecker schmecken.

Während die Erwachsenen sich weiter unterhielten, während Cindy still zuhörte, blickte sie immer wieder auf Silkes Uhr, die auf dem Sideboard stand. Die Zeiger wanderten unerbittlich voran. Bald würden die Eltern abreisen, mit jeder Minute rückte der schreckliche Moment gnadenlos näher. Als es dann so weit war, schnürte es Cindy fast die Kehle zu.

Cindy und ihre Tante begleiteten Philipp und Lisa noch bis auf die Straße, wo ihr Wagen geparkt war. Dort schlang das Mädchen seine Arme ganz fest um die Mama, als wollte sie sie nie wieder loslassen.

»Kannst du nicht einfach hierbleiben, Mama?«, weinte sie. »Du und Papa, ihr sollt nicht nach Mali fahren! Ihr dürft mich nicht alleine lassen!«

»Ach, Schatzi«, sagte Lisa und streichelte ihrer Tochter über das Haar. »Es ist doch nur für einige Wochen. Und du bist ja auch gar nicht allein. Tante Silke ist doch bei dir.«

»Ich habe aber Angst, dass ihr nie wieder zurückkommt! Dass euch etwas Schlimmes passiert!«

»Uns passiert schon nichts«, sagte Philipp und hockte sich neben seine Tochter. Cindy löste sich von der Mama, um auch den Papa zu umarmen. Dabei sagte er zu ihr: »Mama und ich werden dich jeden Tag anrufen, das verspreche ich dir.«

»Ganz bestimmt, Papa?«

»Aber natürlich, mein Schatz.«

Philipp und Lisa stiegen in ihren Wagen. Als sie abfuhren, winkten beide aus den Fenstern. Cindy und Silke winkten hinter ihnen her, bis das Auto hinter einer Kurve verschwand.

Als das Auto nicht mehr zu sehen war, griff Silke nach Cindys Hand.

»Jetzt wollen wir dein Zimmer einrichten«, sagte sie zu ihrer Nichte und ging mit ihr zurück ins Haus.

Während Silke im Gästezimmer die Schlafcouch für die Nacht vorbereitete, packte Cindy ihren Koffer aus. Sie sortierte ihre Kleidung und ein paar Spielsachen in den Schrank. Die Schultasche wanderte unter den Tisch, der vor dem Fenster stand. Danach setzte sich Cindy auf die Bettdecke, zusammen mit ihrem heiß geliebten Teddybär. Ganz fest drückte sie das Schmusetier an sich und blickte Silke mit großen Augen an.

»Nun schau doch nicht so wie sieben Tage Regenwetter, Liebes«, bat Silke ihre Nichte lächelnd. »Lass uns in die Küche gehen und etwas Leckeres zum Abendbrot essen. Was möchtest du denn gerne haben?«

»Ist mir egal.« Cindy zuckte nur mit den Schultern. Silke nickte dem Kind aufmunternd zu und streckte ihr die Hand hin. Endlich stand Cindy auf, ergriff die Hand und folgte ihrer Tante in die Küche.