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Internettext/ONIX 97640 Ilse Gräfin von Bredow nimmt in ihren neuen amüsanten Geschichten die Adelswelt aufs Korn. Mit einem humorvollen Augenzwinkern blickt sie zurück auf eine Zeit, in der die Damen und Herren von Stand sich bemühten, Französisch zu sprechen. Die Mädchen auf ihren guten Ruf zu achten hatten, die Jungs in Kadettenanstalten gesteckt wurden. Doch in den vornehmen Kreisen dieser herrlichen Anekdoten ist durchaus nicht alles »comme il faut«: das Schloss so mancher Familie gleicht eher einer Ruine, das Hauspersonal geht eigene Wege, und feine Leute sind gelegentlich exzentrisch ... Die Realität schlägt der Phantasie eben oft ein Schnippchen.
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ilse Gräfin von Bredow
Ilse Gräfin von Bredow nimmt ihre Leser mit auf eine vergnügliche Reise zu Schlössern und Landgütern. Humorvoll schildert sie die das Leben adliger Familien, das längst nicht immer so luxuriös ist, wie viele gern glauben möchten.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Adel vom Feinsten
Die treue Seele
Der Gong
Die Monstermücke
Stolperjulchen
Paraden
Das edle Blut
Bei den meisten Heimbewohnern lassen sich Besucher so gut wie nicht mehr blicken. Ich bin da eher eine Ausnahme. Dafür erscheint meine Familie meist im Rudel, was mich jedes Mal in Schwierigkeiten bringt, weil ich zu wenig Vasen und Stühle habe. Am liebsten unterhalten sie sich lebhaft untereinander. Ihre Lieblingsthemen sind Politik und Reisen. Wenn man ihnen so zuhört, hat man das Gefühl, sie sind nur unterwegs, egal, welcher Altersklasse sie angehören. Ja, sogar meine neugeborene Urgroßnichte kennt schon die Strände von Teneriffa und anderen Sonneninseln. Manchmal kommt es mir so vor, als wären sie nur zurückgekehrt, um sofort wieder zu neuen Zielen aufzubrechen. Doch das, was sie zu berichten wissen, gleicht sich wie ein Ei dem anderen: Flug verpasst, Flugzeug überbucht, Koffer nicht mitbekommen, in glühender Hitze oder eisiger Kälte, strömendem Regen, Schneeschauern irgendwo herumgestanden oder durch die Gegend gehetzt. Ihr Lieblingswort ist »unglaublich«: Das Wetter war unglaublich schön und das Hotel unglaublich voll. Gelegentlich unterbrechen sie das Gespräch, lächeln mich an und sagen: »Richtig gut siehst du heute aus, Tantchen.« Aber meine klugen Worte, die ich zu diesem oder jenem Thema zu sagen habe, stoßen auf taube Ohren. Manchmal steht jemand auf und inspiziert mit gerunzelter Stirn mein kleines Apartment, stellt fest, dass der Wasserhahn noch immer tropft, die Jalousie klemmt und das Fenster sich schwer schließen lässt. Man sollte wirklich mal mit der Heimleitung sprechen. Danach, wie auf Kommando, sehen sie alle auf ihre Uhren, teilen sich gegenseitig mit, dass es erstaunlich spät ist, und versichern mir, dass sie bald wiederkommen werden. Es ist ihnen anzumerken, dass sie ebenso stolz darauf sind, diesen langweiligen Besuch bei einer Zweiundneunzigjährigen pflichtgemäß absolviert, wie erleichert, ihn hinter sich gebracht zu haben. Beim Abschied weisen sie mehrmals darauf hin, dass es schließlich ein Telefon gibt und ein Handy.
»Du weißt doch, einfach anrufen, wenn du uns brauchst.« Ich nicke freundlich und überlege bereits, welche Schwester ich mit der mitgebrachten Schokolade beglücken soll, die angeblich zu meiner Lieblingssorte gehört und die ich schon als Kind nicht mochte.
Schließlich weiß ich, dass ich frühestens wieder in einem Monat mit einem Besuch rechnen kann, auch von denen, die in derselben Stadt wohnen. Bin ich gekränkt, fühle ich mich lieblos behandelt, weggestellt, ausrangiert, worüber meine Mitbewohner oft klagen? Keineswegs. Meine Familie nämlich ist mir überraschenderweise, ganz plötzlich sozusagen, in den Schoß gefallen. Die längste Strecke meines Lebens habe ich von ihrer Existenz nichts gewusst, denn ich kenne sie erst seit gut sechs Jahren. Sie haben mich entdeckt und mich mit großer Herzlichkeit willkommen geheißen. Trotzdem, nicht nur Familiensinn und Verantwortung gegenüber den Altgewordenen sind hier lobend zu erwähnen, schließlich haben beide Teile ihren Nutzen davon. Allerdings kommen mir immer noch leichte Zweifel, auch wenn sie mir noch so eifrig ihre Stammbäume gezeigt haben, ob wir wirklich vom selben Blut sind. Ich für meine Person kann mich nur ganz dunkel an einen Onkel erinnern, der, schon bevor ich noch das kleine Einmaleins konnte, abhanden gekommen war und von meinen Eltern kaum erwähnt wurde.
Zunächst war es nur ein Ehepaar, das mich entdeckte. Inzwischen sind immer neue Familienmitglieder dazugestoßen. Es sind fast nur sehr betuchte Leute, Anwälte, Makler und Manager. Ich habe so viel Tüchtigkeit nur wenig entgegenzusetzen. Mein Lebensstandard ist mehr als bescheiden, aber dank einer kleinen Rente und des gesparten Lastenausgleichs komme ich ganz gut über die Runden. Die bohrende Frage einer neuen, karrierebesessenen, etwa dreißigjährigen Großnichte, der einerseits der Beruf alles bedeutet, die aber andererseits unbedingt ihren biologischen Auftrag, wie sie es nennt, nämlich ein Kind zu bekommen, erfüllen möchte: »Tantchen, was hast du denn eigentlich beruflich so gemacht?«, beantworte ich regelmäßig etwas verschwommen: »Ich war in der Filmbranche beschäftigt.« Dann versuche ich schnell, das Thema zu wechseln, was mir wohlwollende Blicke von den Jüngeren einbringt, denen es wirklich ziemlich schnurz ist, was eine Zweiundneunzigjährige für eine Berufsausbildung hatte, mit der es in der Tat auch nicht weit her war. Grundsätzlich bin ich von Herren, die mich in gewissen Zeiträumen begleiteten, über Wasser gehalten worden. Sie heirateten mich zwar nicht, versorgten mich aber doch recht großzügig. Leider bin ich nach meinem Vater geraten und habe seine Devise übernommen: »Geld gehört nicht unters Kopfkissen und nicht auf eine Bank, sondern ist dazu da, um ausgegeben zu werden.« Aber, wie meine Mutter immer sagte: »Es kommt wie’s kommt und immer anders, vor allem bei uns.«
Auf mich trifft diese Wahrheit hundertprozentig zu. Welche Fünfundachtzigjährige hätte es je für möglich gehalten, plötzlich noch in eine Familie aufgenommen zu werden, wenn selbst die Sechzigjährigen nichts mehr fürchten als, die Alten könnten einem zu sehr auf die Pelle rücken.
Diese unerwartete Wendung von einer alleinstehenden, verwandtschaftslosen Seniorin zum begehrten Familienmitglied verdanke ich allein der Putzfrau in unserem Stift. Sie ist eine Landsmännin von mir und lässt nicht, wie die anderen Heimbewohner, ihre Zunge über den spitzen Stein stolpern. Und so hat sie neben ihrem Putzen auch stets ein sorgendes Auge auf mich und hilft mir, wo sie kann. Ihre zweite Putzstelle einmal in der Woche hat sie in der Villa eines Schönheitschirurgen, und die Dame des Hauses tauscht mit ihr hin und wieder diese und jene Vertraulichkeit aus. Als meine Landsmännin eines Tages erfuhr, dass die Eltern ihrer Arbeitgeberin ebenfalls aus Schlesien stammen und dort ein Gut besessen haben sollen, erwähnte sie auch meinen Namen. Die Ehefrau reagierte wie elektrisiert. Sie hat denselben Mädchennamen wie ich, allerdings ohne den dekorativen Titel, sodass meine Verwandte leider nur eine Gewisse und keine Geborene ist. Dummerweise hatten ihre Ahnen aus nichtigen Gründen, ohne an ihren Nachwuchs zu denken, auf den Adel verzichtet. »Sonst«, sagte die Putzfrau zu mir, »wäre sie eine Prinzessin wie Sie.«
»Na ja«, sagte ich, »es kommt wie’s kommt. Dafür ist sie finanziell besser gestellt. Und mit einem Schönheitschirurgen kann man sich überall blicken lassen.«
Meine Namensverwandte schien diese Meinung nur halb zu teilen. Jedenfalls ging ein paar Tage später das Telefon, und sie fragte mich respektvoll, ob ich nicht Lust hätte, sie zu besuchen. Sie würde mich jedenfalls sehr gern einmal kennenlernen, und man könnte die verwandtschaftlichen Beziehungen, die ja ohne Zweifel bestünden, wieder aufleben lassen, sozusagen ein wenig Ahnenforschung betreiben. Selbstverständlich werde sie mich abholen.
Sie brauchte mich nicht lange zu bitten. Mein Freundeskreis schrumpft schon seit Jahren durch Krankheit, Tod und Wohnungswechsel mehr und mehr. Manchmal telefoniere ich noch mit einer Gleichaltrigen, wobei das Gespräch unweigerlich auf all die kleinen Unpässlichkeiten kommt, die wir nun mal in Kauf nehmen müssen. Zwar gibt sich die Heimleitung Mühe, uns mit kulturellen Nachmittagen, Vorträgen und Ausflügen ein wenig aufzumöbeln, aber ich oberflächlicher Mensch kann dem nur wenig abgewinnen und hocke mich lieber vor den Fernseher. Die belebende Wirkung männlicher Heimbewohner gibt es schon lange nicht mehr. Bis auf zwei sind sie nur noch auf dem Friedhof zu finden. Mit den beiden Übriggebliebenen, zwei mürrischen Junggesellen, ist nicht viel Staat zu machen. Der eine schimpft ständig halblaut vor sich hin, dass ihn das Schicksal zwischen lauter alte Frauen verbannt habe, das Grässlichste, was man sich vorstellen könne, und der andere schleicht wie ein Gespenst umher, löffelt in rasender Eile das Essen in sich hinein und wird dann bis zum Abend nicht mehr gesehen. Bei meinem Einzug ins Heim fand mein Titel zunächst noch einige Beachtung, aber alles nutzt sich ab, auch das Exotische, und nun ist es Schwestern wie Mitbewohnern ziemlich egal, dass ich eine Prinzessin bin.
Kein Wunder also, dass ich diesem interessanten Nachmittag mit der Gattin des Schönheitschirurgen geradezu entgegenfieberte. Ich wurde nicht enttäuscht. Man war außerordentlich um mich bemüht und konnte nicht genug von meinen Kindheitserinnerungen hören, sodass ich leider der Untugend vieler alter Menschen erlag, die, wenn man sie überhaupt erst zu Worte kommen lässt, nicht mehr aufhören können. So redete auch ich ohne Punkt und Komma, wobei ich natürlich, wie es den Erwartungen des Ehepaares entsprach, das Ganze ein wenig schönte und glättete.
Es stimmt schon, ich bin in einem Schloss mit allem Drum und Dran aufgewachsen. Auch bei uns gab es die inzwischen sagenumwobenen Kinderfräuleins, Mademoiselles und den Diener, wenn auch nur zeitweise und nur dann, wenn nicht gerade der Pleitegeier über uns kreiste. Kein Wunder bei der Devise meines Vaters, der nicht nur in Gelddingen das war, was man früher einen Bruder Leichtfuß nannte. Und so ging es finanziell dauernd auf und ab. Glücklicherweise besaß er das große Talent, Menschen einzuwickeln, ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen und so Geld zu entlocken. Und obgleich die Geprellten ihre gesamte Umgebung vor ihm warnten, fand er immer wieder neue Opfer.
Mein Vater war eigentlich Österreicher, ein aus vielen Nationalitäten der Donaumonarchie zusammengebackener Adliger, und wurde deshalb von den preußischen Nachbarn etwas misstrauisch betrachtet. Für sie war er ein halber Zigeuner, wenn auch ein prinzliger, sodass sich der gesellschaftliche Verkehr nicht ganz vermeiden ließ. Er war immer guter Laune, für jedes Späßchen zu haben, aber ständig unterwegs, um neue Geldquellen zu erschließen, wobei auf seinen Reisen auch die Amouren nicht zu kurz kamen. Meine Mutter war das Gegenteil von ihm, ein eher indolenter, ziemlich molliger Mensch, der am liebsten, wie Madame Récamier, seine Zeit auf dem Sofa verbrachte und das Personal selbständig schalten und walten ließ, was sie recht beliebt machte. Die Eskapaden meines Vaters übersah sie souverän. Wenn er es zu arg trieb und andere Ehefrauen ihr schadenfroh beim Diner zuzwitscherten: »Ich hab auf der Grünen Woche Ihre Kusine kennengelernt. Wirklich eine reizende Person«, bekam sie die berühmte Migräne und zog sich in ihr verdunkeltes Zimmer zurück. Aber im Großen und Ganzen war sie ein gleichmütiger Mensch, dem Hysterie fern lag, der allerdings auch vor Mutterglück nicht gerade überschwappte. Freundlich hörte sie sich meine von merkwürdigen Phantasien gespickten Geschichten an, die ich ihr mit verschwörerischer Stimme vortrug, um dann nach einer Weile zu sagen: »Nun gehst du wohl am besten wieder in dein Kinderzimmer«, was ich ohne Murren tat, denn dort war immer etwas los, weil sich die Nanna und die Mademoiselle häufig meinetwegen in die Haare bekamen. Während die Nanna mehr fürs Praktische war und mich wie einen Eskimo einmummelte, immer in der Angst, ich könnte mich erkälten, machte die Mademoiselle gern aus mir einen Zieraffen mit offenem Haar, Spangenschuhen und festlichen Kleidchen. Die beiden gaben mir in ihrer Fürsorge Selbstbestätigung genug.
Manchmal, wenn ich früh noch verschlafen durch die Gänge des Schlosses trottete, fiel mir auf, dass ich niemandem begegnete, und auch die Mademoiselle war wie vom Erdboden verschwunden. »Wo sind sie denn geblieben?«, fragte ich dann die Nanna.
»Weg«, sagte sie mürrisch.
»Alle?«, fragte ich.
Sie nickte, und das bezog sich auch auf Kutscher, Reitpferde und Gärtner. Die Landwirtschaft selbst war schon längst verpachtet.
Das Schloss sah einige Zeit mit ungeputzten Fenstern grämlich auf den verwilderten Rasen und das zwischen den Steinen wuchernde Unkraut, während das Mittagessen von einem tapsigen Küchenmädchen zubereitet wurde, das, den Daumen in der Soßenschüssel, durch den Speisesaal trabte und auch servierte. Mutter trug es mit Fassung. »Es kommt wie’s kommt«, sagte sie, »und bei uns immer anders.« Das stimmte.
Vater war auch hier seiner Zeit voraus, kündigte seinen Leuten nicht direkt, sondern gab ihnen einen längeren unbezahlten Urlaub. Das Personal nahm es ohne Murren hin. Es war sowieso schon reichlich klapprig und wäre kaum woanders noch in Lohn und Brot gekommen, zumal es ziemlich sicher sein konnte, dass, sobald mein Vater wieder gut bei Kasse war, die Gehälter rückwirkend gezahlt wurden. Nur die Nanna blieb, ob mit oder ohne Bezahlung, und schwang, »Zigeunerwirtschaft« vor sich hinmurmelnd, mit dem Küchenmädchen den Kochlöffel.
Unsere Nachbarn, die sich arm, aber redlich mit der Landwirtschaft abplagten und sich von den Früchten des Feldes ernähren mussten, fanden unsere Lebensweise jeder Beschreibung spottend, konnten aber nicht umhin, meinen Vater zu den Jagden einzuladen, weil er zu den besten Schützen im Lande zählte und die Damen nicht auf seine Unterhaltung verzichten wollten. Dabei war er alles andere als ein Adonis. Er lief mehr unter der Bezeichnung »klein, dick und schick«. Auch überragte ihn meine Mutter um Haupteslänge.
Sehr zum Missvergnügen der Nachbarn gelang es ihm jedes Mal, wieder auf die Beine zu fallen, ja, sogar in den schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg, obwohl man ja von ihm nun wirklich nicht sagen konnte, er verdiene sein Brot im Schweiße seines Angesichtes. Während viele Standesgenossen sich als Eintänzer, Vertreter oder bestenfalls als Frühstücksdirektoren durchs Leben schlagen mussten, lebten ausgerechnet wir in Saus und Braus, obwohl wir keinesfalls zu den vielgeschmähten Kriegsgewinnlern gehörten. Eine uns bis dahin völlig unbekannte, in Amerika verheiratet gewesene Verwandte vererbte uns eine Menge Geld, und das in der begehrtesten Währung der Nachkriegszeit, dem Dollar.
Eine Hauslehrerin und eine Mademoiselle brauchte ich Ende der zwanziger Jahre nicht mehr. Mein Vater schickte mich nach Berlin, damit ich dort ein bisschen unter die Leute kam. Nebenbei, aber wirklich nur sehr nebenbei, lernte ich, Porzellan hübsch zu bepinseln. »Der Krug geht so lange zum Brunnen …«, unkten die Nachbarn, aber er ging doch länger als gedacht, und ich verlebte unbeschwerte, wunderbare zehn Jahre mit vielen netten Herren, zuletzt einem Schweizer, der mich zwar auf kein Schloss, aber in sein großes Hotel am Zürichsee entführen wollte. Er verstand die Welt nicht mehr, als ich ihm, nachdem ich vorher seinen Antrag durchaus wohlwollend aufgenommen hatte, plötzlich sagte, es sei mir nicht möglich, ihn zu heiraten. Jetzt, wo ein Krieg bevorstehe, könne ich meine Eltern unmöglich allein lassen. Ich müsse sofort nach Deutschland zurück. Leider war mein Freund in manchen Dingen sehr empfindlich und flehte mich keineswegs an, wie ich im Stillen gehofft hatte, es mir noch einmal zu überlegen. Ja, er begleitete mich nicht einmal zum Zug, sondern bestellte mir ein Taxi, was mir zeigte, dass es weniger tiefe Liebe als die Nützlichkeit meines Namens für das Hotel gewesen war, die ihn zu seinem Heiratsantrag veranlasst hatte.
Als ich so unerwartet wieder im Schloss auftauchte, sahen mich meine Eltern an, als wäre ich der Schlossgeist persönlich. Vater war ganz außer sich und rief: »Das heißt sein Glück mit Füßen treten und unseres auch, jetzt, wo der Krieg ausgebrochen ist! Ein bisschen hättest du ja nun wirklich mal an Mama und mich denken können. In so einem Hotel gibt es schließlich viel Platz.«
»Nun lass doch mal«, beschwichtigte Mama gelassen. »Es kommt wie’s kommt, und bei uns kommt sowieso immer alles anders.«
Meine Eltern verlor ich bereits in den ersten Kriegsjahren. Meine Mutter starb an einer zu spät entdeckten Bauchspeicheldrüsenentzündung, und Vater geriet in Berlin in einen Bombenangriff. Die Dollars aus Amerika flossen auch nicht mehr. Das Schloss wurde beschlagnahmt und in ein Lazarett umgewandelt. Ich selbst überstand den Krieg trotzdem wesentlich angenehmer als meine kriegsdienstverpflichteten Altersgenossinnen. Ein mir wohlgesonnener Produzent, den ich vor dem Krieg in Berlin kennen gelernt hatte, beschäftigte mich als Komparsin und gab mir gelegentlich kleine Rollen in Filmen, die das deutsche Volk ein wenig aufheitern sollten. In dieser Art Filme gab es noch Herrschaften mit reichlich Personal, und die Hausherrin wurde mit »gnädige Frau« angeredet. Sie spielte ich selbstverständlich nicht. Sie hatte möglichst eine Blondine mit guter Figur zu sein. Ich dagegen war ein kleinwüchsiger zigeunerhafter Typ mit Wuschelhaaren, und meine Reinrassigkeit wurde deshalb gelegentlich bezweifelt. Doch immerhin war ich eine Prinzessin, was man im Dritten Reich trotz des Spruches »Nur die Arbeit adelt« nicht gerade für unflott hielt, und deshalb als Dienstmädchen recht werbewirksam.
»Die Rolle ist Ihnen wirklich wie auf den Leib geschrieben«, lobte mich der Regisseur, denn dank unseres Dieners beherrschte ich das Servieren aus dem Effeff, tänzelte mit voll beladenen Tabletts durchs Zimmer, öffnete im schwarzen Kleidchen mit weißer Schürze und Häubchen den Gästen die Haustür und half ihnen beim Ablegen der Mäntel. Sogar eine Marketenderin im Feldlager durfte ich spielen, und als in einer Drehpause Otto Gebühr als Friedrich der Große gemessen an mir vorüberschritt, war ich noch so in meiner Rolle, dass ich »Guten Morgen, Majestät« hauchte und in einen Hofknicks versank.
Auch nach dem Krieg, als in allen Filmen die Heimatglocken läuteten, Willy Birgel als Gutsherr durch die Gegend galoppierte und überall in den Wäldern schmucke Förster herumstanden, fiel es mir nicht schwer, in diesem Gewerbe wieder ein Plätzchen zu finden, hatten knicksende Dienstmädchen, die fragten: »Wen darf ich den Herrschaften melden?«, doch jetzt wieder Hochkonjunktur. Nur war es nicht mehr Otto Gebühr, dem ich am Lagerfeuer einen Trunk kredenzen durfte, sondern Peter van Eyck, der großen Eindruck auf mich machte, ein Deutschamerikaner, für den mein nun nicht mehr ganz so junges Herz heftig schlug, obwohl er kein einziges privates Wort je mit mir wechselte.
Bedauerlicherweise fällt ja mit zunehmendem Alter die Zeit mehr und mehr in Galopp, und zu allem Überfluss starb mein Gönner, der Produzent. Auch wurde ich allmählich für die Rolle des kecken Dienstmädchens zu alt und war für das Fach eines Faktotums, das mit donnernder Stimme überall dazwischenredet und seine Meinung kundtut, nicht begabt genug.
Die Konjunktur für Adlige sah in jenen Jahren nicht besonders günstig aus. Als Flüchtlinge überschwemmten sie geradezu den Markt, und die Jüngeren unter ihnen kämpften mit harten Bandagen um die Futterplätze als Frauen von Gutsbesitzern und Firmeninhabern, wobei sie sich der einheimischen Konkurrenz an Tatkraft überlegen zeigten. Ich musste meine Ansprüche, was die Herren betraf, leider mehr und mehr zurückschrauben. Wohl gab es immer noch Betuchte, aber mehr dickbäuchige, gutmütige Geschöpfe, die »Püppchen« zu mir sagten und sich gern im Restaurant, ohne die Hand vor den Mund zu halten, mit dem Zahnstocher bedienten oder sich mit der Gabel die Fingernägel reinigten und über ihre eigenen kräftigen Rülpser herzlich lachten. Zwischendurch arbeitete ich vorübergehend in einer Porzellanfabrik als Malerin, was aber schnell ein Ende fand, weil ich der Abteilungsleiterin zu langsam war. Aber alles in allem kam ich ganz leidlich über die Runden, und mit zunehmendem Alter entwickelte ich mich zu einer Art Seelsorgerin für Herren in Lebenskrisen, was zwar weniger aufregend, aber auch weniger anstrengend war, weil man während des Klageliedes mit endlosen Strophen nur ab und zu ein: »Du Armer, du hast ja viel durchgemacht« oder ähnliche Belanglosigkeiten einwerfen musste. Von meiner kleinen Rente und den Zinsen aus dem von einem meiner krisengebeutelten Herren für mich angelegten Lastenausgleich konnte ich so leidlich leben. Jedoch zwang mich eine misslungene Knieoperation, meine kleine Wohnung im vierten Stock eines fahrstuhllosen Mietshauses aufzugeben, und so beschloss ich, in ein gerade neu entstandenes Seniorenheim nicht weit von meiner alten Wohnung umzuziehen. Die Umstellung war nicht ganz leicht, aber meine Generation ist sehr auf Flexibilität getrimmt und der Mensch sowieso ein Gewohnheitstier, der einen gewissen vorgeschriebenen Rhythmus dann auch wieder ganz bequem findet.
Jetzt hat sich natürlich einiges geändert. Meine Familie trägt dazu bei, dass ich wieder mehr erlebe, denn Adel ist wieder sehr gefragt, und meine neue Nichte, die Arztfrau, bedauert den voreiligen Entschluss ihrer Ahnen immer häufiger.
Wie gesagt, meine Biographie habe ich etwas geschönt. Manches ahnen sie vielleicht. Aber so genau will man es dann auch wieder nicht wissen. Das, was ich ihnen wert bin, liegt auf einer anderen Ebene, und mein Vorteil ist, dass ich so gelegentlich unter Leute komme. Eine Prinzessin schmückt nun mal jedes Kaffeekränzchen und macht auf manche reife Patientin, die in der Praxis meines Neffen ihren Körper ein wenig renovieren lassen möchte, Eindruck. Wenn dann während des Informationsgespräches die Schwester hereinkommt und sagt: »Herr Professor, Ihre Durchlaucht ist draußen und würde Sie gern sprechen«, mein Neffe ihr antwortet: »Bestellen Sie meiner Tante, ich stehe gleich zu ihrer Verfügung«, und dann, zu der zukünftigen Patientin gewandt, ihr den Rat gibt, sich alles in Ruhe zu überlegen, »man soll in diesem Punkt nichts überstürzen«, weiß er im Voraus, dass er der Arzt ihrer Wahl sein wird.
Natürlich strenge ich mich an, um dem, was man von mir erwartet, gerecht zu werden, und streue, wie Käseflocken über ein Nudelgericht, französische Vokabeln in die Unterhaltung. Ich sage »enchanté« und »peu a peu«, rufe erstaunt: »Mon dieu!«, bedanke mich mit höflichem »merci« und verabschiede mich mit einem freundlichen: »Au revoir, ma chère.« Ebenso versuche ich, das Damenhafte an mir zu unterstreichen, trage ein im Second-Hand-Shop erworbenes Chanel-Kostüm, und die Friseuse müht sich redlich, meinem schütteren Haar aus wirren Löckchen ein gewisses Cachet zu geben. Ich benutze nur noch einen sehr dezenten Lippenstift und trage auf altmodisch getrimmten Traveller-Schmuck. In den Unterhaltungen gebe ich mehr oder weniger jedem Recht, was als besonders angenehm empfunden wird. Von dem, was sie da reden, verstehe ich sowieso nur die Hälfte. Ich war nie auf einem Golfplatz, kenne mich nicht in den modernen Richtungen der Malerei aus und kann die Fähigkeit oder Unfähigkeit von Lehrern, Vorgesetzten und Künstlern nicht beurteilen. Gesellschaftlicher Klatsch dagegen interessiert mich weiterhin, und wenn die Ehefrauen die Augen verdrehen, halb lachend, halb seufzend über ihre Männer reden, während sie ihnen zu Hause weiterhin energisch klarmachen, was sie zu tun und zu lassen haben, amüsiere ich mich und stelle vergnügt fest, dass sich trotz wechselnder Zeiten und Emanzipationsgeplärre wenig geändert hat. Einerseits: »Ich will einen Mann, einen richtigen Mann«, andererseits der alte Spruch: »Der Mann, der ist der Kopf, nach seinem Willen soll es gehen, die Frau, die ist der Hals, die weiß den Kopf zu drehen.«
Meine neue, in einer Agentur tätige Großnichte, die mich zunächst ein wenig herablassend behandelte, weil sie mit erheblichen Vorurteilen gegen meine Generation belastet war, benutzt mich inzwischen gern bei ihren Events, für die sie sich immer etwas Neues zur Unterhaltung der verwöhnten Auftraggeber ausdenken muss. Wenn sich dann in einem mit Kerzen und Blumen reichlich geschmückten Saal eines Schlosses die älteren Semester zusammenfinden, werde ich ihnen wie ein Auto der Luxusklasse vorgeführt. Denn, wie meine Großnichte sagt, es ist enorm wichtig, dass man zu Hause erzählen kann: »Übrigens, ich habe dort eine sehr nette Prinzessin kennen gelernt.« Für die bestellten Fotografen bin ich ebenfalls ein gutes Vorzeigeobjekt, so dass ich immer häufiger in den bunten Blättern auftauche, was mich weiter aufwertet.
Die Bewohner des Heims verfolgen meine Karriere mit gemischten Gefühlen und lassen durchblicken, dass das Ganze irgendwann mit einer großen Enttäuschung für mich enden wird. »Wir sind nun mal alte Menschen«, sagen sie, »und im Grunde will doch niemand mehr etwas mit uns zu tun haben.« Aber ich denke, es ist wenig sinnvoll, über ungelegten Eiern zu brüten, obwohl ich gelegentlich mitbekomme, wie meine Familie Blicke wechselt, wenn ich das richtige Wort nicht finde oder zwischendurch mal einnicke. Manchmal treffe ich auch auf Rivalinnen, die zwar nicht gerade Prinzessinnen sind, aber doch mindestens Gräfinnen oder Freifrauen. Sie versuchen, mich ein wenig auszuhorchen und auf den Busch zu klopfen, ob das, was sie von mir zu hören bekommen, alles stimmt. Vielleicht war mein Vater ja nur ein Pferdehändler. Bei den Ungarn ist doch alles möglich. Wenn meine Nichte plötzlich, angesteckt von dem Verdacht, anfängt, meine Herkunft zu bezweifeln, steht mir sofort meine Putzfrau zur Seite und sagt, was Sache ist. Adel vom Feinsten. Sie muss es schließlich wissen, wo doch ihre Mutter im Schloss gearbeitet hat. Danach sind sie alle besonders nett zu mir und beteuern, dass sie mich nie im Stich lassen werden. »Mach dir keine Sorgen, Tantchen, wir kümmern uns um dich. Du weißt ja, Anruf genügt.«
Und mein sonst eher wortkarger Neffe fügt hinzu: »Für mich ist es geradezu eine Wohltat, einen alten, nicht renovierten Menschen um mich zu haben.« Und die Großnichte nickt zwar bestätigend, macht dazu aber ihr Wer’s-glaubt-Gesicht.
In letzter Zeit tun sie sehr geheimnisvoll und kündigen mir eine Überraschung an, über die ich mehr als staunen würde. Ich versuche, die Putzfrau auszuhorchen, aber sie ist nicht bereit, mir etwas zu verraten. »Meine Lippen sind versiegelt.«
In den letzten Monaten hat sich meine Familie kaum noch blicken lassen, nur hin und wieder mal angerufen. Im Heim hat es inzwischen viele Veränderungen gegeben. Fast alle Bewohner, mit denen ich damals eingezogen bin, liegen inzwischen auf dem Friedhof. Der Nachwuchs ist wesentlich jünger, zwischen achtzig und fünfundachtzig. Ihm ist anzumerken, dass wir Neunzigjährigen ihm einen noch größeren Schrecken einjagen als den Jungen.
Und jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Angelika ruft an und zwitschert ins Telefon, am nächsten Wochenende würden sie mich abholen. Ich soll ein paar Sachen zum Übernachten einpacken. Eins kann sie mir schon sagen: Ich werde auf jeden Fall Augen machen.
Am Sonnabend geht die Reise los. »Wohin fahren wir denn?«, frage ich.
Sie lachen. »Wirst schon sehen, eine Fahrt ins Blaue.«
Nach zwei Stunden verlassen wir die Autobahn, holpern über eine Dorfstraße und biegen in einen Park ein. Und da liegt es vor mir, der Traum meiner Familie: ein Schloss wie aus dem Bilderbuch, innen und außen geputzt und erstklassig eingerichtet, als hätte es etwas so Unerfreuliches wie Kriege und Flüchtlingsscharen, die hier früher bestimmt einmal gehaust haben, nie gegeben.
Ich muss zugeben, ich bin wirklich beeindruckt. Dagegen war das Schloss meiner Kindheit ein Hühnerstall. Hier gibt es weder bröckelnde Wände noch abgetretene Dielen oder von Hundepfoten zerkratzte Türen. Kein Gebäude, in dem sich Mäuse und anderes Getier wohlfühlen.
»Na, Tantchen«, sagt die von der biologischen Uhr Bedrängte. »Da staunst du, was?«
»Das tue ich wirklich.«
»Wir haben ein wahnsinniges Glück gehabt«, sagt ihre Mutter. »Wirklich ein Schnäppchen. Es hat einer alten, plötzlich verstorbenen Patientin meines Mannes gehört, und die in alle Welt verstreuten Erben wünschten sich nichts dringlicher, als es so schnell wie möglich loszuwerden. Und sag selbst: Ist es nicht tadellos in Schuss?«
Ich nicke.
Wir wandern vom Keller bis zum Dachboden, und alles ist perfekt. »Und jetzt«, sagt Angelika, »kommt die große Überraschung.« Sie öffnet im Parterre eine Tür, und wir betreten einen behaglich eingerichteten Raum mit eigenem Badezimmer.
»Das ist dein Reich«, sagt Angelika, »dein neues Zuhause. Und deshalb werden wir deinen Dreiundneunzigsten auch hier feiern.«
Ich liege in meinem neuen, schönen Zimmer. An meinem Bett sitzen Angelika und ihr Mann mit besorgten Gesichtern.
»Was ist passiert?«, frage ich benommen und versuche, mich aufzurichten. Sanft drückt mein Neffe mich in die Kissen zurück.
»Nichts«, sagt er beschwichtigend. »Dir ist schwindlig geworden, und du bist hingefallen. Das kann jedem von uns passieren.«
Ich schließe die Augen und versuche, mich zu erinnern. Mein Geburtstag, richtig. Es war ein wunderbares Familienfest mit reizenden Gästen, die sich um mich bemühten. Ich wurde geehrt, so manches Glas wurde auf mein Wohl getrunken, lange war ich nicht mehr so glücklich. Das muss gestern gewesen sein, und jetzt fällt mir auch wieder mein morgendlicher Spaziergang durch den Park ein. Ich sehe wieder den Tau auf dem Gras, die leuchtenden Blumenrabatten, wie das Morgenlicht durch die hohen Bäume scheint, fühle nach langer Zeit wieder so etwas wie Wehmut über den Verlust der Heimat und habe gleichzeitig den tröstlichen Gedanken an meine wiedergefundene Familie, die mir einen so schönen Geburtstag beschert hat. Ich sehe mich noch über die Terrasse zurückgehen, danach kann ich mich an nichts mehr erinnern.
Angenehm müde döse ich weiter vor mich hin und höre Angelika und ihren Mann miteinander flüstern.
»Was machen wir denn jetzt bloß?«, fragt Angelika etwas hilflos, und der Doktor entscheidet:
»Sie muss natürlich ins Heim zurück. Für eine Pflege sehe ich hier kaum eine Möglichkeit, wenn wir nur an den Wochenenden rausfahren. Und dann noch nächste Woche die Kreuzfahrt. Sie ist dreiundneunzig, vergiss das nicht.«