Der Junge mit dem besonderen Talent - Carina Lind - E-Book

Der Junge mit dem besonderen Talent E-Book

Carina Lind

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Sebastian, du?«, wunderte sich Florentine, als sie ihren sechzehnjährigen Sohn in den Sonnenschein-Kindergarten kommen sah. »Ja, Mama«, sagte der Junge. »Unsere Zeichenlehrerin ist plötzlich krank geworden. Deshalb habe ich zwei Freistunden. Die wollte ich nicht in der Schule verbringen. Also dachte ich, ich springe mal kurz zu dir rüber.« »Prima«, freute sich Florentine. »Da kannst du mir direkt helfen, die Tretroller und andere Spielgeräte aus dem Lager zu holen. Endlich hat der Regen aufgehört, da möchten unsere Kleinen natürlich nach draußen.« Sebastian war ein freundlicher Junge, er folgte seiner Mutter gerne in das Souterrain, wo sich das Lager befand. Dort schnappte er sich so viele Tretroller, wie er nur tragen konnte. Florentine füllte ein Netz mit Bällen und Spielzeug für den Sandkasten. Als Mutter und Sohn die Treppe wieder hinaufkamen, tobte gerade eine wilde Horde Kinder über den Flur. Als sie Sebastian sahen, stürmten sie sofort auf ihn zu. »Basti ist da! Basti ist da!«, krähte ein kleiner Junge mit fuchsrotem Haar.

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Seitenzahl: 129

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust - Die nächste Generation – 84 –

Der Junge mit dem besonderen Talent

Unveröffentlichter Roman

Carina Lind

»Sebastian, du?«, wunderte sich Florentine, als sie ihren sechzehnjährigen Sohn in den Sonnenschein-Kindergarten kommen sah.

»Ja, Mama«, sagte der Junge. »Unsere Zeichenlehrerin ist plötzlich krank geworden. Deshalb habe ich zwei Freistunden. Die wollte ich nicht in der Schule verbringen. Also dachte ich, ich springe mal kurz zu dir rüber.«

»Prima«, freute sich Florentine. »Da kannst du mir direkt helfen, die Tretroller und andere Spielgeräte aus dem Lager zu holen. Endlich hat der Regen aufgehört, da möchten unsere Kleinen natürlich nach draußen.«

Sebastian war ein freundlicher Junge, er folgte seiner Mutter gerne in das Souterrain, wo sich das Lager befand. Dort schnappte er sich so viele Tretroller, wie er nur tragen konnte. Florentine füllte ein Netz mit Bällen und Spielzeug für den Sandkasten. Als Mutter und Sohn die Treppe wieder hinaufkamen, tobte gerade eine wilde Horde Kinder über den Flur. Als sie Sebastian sahen, stürmten sie sofort auf ihn zu. »Basti ist da! Basti ist da!«, krähte ein kleiner Junge mit fuchsrotem Haar.

»Basti, mein Freund!«, sagte ein Mädchen mit blonden Locken und schaute wie verliebt zu ihm auf. Dabei versuchte die Kleine, Sebastians Hand zu ergreifen. Doch wegen der Roller, die sich Sebastian unter den Arm geklemmt hatte, klappte das leider nicht. »Basti mit nach draußen!«, verlangte ein anderes Mädchen und strahlte ihn aus großen blauen Augen an.

Sebastian war bei allen Kindern, die den Sonnenschein-Kindergarten besuchten, sehr beliebt. Seine Mutter Florentine arbeitete dort als Kindergärtnerin, und wann immer Sebastian ins Haus kam, scharten sich sofort alle um ihn. Zusammen mit der ganzen Gruppe ging er nach draußen, wo er die Roller auf den Boden stellte. Sofort grapschte die blondlockige Kleine wieder nach Sebastians Hand, um ihn zur Schaukel zu ziehen. »Lilly will schaukeln!«, rief sie dabei voller Vorfreude. »Basti ist mein Freund! Basti muss mich anstupsen!«

Dem hatte Sebastian natürlich nichts entgegenzusetzen. Lachend folgte er der Kleinen zur Schaukel und stupste sie an. Natürlich gab es nicht nur eine Schaukel auf dem Spielgerät, sondern noch drei weitere, und die waren auch sofort besetzt. Die anderen Kinder wollten ebenfalls angestupst werden, so hatte Sebastian bald viel zu tun.

Nachdem Florentine die Bälle und das übrige Spielzeug verteilt hatte, setzte sie sich auf eine der Bänke. Jetzt, wo die Kinder endlich wieder nach draußen konnten, waren sie so miteinander beschäftigt, dass es für Florentine im Moment nichts weiter zu tun gab. Sie konnte sich eine Pause gönnen, dabei behielt sie die lieben Kleinen auf der Anlage natürlich ständig im Auge. Nach einer Weile kam Nicole, die neue Praktikantin, zu ihr und setzte sich neben sie.

»Sebastian ist wirklich ein Schatz«, bemerkte Nicole. »Alle unsere Kinder lieben ihn. Dabei ist er so ruhig und bescheiden. Und so sensibel. Ganz anders als viele andere Jungs in seinem Alter. – Er ist jetzt dreizehn? Oder irre ich mich?«

»Ja«, bestätigte Florentine. »Aber in drei Wochen wird er schon vierzehn. Manchmal kann ich gar nicht verstehen, wie schnell die Zeit doch vergeht.«

»Und ausgesprochen hübsch ist er auch«, redete Nicole immer weiter. »Komisch, dass er dir überhaupt nicht ähnlich sieht. Wahrscheinlich kommt er auf seinen Vater.«

»Aha, ich bin also nicht hübsch?!«, bemerkte Florentine.

»So habe ich es nicht gemeint.« Nicole wurde mit einem Schlag puterrot. Verlegen wandte sie sich von Florentine ab. Doch dann siegte ihre Neugier. »Schade, dass man Sebastians Vater noch nie zu Gesicht bekommen hat. Er hat dich noch nie vom Kindergarten abgeholt, Florentine. Er war auch nicht auf unserem Frühlingsfest. Ich hätte deinen Mann wirklich gerne einmal kennengelernt. Warum kommt er niemals hierher?«

»Sebastians Vater und ich sind nicht zusammen. Ich bin alleinerziehend.« Rasch stand Florentine wieder von der Bank auf. »An den Schaukeln herrscht Hochbetrieb«, bemerkte sie im Weggehen. »Ich muss aufpassen, dass Sebastian und die Kinder es nicht zu dolle treiben.«

Natürlich wusste Florentine, dass sie sich auf ihren Sohn verlassen konnte. Doch auf Nicoles Fragen hatte sie überhaupt keine Lust. Deshalb ging sie zu den Schaukeln hinüber und stellte sich neben ihren Sohn. Sie konnte zu Recht stolz auf ihn sein. Sebastian verstand sich hervorragend darauf, mit kleinen Kindern umzugehen.

Während auch sie nun anfing, die Kleinen anzustupsen, gingen ihr Nicoles Bemerkungen nicht aus dem Kopf. Wie sehr hatte sie Stefan damals geliebt! Und wie jung sie noch gewesen war! Gerade einmal achtzehn Jahre alt! Jung und naiv und blind vor Liebe! Doch nach einem heißen Sommerflirt war Stefan plötzlich aus ihrem Leben verschwunden. Sie hatte nie wieder von ihm gehört. Alles, was ihr geblieben war, war Sebastian, und der war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Florentine hatte die Schwangerschaft erst einige Wochen nach Stefans Verschwinden bemerkt, er hatte keine Ahnung, dass er Vater geworden war, und das war auch gut so. Florentine war mit sich und dem Leben, das sie mit Sebastian in Rothenstedt führte, vollkommen zufrieden.

Nach einer Weile wurde es den Kindern zu langweilig zu schaukeln, jetzt wollten sie lieber klettern. »Basti mitkommen! Basti mitkommen«, forderten einige und zogen den Jungen mit sich fort. Andere griffen nach Florentines Hand, sodass auch sie sich bald am Klettergerüst wiederfand. An der Seite gab es ein dickes, knallrotes Tau, über das man balancieren konnte. Dazu ein dünneres Seil, das zum Festhalten diente. Trotzdem fiel den Kleinen das Balancieren noch schwer. Sebastian musste den Kindern der Reihe nach helfen, und das tat er gerne.

Schaukeln, Klettern, Balancieren, und danach das Burgenbauen im Sandkasten, die Zeit verging wie im Fluge. Schließlich musste Florentine ihren Sohn daran erinnern, zur Schule zurückzukehren.

Das Petri-Gymnasium lag auf der anderen Straßenseite, dem Kindergarten schräg gegenüber. Als Sebastian das Eingangstor passierte, blickte er sich kurz um, um nach Marlon und seiner Clique Ausschau zu halten. Doch Marlon und seine Kumpel waren nirgends zu sehen, erleichtert atmete Sebastian auf. Dann wandte er sich zur Seite, wo einige Schüler aus seiner Klasse unter den großen Kastanienbäumen standen und miteinander herumalberten.

Nach wenigen Schritten spürte Sebastian, wie jemand von hinten nach seinem Sweatshirt griff und es festhielt. Hastig drehte sich Sebastian um. Marlon!, fuhr es ihm durch den Kopf, wo kommt der denn plötzlich her? Wie aus dem Nichts war dieser Quälgeist aufgetaucht! Wahrscheinlich hatte sich Marlon hinter einem der Baumstämme versteckt, um Sebastian von dort aufzulauern.

»Da kommt ja unser Muttersöhnchen!«, höhnte Marlon und setzte ein breites Grinsen auf. »Na, warst du wieder bei deiner Mami? Drüben im Kindergarten? Hast du schön mit den lieben Kleinen gespielt?«

»Lass mich gefälligst in Ruhe! Und fass mich gefälligst nicht an!« Mit einer ruckartigen Bewegung riss sich Sebastian von Marlon los, um zu seinen Klassenkameraden zu gehen.

»Ja, ja, lauf‘ nur zu den anderen!«, rief Marlon hinter ihm her. »Wahrscheinlich sollen sie dich vor mir beschützen, du empfindliches Weichei!«

Sebastian drehte sich kurz um und warf Marlon einen vernichtenden Blick zu. In diesem Moment läutete die Schulglocke. Sebastian beeilte sich, ins Schulgebäude zu kommen.

*

Marlon und seine Kumpel, Kuno und Yannik, waren für Sebastian ein echtes Problem. Wann immer Sebastian zum Gymnasium kam, wann immer er nach Schulschluss nach Hause wollte, - sie lauerten ihm auf, um ihn zu ärgern. Am liebsten hätte er Marlon eins auf die Nase gegeben. Aber der war einen Kopf größer als er selbst, außerdem fast zwei Jahre älter, weil er schon einmal sitzen geblieben war. Doch das war nicht das Entscheidende. Der Grund war, dass Sebastian sich nicht mit anderen schlagen wollte, auch wenn Marlon es manchmal verstand, ihn zur Weißglut zu treiben. Wenn dann noch Yannick und Kuno bei ihm waren, hätte Sebastian sowieso keine Chance gehabt.

Also zog er es vor, die fiesen Hänseleien, die ihm entgegengebracht wurden, zu ignorieren. Doch irgendwann hielt er es nicht mehr aus.

Eines Morgens, zu Hause beim Frühstück, knallte er plötzlich sein Butterbrotmesser neben sich auf den Tisch. »Ich gehe nicht mehr in die Schule«, sagte er dabei lauthals.

»Aber wieso denn, mein Schatz?« Florentine war völlig verblüfft.

»Ich habe keine Lust mehr, mich ständig ärgern zu lassen.«

»Aber wer ärgert dich denn?«

»Es ist Marlon aus der neunten Klasse. Marlon ist erst kürzlich an unsere Schule gekommen. Er hält sich für etwas Besseres, weil er aus Würzburg stammt. Weil das eine Großstadt ist und unser Rothenstedt nur ein Kuhdorf. Jedenfalls hat Marlon gesagt, dass es ein Kuhdorf ist.«

»Na und? Dann ist Rothenstedt eben ein Kuhdorf, auch wenn es nicht stimmt, weil es kein Dorf, sondern eine Kleinstadt ist. Und überhaupt, - wen interessiert es, was dieser Marlon von Rothenstedt hält? Mir jedenfalls gefällt es hier sehr gut. Ich möchte überhaupt nicht woanders wohnen.« Florentine langte nach dem Brötchenkorb und nahm eine Semmel heraus, um sie mit Butter und Honig zu bestreichen.

»Marlon ist total eingebildet, dabei ist er wirklich nicht sonderlich schlau. Vor allem in Mathe ist er eine Niete. Deshalb ist er auch schon einmal sitzen geblieben. Trotzdem riskiert er eine große Klappe, vor allem mir gegenüber.«

»Wahrscheinlich ist er neidisch, weil du so gut in Mathe bist.«

»Marlon hat tausend Gründe, um mich zu ärgern. Er erfindet immer wieder neue. Das ist aber nicht einmal das Schlimmste. Er hat Kuno und Yannik aus der neunten Klasse auf seine Seite gezogen. Gegen diese Dreierbande habe ich natürlich keine Chance.«

»Es ist nicht dieser Marlon allein? Er sind noch zwei andere bei ihm?« Hatte Florentine die ganze Geschichte anfangs nicht sonderlich ernst genommen, so war sie jetzt ehrlich entsetzt. »Du wirst von einer ganzen Gruppe so fies behandelt und schikaniert? Warum hast du mir das nicht schon längst erzählt?« Das Honigbrötchen wollte Florentine plötzlich überhaupt nicht mehr schmecken.

»Ich wollte es für mich behalten, um dich nicht zu beunruhigen. Ich dachte, dass ich alleine damit klarkommen muss.« Sebastian senkte den Kopf und bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in das Leberwurstbrot, das vor ihm auf dem Frühstücksbrett lag.

»Aber Schatz! Du kannst mir doch immer alles erzählen! Wir haben uns einmal versprochen, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben! – Und jetzt erzähle mir bitte haarklein, was Marlon und seine Gruppe so alles treiben!«

Also fing Sebastian an zu erzählen. Dass er als ›Muttersöhnchen‹ und ›Weichei‹ bezeichnet wurde, dass man ihn ›trotteligen Professor‹, ›Besserwisser‹ und ›Streber‹ nannte, und was der Schmähworte mehr waren. Dass Marlon und seine Clique ihm manchmal auch außerhalb des Schulgeländes auflauerten. Dass sie ihm neulich seine Schultasche entrissen und den Inhalt auf dem Boden gestreut hatten. Dass sie versucht hatten, ihm sein Handy zu stehlen, doch das war ihnen nicht gelungen, er hatte nämlich davonlaufen können. »Zum Glück bin ich nicht nur gut in Mathe«, sagte Sebastian. »Zum Glück bin ich auch gut in Sport.«

»Das hört sich ja wirklich schlimm an! Ich werde noch heute mit deiner Klassenlehrerin sprechen!«, rief Florentine erbost.

»Das will ich aber nicht!«, sagte Sebastian. »Wenn Marlon das erfährt, wird alles noch viel schlimmer. Dann bin ich wieder der Schlappschwanz, der an Mamis Rockzipfel hängt.«

»Unsinn! Das lassen wir uns nicht bieten! Auf gar keinen Fall! Ich gehe nachher zur Schule rüber und rede mit Frau Brück! Und für die Zukunft bitte ich dich dringend, mein Sohn: Hab keine Geheimnisse mehr vor mir!«

Sebastian hob seinen Kopf und blickte seine Mutter lange an. »Okay«, seufzte er schließlich. »In Zukunft habe ich keine Geheimnisse mehr vor dir.«

*

Noch am selben Tag telefonierte Florentine mit dem Sekretariat des Petri-Gymnasiums, um einen Termin bei Frau Brück zu vereinbaren. Nach Schulschluss stand noch eine Dienstbesprechung an, danach wollte sich Sebastians Klassenlehrerin Zeit nehmen. Dies erklärte die Sekretärin Florentine am Telefon, nachdem sie mit Frau Brück Rücksprache gehalten hatte. Um 17 Uhr würde die Dienstbesprechung beendet sein. Zu dieser Zeit sollte sich Florentine in Raum 201 einfinden.

Florentine kam auf die Minute pünktlich. Raum 201 war geöffnet, sodass sie sich dort auf einen Stuhl setzen konnte, um zu warten. Doch Frau Brück kam nicht. Vielleicht dauert die Dienstbesprechung länger als geplant, dachte Florentine. Oder es ist etwas dazwischengekommen. Nach einer Weile stand sie wieder auf und begann, unruhig im Raum hin- und herzulaufen. Zwischendurch ging sie auch immer wieder auf den Flur, um nach Frau Brück Ausschau zu halten.

Nach zwanzig Minuten wurde es Florentine zu bunt. Sie verließ den Raum, um zum Sekretariat zu gehen und nachzufragen, ob man sie vielleicht vergessen hatte. Auf dem Weg dorthin kam sie am Lehrerzimmer vorbei. Just in diesem Moment öffnete sich die Tür, und das gesamte Kollegium des Petri-Gymnasiums kam heraus. Alle schienen sehr erregt zu sein. Obwohl die Dienstbesprechung offiziell beendet war, befand man sich noch in hitziger Diskussion. Florentine suchte nach Frau Brück, die sie vom Elternsprechtag kannte, einer kleinen, korpulenten Person mit spitzer Nase und recht auffälligem grauem Haar. Sie stand ganz weit hinten und redete mit dem Konrektor, wobei sie heftig gestikulierte.

Als Florentine auf Frau Brück zuging und sie ansprach, reagierte diese ziemlich unfreundlich. »Ein Elterngespräch? Jetzt noch?«, sagte sie und zog ihre Stirn in Falten. »Wir hatten gerade eine sehr anstrengende Dienstbesprechung. Außerdem haben der Herr Konrektor und ich noch etwas Dringendes zu bereden.«

»Gehen sie nur, Frau Brück«, sagte der Konrektor. »Wir können unser Gespräch auch morgen noch fortsetzen.«

»Morgen?« Das schien Frau Brück überhaupt nicht zu passen, doch sie musste sich fügen. Also schickte sie Florentine wieder in Raum 201 und sagte, dass sie gleich nachkommen würde.

Wieder musste Florentine warten. Nach zehn Minuten verspürte sie einen gelinden Ärger in sich aufsteigen. Gerade wollte sie den Raum verlassen, um nach Frau Brück zu suchen, da kam diese herein. Frau Brück setzte sich auf den bequemen Stuhl hinter das Lehrerpult und wies mit einer Hand irgendwo in den Raum. »Setzen Sie sich«, sagte sie dabei. Ganz so, als ob Florentine eine Schülerin wäre. Dann zog Frau Brück einen Aktenordner aus ihrer Tasche, klappte ihn auf und blätterte darin herum.

Florentine war so verblüfft, dass ihr die Sprache wegblieb. Sie griff nach einem der Schülerstühle und zerrte ihn geräuschvoll über den Boden bis dicht vor das Lehrerpult, um sich dort hinzusetzen.

»Nun machen sie doch nicht so einen Lärm!« Frau Brück hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Endlich nahm sie ihre Hände wieder herunter, um Florentine mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. »Nun? Was wollen Sie?«, presste sie schließlich zwischen ihren dünnen Lippen hervor.

»Ich bin Florentine Pfeifer. Sie sollten mich vom Elternsprechtag kennen.«

»In meiner Funktion als Klassenlehrerin betreue ich 35 Schüler. Dazu kommen noch einmal 73 in den Klassen, in denen ich Fachunterricht gebe. Es sind also 108 Kinder insgesamt. Ich kann mir nicht das Gesicht jeder Mutter merken.«

»Ich bin die Mutter von Sebastian Pfeifer aus der Achten. Sie sind Sebastians Klassenlehrerin, Sie müssen meinen Sohn kennen.« Florentine hatte ihre Fassung schnell wieder gewonnen. Sie wollte sich nicht mehr beirren lassen, so unfreundlich Frau Brück auch sein mochte.

»Aha, Sebastian Pfeifer also. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Frau Brück zückte ihren Lehrerkalender und schlug ihn auf. »Sebastian ist ein durchschnittlicher Schüler«, bemerkte sie. »Nur in Sport und Mathematik ist er gut.«

»In Mathe ist er nicht nur gut. Er ist sogar sehr gut. Aber seine Noten sind nicht der Grund, warum ich hier bin. Es ist etwas anderes. Sebastian wird von Mitschülern drangsaliert.«

»Er wird von Mitschülern drangsaliert? Und damit kommen Sie jetzt zu mir? So spät am Abend? Nachdem ich einen 12-Stunden-Tag hinter mir habe?« Zum Beweis dafür, wie anstrengend der Tag gewesen war, holte Frau Brück ein Taschentuch hervor, um sich über die Stirn zu wischen.

»Ich habe es erst heute Morgen erfahren, und ich bin nicht gewillt, es hinzunehmen.«

»Wer ärgert ihn denn?«

»Sebastian hat drei Namen genannt, Marlon, Yannik und Kuno. Alle drei sind aus der Neunten und ...«