Bist du es wirklich? - Carina Lind - E-Book

Bist du es wirklich? E-Book

Carina Lind

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Bist du es wirklich? Eigentlich hätte es ein romantischer Abend werden sollen, und zu Anfang war es das auch. Harald und Silke waren zum ›Maibacher Hof‹ gefahren, um bei Kerzenlicht fürstlich zu speisen. Sie kannten sich jetzt seit zwei Jahren, und sie waren so verliebt wie am ersten Tag. Und, wer weiß, vielleicht würden sogar schon bald die Hochzeitsglocken läuten ... »Die geräucherte Lachsforelle ist einfach traumhaft«, sagte Silke, indem sie noch ein Stück auf ihre Gabel spießte und Harald dabei schelmisch zuzwinkerte. »Die gefüllte Avocado ist ebenfalls köstlich«, meinte Harald und lächelte Silke charmant an. »Aber noch viel, viel köstlicher bist natürlich du.« »Soso, du willst mich also nachher vernaschen?« »Wer weiß ... warum eigentlich nicht?« Harald griff über den Tisch hinweg nach Silkes Hand und drückte sie. Während sich Harald und Silke ihre Vorspeise schmecken ließen, nahmen sie sich alle Zeit der Welt, um miteinander zu schäkern, zu plaudern und sich über die neusten Nachrichten auszutauschen, welche Maibach und die umliegenden Städtchen und Dörfer zu bieten hatten. Silke arbeitete als Hausmeisterin am Maibacher Gymnasium, und da hörte man immer so dies und das. Harald war in Sophienlust angestellt, einem Kinderheim ganz in der Nähe. Jeden Morgen brachte er die größeren Kinder von dort zum Gymnasium, mittags holte er sie wieder ab, um sie wieder zurückzubringen. Was Harald von Sophienlust zu berichten wusste, interessierte auch Silke sehr. Nach der Vorspeise brachte der Ober das Hauptgericht, Rumpsteaks mit Kräuterbutter, dazu Dauphin-Kartoffeln und einen frischen Salat der Saison.

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Seitenzahl: 128

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust - Die nächste Generation – 376 –Bist du es wirklich?

Dieses Wiedersehen hatte keiner erwartet

Carina Lind

Eigentlich hätte es ein romantischer Abend werden sollen, und zu Anfang war es das auch. Harald und Silke waren zum ›Maibacher Hof‹ gefahren, um bei Kerzenlicht fürstlich zu speisen. Sie kannten sich jetzt seit zwei Jahren, und sie waren so verliebt wie am ersten Tag. Und, wer weiß, vielleicht würden sogar schon bald die Hochzeitsglocken läuten ...

»Die geräucherte Lachsforelle ist einfach traumhaft«, sagte Silke, indem sie noch ein Stück auf ihre Gabel spießte und Harald dabei schelmisch zuzwinkerte.

»Die gefüllte Avocado ist ebenfalls köstlich«, meinte Harald und lächelte Silke charmant an. »Aber noch viel, viel köstlicher bist natürlich du.«

»Soso, du willst mich also nachher vernaschen?«

»Wer weiß ... warum eigentlich nicht?« Harald griff über den Tisch hinweg nach Silkes Hand und drückte sie.

Während sich Harald und Silke ihre Vorspeise schmecken ließen, nahmen sie sich alle Zeit der Welt, um miteinander zu schäkern, zu plaudern und sich über die neusten Nachrichten auszutauschen, welche Maibach und die umliegenden Städtchen und Dörfer zu bieten hatten. Silke arbeitete als Hausmeisterin am Maibacher Gymnasium, und da hörte man immer so dies und das. Harald war in Sophienlust angestellt, einem Kinderheim ganz in der Nähe. Jeden Morgen brachte er die größeren Kinder von dort zum Gymnasium, mittags holte er sie wieder ab, um sie wieder zurückzubringen. Was Harald von Sophienlust zu berichten wusste, interessierte auch Silke sehr.

Nach der Vorspeise brachte der Ober das Hauptgericht, Rumpsteaks mit Kräuterbutter, dazu Dauphin-Kartoffeln und einen frischen Salat der Saison. Als Harald sein Rumpsteak probierte, sagte er, wie froh er war, dass er für Sophienlust arbeiten konnte. »Sophienlust ist wirklich ein Kinderheim der ganz besonderen Art«, meinte Harald. »Ich glaube sogar, ein besseres gibt es nicht auf der Welt.«

»Ja, ich weiß«, nickte Silke. »Viele der Kinder sind an unserer Schule. Wie du weißt, ist unser Gymnasium recht klein, da ist es kein Wunder, dass ich sie alle kenne. Und ich weiß, dass sie in Sophienlust sehr glücklich sind. Auch die Betreuerinnen, Tante Ma und Schwester Regine, scheinen sehr nett zu sein. Die Kinder haben nur Gutes von ihnen berichtet. Am liebsten aber mögen sie Nick.«

»Ja, Nick. Obwohl er noch so jung ist, versteht er sich bestens darauf, das Heim zu leiten. Nick ist wirklich ein ganz besonderer Mensch. Wir dürfen aber auch Magda, die Köchin, nicht vergessen. Magda ist wirklich sehr patent. Wie gut, dass es eine Einrichtung wie Sophienlust gibt! In meiner Kindheit habe ich etwas ganz anderes erlebt. Kinderheime, die richtig gruselig waren.«

»Du hast gruselige Kinderheime kennengelernt? Als du ein Kind warst? Wie meinst du denn das?«

»Ach, Silke«, sagte Harald mit einem tiefen Seufzer. »Lass uns jetzt nicht darüber sprechen. Wir wollen uns den schönen Abend doch nicht verderben.«

Silke blickte Harald verständnislos an, dann wandte sie sich wieder der Köstlichkeit auf ihrem Teller zu. Obwohl das Rumpsteak exzellent war, konnte Silke es jetzt nicht mehr so richtig genießen. Wurde ihr doch plötzlich bewusst, dass Harald noch nie über seine Kindheit gesprochen hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn danach gefragt hatte, hatte er schnell das Thema gewechselt. Bisher hatte Silke sich nicht viel dabei gedacht, doch jetzt wurde ihr klar, dass es da etwas geben musste, was ihn in tiefster Seele schmerzte. Doch Silke wollte ihren Finger nicht sofort in die Wunde legen, sie wollte bis nach dem Nachtisch warten. Also fing sie wieder damit an, das Neueste aus Maibach zu berichten.

Nach dem Hauptgang bestellten sich Harald und Silke noch einen Eisbecher nach Art des Hauses. Ein wahrer Hochgenuss mit Nougat, Krokant und heißen Kirschen. Nachdem Silke ihren Becher zur Hälfte geleert hatte, hielt sie es nicht mehr aus. Sie blickte Harald direkt in die Augen und sagte rundheraus: »Du hast mir noch nie von deiner Kindheit erzählt. Ich möchte aber alles über dich wissen. Auch den Teil, der vielleicht nicht so schön war. Die Andeutung, die du vorhin gemacht hast, geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«

»Ich habe eine Andeutung gemacht? Was meinst du damit?«, versuchte Harald auszuweichen.

»Du sagtest, dass du Kinderheime erlebt hast, die richtig gruselig waren. Warst du denn in einem Kinderheim? Als du ein Kind warst? In einem Waisenhaus vielleicht?«

Harald senkte den Kopf und rieb sich erst über die Augen, dann über die Stirn. Endlich blickte er Silke wieder an und sagte leise: »Ja, ich war in einem Kinderheim, und nicht nur in einem. Es waren zwei verschiedene und ...« Haralds Stimme brach mitten im Satz ab. Harald wandte sich wieder seinem Eisbecher zu, schweigend, sehr langsam und sehr bewusst verzehrte den letzten Rest. Schließlich legte er seinen Löffel beiseite und sagte: »Nach dem Bezahlen würde ich gerne noch einen kleinen Spaziergang mit dir machen, Silke. Dann erzähle ich dir alles, wenn du willst.«

»Natürlich möchte ich das.«

Inzwischen hatte auch Silke ihren Eisbecher geleert, Harald winkte den Ober heran und bat ihn, die Rechnung auszustellen.

Nachdem Harald und Silke den ›Maibacher Hof‹ verlassen hatten, stiegen sie in Silkes Auto und fuhren ein Stück aus der Stadt hinaus. Etwas außerhalb gab es nämlich die Sonnenaue, einen kleinen Park, in dem jetzt, im Frühling, der Flieder so herrlich blühte. Schon auf dem Parkplatz konnte man den köstlichen Duft genießen. Ein laues Lüftchen wehte nämlich bis dorthin. Silke hängte sich bei Harald ein, als sie gemeinsam in die Sonnenaue gingen.

Mittlerweile hatte es bereits angefangen zu dämmern, die Mondsichel schob sich über den Horizont, und die Venus glänzte als funkelnder Abendstern über den Fliederbüschen. Eine lange Zeit gingen beide schweigend nebeneinander her. Ob und an blickte Silke ihren Harald von der Seite an, und der schien tief in seine Gedanken versunken. Obwohl Silke förmlich darauf brannte, endlich Haralds Lebensgeschichte zu hören, sagte sie nichts. Offensichtlich brauchte er noch Zeit, und die wollte sie ihm natürlich gönnen.

Endlich hatten sie einen kleinen Brunnen erreicht, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Harald und Silke setzten sich auf eine der Bänke. Harald legte einen Arm um Silke, sie rückte ganz nahe an ihn heran und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Noch immer schweigend saßen sie lange so nebeneinander. Dann nahm Harald plötzlich seinen Arm herunter und rieb sich über die Stirn. »Als ich zwei Jahre alt war, hat man mich meiner Mutter weggenommen«, sagte er. »Jedenfalls haben mir das meine Adoptiveltern erzählt.«

»Und was war mit deinem leiblichen Vater?«

»Keine Ahnung. Mein Adoptivpapi meinte, mein Vater sei unbekannt.«

»Du bist also ein Adoptivkind? Das seine Mutter nicht kennt und seinem Vater niemals begegnen wird?«, entfuhr es Silke.

»Meine Adoptiveltern waren wirklich gut zu mir. Sie haben mich wirklich geliebt. Albert und Elfriede hießen sie. Sie waren schon sehr alt, als sie mich zu sich genommen haben. Da war ich schon acht.«

»Und was war vorher? In den Jahren davor?«

»Horror. Blanker Horror, das kann ich dir sagen«, seufzte Harald und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Wie schon gesagt, war ich in zwei verschiedenen Kinderheimen. An das erste Heim kann ich mich nicht mehr erinnern, da war ich noch zu klein. Ich weiß aber von meinem Adoptivpapi, dass es irgendwann geschlossen wurde, weil es irgendwelche schrecklichen Vorkommnisse gegeben hatte. Was, weiß ich nicht, das wollte Albert mir nicht sagen, und fragen kann ich ihn nicht mehr, er ist leider schon tot. Auch Elfriede kann man nicht mehr fragen, sie ist kurz nach Albert gestorben. Trotzdem ist mir bewusst, dass ich, was auch immer passiert ist, davon weiß. Es ist irgendwo ganz tief in meinem Unterbewusstsein versteckt. Manchmal sehe ich in meinen Träumen stockdunkle Räume, und ich höre Kinder schreien. Dann wache ich schweißgebadet auf.«

»Oh du Armer. Das wusste ich ja gar nicht.«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen, zum Glück passiert mir das nur selten. - Wie dem auch sei, als ich in das zweite Heim kam, war ich sechs, da werden die Erinnerungen schon deutlicher. Ich erinnere mich an Muckefuck und an das immer gleiche, dünne Herz-Jesu-Süppchen, das es jeden Tag gab. Die Kartoffeln und das Gemüse, die man uns danach serviert hat, waren auch nicht besser. Tausendmal durchgekocht und abgestanden. Dazu die immer gleiche pampige Soße! Es gruselt mich noch heute, wenn ich nur daran denke! Das war aber nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war ›Christophers Gang‹, wie sie sich nannte.«

»›Christophers Gang‹? Was soll das denn sein?«

»Es waren drei Jungs. Ein, zwei Jahre älter als ich. Die hatten aus irgendeinem Grund, den ich mir bis heute nicht erklären kann, einen Pik auf mich. Also haben sie mir bei jeder Gelegenheit aufgelauert und mich aufs Übelste malträtiert. Ich bin wirklich kein Schlappschwanz, und damals war ich es auch nicht. Aber Einer gegen drei, die dazu noch älter waren, da hatte ich natürlich keinerlei Chance.«

»Und die Erzieher? Hast du denen denn gar nichts gesagt?«

»Doch. Zuerst ja. Aber sie haben mir nicht geglaubt, haben alles rundheraus abgestritten. Dieser Christopher war nämlich das Lieblingskind von Hartmut Knittel, einem unserer Betreuer. Und in den Augen von ›Christophers Gang‹ war ich natürlich eine blöde Petze. Da haben sie es noch ärger getrieben. Aber nicht lange, dann habe ich ..., dann habe ich ...« Über Haralds Gesicht huschte ein Grinsen, ehe er fortfuhr. »Dann bin ich diesem Christopher einmal ganz zufällig alleine begegnet, ohne seine beiden Spießgesellen. Spät abends auf dem Hof, der zu unserem Heim gehörte. Ich hatte eine solche Wut in mir, dass ich auf ihn zugestürmt bin. Ich wollte ihm tatsächlich die Nase einschlagen, doch ich habe es nicht getan, kurz vor seinem Gesicht habe ich gestoppt. Christopher hat sich jedoch so erschrocken, dass er zu Boden gestürzt ist und sich dabei das Gesicht aufgeschrammt hat. Der fiese Knittel hat es vom Fenster aus gesehen, er ist sofort nach draußen gerannt, um sein Lieblingskind zu trösten. Und ich war der böse Bube, der gemeine Schläger, der drei Tage in den eiskalten Keller gesperrt wurde.«

»Wie bitte?!«, rief Silke empört. »Man hat dich drei Tage lang in den Keller gesperrt?!«

»Es war so eine Art Karzer und ...«

»Was? Und das in den Siebzigerjahren! In der Zeit der freien Liebe! Und der antiautoritären Erziehung!«

»Natürlich, was denkst du denn? Nach den drei Tagen war ich sterbenskrank, ich hatte mir in dem kalten Keller eine Grippe geholt. Trotzdem musste ich in die Schule gehen, da gab es kein Pardon. Glücklicherweise hatte ich damals eine sehr nette Lehrerin. Der konnte ich mein Herz ausschütten, und sie hat mir sogar geglaubt. Sie hatte Mitleid mit mir, und dann hat sie sich dafür eingesetzt, dass ich in ein anderes Kinderheim komme. Dort hatte ich ›Christophers Gang‹ endlich vom Hals. Ansonsten war es in dem neuen Kinderheim auch nicht viel besser. Mittags gab es dasselbe Herz-Jesu-Süppchen, abends genau zwei Schnitten Brot mit Margarine und einem hauchdünnen Käsescheibchen, nicht mehr. Ansonsten nur Härte und Lieblosigkeit, scharfe Kommandos und drastische Strafen. Niemand, der einen mal in den Arm genommen hätte. Niemand, der ein Lob oder ein freundliches Wort ausgesprochen hätte.«

»Das tut mir so leid«, sagte Silke voller Mitgefühl. »Jetzt kann ich verstehen, dass du darüber nie sprechen wolltest.«

»Es fällt mir auch jetzt nicht leicht. Allerdings gab es dann doch noch eine glückliche Wende. Albert und Elfriede sind nämlich ins Kinderheim gekommen, weil sie ein Kind zu sich nehmen wollten, und sie haben mich ausgesucht, obwohl ich schon acht Jahre alt war. Eigentlich war ich schon viel zu alt, um das Interesse von irgendwem zu erregen. Fast alle, die ein Kind adoptieren, wollen ein Baby oder ein Kleinkind. Bei Albert und Elfriede war es jedoch anders. Sie wollten ein Kind, das schon aus dem Gröbsten heraus ist, wie sie mir später erklärt haben. Sie waren zu dem Zeitpunkt nämlich schon sehr alt, zu alt für ein Kleinkind, wie sie meinten. Aber ein Kind wollten sie unbedingt. Bei ihnen war ich dann endlich sehr gut aufgehoben.«

Harald legte eine Pause ein, wie geistesabwesend blickte er auf die Lichter, die auf dem Wasser des Brunnens tanzten. Inzwischen war die Mondsichel ein Stück weiter über den Himmel gewandert, sie stand direkt neben dem schönen Abendstern. Die Luft war jetzt, im Mai, schon angenehm warm, doch Harald schien zu frösteln. »Mir wird kalt«, sagte er. »Lass uns zum Auto zurückgehen.«

Auf dem Weg zum Parkplatz hatte Silke sich wieder bei ihm eingehängt. »Wer deine Mutter ist, weißt du nicht?«, fragte sie nach einer Weile.

»Nein. Ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.«

*

In der Nacht konnte Silke nur unruhig schlafen. Haralds Lebensgeschichte ging ihr nicht aus dem Kopf. Trotzdem musste sie natürlich sehr früh aufstehen. Also huschte sie schnell ins Bad, danach gönnte sie sich einen starken Kaffee und zwei dick belegte Käsestullen, wobei sie dann wieder an Harald denken musste. Was hatte der arme Kerl doch alles durchlitten! Und sie hatte nichts davon gewusst! Immer wieder tauchte der kleine Harald vor ihrem inneren Auge auf, wie er zitternd und frierend im kalten Keller hockte, auch dann noch, als sie in die Diele ging und ihre Jacke anzog. Zum Schluss folgte noch ein schneller Blick in den Spiegel, um die Strähnchen ihrer feschen Kurzhaarfrisur modisch zu zupfen, dann eilte sie schnellen Schrittes aus dem Haus.

Von Silkes Wohnung bis zum Maibacher Gymnasium war es nicht weit, und sie liebte es, morgens als Erste dort zu sein. Von der Eingangshalle führte eine Treppe in den Souterrain, wo sich ihre Werkstatt befand. An der Tür prangte ein buntes Schild mit der Aufschrift ›Silkes Kleines Paradies‹, welches die Kinder der fünften Klasse für sie gemalt hatten.

Als Silke die Tür öffnete, offenbarte sich in der Tat ein kleines Paradies. Hatte sie doch die Wände mit Ansichtskarten beklebt und überall Souvenirs aufgestellt, die sie von ihren Urlaubsreisen mitgebracht hatte. Silke liebte Souvenirs über alles, ganz besonders dann, wenn sie so richtig kitschig waren.

Silke trat an ihre Werkbank und betrachtete die beiden Stühle, die darauf standen. Die Stühle stammten aus der Aula und hatten neu verleimt werden müssen. Silke prüfte ganz genau, ob auch alles wieder so stabil war, dass es auch dem ärgsten Zappelphilipp standhalten würde. Schließlich war sie zufrieden und setzte die Stühle auf den Boden. Zuerst wollte sie einen nach dem anderen zur Aula tragen, doch dann hätte sie zweimal laufen müssen, und dazu hatte sie keine Lust. Also versuchte sie, beide gleichzeitig zu tragen, einen unter den linken Arm geklemmt, den anderen unter den rechten. Das war ziemlich unbequem, zumal die Stühle auch recht schwer waren, doch irgendwie schaffte sie es, sie aus ihrer Werkstatt zu bugsieren und über die Treppe bis in die Eingangshalle zu schleppen.

»Können wir Ihnen helfen?«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Silke stellte die Stühle auf den Boden und drehte sich um. In der Eingangshalle standen ein Mann mittleren Alters und ein Junge, der vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt sein mochte. Silke kannte jeden, der zum Gymnasium gehörte, auch die Eltern der Schüler, doch diese beiden hatte sie noch nie gesehen. »Sie können mir sehr gerne helfen. Schwache Frauen wie ich können jede Hilfe gut gebrauchen«, sagte sie keck, obwohl sie keineswegs eine schwache Frau war, ganz im Gegenteil. Silke war nämlich ziemlich clever.

Der Fremde lächelte Silke freundlich an und griff nach einem der Stühle, und der Junge schnappte sich den anderen. »Wo sollen wir die denn hintragen?«, fragte er.