Ein Esel namens Hamlet - Carina Lind - E-Book

Ein Esel namens Hamlet E-Book

Carina Lind

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Unentwegt starrte Christian aus dem Fenster des Flugzeugs, schweigsam und wie geistesabwesend. Dabei schien der Junge das, was unten zu sehen war, überhaupt nicht wahrzunehmen. Weder die Fluten des Mittelmeeres, die sich schier endlos dahinwälzten, noch den Küstenstreifen Südfrankreichs, der später auftauchte. Immer wieder wischte sich Christian mit der Hand über das Gesicht. Dabei schniefte er dann so laut, dass sich der rothaarige Passagier, der direkt vor ihm saß, erbost umdrehte. Jedes Mal warf der Rothaarige auch Christians Begleiterin einen bösen Blick zu. So als wollte er fragen, was denn nur mit dem Jungen los sei und ob der nicht endlich Ruhe geben könne. Frau Marquardt hatte natürlich sehr viel Verständnis für den Jungen. Obwohl sie ihn nur von Berufs wegen begleitete, tat er ihr unendlich leid. Dennoch durfte sie sich nicht zu sehr auf ihr Mitgefühl einlassen. Als Mitarbeiterin des Maibacher Jugendamtes hatte sie ständig mit Kindern zu tun, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte. Sie musste immer eine gewisse Distanz bewahren, sonst hätte es ihr das Herz zerrissen. Nichtsdestotrotz bemühte sich Frau Marquardt immer wieder, Christian aufzumuntern. Doch wenn sie ihn ansprach, antwortete er nur mit »Ja« oder »Nein«. Manchmal zuckte er auch nur mit den Schultern. Vielleicht sollte ich ihn ganz einfach in Ruhe lassen, dachte sie schließlich und lehnte sich in das Polster zurück. Frau Marquardt schloss ihre Augen und ließ die letzten zwei Tage Revue passieren. In aller Eile hatte man ihr ein Flugticket gekauft und sie nach Korsika geschickt. Dort war sie auf dem Flughafen von Bastia gelandet und dann mit einem Mietwagen vom höchsten Norden bis in den tiefsten Süden der Insel gefahren.

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust - Die nächste Generation – 94 –

Ein Esel namens Hamlet

Unveröffentlichter Roman

Carina Lind

Unentwegt starrte Christian aus dem Fenster des Flugzeugs, schweigsam und wie geistesabwesend. Dabei schien der Junge das, was unten zu sehen war, überhaupt nicht wahrzunehmen. Weder die Fluten des Mittelmeeres, die sich schier endlos dahinwälzten, noch den Küstenstreifen Südfrankreichs, der später auftauchte. Immer wieder wischte sich Christian mit der Hand über das Gesicht. Dabei schniefte er dann so laut, dass sich der rothaarige Passagier, der direkt vor ihm saß, erbost umdrehte. Jedes Mal warf der Rothaarige auch Christians Begleiterin einen bösen Blick zu. So als wollte er fragen, was denn nur mit dem Jungen los sei und ob der nicht endlich Ruhe geben könne.

Frau Marquardt hatte natürlich sehr viel Verständnis für den Jungen. Obwohl sie ihn nur von Berufs wegen begleitete, tat er ihr unendlich leid. Dennoch durfte sie sich nicht zu sehr auf ihr Mitgefühl einlassen. Als Mitarbeiterin des Maibacher Jugendamtes hatte sie ständig mit Kindern zu tun, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte. Sie musste immer eine gewisse Distanz bewahren, sonst hätte es ihr das Herz zerrissen.

Nichtsdestotrotz bemühte sich Frau Marquardt immer wieder, Christian aufzumuntern. Doch wenn sie ihn ansprach, antwortete er nur mit »Ja« oder »Nein«. Manchmal zuckte er auch nur mit den Schultern. Vielleicht sollte ich ihn ganz einfach in Ruhe lassen, dachte sie schließlich und lehnte sich in das Polster zurück. Frau Marquardt schloss ihre Augen und ließ die letzten zwei Tage Revue passieren. In aller Eile hatte man ihr ein Flugticket gekauft und sie nach Korsika geschickt. Dort war sie auf dem Flughafen von Bastia gelandet und dann mit einem Mietwagen vom höchsten Norden bis in den tiefsten Süden der Insel gefahren. Nach Bonifacio, um Christian aus dem Krankenhauszentrum abzuholen. Dorthin hatte man ihn gebracht, nachdem man ihn nach einem tragischen Badeunfall aus dem Wasser gefischt hatte. Zum Glück war Christian nur leicht verletzt, aber seine Eltern ...

Frau Marquardt seufzte tief, als sie an Christians Eltern dachte. Für sie war jede Hilfe zu spät gekommen, man hatte sie nur noch tot bergen können. - Was für ein Schock für einen Zwölfjährigen! Beide Eltern zu verlieren, und das auch noch in einem fremden Land! Christians ganze Welt war von einer Sekunde auf die andere zusammengebrochen! In diesem Elend kamen noch etliche Tage dazu, die er im Krankenhauszentrum verbringen musste. Einsam und allein. Denn mit den paar Brocken Französisch, die er in der Schule gelernt hatte, konnte er sich natürlich kaum verständigen. - Wer hatte sich in dieser Zeit um die verwundete Seele dieses Kindes gekümmert? Wer hatte Christian Zuspruch und Trost gespendet? Wahrscheinlich niemand.

Frau Marquardt öffnete ihre Augen wieder und blickte kurz auf ihre Uhr. In einer Stunde sollte der Flieger in Stuttgart landen. Dort würde ein Mitarbeiter des Jugendamtes sie und Christian abholen und mit dem Auto nach Maibach bringen. In Maibach sollte Christian noch einige Tage auf einer Pflegestelle bleiben, ganz in der Nähe des Jugendamtes. Es gab ja noch so viel zu erledigen, bevor man Christian dorthin brachte, wo er in Zukunft leben sollte, nämlich in Sophienlust. Frau Marquardt graute schon jetzt bei dem Gedanken an die vielen Formulare, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten. All‘ die Papiere, die ausgefüllt, eingereicht und abgeschickt werden mussten. Natürlich musste auch die Wohnung von Christians Eltern in Staighofen aufgelöst werden. Da die Großeltern nicht mehr lebten, und es sonst keine Verwandten gab, hatte man einen Nachlasspfleger bestellt. Deshalb hatte Frau Marquardt mit der Wohnungsauflösung eigentlich nichts zu tun, trotzdem musste sie noch einmal mit Christian nach Staighofen fahren, um seine Sachen zu holen. Die Rückkehr in das vertraute Heim konnte für das Kind regelrecht traumatisch werden, das wusste Frau Marquardt aus früheren Erfahrungen nur allzu gut. Doch über diesen grausamen und dennoch unvermeidlichen Moment mochte Frau Marquardt jetzt nicht weiter nachdenken. Stattdessen erlaubte sie ihren Gedanken, nach Sophienlust zu schweifen.

Sophienlust!, dachte Frau Marquardt, was für ein Glück, dass es diese wundervolle Einrichtung in der Nähe von Maibach gab! In Sophienlust würde sich Christian mit Sicherheit sehr wohlfühlen. Zumindest mit der Zeit, wenn er die Trauer und den Schmerz einigermaßen überwunden und sich eingelebt hatte. Wahrscheinlich gab es keine bessere Einrichtung auf dieser Welt als Sophienlust. - Und dennoch, Sophienlust war ein Waisenhaus! Und Christian ein wohlbehütetes Kind, das nun urplötzlich allein auf der Welt stand! Was hatte die Vorsehung dem Jungen doch für ein grausames Schicksal zugeteilt!

Frau Marquardt wandte sich Christian zu, um ihm über die Schulter zu streicheln. Der Junge drehte sich kurz zu ihr um und blickte sie aus großen, tränenfeuchten Augen an. Dann starrte er wieder aus dem Fenster.

*

Nahezu wortlos und ohne zu murren ließ Christian alles über sich ergehen, was die nächsten Tage für ihn bereithielten. Zuerst wurde er bei Adelheid und Günther Müller einquartiert, die beide sehr freundlich waren und sich sehr einfühlsam verhielten. Das Jugendamt meldete Christian am Maibacher Gymnasium an, doch er musste noch nicht zur Schule, man hatte ihn vorübergehend freigestellt. Eigentlich wäre Christian gerne zur Schule gegangen, das hätte ihn vielleicht ein wenig von seiner Trauer abgelenkt. Andererseits hatte er auch Angst davor, mitten im Unterricht plötzlich vom Schmerz übermannt zu werden. Hätte er angefangen zu weinen, hätte man wahrscheinlich über ihn gelacht, das wollte er natürlich nicht. Deshalb war es gut so, wie es war. Auch die Fahrt zur elterlichen Wohnung in Staighofen brachte Christian standhaft hinter sich. Eigentlich wollte er gar nichts aus der Wohnung mitnehmen. Als Frau Marquardt die Tür aufschloss, war ihm plötzlich alles egal. Jedes Mal, wenn Frau Marquardt ihn fragte, ob er dieses oder jenes behalten wollte, zuckte er nur mit den Schultern. Also packte Frau Marquardt alles ein, was sie für wichtig hielt, Kleidung, Schuhe, Christians Schulsachen. Ein wenig Spielzeug, ein paar Bücher. Das Einzige, was Christian wirklich mitnehmen wollte, war das Hochzeitsfoto seiner Eltern, das im Wohnzimmer hing. Nachdem er den kleinen Bilderrahmen von der Wand genommen hatte, presste er ihn vor seine Brust und hielt ihn dort fest, bis Frau Marquardt den letzten Karton und die letzte Tasche gepackt hatte.

Auch auf dem Rückweg zur Pflegestelle hielt Christian den kleinen Rahmen noch immer im Arm, selbst später noch beim Abendessen. Auch wenn er keinen Hunger hatte, so aß er doch ein paar Happen. Hauptsächlich, um seine Pflegeeltern nicht zu enttäuschen. Dann ging er, so schnell er konnte, zu Bett. Er stellte das Bild auf seinen Nachttisch und blickte es eine ganze Stunde lang an. Schließlich drückte er sein Gesicht in das Kopfkissen und weinte, weinte und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte.

Am nächsten Morgen wurde Christian schon früh von seiner Pflegemutter geweckt. Sie trat an sein Bett und strich ihm über den blonden Schopf. »Wach’ auf, Junge«, sagte Adelheid liebevoll. »Du musst aufstehen und dich anziehen. Wir wollen gleich frühstücken. Nachher kommt Frau Marquardt, um dich nach Sophienlust zu bringen.«

»Sophienlust«, murmelte Christian und rieb sich die Augen. »Warum muss ich schon wieder woanders hin? Kann ich nicht einfach hier bei euch bleiben? Bei dir und bei Günther?«

»Das ist leider nicht möglich«, sagte Adelheid und setzte sich auf die Bettkante. »Mein Mann und ich sind nur Pflegeeltern auf Zeit. Für den Notfall sozusagen. Aber das haben wir dir ja schon alles erklärt. Dein zukünftiges Zuhause wird Sophienlust sein.«

»Sophienlust! Ein Haus für Waisenkinder!«, sagte Christian und setzte sich auf.

Ja, auch du bist jetzt ein Waisenkind, hatte Adelheid sagen wollen, doch sie schluckte die Worte herunter. Stattdessen schilderte sie ihrem Schützling, wie schön es in Sophienlust sein musste. »Es ist ein wunderschönes Herrenhaus«, erklärte sie. »Sehr groß, fast wie ein Schloss. Es steht in einem weitläufigen Park mit Spielplätzen und ...«

»Und wahrscheinlich leben tausend Kinder dort«, meinte Christian voller Bitterkeit. »Nachts sind alle in einem riesigen Schlafsaal eingepfercht. Frühmorgens müssen die Kinder zum Appell antreten und die Nationalhymne singen. Zum Frühstück gibt es nur einen Klacks Haferschleim, und wenn jemand Hunger hat und mehr haben will, wird er tagelang in den Kohlenkeller gesperrt.«

Unwillkürlich musste Adelheid schmunzeln. »Was sind denn das für skurrile Vorstellungen?«, meinte sie. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«

»Ich habe mal einen Film über ein Waisenhaus gesehen. Da war das so.«

»Wahrscheinlich denkst du an Oliver Twist. - Aber ich kann dich beruhigen. In Sophienlust ist es ganz anders. Dort wohnen keineswegs tausend Kinder, nicht einmal hundert. Soweit ich weiß, sind es zehn oder elf.«

»So wenige nur?«

»Ja, und Pferde gibt es in Sophienlust auch.« Adelheid war eine kluge Frau. Inzwischen wusste sie, dass Christian Tiere über alles liebte, vor allem Pferde und Esel. Deshalb versuchte sie, Christians Gedanken vom Waisenhaus auf Pferde zu lenken.

»In Sophienlust gibt es ein Pferd?« Plötzlich war Christian tatsächlich interessiert.

»Es gibt nicht nur eins, es sind sogar mehrere«, sagte Adelheid. »Und einen Hund gibt es auch. Vielleicht sind es sogar zwei, so genau weiß ich das aber nicht. Sophienlust scheint ein kleines Paradies zu sein. Du wirst dich dort sehr schnell einleben und bald rundum wohlfühlen. Davon bin ich felsenfest überzeugt.«

*

Frau Marquardt kam pünktlich zur verabredeten Zeit. Auch wenn Adelheid sich immer wieder bemüht hatte, Sophienlust in den herrlichsten Farben zu schildern, so wurde Christian doch sehr mulmig zumute, als er sich von Adelheid und Günther verabschieden musste. Als es schließlich kein Zurück mehr gab, beschloss er, sich in sein Schicksal zu fügen, es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Mit bleichem Gesicht und hängendem Kopf schlich er hinter Frau Marquardt her und setzte sich in ihr Auto.

Als Frau Marquardt Sophienlust erreichte und durch das große, schmiedeeiserne Eingangstor fuhr, hatte Christian seine Arme vor der Brust verschränkt und die Mundwinkel nach unten gezogen. Er war tief in seine Innenwelt versunken. Der schöne Park, der sich vor ihm ausbreitete, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.

Frau Marquardt parkte ihren Wagen vor der breiten Freitreppe, die zum Gebäude führte. Dann führte sie Christian in die Eingangshalle. Dort wurden die beiden bereits erwartet, und zwar von einem jungen Mann und zwei Damen. Die Ältere hielt einen kleinen Jungen an der Hand, die Jüngere trug ein Mädchen auf dem Arm.

»Ich bin Nick«, sagte der junge Mann. »Ich kümmere mich um alles hier. - Die beiden netten Damen an meiner Seite sind Tante Ma und Schwester Regine.«

»Ich bin der Leon!«, krähte der kleine Junge und riss sich von Tante Mas Hand. »Und das da, das ist meine Schwester Marie!« Leon streckte sein Ärmchen aus und zeigte auf das Mädchen, welches Schwester Regine auf dem Arm trug.

Christian mochte alle, die in der Eingangshalle auf ihn gewartet hatten, auf Anhieb. Besonders der junge Mann war ihm sympathisch. Nachdem alle einander begrüßt hatten, sagte Frau Marquardt zu Christian: »Nick heißt eigentlich Dominik von Wellentin-Schoenecker. Ihm gehört Sophienlust.«

»Ihnen gehört ein Waisenhaus?«, fragte Christian und blickte Nick ungläubig an.

»Meine Urgroßmutter hat mir Sophienlust vererbt«, lächelte Nick. »Und zwar mit dem Auftrag, dass es für alle Kinder, die hierher kommen, offenstehen soll.«

»Aber Sie sind doch noch so jung.« Christian mochte das, was Nick sagte, kaum glauben.

»Anfangs war ich noch zu jung, um ein Haus wie dieses zu führen. Damals hatte meine Mutter die Leitung inne, stellvertretend für mich. Sie heißt Denise, aber unsere Kinder nennen sie ›Tante Isy‹. An meinem achtzehnten Geburtstag hat meine Mutter dann die Leitung in meine Hände gelegt. Natürlich hilft sie mir immer noch, wenn etwas Besonderes ansteht. - Im Übrigen kannst du mich duzen, Christian. Tante Ma und Schwester Regine natürlich auch. Wir duzen uns alle hier.«

Wow, ein Achtzehnjähriger, der schon ein Waisenhaus führen durfte! Christian konnte nur staunen. Obwohl er noch ein Kind war, war ihm bewusst, welche Verantwortung Nick bereits tragen musste. Und das in so jungen Jahren! Nick war ja nur sechs Jahre älter als er!

Noch während Christian verwundert zu Nick aufschaute, musste sich Frau Marquardt schon wieder verabschieden. Sie hatte ihre Pflicht, Christian betreffend, erfüllt. Und im Jugendamt warteten bereits neue, wichtige Aufgaben auf sie.

Als Frau Marquardt die Eingangshalle verließ, fühlte sich Christian mit einem Mal einsam und allein. Kaum hatte er Vertrauen zu jemandem gefasst, war der auch schon wieder aus seinem Leben verschwunden. Erst die Ärzte und Krankenschwestern in Bonifacio, dann Adelheid, Günther, jetzt auch noch Frau Marquardt ...

Nick, der in einem Fernstudium Kinderpsychologie studierte, hatte ein feines Gespür für die plötzliche Unsicherheit des Jungen. Er legte eine Hand auf Christians Schultern und lächelte ihn an. »Wir haben bereits ein Zimmer für dich vorbereitet. Oben im ersten Stock. Tante Ma wird dich nach oben begleiten und dir beim Auspacken helfen. Frau Marquardt hat deine Sachen schon gestern nach Sophienlust gebracht. Sie stehen schon in deinem Zimmer bereit.«

»Ich bekomme ein eigenes Zimmer?«, fragte Christian ganz verwundert. »Wir schlafen nicht in einem Schlafsaal?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Tante Ma. »Alle unsere Kinder haben ein eigenes Zimmer.«

»Ein eigenes Zimmer!«, staunte Christian und wandte sich Richtung Treppe. Doch dann blieb er wieder stehen und fragte: »Wo sind denn die anderen Kinder? Außer Leon und Marie sind ja gar keine da.«

Tante Ma blickte kurz auf ihre Uhr. »Sie sind jetzt noch in der Schule, aber sie werden gleich kommen. Die Großen werden mit unserem Bus vom Maibacher Gymnasium nach Sophienlust gebracht. Heidi und Kim, unsere Kleinen, gehen noch auf die Grundschule in Bachenau. Sie fahren mit dem Fahrrad dorthin. Sie werden wohl etwas früher zurück sein als die anderen.«

»Die Großen gehen ins Maibacher Gymnasium?«, vergewisserte sich Christian. »Ich gehe demnächst auch auf das Maibacher Gymnasium.«

»Prima«, meinte Tante Ma. »Dann hast du gleich ein paar Freunde, wenn du an die neue Schule kommst. - Und nun lass uns dein Zimmer einrichten. Ich denke, dein Zimmer wird dir gefallen.«

Im ersten Stock gab es einen langen Flur mit mehreren Türen auf beiden Seiten. Das waren die Zimmer der Kinder, die in Sophienlust lebten. Christian durfte in jedes hineinschauen, und jedes war so gemütlich, dass man sich sofort wohlfühlen musste. Auch das Zimmer, das man für ihn vorbereitet hatte, machte einen sehr behaglichen Eindruck. Links stand ein großer, türkisfarbener Schrank, an der Wand gegenüber das Bett. Es war frisch bezogen, mit himmelblauem Bettzeug, auf das farbenfrohe Ufos und Mondraketen aufgedruckt waren. Die Übergardinen links und rechte neben dem Fenster waren ebenfalls himmelblau. Unter dem Fenster stand ein Tisch, an dem Christian demnächst seine Schularbeiten machen sollte, wie Tante Ma erklärte. Auf dem Tisch hatte man eine Schale mit Süßigkeiten bereitgestellt. »Ein kleiner Willkommensgruß von uns allen«, sagte Tante Ma und reichte Christian eins von den besonders leckeren Karamellbonbons.

»Danke«, murmelte Christian. Er dröselte das goldfarbene Papier auf und steckte das Bonbon in den Mund. Eigentlich mochte er jetzt nichts essen, schon gar kein zuckersüßes Bonbon, doch er wollte Tante Ma nicht enttäuschen.

Zusammen mit Tante Ma hievte er die Kartons und die beiden Reisetaschen, die Frau Marquardt für ihn gepackt hatte, auf das Bett. Dann packte er sie zögerlich aus, langsam, sehr langsam. Tante Ma konnte den Jungen sehr gut verstehen. Jedes Teil, das nun zu Tage kam, bedeutete ein Stück Heimat für ihn. Gleichzeitig war es auch eine Erinnerung an die unbeschwerte Zeit, als seine Eltern noch lebten, eine schöne und zugleich sehr schmerzliche Erinnerung ...

*

Kaum hatte Christian seine Schultasche unter das Fenster und das Bild seiner Eltern auf den Nachttisch gestellt, da schallten fröhliche Kinderstimmen durch das Haus. »Aha, unsere Kinder sind also aus der Schule gekommen«, sagte Tante Ma, während sie sich noch einmal im Zimmer umblickte. Christians Kleidung und seine Schuhe waren im Schrank verstaut, seine Bücher standen im Regal, hübsch übersichtlich in Reih‘ und Glied. Nur die Spielsachen waren überall verstreut, auf dem Tisch und dem Bett, aber das war so vollkommen in Ordnung.

»Komm‘, Christian«, sagte Tante Ma und winkte dem Jungen zu. »Lass uns nach unten gehen! Dann kannst du deine neuen Freunde und Freundinnen kennenlernen.«

Die Sophienlust-Kinder wussten natürlich längst, dass ein ‚Neuer‘ zu ihnen kommen sollte. Als Christian die Treppe hinunterging, liefen sie neugierig auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ich bin Angelina. Aber alle nennen mich ‚Pünktchen‘, du kannst mich auch so nennen«, sagte das älteste Mädchen. Es hatte leuchtend rotblonde Locken und viele Sommersprossen in ihrem Gesicht. Ein anderes Mädchen hieß Angelika, ihre Schwester hieß Vicky.