Zwei Mütter für Lara - Carina Lind - E-Book

Zwei Mütter für Lara E-Book

Carina Lind

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Über Nacht war der Winter noch einmal zurückgekehrt, mit wirbelnden Flocken hüllte er Leiningen und Geroldsgrün, Maibach und Wildmoos ein. Wegen des Schneegestöbers wollte Corinna Ebertin ihren Termin zur Ultraschalluntersuchung eigentlich verschieben. Doch die Sprechstundenhilfe überzeugte sie, trotz der winterlichen Verhältnisse, die auf den Straßen herrschten, zu kommen. »Das bisschen Schnee sollte doch kein Problem sein«, sagte sie zu Corinna. Also bat Corinna ihren Mann, sie in die Praxis nach Maibach zu fahren. Einige Tage vor dem erneuten Wintereinbruch war es schon recht mild gewesen, im Vorgarten hatten sich die Schneeglöckchen bereits aus dem Erdboden gekämpft. Doch jetzt waren die kleinen Frühlingsboten wieder unter der weißen Decke verschwunden. Zudem wehte ein eisiger Wind. Corinna zog ihren Mantel enger um ihren Körper, während Achim den Wagen aus der Garage holte. Endlich konnte Corinna einsteigen und sich anschnallen. Dabei hielt sie den Gurt mit einer Hand fest, damit er nicht auf ihren Babybauch drückte. Es war noch recht früh am Morgen, als sie losfuhren. Der Schneepflug hatte die Straße noch nicht geräumt, da war natürlich äußerste Vorsicht geboten. Achim war ein sehr guter Fahrer, langsam und vorsichtig lenkte er den Wagen über die glatte Fahrbahn. Dennoch blickte Corinna mit Besorgnis aus dem Fenster. »Das bisschen Schnee sollte doch kein Problem sein«, sagte Achim, um seine Frau ein wenig aufzumuntern. »Genau das hat die Sprechstundenhilfe auch gesagt«, meinte Corinna.

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Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Sophienlust - Die nächste Generation – 56 –Zwei Mütter für Lara

Das Schicksal geht manchmal seltsame Wege!

Carina Lind

Über Nacht war der Winter noch einmal zurückgekehrt, mit wirbelnden Flocken hüllte er Leiningen und Geroldsgrün, Maibach und Wildmoos ein. Wegen des Schneegestöbers wollte Corinna Ebertin ihren Termin zur Ultraschalluntersuchung eigentlich verschieben. Doch die Sprechstundenhilfe überzeugte sie, trotz der winterlichen Verhältnisse, die auf den Straßen herrschten, zu kommen.

»Das bisschen Schnee sollte doch kein Problem sein«, sagte sie zu Corinna. Also bat Corinna ihren Mann, sie in die Praxis nach Maibach zu fahren.

Einige Tage vor dem erneuten Wintereinbruch war es schon recht mild gewesen, im Vorgarten hatten sich die Schneeglöckchen bereits aus dem Erdboden gekämpft. Doch jetzt waren die kleinen Frühlingsboten wieder unter der weißen Decke verschwunden. Zudem wehte ein eisiger Wind.

Corinna zog ihren Mantel enger um ihren Körper, während Achim den Wagen aus der Garage holte. Endlich konnte Corinna einsteigen und sich anschnallen. Dabei hielt sie den Gurt mit einer Hand fest, damit er nicht auf ihren Babybauch drückte.

Es war noch recht früh am Morgen, als sie losfuhren. Der Schneepflug hatte die Straße noch nicht geräumt, da war natürlich äußerste Vorsicht geboten.

Achim war ein sehr guter Fahrer, langsam und vorsichtig lenkte er den Wagen über die glatte Fahrbahn. Dennoch blickte Corinna mit Besorgnis aus dem Fenster.

»Das bisschen Schnee sollte doch kein Problem sein«, sagte Achim, um seine Frau ein wenig aufzumuntern.

»Genau das hat die Sprechstundenhilfe auch gesagt«, meinte Corinna. »Und zwar wortwörtlich.«

Das Schneegestöber hatte sich mittlerweile immer mehr verdichtet, dabei führten die Flocken einen wirbelnden Tanz auf. Die Scheibenwischer rasten wie wild über die Windschutzscheibe, dennoch hatten sie der weißen Pracht kaum etwas entgegenzusetzen. Achim verringerte die Geschwindigkeit noch mehr. Im Schritttempo steuerte er den Wagen um die nächste Kurve herum – und dann, urplötzlich, war ein ohrenbetäubendes Krachen zu hören.

›Das bisschen Schnee dürfte doch kein Problem sein‹, klang es noch immer in Corinnas Ohr, als sich der Wagen zweimal überschlug.

Nachdem das Geräusch von berstendem Blech und Achims markerschütternder Schrei verhallt waren, wurde es um Corinna sehr still. Ein wohltuender Nebel breitete sich vor ihr aus, der alle Geräusche dämpfte und alle Bilder verschluckte. Dann hatte sie das Gefühl durch einen Tunnel zu schweben, geradewegs auf ein warmes, freundliches Licht zu, das sie am Ende des Tunnels willkommen hieß. Corinna wollte ihre Arme ausbreiten, um ganz und gar in das Licht einzutauchen, doch irgendetwas hielt sie zurück.

»Du darfst noch nicht …«, hörte sie eine Stimme. »Du darfst noch nicht …« Die weiteren Worte konnte Corinna nicht verstehen.

›Ich darf noch nicht‹, schoss es Corinna durch den Kopf. ›Ich darf nicht sterben …, ich darf nicht sterben …, ich darf nicht …‹

Mit aller Kraft versuchte Corinna ihre Augen zu öffnen und ein wenig zu blinzeln, doch sie wurde von einem anderen, sehr unangenehmen Licht geblendet. Es erschien ihr künstlich und grell, nicht so warm und wohltuend wie das Licht am Ende des Tunnels. Corinna brauchte mehrere Minuten, um sich an das unangenehme Licht zu gewöhnen, ehe sie es fertigbrachte, ihre Augen vollends zu öffnen und sich umzuschauen.

Sie war nicht mehr im Auto, und Achim war nicht neben ihr. Stattdessen stand rechts ein leeres Bett, links waren ein Waschbecken und ein Einbauschrank zu erkennen, daneben gab es eine weiß lackierte Tür. An der Wand gegenüber hing ein sehr schönes Bild mit einer traumhaften Landschaft, an der Corinnas Blick schließlich hängen blieb. Am liebsten hätte sie sich in die Traumlandschaft fallen lassen, am liebsten wäre sie wieder durch den Tunnel geschwebt, weiter und immer weiter, bis zu dem herrlichen Licht dort am Ende, doch …

»Frau Ebertin ist wach«, schallte eine Stimme durch den Raum, und die Bilder, die sie schon wieder umfangen wollten, lösten sich auf in nichts.

Mühsam drehte Corinna ihren Kopf zur Seite. Eine Krankenschwester war in den Raum gekommen und trat an ihr Bett. Sie trug ein Namensschild auf ihrem Kittel. ›Schwester Ursula‹ war darauf zu lesen.

Mit einem freundlichen und gleichzeitig besorgten Gesichtsausdruck trat Schwester Ursula an Corinnas Bett und griff nach ihrem Handgelenk. »Wissen Sie, was passiert ist, Frau Ebertin?«, fragte sie.

»Ich bin in einem Krankenhaus?«, meinte Corinna fragend. »Was ist denn passiert? Wo ist Achim? Wo ist mein Mann?«

»Sie sind in der Maibacher Klinik«, erklärte Schwester Ursula. »Sie hatten einen Autounfall. Wir mussten Sie operieren, aber Sie sollten sich keine allzu großen Sorgen machen, in einer Woche werden Sie bestimmt wieder fit sein.«

»Ich wurde operiert?«, murmelte Corinna. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass eine Kanüle in ihrem Handrücken steckte und dass sie an einem Tropf hing.

»Wo ist Achim?«, fragte Corinna noch einmal und versuchte, sich aufzurichten, doch Schwester Ursula drückte sie sachte zurück auf das Bett.

»Mit Ihrem Mann ist soweit alles in Ordnung«, sagte die Schwester ausweichend. »Er liegt in einer anderen Abteilung unserer Klinik, dort wird alles Menschenmögliche für ihn getan und …«

»Alles Menschenmögliche? Was soll das heißen? Ich muss sofort zu ihm!« Hastig versuchte Corinna, sich wieder aufzurichten, doch ein stechender Schmerz in ihrem Unterleib ließ es nicht zu. Corinna steckte ihre freie Hand unter die Bettdecke und tastete nach ihrem Bauch. »Wo ist er?!«, schrie sie entsetzt, als sie spürte, dass der ganz flach war. »Wo ist Lukas?«

»Lukas?«, fragte Schwester Ursula und umfasste Corinnas Handgelenk ein wenig fester.

»Lukas! Mein Kind! Mein Baby!«

»Warten Sie einen Moment«, sagte die Schwester zu Corinna. »Ich hole einen Arzt.« Und schon eilte sie aus dem Krankenzimmer, so schnell, dass sie vergaß, die Tür hinter sich zuzuziehen.

Es dauerte kaum eine Minute, als zwei Ärzte ins Zimmer traten. Der Jüngere zog eine Spritze auf, und ehe Corinna wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr bereits etwas ›zur Beruhigung‹ gegeben, wie er erklärte. Der Ältere zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Krankenbett.

»Ich bin Dr. Albers«, stellte er sich vor. »Mein Kollege ist Dr. Gerlach. Dr. Gerlach ist Ihr behandelnder Arzt. Bei ihm sind Sie in den besten Händen.«

Ungläubig drehte Corinna ihren Kopf zur Seite, um Dr. Albers direkt anzublicken. Dass sich ein Arzt zu einer Patientin ans Bett setzte, kam ihr äußerst seltsam vor.

Zuerst sprach Dr. Albers über den Unfall, den sie und Achim gehabt hatten. Soweit Dr. Albers wusste, war ein Baum auf die Fahrbahn gekracht. Achim hatte versucht, auszuweichen oder zu bremsen, doch der Baum hatte den Wagen noch gestreift, das Auto war dabei ins Schleudern geraten und hatte sich überschlagen. Zum Glück konnte ein nachfolgender Autofahrer sofort einen Notruf absetzen. Dr. Albers berichtete weitere Einzelheiten über die Untersuchungen, welche die Polizei sofort am Unfallort vornahm, er erzählte vom Rettungswagen, der Corinna und Achim in die Maibacher Klinik brachte. Doch das alles war im Moment für Corinna nicht sonderlich wichtig.

»Was ist mit Lukas?«, unterbrach sie Dr. Albers‹ Redefluss. »Was ist mit meinem Baby?«

Dr. Albers war ein versierter Psychologe. Doch Corinna die Wahrheit zu sagen, fiel selbst ihm furchtbar schwer. Er zögerte eine Weile, dann sagte er endlich: »Sie müssen jetzt sehr stark sein, liebe Frau Ebertin. Unsere Ärzte haben alles versucht, Ihr Baby zu retten. Doch es war leider nicht möglich. Sie haben Ihr Baby verloren.«

»Lukas ist tot«, stöhnte Corinna. Mit einem tiefen Seufzer schloss sie die Augen. Wieder schien sich eine Art Nebel auszubreiten. »Lukas ist tot«, murmelte sie ein weiteres Mal, während sie das Gefühl hatte, in einem Niemandsland zu versinken. Nur schwach hörte sie noch Dr. Albers Stimme: »So leid es mir tut, liebe Frau Ebertin, Sie können auch keine weiteren Kinder mehr bekommen.«

Drei Tage lag Corinna nahezu reglos in ihrem Bett, drei Tage, in denen sich Schwester Ursula und Dr. Gerlach rührend um sie kümmerten. Dennoch fühlte sich Corinna einsam und verlassen in ihrem Schmerz um ihr verlorenes Kind. Immer wieder fragte sie auch nach Achim, immer wieder wurde ihr versichert, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ginge. Dann hielt es Corinna nicht länger aus. Auch wenn Schwester Ursula Bedenken äußerte, bestand sie darauf, zu Achim gebracht zu werden. Mühsam schaffte sie es mit Ursulas Hilfe aus dem Krankenzimmer und über den Flur bis zum Fahrstuhl, der sie in ein höheres Stockwerk der Klinik brachte. Dort lag Achim in Zimmer 309.

Gut gestützt auf Schwester Ursulas Arm blieb Corinna vor der Tür stehen und atmete tief durch. Dann nahm sie allen Mut zusammen und ging hinein.

Auch wenn man versucht hatte, Corinna entsprechend vorzubereiten, traf sie der Anblick von Achim wie ein Schock. Seine mehrfach gebrochenen Beine waren in einer Aufhängevorrichtung befestigt, die geradezu beängstigend wirkte. Zudem steckte sein rechtes Bein in einem bedrohlich wirkenden Gestänge. Trotz seiner unglücklichen Lage huschte ein Lächeln über Achims Gesicht, als er seine Frau hereinkommen sah.

»Corinna, endlich! Komm zu mir, mein Schatz!«, sagte er und streckte beide Arme nach ihr aus. Ungeachtet ihrer Schmerzen beugte sich Corinna über das Bett zu Achim hinunter, während er seine Arme um ihren Rücken schlang.

Doch auch wenn sie am liebsten tausend Jahre so bei Achim geblieben wäre, musste sich Corinna bald wieder von ihm lösen, ihre Schmerzen ließen nichts anderes zu. Schwester Ursula schob einen Stuhl heran, damit sie sich setzen konnte.

»Sie dürfen noch nicht allzu lange hier sitzenbleiben«, mahnte Schwester Ursula. »In einer Viertelstunde hole ich Sie wieder ab.«

Auch wenn die Zeit wie im Fluge verging, so war sie für Corinna und Achim doch unendlich wertvoll. Achim konnte sich selbst davon überzeugen, dass es seiner Frau besser ging, als er befürchtet hatte, immerhin konnte sie ihr Bett schon wieder verlassen, wenn auch nur für kurze Zeit. Und Corinna stärkte seine Hoffnung, bald wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Doch für die Trauer um ihr verlorenes Baby, dafür reichte eine Viertelstunde wahrlich nicht aus. Dennoch musste sich Corinna fügen, als Schwester Ursula zurückkam, um sie wieder in ihr eigenes Krankenzimmer zu bringen.

Auch in den nächsten Tagen ging Corinna zu ihrem Mann, was ihr zunehmend leichter fiel, sodass sie Schwester Ursulas Hilfe bald nicht mehr brauchte und immer länger an Achims Bett bleiben konnte. Gemeinsam versuchten sie, den Verlust ihres ungeborenen Kindes zu verarbeiten, gemeinsam versuchten sie, sich mit der Tatsache abzufinden, dass Corinna keine weiteren Kinder bekommen konnte. Und das fiel ihnen unendlich schwer, denn sie hatten sich über alle Maßen auf ihr Baby gefreut.

*

Endlich kam der Tag, an dem Corinna die Klinik verlassen durfte. Achim musste noch auf unbestimmte Zeit dort bleiben.

Corinna packte ein paar Habseligkeiten zusammen, welche der Sanitäter nach dem Unfall aus dem Auto gerettet und in eine Tüte gepackt hatte, darin waren ihr Portemonnaie, ihr Ausweis und der Haustürschlüssel. Hinzu kam ein Köfferchen mit Waschzeug und ein paar Sachen zum Anziehen. Schwester Ursula war so freundlich gewesen, Corinnas Cousine zu verständigen, und diese hatte das Köfferchen in die Klinik gebracht.

Zum Schluss ging Corinna noch einmal zu Achim hinauf, um sich von ihm zu verabschieden. Natürlich würde sie ihn morgen wieder besuchen, übermorgen auch und an jedem folgenden Tag.

Dann war es an der Zeit, ins Foyer hinunterzugehen, wo ein Taxifahrer bereits auf sie wartete, um sie nach Hause zu bringen.

Während der kurzen Fahrt saß Corinna schweigend im Auto, versonnen blickte sie aus dem Fenster. Der Schnee war längst wieder weggeschmolzen, die Natur bereitete sich auf den Frühling vor.

Schließlich hatte der Fahrer die Schillerstraße erreicht, wo er vor ihrem Haus parkte. Vor der Haustür zögerte Corinna eine ganze Weile, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte, wusste sie doch, was sie im Haus erwartete: Leere und Einsamkeit.

Endlich gab sich Corinna einen Ruck und trat ein.

Zehn Tage war sie nicht hier gewesen, zehn Tage, das war eigentlich gar nichts. Und dennoch erschien ihr die eigene Wohnung plötzlich vollkommen fremd, fremd und abweisend, ganz so, als gehöre sie gar nicht hierhin.

Corinna stellte ihre Tüte und das Köfferchen in die Diele, dann ging sie zur Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Anschließend stürzte sie sich in alle möglichen Hausarbeiten, sie fing an, Wäsche zu waschen und zu putzen. Dabei war ihr vollkommen klar, dass dies alles nur blinder Aktionismus war, mit dem sie das dumpfe Gefühl, das sie beim Betreten der Wohnung befallen hatte, überspielen wollte.

Doch es ließ sich nicht überspielen. Es wurde sogar immer stärker, vor allem wenn sie in der Diele an einem gewissen Zimmer vorbeilief, auch wenn sie krampfhaft versuchte, genau dieses Zimmer auszublenden. An dessen Tür hing nämlich ein buntes Schild, auf dem das Wort ›Lukas‹ zu lesen war. Endlich blieb Corinna doch vor der Tür stehen, zögerlich drückte sie die Klinke herunter und ging hinein.

Corinna und Achim hatten das Zimmer für Lukas längst eingerichtet. Achim hatte es selbst tapeziert und mit hellen, fröhlichen Farben gestrichen. In der Mitte stand eine wunderschöne Kinderwiege, über die sich ein zarter Schleier breitete. Über dem Wickeltisch schwebte ein Mobile mit fantasievollen Vögeln, die Corinna aus bunten Federn gebastelt hatte. Auch die hübschen Vorhänge hatte sie selbst genäht, dazu hatte sie hellgelben Stoff gewählt, auf dem lustige kleine Bären und andere Tierchen aufgedruckt waren. In einem Regal lagen bereits die niedlichsten Babysachen. Corinna nahm ein paar Strümpfchen heraus und betrachtete sie.

Plötzlich konnte sie nicht länger an sich halten. Mit aller Gewalt brach der Schmerz über ihr verlorenes Kind aus ihr heraus, wie ein Sturzbach strömten die Tränen über ihre Wangen. Corinna ließ sich in den lindgrünen Sessel fallen, den Achim in einer Ecke des Zimmers aufgestellt hatte, und presste die Strümpfchen fest gegen ihre Augen. Dabei begann ihr Körper wie von selbst vor und zurück zu schaukeln. Lange saß Corinna so in Lukas‹ Zimmer, das nun für immer leer bleiben würde, dabei weinte sie, bis sie keine Tränen mehr hatte.

Am nächsten Tag fuhr Corinna wieder zu Achim in die Klinik, dort blieb sie mehrere Stunden an seinem Bett. Danach mochte sie jedoch nicht gleich wieder nach Hause gehen. Also suchte sie die Cafeteria auf, die zur Klinik gehörte. Dort holte sie sich an der Theke einen Kaffee und ein Stück Kuchen und setzte sich an einen Tisch. Von hier konnte man durch eine Glaswand in den Klinikpark schauen, wo unzählige Wildkrokusse auf den Rasenflächen blühten. Corinna war von dem Anblick so verzaubert, dass sie nicht einmal merkte, dass jemand von hinten an sie herantrat.

»Corinna? Bist du das?«, ertönte plötzlich eine Stimme.

Sofort drehte sie sich um. »Regine? Du?«

»Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«, sagte Regine Nielsen und setzte sich zu Corinna an den Tisch.

»Nicht mehr seit unserer Schulzeit«, lächelte Corinna, als sie ihre frühere Mitschülerin wiedererkannte.

»Fünfzehn, zwanzig Jahre?«, überlegte Regine. »Wie schnell doch die Zeit vergeht! Du hast irgendwann unsere Schule verlassen und bist fortgezogen. Wo warst du denn die ganze Zeit? Was hast du denn so gemacht?«

Corinna erklärte, dass ihre Eltern eine Gärtnerei in Greifswald geerbt hatten, also war ihre Familie nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen. »Ich bin auf eine Schule in Greifswald gewechselt«, berichtete sie. »In dieser Zeit habe ich meinen Eltern oft in der Gärtnerei geholfen. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Meine Eltern hätten es auch gerne gesehen, wenn ich nach der Schule in der Gärtnerei geblieben wäre. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte eine Ausbildung zur Kinderschwester machen.«

»Und hast du diese Ausbildung gemacht?«

»Ja«, nickte Corinna und nippte an ihrem Kaffee.