Ein Neuanfang - Carina Lind - E-Book

Ein Neuanfang E-Book

Carina Lind

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Wie immer, wenn Jasmin das Haus ihrer Mutter verließ, blieb sie einen Moment vor dem Gartentor stehen, um zu verschnaufen. Auch heute war der Besuch bei Ingeborg wieder sehr anstrengend gewesen. Die alte Dame war schon seit Jahren sehr krank. Dazu zeigten sich seit einiger Zeit auch die ersten Anzeichen von Demenz, was al- les noch schlimmer machte. Mit einem Seufzer stieß Jasmin das Gartentor auf und eilte auf die andere Straßenseite, wo sie ihren Wagen ge- parkt hatte. Bevor sie einstieg, warf sie noch einen Blick auf das Haus, wo Ingeborg wohnte, eine geräumige Villa, die noch aus der Gründerzeit stammte. Inmitten eines hübschen Gartens gele- gen bot sie einen recht imposanten An- blick. Jasmin konnte sehr gut verste- hen, dass Ingeborg Haus und Garten auf keinen Fall verlassen wollte, um in Heim zu gehen, obwohl das sicherlich das Beste gewesen wäre. Nun ja, dachte Jasmin, als sie in ihren Wagen stieg, Ingeborg hat natür- lich eine Pflegekraft, die sie täglich be- treut. Außerdem komme ich, so oft ich nur kann. Was aber, wenn es mit der Demenz schlimmer wird? Wenn mei- ne Mutter eine 24-Stunden-Betreuung braucht? Mit diesen Gedanken im Hinter- kopf startete Jasmin den Motor, da- bei blickte sie kurz auf die Uhr am Armaturenbrett. Heute war sie länger bei Ingeborg geblieben, als sie eigent- lich geplant hatte, und nun drängte bereits die Zeit. Zuhause wartete ein Berg Arbeit auf sie, und sie wollte un- bedingt alles erledigen, bevor Manuel vom Fußballtraining nach Hause kam. Jasmin liebte ihren Sohn sehr, auch wenn das Leben mit ihm nicht einfach war. Der Zehnjährige war nämlich ein wahrer Zappelphilipp, der die Familie mit seiner Unruhe oft an den Rand der Verzweiflung brachte. Mit einem Seufzer bog Jasmin vom Fichtenweg, wo ihre Mutter wohnte, in die Hauptstraße ein, welche durch ganz Brückenbach führte. Als Jasmin das Dorf hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte, blickte sie noch einmal auf die Uhr. Dabei dach- te sie an Anton, ihren Mann, der ganz besonders unter Manuels Unruhe zu leiden hatte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust - Die nächste Generation – 100 –

Ein Neuanfang

Unveröffentlichter Roman

Carina Lind

Wie immer, wenn Jasmin das Haus ihrer Mutter verließ, blieb sie einen Moment vor dem Gartentor stehen, um zu verschnaufen. Auch heute war der Besuch bei Ingeborg wieder sehr anstrengend gewesen. Die alte Dame war schon seit Jahren sehr krank. Dazu zeigten sich seit einiger Zeit auch die ersten Anzeichen von Demenz, was al- les noch schlimmer machte.

Mit einem Seufzer stieß Jasmin das Gartentor auf und eilte auf die andere Straßenseite, wo sie ihren Wagen ge- parkt hatte. Bevor sie einstieg, warf sie noch einen Blick auf das Haus, wo Ingeborg wohnte, eine geräumige Villa, die noch aus der Gründerzeit stammte. Inmitten eines hübschen Gartens gele- gen bot sie einen recht imposanten An- blick. Jasmin konnte sehr gut verste- hen, dass Ingeborg Haus und Garten auf keinen Fall verlassen wollte, um in Heim zu gehen, obwohl das sicherlich das Beste gewesen wäre.

Nun ja, dachte Jasmin, als sie in ihren Wagen stieg, Ingeborg hat natür- lich eine Pflegekraft, die sie täglich be- treut. Außerdem komme ich, so oft ich nur kann. Was aber, wenn es mit der Demenz schlimmer wird? Wenn mei- ne Mutter eine 24-Stunden-Betreuung braucht?

Mit diesen Gedanken im Hinter- kopf startete Jasmin den Motor, da- bei blickte sie kurz auf die Uhr am Armaturenbrett. Heute war sie länger bei Ingeborg geblieben, als sie eigent- lich geplant hatte, und nun drängte bereits die Zeit. Zuhause wartete ein Berg Arbeit auf sie, und sie wollte un- bedingt alles erledigen, bevor Manuel vom Fußballtraining nach Hause kam. Jasmin liebte ihren Sohn sehr, auch wenn das Leben mit ihm nicht einfach war. Der Zehnjährige war nämlich ein wahrer Zappelphilipp, der die Familie mit seiner Unruhe oft an den Rand der Verzweiflung brachte.

3

Mit einem Seufzer bog Jasmin vom Fichtenweg, wo ihre Mutter wohnte, in die Hauptstraße ein, welche durch ganz Brückenbach führte. Als Jasmin das Dorf hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte, blickte sie noch einmal auf die Uhr. Dabei dach- te sie an Anton, ihren Mann, der ganz besonders unter Manuels Unruhe zu leiden hatte. Anton war nämlich Gold- schmied, der von zu Hause aus arbei- tete, und dazu brauchte er vor allem eins - Ruhe.

Jasmin drückte das Gaspedal herun- ter, auf der Landstraße konnte sie ein wenig schneller fahren. Auch wenn der Weg von Brückenbach nach Staigho- fen nicht weit war, wollte sie sich be- eilen. Als sie zu Hause ankam, warf sie ihre Jacke über die Garderobe, dann ging sie die Treppe hinunter in den Keller. Gleich im ersten Raum links befand sich Antons Werkstatt.

»Hallo Schatz, ich bin wieder da«, sagte Jasmin, als sie ihren Kopf zur Tür hereinstreckte.

Anton war gerade mit einer äußerst kniffligen Arbeit beschäftigt. Deshalb blickte er nur kurz auf, als er fragte:

»Wie war es heute denn so mit Inge- borg?«

Also erzählte Jasmin von Ingeborgs Krankheit, und davon, dass es mit der Demenz schlimmer wurde. Doch das wollte Anton eigentlich gar nicht hö- ren, natürlich war er längst über alle Einzelheiten bestens informiert. Ihn interessierte etwas ganz anderes, des-

halb sagte er: »Aber das weiß ich doch alles, meine Süße. Ich wollte fragen, wie du mit deiner Mutter klargekom- men bist.«

»Puh«, seufzte Jasmin, indem sie einen Stuhl heranzog und sich setzte.

»Du weißt, dass meine Mutter schwie- rig ist.«

»Eben. Genau das meine ich.«

»Wir können froh und dankbar sein, dass meine Mutter von Ludmil- la betreut wird, und dass die so star- ke Nerven hat«, sagte Jasmin. »Mir allerdings, mir fällt es von Tag zu Tag schwerer, meine Mutter zu besuchen.« Jasmin verschränkte ihre Arme vor der Brust und blickte auf den Boden, ganz so als seien die Flecken, die sich darauf befanden, plötzlich das Interessanteste auf der Welt.

»Gegen Ingeborg kommt man ein- fach nicht an«, bemerkte Anton lapi- dar.

»Jetzt, wo sie anfängt, vergesslich zu werden, wird es immer schlim- mer«, sagte Jasmin. »Früher musste ich meiner Mutter alles zweimal erklä- ren. Jetzt dreimal, viermal, fünfmal, und gleich hat sie es wieder vergessen. Dabei weiß ich nicht einmal, ob sie es wirklich vergessen hat. Oder ob sie nur so tut, weil ihr das, was ich sage, nicht passt.«

»Deine Mutter will halt immer das Programm bestimmen. Sie war schon immer sehr fordernd.«

»Bisher konnte ich ganz gut damit umgehen. Aber jetzt?«

4

»Vielleicht solltest du sie nicht so oft besuchen?«

»Wie stellst du dir das denn vor,An- ton? Sie ist meine Mutter!« Mit einem Kopfschütteln stand Jasmin auf, um Antons Werkstatt wieder zu verlassen. Im Türrahmen drehte sie sich noch ein- mal um und fragte: »Es stört dich doch nicht, wenn ich gleich nebenan in der Waschküche herumwirbele?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte An- ton, ohne von der zierlichen Goldkette aufzusehen, an der er gerade arbeitete.

*

Nachdem Jasmin ihre Arbeit in der Waschküche erledigt hatte, eilte sie wieder nach oben, um das Abendbrot vorzubereiten. Danach blieb ihr noch etwas Zeit, bevor Manuel nach Hause kam, und die Familie zu Abend essen wollte. Also ging sie in ihr Atelier, das sie sich in dem Wintergarten eingerich- tet hatte, der sich hinter dem Wohn- zimmer befand. Eigentlich war der Wintergarten viel zu klein für ihre Ar- beit als Schneiderin, doch er war sehr hell und freundlich. Dazu bot er einen Ausblick in den Garten mit den phan- tasievoll gestalteten Blumenbeeten, die immer so herrlich blühten. Hier fühlte Jasmin sich so wohl, das ihr alles leicht von der Hand ging. Die bunten Blumen draußen taten ein Übriges, um ihre Phantasie zu beflügeln.

Jasmin hatte sich vor einigen Jahren als Schneiderin selbstständig gemacht

und sich schnell einen sehr guten Ruf erworben. Dieser war inzwischen bis nach Leiningen vorgedrungen, sogar bis zu Elisabeth Gräfin von Papen- wirth, die dort wohnte. Zu Jasmins großer Überraschung hatte die Gräfin sie vor einigen Wochen aufgesucht, um ein exquisites Hochzeitskleid in Auf- trag zu geben. Nicht für sich selbst, son- dern für ihre Tochter Sonja. Natürlich wünschte die Gräfin nicht irgendein Kleid von der Stange. Natürlich soll- te es etwas ganz Besonderes sein, das genau den Wünschen der Gräfin und ihrer Tochter entsprach. Natürlich hat- te Jasmin sich sofort in die Arbeit ge- stürzt, um in Absprache mit ihrer Auf- traggeberin das Schönste zu zaubern, was ihre handwerklichen Fähigkeiten und ihre Vorstellungskraft zuließen. Jetzt stand das halbfertige Prachtstück auf einer Schneiderpuppe mitten im Raum. Die Abendsonne schien direkt auf den blütenweißen Stoff und brach- te die unzähligen Perlchen darauf zum Glitzern. Jasmin konnte wirklich mit sich zufrieden sein, alles, was sie bis- her geschafft hatte, war bestens gelun- gen. Erst vor drei Tagen hatten Gräfin von Papenwirth und Tochter Sonja sie besucht, um den Fortgang der Arbeit in Augenschein zu nehmen, und beide waren sichtlich zufrieden gewesen.

Jasmin blickte kurz auf ihre Uhr. Bis zum Abendessen blieben ihr noch fünfzehn Minuten, genug Zeit, um noch einige Glitzerperlchen auf das Dekolleté zu sticken. Doch kaum hatte

5

Jasmin etwas vom hauchzarten Garn aufgefädelt, kaum hatte sie das erste Perlchen aufgenäht, erging es ihr so wie immer. Sofort war sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles darüber vergaß. Ja, das Schneidern war ihre Welt, in Sekundenbruchteilen konnte sie völlig darin versinken. Vor allem, wenn es um etwas so Traumhaftes ging wie das Hochzeitskleid für die Tochter der Gräfin.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall aus der Diele. Aha, Manuel ist nach Hause gekommen!, fuhr es Jasmin durch den Kopf. Dabei zuckte sie so heftig zusammen, dass sie sich um Haaresbreite in den Finger gestochen hätte. Hastig zog sie ihre Hand zurück, ein Blutfleck auf dem schneeweißen Kleid, das war das Letzte, was sie ge- brauchen konnte! Dabei fiel die Näh- nadel mit dem hauchzarten Garn zu Boden. Jasmin bückte sich in aller Eile, um mit der Hand über den Boden zu tasten und die Nadel zu suchen. End- lich hatte sie sie gefunden, das dumme Ding war natürlich unter den Saum des Kleides gerollt. Vorsichtig fischte Jasmin sie wieder hervor und steckte sie in ein Nadelkissen. Dann lief sie, so schnell sie konnte, in die Diele, um zu schauen, was Manuel nun wieder angestellt hatte. Und dass ihr Sohne- mann etwas angestellt hatte, daran hatte sie gar keinen Zweifel.

Manuel stand mitten in der Diele. Er hatte einen Fußball zwischen den Händen, den er fest gegen seine Brust

presste. Manuel hielt den Kopf gesenkt, trotzdem konnte Jasmin erkennen, dass ihr Sohn ein ziemlich schuldbewusstes Gesicht aufgesetzt hatte. Das Desaster, welches er mal wieder verursacht hatte, war natürlich nicht zu übersehen. Die Garderobe hing nämlich nicht mehr ordentlich an der Wand, so wie es sein sollte. Sie hing schief, weil sie nur noch an einem Haken baumelte. Jasmins Ja- cke und Antons Schirmmützen waren natürlich heruntergefallen, direkt auf die Kommode, die unter der Garderobe stand. Dabei hatten sie einen von Jas- mins Keramikengeln von der Kommo- de heruntergerissen.

»Der ist hinüber. Der Kopf ist ab«, stellte Jasmin fest, als sie Kopf und Körper vom Boden aufhob und beide Teile betrachtete.

»Den kann man doch bestimmt wieder kleben«, meinte Manuel treu- herzig. »Ich kann das für dich machen, Mama!« Manuel ließ den Ball fallen und grapschte nach den beiden Tei- len, doch Jasmin zog ihre Hände ganz schnell weg. »Untersteh‘ dich!«, sagte sie im strengsten Ton, zu dem sie fä- hig war. »Das mache ich selbst. Wenn du es versuchst, machst du womöglich noch mehr kaputt. Und überhaupt...« Jasmin richtete sich kerzengerade auf und blickte auf die Garderobe. »Wie, um alles in der Welt, hast du das denn wieder fertiggebracht?«

»Ich wollte meinen Ball oben auf die Garderobe legen«, sagte Manuel kleinlaut.

6

»Auf das Brett über den Haken? Dahin, wo Papas Schirmmützen lie- gen? Der dreckige Ball neben Papas Heiligtümern? Wie kommst du nur auf diese absurde Idee?«

»Ich weiß auch nicht...ich dachte mal so. Aber als ich den Ball hochwer- fen wollte, da...«

»Wie bitte? Du hast nicht versucht, den Ball hochzulegen? Du hast ihn ge- worfen?«

»Ich war halt noch im Fußballfieber.

Und da dachte ich...«

»Oh Junge! Was machst du nur für Sachen!?« Jasmin versuchte, die Gar- derobe wieder einzuhängen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Der Haken hatte sich nämlich halb aus der Wand gelöst.

Anton hatte den Knall natürlich auch gehört. Jetzt kam er die Trep- pe hinauf, mit versteinertem Gesicht und fest zusammengekniffenen Au- genbrauen. Natürlich hatte Anton das Malheur sofort gesehen, sein Gesichts- ausdruck verriet überdeutlich, wie ver- ärgert er war. »Am besten, ich bringe den Ball nach draußen in den Schup- pen«, sagte Manuel schnell und hob ihn wieder auf. »Und dann wasche ich mir die Hände, und beim Abendbrot bin ich auch ganz lieb und sitze ganz still und sage kein einziges Wort.« Und schon rannte der Junge nach draußen.

»Bei dem ist Hopfen und Malz ver- loren«, knurrte Anton, während er den Schaden aus der Nähe begutachtete.

»Die Garderobe lässt sich auch nicht

wieder einhängen. Ich muss den Werk- zeugkasten und die Bohrmaschine ho- len.«

»Und trotzdem lieben wir unseren Sohn«, meinte Jasmin mit einem Lä- cheln, das allerdings ein wenig gequält wirkte. Anton antwortete nicht. Er warf seiner Frau nur einen seltsamen Blick zu, den sie nicht zu deuten wuss- te. Dann ging er wieder in den Keller, um alles zu holen, was er für die Repa- ratur brauchte.

Am Abendbrottisch war Manuel dann tatsächlich ganz lieb. Ein wahrer Musterknabe, der artig »bitte« und

»danke« sagte. Der nicht mit seinem Brot herumkrümelte. Der nur dann sprach, wenn die Erwachsenen ihn dazu aufforderten. Der nicht mit den Füßen wippte und auch nicht mit sei- nem Stuhl schaukelte.

So ging es eine ganze Weile lang. So lange, dass Jasmin meinte, die Welt nicht mehr zu verstehen. Manuel hatte nun mal das sogenannte Aufmerksam- keitsdefizitsyndrom. Und solche Kin- der können einfach nicht stillsitzen, das hatte ihr der Arzt gesagt. Natür- lich hatte der Arzt auch ein Rezept für Manuel ausgestellt, und natürlich war Jasmin in die Apotheke gegangen, um die verordneten Tabletten zu besorgen. Doch dann hatte sie sich dazu durchge- rungen, Manuel das Medikament nicht zu geben. Sie wollte ihr Kind nicht mit

‚Pharmabomben‘, wie sie es nannte, ruhigstellen. Manuel musste irgendwie anders zur Vernunft kommen. Wie das

7

geschehen sollte, wusste Jasmin aller- dings nicht. Und nun zeigte sich Manu- el plötzlich von einer Seite, die sie gar nicht an ihm kannte. Plötzlich war ihr kleiner Liebling so mustergültig, dass es schon wieder unheimlich war.

Immer wieder wanderten Jasmins Blicke zu ihrem Sohn. Na bitte, an- scheinend geht es doch, dachte sie da- bei, es besteht ja noch Hoffnung. Doch kaum gedacht, da war es auch schon wieder vorbei. Erst wippte Manuel ein bisschen auf seinem Stuhl herum. Wirklich nur ein ganz kleines bisschen. Dann fing er an, mit seinem Kopf zu wackeln. Er müsse sich bewegen, um fit zu bleiben, wie er erklärte. Als er dann noch einen Arm dazu nahm und dabei seine Kakaotasse umriss, lehnte sich Jasmin entnervt in ihrem Stuhl zurück. Hilflos sah sie zu ihrem Mann hinüber. Antons Gesicht wirkte wie- der wie versteinert, auch seine Brauen waren wieder fest zusammengezogen. Anton schenkte seiner Frau nur einen kurzen Blick. Dann stieß er einen tie- fen Seufzer aus, doch er sagte nichts.

*

Am nächsten Morgen brachte An- ton seinen Sohn zur Bushaltestelle. Er blieb auch bei ihm, bis der Bus kam, der ihn nach Maibach zur Schule brin- gen sollte. So machte Anton es jeden Tag. Damit wollte er sicherstellen, dass Manuel nicht auf irgendwelche dum- men Gedanken kam. Dass er nicht

über die Straße rannte, auch nicht drü- ben ins Wäldchen lief oder sonst wohin und dann womöglich den Bus verpass- te. Man wusste ja nie, was Manuel so alles einfiel.

Seit einiger Zeit ging Manuel auf das Maibacher Gymnasium, in die 5. Klasse bei Frau Mehrwald, von der er sehr begeistert war. Ob die Begeiste- rung allerdings auf Gegenseitigkeit be- ruhte, wussten weder Anton noch Jas- min. Immerhin stellte ein Unruhegeist wie Manuel eine ganz besondere Her- ausforderung dar, und ob Frau Mehr- wald dieser gewachsen war, das war immerhin fraglich. Doch bald war El- ternsprechtag, und den würde Jasmin natürlich wahrnehmen. Dann würde man mehr erfahren.

Während des Wartens wollte Ma- nuels Plappermund einfach nicht still- stehen. Erst schwärmte er von seiner Klassenlehrerin, dann erzählte er lang und breit von den neuen Sportgerä- ten, die es jetzt in der Turnhalle gab. Plötzlich hielt er mitten im Redefluss inne, dann grinste er seinen Papa an und fragte: »Kennst du eigentlich den Simon?«

»Nein, natürlich nicht. Aber du hast mir schon oft von ihm erzählt. Er geht in dieselbe Klasse wie du.« Anton blickte kurz auf seine Uhr, dann hielt er nach dem Bus Ausschau. Eigentlich hätte der längst da sein müssen. Offen- sichtlich hatte er sich heute verspätet.

»Simon ist ein echt cooler Typ«, meinte Manuel. »Eigentlich kommt er

8

aus Holland, aber er spricht astreines Deutsch. Und er kennt sich super mit Flugzeugen aus. Mit Hubschraubern und Zeppelinen und allem, was so durch die Luft fliegt. Ob er auch über Ufos Bescheid weiß, weiß noch nicht, da muss ich ihn noch mal fragen. Und dann hat Simon noch einen Papagei, der heißt Hugo, und der lebt in So- phienlust.«

»Simons Papagei lebt in Sophien- lust? Aber warum denn? Warum ist er nicht bei Simon?«

»Weil Simon auch in Sophienlust wohnt«, erklärte Manuel.

»Ist Sophienlust nicht ein Kinder- heim? Hier in der Nähe? Direkt hinter Wildmoos?«

»Klar, Papa. Und es ist echt toll da. In Sophienlust haben sie nämlich auch Pferde und zwei Hunde und so. Das hat mir der Simon alles erzählt.«

»Na, das Haus Sophienlust scheint ja wirklich ein kleines Paradies zu sein.«

»Nein, klein ist es nicht. Es ist näm- lich echt groß. Da gibt es ein supertol- les Haus, das sieht aus wie ein Schloss, da wohnen die Kinder drin. Und drum herum ist ein Riesengarten. Mit einem Spielplatz und einem Pavillon, und der Chef von dem Ganzen heißt Nick.«

»Soso, Nick also«, sagte Anton, in- dem er weiter nach dem Bus Ausschau hielt. »Na endlich. Da kommt er«, stellte er schließlich fest.