9,99 €
Das zweite Buch von Ilse Gräfin von Bredow nach ihrem sensationellen Bestsellererfolg ›Kartoffeln mit Stippe‹ nimmt die Themen des ersten Buches auf. Mit derselben Dichte, derselben farbig-direkten Sprache, mit der sie schon zuvor Menschen, Landschaft, Ereignisse eingefangen hat, schildert sie hier die »Mädchenerinnerungen an eine verlorene Heimat«: menschlich-allzu menschliche Erfahrungen, schöne und schwere Erlebnisse, Heiteres und Nachdenkliches. »Ich wollte die Zeit von 1933 bis 1945 aus der Sicht eines jungen Mädchens schildern, das weder besonders intelligent noch hübsch oder talentiert ist. Wie ein ganz und gar durchschnittliches junges Mädchen diese Zeit erlebt hat.«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ilse Gräfin von Bredow
Mädchen-Erinnerungen an eine verlorene Heimat
Das zweite Buch von Ilse Gräfin von Bredow nach ihrem sensationellen Bestsellererfolg ›Kartoffeln mit Stippe‹ nimmt die Themen des ersten Buches auf. Mit derselben Dichte, derselben farbig-direkten Sprache, mit der sie schon zuvor Menschen, Landschaft, Ereignisse eingefangen hat, schildert sie hier die »Mädchenerinnerungen an eine verlorene Heimat«: menschlich-allzu menschliche Erfahrungen, schöne und schwere Erlebnisse, Heiteres und Nachdenkliches.
»Ich wollte die Zeit von 1933 bis 1945 aus der Sicht eines jungen Mädchens schildern, das weder besonders intelligent noch hübsch oder talentiert ist. Wie ein ganz und gar durchschnittliches junges Mädchen diese Zeit erlebt hat.«
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ilse Gräfin von Bredow wurde 1922 in Teichenau (Schlesien) geboren und wuchs mit zwei Geschwistern auf einem Forstgut in der Mark Brandenburg auf. Kurz vor Kriegsende floh die Familie nach Niedersachsen.
Die Autorin arbeitete freiberuflich für Zeitungen und Magazine und schrieb Reportagen und Kurzgeschichten. Ihr erstes Buch ›Kartoffeln mit Stippe‹ war ein sensationeller Erfolg. Seitdem sind zahlreiche Bücher erschienen, alle im Scherz Verlag. Ilse Gräfin von Bredow starb am
20. April 2014 in Hamburg.
Hinweis
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Die in diesem Buch geschilderten Menschen sind nicht identisch mit bestimmten lebenden oder verstorbenen Personen. Eventuelle Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
«Weene nich, es is verjebens
jede Träne dieses Lebens
fließet in ein Kellerloch –
deine Keile kriste doch!»
Heinrich Zille
Politische Ereignisse fanden in unserem Dorf nur geringes Echo. «Das is mich allens eins, wenn man die Hühner legen», war der einzige Kommentar der Jungfer Zech zu Hitlers Aufstieg als Reichskanzler gewesen. Da gaben die Hornissen in Nachbar Trägenapps Kastanie mehr Gesprächsstoff her. Sie versetzten Mensch und Vieh in Angst und Schrecken. Sobald sie zu hören waren, galoppierten die Pferde mit den Heuwagen schnaubend über die ungepflasterte Dorfstraße, und lange Staubfahnen drangen in unsere Fenster. Schließlich kam Trägenapp die geniale Idee, den Biestern mit dem Feuerlöscher den Garaus zu machen. Er bereitete den Angriff sorgfältig vor, bastelte aus einem Stück Fliegengitter und einem Seihtuch einen provisorischen Schutzhelm, zog sich Handschuhe an und schleppte eine lange Leiter herbei. Vorsichtig das Terrain sondierend, stieg er bedächtig Sprosse für Sprosse hinauf. Wir hatten uns auf der Dorfstraße versammelt und sahen ihm aus respektvoller Entfernung zu, wie er das Minimaxgerät in Gang setzte, bis aus jedem Astloch Schaum quoll. Leider stellte sich die erwünschte Wirkung nicht ein, die Hornissen waren nicht zu Hause. Erst als Trägenapp den Rückzug antrat, kam eine mit tiefem, zornigem Brummen geflogen und versetzte ihm einen tüchtigen Stich ins Hinterteil, so daß er drei Tage auf dem Bauch liegend im Bett verbringen mußte.
Vater, der das Herumgejuchze der Städter in seinem Wald haßte, überlegte, ob er nicht am Ortseingang ein Schild «Achtung! Hornissen!» mit einem aufgemalten Totenkopf aufstellen sollte.
«Also wirklich, Alfred.» Mutter schüttelte den Kopf. Dabei war sie am meisten darüber gekränkt, daß die Ausflügler jedesmal taten, als hätten sie einen wilden Völkerstamm entdeckt, wenn sie unsere Dornröschenhecke von Wald, Seen und Luch überwunden hatten und unvermutet auf unser Dorf und seine wenigen Häuser stießen. «Kuckt mal, hier leben auch noch Menschen!» Mamsell hatte es deshalb auch hoheitsvoll abgelehnt, einem Schlittschuhläufer, der sich eines Winters über den zugefrorenen Rhin bis zum Gartenzaun unseres Forsthauses verirrt hatte, «was Heißes» rauszubringen. Daß er, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, gönnerhaft mit einem Geldschein vor ihrer Nase herumwedelte, machte die Sache nicht besser und veranlaßte Mamsell zu der weniger hoheitsvollen Bemerkung: «Sind wir hier vielleicht ’ne Kneipe?»
Dabei hatten die Ausflügler recht, wir waren nicht mal ein richtiges Dorf. Die Kinder mußten zur Schule vier Kilometer durch Wald und Heide laufen, und wenn wir am Sonntag den Gottesdienst verschliefen, gemahnten uns nur bei Westwind die Glocken vom anderen Seeufer an die Ballade «Es war ein Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen …». Der Krämer kam höchstens einmal wöchentlich mit seinem Planwagen, und bei Eis und Schnee warteten wir im Winter manchmal einen Monat und länger auf Zucker, Kerzen und Streichhölzer. Elektrizität und fließendes Wasser waren ferne Träume. Man behalf sich mit Petroleumlampen, Plumpsklo und Pumpe.
Doch in mancher Hinsicht war der Fortschritt auch bei uns eingezogen. Bruder Billis selbstgebasteltem Detektorradio war ein Volksempfänger mit Akku gefolgt. Den mußten wir jeden Monat zum Aufladen mit dem Fahrrad in die Kreisstadt bringen. Da der Weg dorthin recht stuckerig war, schwappte die Säure dauernd über, und wir hatten allesamt Löcher in den Lodenmänteln. Auch hatte es die Postfrau zu einem Fahrrad gebracht. Sogar mit einer Ziehklingel, von der sie gern Gebrauch machte, was Vater höchst überflüssig fand. «Die Rehe erschrecken sich ja zu Tode!»
Doch der größte Stolz des Dorfes war die öffentliche Fernsprechstelle. Bei uns im Forsthaus hatte das Telefon nur eine kurze Gastrolle gegeben. Bereits nach einer Woche hatte dieser Apparat bei Vater restlos verspielt. Als er uns so gegen zehn Uhr abends, also mitten in der Nacht, mit schrillem Klingeln weckte, sprang Vater aus dem Bett: «O Gott, mein Wald brennt!» Er nahm den Hörer ab. Das Fräulein vom Amt meldete sich: «Hier Amt, wer spricht?»
«Ich.» Vater gähnte laut.
«Bitte?» sagte das Fräulein tadelnd. Vater nannte unwillig seinen Namen.
«Sie werden aus Berlin verlangt. Ich verbinde, bitte warten Sie.»
Da es offensichtlich nicht um seinen Wald ging, verlor Vater sofort die Geduld. «Ich denke gar nicht daran», brüllte er und schob den Bernhardiner weg, der ihm die nackten Zehen ableckte. «Berlin kann mich mal!»
«Bitte?» sagte das Fräulein, und «Alfred!» rief Mutter von oben.
«Gute Nacht.» Vater knallte den Hörer auf die Gabel.
Das Telefon begann wieder zu klingeln. «Untersteht euch, ranzugehen!» Vaters Stimme klang so drohend, daß selbst Mutter zurückschreckte, obwohl sie vor Neugier platzte.
Soviel Mutter auch barmte, das Telefon wurde wieder abgemeldet. Aber da die Masten nun einmal standen und Trägenapps einen kleinen Nebenverdienst gut gebrauchen konnten, richtete die Post bei ihnen eine öffentliche Fernsprechstelle ein. Trägenapps Umsatz an Flaschenbier und Brause stieg beträchtlich, denn das Telefon diente zur allgemeinen Unterhaltung. Sobald die auf dem Hof angebrachte Klingel zu hören war und Frau Trägenapp kurz darauf mit kräftiger Stimme den Gewünschten auf der Dorfstraße ausrief, kam, was nicht gerade Milch auf dem Herd oder ein Kuheuter in der Hand hatte, angerannt und versammelte sich bei ihr im Flur. Angerufen wurden eigentlich nur Mutter und unser Dauersommerfrischler, ein Arzt aus Berlin. Er wohnte bereits seit einer Reihe von Jahren in einem Häuschen am Dorfrand, das er von Vater gemietet hatte, und verbrachte mit seiner Frau dort jedes Wochenende.
Während Mutter sich angewöhnt hatte, in einem selbsterfundenen Geheimkode die neuesten Familiennachrichten durchzuhecheln, kamen die Zuhörer bei den knappen Dialogen des Professors mit der Klinik – «Blinddarm? Durchbruch? Operieren!» – mehr auf ihre Kosten. Da ging es ja direkt um Tod und Leben!
Trotz unserer Abgeschiedenheit machte die Politik auch vor unserem Dorf nicht halt. Als ich vom Krämer hakenkreuzverzierte Bonbons, die innen so schön sauer waren, kaufen wollte, zuckte er bedauernd die Achseln: «So einen nationalen Kitsch führe ich nicht mehr.» Im Nachbardorf machte man sich daran, eine Ortsgruppe der NSDAP zu gründen. Ein höherer Parteigenosse aus der Kreisstadt nahm das in die Hand. Er hielt in der «Perle des Westhavellandes» eine feurige Rede über das gläubige Gemeinschaftsgefühl, das jetzt alle Deutschen ergreife, und vom deutschen Bauerntum. Man hörte zu, sagte ja, sagte nein, bis dem Parteigenossen über soviel dösige Unentschlossenheit fast der Kragen platzte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm die Maibutter ein und der zarte Schinken, den seine Frau von den Bauern preisgünstig bezog, und natürlich auch, daß ein Nationalsozialist überzeugen und nicht einschüchtern soll. So fuhr er in die Stadt zurück. An seiner Stelle kam ein Kamerad von der Reiter-SA. Zu dem faßte man gleich Vertrauen, denn er galt im Kreis als ein Reiter-As. Er stellte einen Reitersturm auf, und viele machten begeistert mit, gelegentlich auch ich auf unserer neuen Fuchsstute Mumpitz. Reitstunden hatte ich noch nie gehabt, und so lernte ich jetzt «Im Arbeitstempo – Te-rrab!» und durfte manchmal sogar Tête reiten.
Auch eine Jungenschaft gab es inzwischen. Sie wurde von Otto Klose herumkommandiert, dessen Opa vor einigen Jahren die Dorfsensation gewesen war, weil er den Schäfer umgebracht hatte. Zweimal im Monat kam ein Jungzugführer mit anderen Schaften anmarschiert und brachte die Dorfjungen auf Zack. Meinen epileptischen Freund Bruno wollte er als Pimpf nicht haben. Bruno hatte nämlich in seiner Gegenwart einen seiner sonst selten gewordenen Anfälle bekommen, und das ausgerechnet bei dem Kommando «Stillgestanden!», so daß der ganze Haufen durcheinandergeriet. Aber da hatte der Jungzugführer seine Rechnung ohne Otto gemacht. Erstens war Bruno sein Vetter, und zweitens war er ein klasse Spurenleser, der jeden noch so gut getarnten Feind sogar im Dustern entdeckte. Otto drohte, den Kram hinzuschmeißen, und zeterte so lange herum, bis der Jungzugführer nachgab. Bruno wurde sogar zum Späher und Wimpelträger befördert, und wenn er seinen wackeligen Tag hatte, stützte er sich einfach auf den Wimpelschaft.
Der Jungvolkführer verlegte die Geländespiele mit Vorliebe in unseren Wald, denn er war in meine Schwester Vera verknallt und schrieb ihr ins Poesiealbum: «Nichts für dich, alles fürs Vaterland!» Aber Vera hatte andere Raupen im Kopf. Sie war seit einem Jahr in einem adeligen Mädchenstift und schwärmte gleichzeitig für den Schauspieler Hans Albers und für eine ihrer Erzieherinnen.
«Ich will auch zu den Jungmädels», nölte ich herum. Jungen und Mädchen der Hitlerjugend machten oft gemeinsame Fahrten, und im Gegensatz zu Vera bewunderte ich die strammen Muskeln des Jungzugführers.
Im Sommer 1934 war nur ich allein noch zu Haus, denn Billi war als Ältester schon lange im Internat. Mich würde man nicht wegschicken, davon war ich überzeugt. Einen Herzepimpel mußte Mutter schließlich um sich haben. Wen sollte sie sonst mit Lebertran und Promonta vollstopfen, wem Geschichten aus der Jugendzeit erzählen und das Lied vom «Nöck» vorspielen oder mit ihm zerren, weil das Kind darauf bestand, im Frühjahr bei Temperaturen um Null bereits Kniestrümpfe anzuziehen?
Vater war es recht. Wozu setzte man Kinder in die Welt, wenn keines als «Schicketanz» zur Hand war! Von früh bis spät hetzte er mich durch Haus und Hof, ich mußte ihm behilflich sein und tausend Aufträge ausführen. «Drei Kreuze reiten», befahl er gern, wenn ich mich nicht schnell genug in Bewegung setzte, was, wie er mir erklärte, bei der Kavallerie das schnellste Tempo für die Melder war.
Vorübergehend hatte es so ausgesehen, als ob Billi wieder zurückkehren und das Gymnasium in der Kreisstadt besuchen würde. In seiner Schule war es fast zu einem Aufstand gekommen, denn der Leiter des Internats mußte gehen. «Nur weil er Jude ist?» fragte Mutter ungläubig. Billi berichtete genüßlich, daß die oberen Klassen den neuen Direktor mit einem Pfeifkonzert empfangen und ihm eine Rückfahrkarte in seinen Heimatort aufs Pult gelegt hatten. «Wir sollten dich von der Schule nehmen», sagte Vater.
Aber dann machten ihm die Rüsselkäfer im Wald zu schaffen, und Billi verkuckte sich zu Mutters Mißvergnügen in die Gutssekretärin von Onkel Hans, der nicht weit von uns mit seiner Mutter, der alten Exzellenz, ein kleines Schloß bewohnte. Man vergaß, Billi abzumelden.
So konnte ich meine Rolle als Einzelkind weiter genießen, konnte ungestört auf der großen Eiche am See sitzen und über Felder und Luch blicken, ohne von Billi aus dem Hinterhalt mit der Zwille beschossen zu werden. Sobald mich Fräulein Weber, unsere Hauslehrerin, aus dem Unterricht entließ, war ich mit Bruno und Otto unterwegs. Wir räuberten Fische aus Brümmerstedts Reusen und verkauften sie an Zeltler am See. Wir standen bis zu den Knien im Wasser und angelten, und die Sonne brannte auf unsere Köpfe. Manchmal kam Brümmerstedt plötzlich mit dem Kahn aus dem Schilf geschossen wie Zieten aus dem Busch und drohte uns mit dem Ruder: «Euch krieg ich noch!» Wir ließen uns im Paddelboot den Havelländischen Hauptkanal hinuntertreiben und suchten im Schilf nach Nestern von Tauchern und Lietzen.
An einem Sonntag morgen, als die Eltern noch schliefen, schlich ich mich aus dem Haus, lief in den Stall und sattelte Mumpitz. Singend galoppierte ich über die frischgemähten Wiesen, und die Stute drehte ab und zu den Kopf, um spielerisch nach meinen Stiefelspitzen zu schnappen, oder keilte übermütig aus. Vor einer kleinen Hütte inmitten von Schilf und Rohrkolben sprang ich aus dem Sattel. Hier hatte Emil, der Freund unseres früheren Hausmädchens Lore, gewohnt, bevor er Selbstmord beging. Jetzt stand die Hütte leer. Der Zaun aus Maschendraht hatte große Löcher, und im Garten wucherte meterhohes Unkraut. Ich band Mumpitz an einen Pfosten, schlich ums Haus und blickte durch die zerbrochenen Fensterscheiben. Aber bis auf ein paar Mäuse, die über die Dielen huschten, rührte sich nichts. So legte ich mich in eine Graskuhle, ließ mich von der milden Junisonne wärmen und schlief ein. Ich träumte von Emil und Lore und wie wir ihn damals am Baum hängend gefunden hatten. Ich erwachte von meinem eigenen Schrei.
Und dann kreischte ich gleich noch einmal vor Schreck: Mumpitz war weg! Die Stute hatte die Trense vom Pfosten abgestreift und sich dünnegemacht. Ich mußte zu Fuß nach Haus zurück. Auf dem Hof empfing mich Vater mit einem Donnerwetter. Was hätte diesem wertvollen Tier nicht alles zustoßen können! Wenn es nun mit der Trense an einem Baum hängengeblieben wäre oder sich am Stacheldraht verletzt hätte? Dabei stand die Stute längst unversehrt im Stall und ließ sich ihren Hafer schmecken. Aber Vater tat, als lahme sie auf allen vier Beinen. «Noch dazu am Sonntag», grollte er weiter. «Gönnst dem armen Tier nicht mal seinen wohlverdienten Feiertag. Rücksichtslos, so was!»
«Das Kind verwildert», hörte ich ihn nach dem Frühstück auf der Veranda zu Mutter sagen. «Sie muß wohl doch in eine Benehmige.»
«Sie ist zu zart», wandte Mutter ein. «Du weißt, sie hat’s leicht mit den Bronchien. Außerdem müßtest du noch mehr Bäume schlagen, wenn wir das Internat für sie bezahlen wollen.»
«Auch wieder wahr», meinte Vater. Erleichtert schlich ich mich davon.
Am Sonnabend darauf hatten wir Vesperbesuch. Es war die Landrätin, deren Mann von den Nazis vorzeitig in Pension geschickt worden war. Ich war auf der Veranda in ein hochinteressantes Buch vertieft gewesen, das ich mir aus der hintersten Reihe in Vaters Bücherschrank geangelt hatte, und platzte ins Eßzimmer, wo Mutter gerade die Sandtorte anschnitt. «Was ist das für ein Rausch, der Mann und Frau verbindet?» wollte ich wissen.
«Wie sehen denn deine Haare wieder aus!» lenkte Mutter gleich ab.
Die Landrätin musterte mich kritisch. «Das kann sie wohl kaum in ‹Nesthäkchen› gelesen haben.» Sie beugte sich zu Mutter. «Ich will ja meinen Rat nicht aufdrängen, aber ob in ihrem Alter der Umgang nur mit Dorfjungen das richtige ist?»
«Zu den Jungmädeln darf ich ja nicht», maulte ich.
«Schade, daß es den Luisenbund nicht mehr gibt mit Ihrer Königlichen Hoheit von Braunschweig und Hannover als Schirmherrin. Diese hübschen kornblumenblauen Kleider!» Die Landrätin rührte versonnen in ihrer Tasse. «Daß Prinz Auwi aber auch der SA beitreten mußte! Soll ja ein sehr guter Freund von Göring sein.»
Da man mich nicht weiter beachtete, holte ich mir mein Rad aus dem Schuppen und fuhr zu Annelise Reimers, meiner Vertrauten, die schon mit fünfzehn ein uneheliches Kind bekommen hatte. Sie würde mir vielleicht meine Frage beantworten können. Annelise war jetzt mit einem Gespannführer von Onkel Hans verheiratet und arbeitete in der Küche der alten Exzellenz.
Das Schloß lag wie eine bemooste Kröte vor mir, als ich mein Rad den Berg hinaufschob. Auf dem Hof waren die meisten Gutsarbeiter und das Personal versammelt. Ich sah, wie Onkel Hans, eskortiert von zwei Landjägern, schimpfend auf einen Lastwagen kletterte und der Wagen mit ihm davonfuhr. Die alte Exzellenz stand totenblaß auf der Freitreppe und stampfte mit ihrem Stock auf die Stufen. Ich ging auf sie zu und machte meinen Knicks.
«Darf ich Annelise besuchen?» fragte ich.
Sie sah mich abwesend an. «Wir können dich jetzt hier nicht gebrauchen, Kind. Fahr wieder nach Haus.»
«Haben sie Onkel Hans verhaftet?» fragte ich aufgeregt.
Sie antwortete nicht, sondern drehte sich um und ging ins Schloß.
Während ich in rasendem Tempo den Berg hinunterfuhr, überlegte ich mir, was der Onkel wohl angestellt haben konnte. Ich trat kräftiger in die Pedale – das mußte ich gleich zu Hause erzählen!
In der Küche stritt Mutter sich gerade mit Mamsell, die ihr die Bratensoße nicht sämig genug machte. Beide hörten überhaupt nicht hin, als ich meine Neuigkeit herausposaunte. So nahm ich eine Teschingpatrone und schmiß sie ins offene Herdfeuer, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die Explosion war stärker, als ich gedacht hatte. Fast wäre die Ofentür herausgeflogen, und über die Herdplatte zog sich ein langer Riß.
Vor Mutters drohendem Blick rettete ich mich hinter die offene Schranktür und sprudelte mein Erlebnis heraus. Mutter starrte mich ungläubig an, aber dann wurden wir zu meinem Ärger von Frau Trägenapp unterbrochen, die Mutter ans Telefon rief.
Als sie wiederkam, suchte sie aufgeregt nach Vater: «Alfred, wo steckst du?»
«Hier!» Vater tauchte aus seinem Verandastuhl auf. «Wo brennt’s denn?»
«Alfred –» Mutters Stimme bekam einen beschwörenden Ton. «Du mußt dich verstecken. Es ist irgendwas Politisches im Gange. Womöglich kommen sie auch zu uns und verhaften dich.»
«Wer sollte was von mir wollen?» meinte Vater gähnend. «Einem durch und durch uninteressanten Menschen.»
So wollte Mutter das nun auch wieder nicht gesehen haben, und als die Nacht und der Tag vergingen, ohne daß sich etwas Ungewöhnliches ereignete, war sie fast gekränkt.
Allmählich sickerte durch, was passiert war. Der neue Landrat, ein, wie behauptet wurde, hundertfünfzigprozentiger Nazi, hatte eine Reihe von Gutsbesitzern abholen und auf einem Lastwagen zu einem abgelegenen Gasthaus bringen lassen. Dort verbrachten sie, bewacht von Landgendarmen, eine Nacht und einen Tag, krakeelten in der Gaststube herum, aßen und tranken reichlich – sehr zur Freude des Gastwirtes, der zur Bedienung sogar die taube Oma aus dem Bett holte – und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. Dann ließ man sie ohne jede Erklärung wieder laufen. Erst als ihre Frauen aufgeregt berichteten, daß bei ihnen merkwürdige Individuen in Autos mit Berliner Kennzeichen aufgetaucht seien und nach den Männern gefragt hätten, wurden sie stutzig. Als sie dann im «Westhavelländer» vom 2. Juli über den vereitelten Putsch der SA unter Röhm lasen und außerdem erfuhren, wen man verhaftet und erschossen hatte, ging ihnen endgültig ein Licht auf.
«Allerhand von dem Landrat, das zu riskieren», sagte Onkel Hans. Er war eine Woche nach diesen Ereignissen herübergeritten gekommen, um alles noch einmal gründlich durchzukauen.
«Du meinst, euch in ‹Schutzhaft› zu nehmen?» sagte Vater.
Der Onkel nickte. «Hättest du das von diesem braunen Bruder gedacht? Natürlich haben wir uns nicht lumpen lassen», fuhr er fort. «Wir haben für ihn ein Silbertablett gekauft und unsere Namen eingravieren lassen. War nicht billig, kann ich dir sagen. Ich bin damit losgezogen.» Er schnitt sich mit nachdenklichem Gesicht eine Zigarre an, und ich gab ihm Feuer. «Aber es ist was Komisches passiert. Er wollte es partout nicht annehmen. Er hat mich ganz eigenartig angesehen und gemurmelt: ‹Hab’s nicht für Sie, hab’s für mich getan.› Einen Augenblick hab ich wahrhaftig geglaubt, er bricht in Tränen aus. Scheußlich, Alfred, scheußlich.» Die Zigarre schien ihm nicht zu schmecken, er legte sie auf den Aschenbecher.
Eine Pause entstand. Dann erhob sich der Onkel. «Na, dann will ich mal wieder.»
Vater sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Ich beeilte mich, in den Stall zu kommen und Onkel Hans’ Pferd zu satteln.
«Vier Paar Söckchen, fünf Paar Kniestrümpfe, ein Paar Halbschuhe», murmelte Mutter vor sich hin und hakte jeden Posten auf einer langen Liste ab, ehe sie ihn in den Reisekorb packte.
Als Quittung für mein Benehmen sollte ich nach Ostern 1935 nun doch in ein Internat kommen. Mutter hatte sich vor allem darüber erregt, daß ich mich ohne ihre Erlaubnis einfach Otto Klose und seiner Jungenschaft bei ihrer Fahrt zum Ritter Kahlebutz angeschlossen hatte. Auch die Jungmädel waren mit von der Partie gewesen. Zwar bestand der Bund bis jetzt aus nur vier Mädchen, aber das störte niemand – im Gegenteil: Jede konnte sich als «Führerin» fühlen, und auch mir gestattete man, das Zeichen dieser Würde, eine grüne Schnur, an die Matrosenbluse zu knöpfen.
Den Ritter Kahlebutz konnte man in einer Kirchengruft besichtigen. Er war einstmal mit einem furchtbaren Fluch belegt worden, so daß er nicht verweste. Beim Anblick der Mumie wurde mir flau. «Betet für die arme Seel’ des von Kahlebutz Kampehl!» Das wollte ich gern tun, wenn ich ihn mir nur nicht mehr ansehen mußte.
Mutter, der immer gleich der Massenmörder Hamann im Kopf herumspukte, nahm meinen Ausflug tragischer als Vater. Der wiederum ärgerte sich über meine Unpünktlichkeit und drohte mir, ich würde in Zukunft keinen Nachtisch mehr bekommen. Auch nannte er mich eine verwöhnte Göre, weil ich ständig vergaß, mein Waschwasser auszugießen, worüber sich das Mädchen beschwerte.
Zuerst wollten die Eltern mich an die Ostsee zu Tante Maisi, einer von Mutters Kusinen, schicken. «Du könntest von ihr aus zur Schule gehen. Die Seeluft wäre bestimmt gut für deine Bronchien», schlug Mutter vor. Das war nun ungefähr das Schlimmste, was ich mir ausmalen konnte. Die vierzehn Tage, die ich einmal bei Tante Maisi verbracht hatte, reichten mir. Die unverheiratete Tante war herzensgut, aber mit ihrer Fürsorge konnte sie einen zur Verzweiflung bringen. Die ganze Zeit dackelte sie hinter einem her. «Bist du schon auf dem Klo gewesen? Hast du auch was Warmes unter?» Nein, nur das nicht!
«Nun», sagte Mutter scheinheilig, «wir wollen dich zu nichts zwingen. Unter gleichaltrigen Mädchen würdest du dich vielleicht ja auch wohler fühlen. Du darfst selbst entscheiden.»
Ich trat die Flucht nach vorn an. «Dann will ich ins Internat!» rief ich.
Mutter brachte das Kunststück fertig, daß ich mich sogar darauf zu freuen begann. In Veras Stift sollte ich nicht kommen. Mir war’s nur recht, denn nach ihren Schilderungen mußte es da noch zugehen wie in Vaters Kadettenkorps. Große Schlafsäle, Sprechverbot bei den Mahlzeiten und eine hoheitsvolle Äbtissin im knöchellangen schwarzen Kleid, der man nie den Rücken zukehren durfte. Dazu eine vorsintflutliche Schultracht.
«Hätt mir auch gerade noch gefehlt, dich am Hals zu haben», sagte meine Schwester.
«Du bist ja bloß neidisch, weil ihr in euern doofen Kleidern wie Blutwürste ausseht», gab ich ihr’s zurück.
Dagegen galt das Pensionat, das man für mich ausgesucht hatte, als fortschrittlich, weil man keine Schultracht zu tragen brauchte und die Briefe ungeöffnet blieben. Außerdem war es kleiner und vor allem billiger, was den Ausschlag gab. Trotzdem versäumte Vater nicht, mich bei einem Spaziergang auf einen frischen Kahlschlag zu führen, auf dem die gefällten Bäume noch kreuz und quer lagen. «Alles für dich, mein Kind!» Dabei waren die Bäume dem Kiefernspanner zum Opfer gefallen.
Während wir im Wohnzimmer saßen und Mutter Namen in meine Wäsche nähte, schilderte sie mir mein zukünftiges Leben in lockenden Farben. «Denk nur an die vielen netten Mädchen, die du kennenlernst, und dann ist doch auch noch Didi da.»
Die Aussicht auf meine ältere Kusine Elisabeth dämpfte meine Vorfreude eher. Mit ihrer Biestigkeit hatte sie uns früher oft genug die Ferien verdorben.
«Die wird sich freuen», warf Vera denn auch prompt ein. «Du bist bestimmt die Dämlichste in der Klasse.»
«Vera», mahnte Mutter.
«Laß dir bloß nicht einfallen, nachts dauernd aufs Klo zu rennen und die anderen zu stören», fuhr meine Schwester unbarmherzig fort. «Möcht nicht wissen, was sie sonst mit dir anstellen.»
«Aber wenn ich muß», wandte ich erschrocken ein.
«Darfste abends eben nichts mehr trinken. Und deinen Bimbo laß auch lieber zu Haus.»
Das traf mich schmerzlich. Der einarmige, schon recht abgeliebte Teddy, dessen Gesicht ich aus einer Laune heraus kahlrasiert hatte, war zum Einschlafen ebenso wichtig wie Mutters Gutenachtkuß.
«Du kannst ja was von deinen Nippes mitnehmen», schlug Vera großmütig vor.
Dann war es soweit. Vater fuhr Mutter und mich mit dem Jagdwagen zur Kleinbahn. Unterwegs begegneten wir Bruno. Er brachte gerade seine Ziege zum Bock. «Machste los?» rief er mir zu. Eine weitere Verständigung war nicht möglich, denn die aufgeregte Ziegenbraut zerrte ihn meckernd in wilden Sprüngen hierhin und dorthin. «Willste woll, du Aas!» hörte ich ihn noch schreien, dann bogen wir ins Luch ein. Die Kiebitze jagten über die Wiesen, und ein kräftiger Westwind wehte vom Rhin her und riß an unseren Decken.
Als ich mich auf der Kleinbahnstation erst von den Pferden – «Kind, mach dich doch nicht gleich wieder schmutzig!» – und dann von Vater verabschiedete, kippte meine Stimme bedenklich.
«Nur keinen Seelenmatsch.» Vater machte ein unbehagliches Gesicht. «Weihnachten steht ja schon vor der Tür.»
«Wirklich, Alfred!» Mutter suchte nach ihrem Portemonnaie.
In der Kreisstadt stiegen wir in den D-Zug nach Berlin um, und auf dem Stettiner Bahnhof, von wo aus die Fahrt weitergehen sollte, setzten wir uns zum zweiten Frühstück in den Wartesaal. Mutter erlaubte mir gnädig, selbst etwas auszusuchen. «Aber keine Lampreten!» Die waren auf der Speisekarte sowieso nicht zu finden. Nach langem Überlegen entschied ich mich für eine Bockwurst, und Mutter wählte eine Königinpastete, über die sie allerlei Essenzen aus kleinen Fläschchen goß.
«Ellbogen vom Tisch, und nicht mit offenem Mund gekaut!» kommandierte sie automatisch, während sie interessiert zum Nachbartisch hinüberblickte, an dem eine einzelne Dame mit einem Mädchen in meinem Alter saß. «Irgendwie kommt sie mir bekannt vor», überlegte Mutter laut. «Jedenfalls sieht sie todanständig aus.»
Die todanständige Dame trug wie Mutter ein unauffälliges Schneiderkostüm im Fischgrätenmuster, darunter eine Hemdbluse mit Hirschhakennadel. Als bei einer Bewegung etwas Silbernes an ihrem Revers aufblitzte, geriet Mutter ganz aus dem Häuschen. «Kuck nur, ein Mädchen aus meinem Stift!»
Sie erhob sich. «Mutter!» flehte ich, tödlich verlegen, «Mutter!» Aber sie ließ sich nicht bremsen. Mit mir im Schlepptau segelte sie auf die fremde Dame zu. Die blickte zunächst ein wenig erstaunt, aber als sie das Stiftsabzeichen bei Mutter entdeckte, verklärte sich ihr Gesicht.
«Nein, so was! Sie auch? Welcher Jahrgang denn?»
Man stellte sich vor. «Das ist meine Viktoria. Wie schön, daß unsere Mädchen in dieselbe Schule kommen, dann können sie sich jetzt schon ein bißchen anfreunden.»
Doch damit hatten wir es nicht eilig. Unsere Mütter waren längst beim Du und in Erinnerungen versunken – «Wie hieß nur gleich die Lehrerin, die bei der Morgenandacht mit dem Klaviersessel zusammengekracht ist?» –, da schwiegen wir uns noch immer an. Wir schoben die Pfeffer- und Salzstreuer hin und her und musterten uns verstohlen. In unseren Schottenkleidern mit den weißen Kragen sahen wir wie Geschwister aus. Aber Viktoria war niedlicher als ich. Ihr rundes Gesicht mit den großen, nahe beieinanderstehenden grauen Augen glühte, als käme sie geradewegs aus einer Backstube, und dichtes, blondes Haar ringelte sich über Stirn und Schläfen. Sie warf den rechten Zopf zurück und zeigte mir stolz einen Ohrring mit rotem Stein.
«Viktoria», sagte ihre Mutter, «ich hab dir’s schon mal gesagt, mach endlich diese ordinären Dinger ab!» Und zu Mutter gewandt: «Ihr heißgeliebter Onkel hat sie ihr auf dem Schützenfest geschossen.»
Mutter meinte: «Warum seht ihr beiden euch draußen nicht ein bißchen um? Es ist Zeit genug.»
Wir holten unsere Mäntel vom Garderobenständer, und ich hörte Mutter noch sagen: «Bestellen wir uns was Ordentliches zu trinken. So was muß gefeiert werden.»
Wir schoben uns durch die Drehtür nach draußen. Schweigend gingen wir nebeneinander auf dem Bahnsteig entlang, zwei ernste kleine Mädchen, die ihre frischbesohlten Sonntagsschuhe bedächtig Schritt vor Schritt setzten, bis die Plattform zu Ende war und sich die Schienen zwischen rußgeschwärzten Mietshäusern verloren. Der klagende Pfiff einer Lokomotive schnitt uns ins Herz.
«Habt ihr schon Lupinen gedrillt?» fragte Viktoria etwas weinerlich.
«Haben wir», schnüffelte ich.
Allmählich wurden unsere Gespräche lebhafter. Kaninchen? Tauben? Fächertauben, darüber waren wir uns einig, sahen hübsch aus, waren aber nicht eßbar und daher schlecht zu verkaufen. Meerschweinchen waren nützlich, um Ratten von den Ställen fernzuhalten.
Viktoria holte zwanzig Pfennig aus der Tasche, und wir zogen aus einem Automaten eine Rolle Pfefferminz, aus einem anderen einen Riegel Schokolade und lutschten beides auf einmal, was unser Heimweh linderte. Als wir in den Wartesaal zurückkehrten, waren unsere Mütter gerade beim Zahlen.
Das Internat befand sich in einer mittelgroßen Stadt nördlich von Berlin und lag etwas außerhalb, in der Nähe des Stadtwaldes. Im Flur der altmodischen, mit vielen Zinnen und Türmchen verzierten Villa roch es nach Bohnerwachs und Bratfisch. Ein Hausmädchen nahm uns das Gepäck ab und führte uns ins Empfangszimmer, wo schon andere Mütter mit ihren Töchtern saßen. Mutter war ziemlich aufgeregt. Sie glättete meinen Kragen und schob meine Zopfspangen hoch. «Mach den Mund zu!» Dann wurden wir von der Vorsteherin ins Direktionszimmer gebeten. Ihre Figur, viel Busen und eine kräftige Kruppe, täuschte Mütterlichkeit vor, aber als ich ihre Stimme hörte, wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte.
«Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?» fragte Fräulein von Rembold abschließend. Das hatte Mutter. «Könnte meine Tochter nicht vom Frühsport dispensiert werden?» fragte sie mutig. «Der Arzt meint, ihr Herz ist nicht mitgewachsen, und außerdem …» Wer Mutter so reden hörte, mußte den Eindruck gewinnen, nichts an mir sei heil, außer der Zunge vielleicht.
Fräulein von Rembold lauschte Mutters weitschweifigen Schilderungen meines körperlichen Zustandes mit wachsendem Unmut. Ihrem Gesicht war anzusehen, was sie von Müttern im allgemeinen und von meiner im besonderen hielt. «Wir können ihr schließlich nicht das Frühstück ans Bett servieren», unterbrach sie abrupt Mutters Redefluß. Mutter geriet aus dem Konzept. Hilflos sah sie mich an. Sie wußte nicht mehr weiter. Vor meinen Augen zerbrach meine Stütze, mein Stab.
Die Vorsteherin stand auf. «Machen Sie sich keine unnützen Sorgen. Wir werden schon gut auf Ihr Töchterchen aufpassen.»
Mutter verabschiedete sich hastig von mir. «Also, dann auf Wiedersehen, mein Kind, wir sehen uns ja morgen.» Weg war sie, und ich war Fräulein von Rembold allein ausgeliefert. Sie betrachtete mich ohne Sympathie. «Eine Zahnspange hätten sie dir wenigstens verpassen können. Deine Zähne sehen ja furchtbar aus.» Sie schob mich hinaus.
Ich stand unschlüssig zwischen anderen, ebenso verdatterten Mädchen herum, da tauchte Elisabeth auf. Wie ein Engel schwebte sie die Treppe herunter auf mich zu: «Ach, da ist ja mein kleines Kusinchen.» Sie behandelte mich, als hätte ich gerade erst laufen gelernt, und nahm mich mit zuckrigem Lächeln bei der Hand. «Ich soll dir dein Zimmer zeigen.» Sie führte mich in ein Dreibettzimmer, das wie die anderen von einem langen Flur abging. Als ich mit ihr allein war, verwandelte sie sich wieder in die Elisabeth, die ich kannte, und nahm mir als erstes den Kofferschlüssel ab.
«Ich möchte mit Viktoria zusammenbleiben», sagte ich.
«Wer fragt denn dich? Wer ist das überhaupt?»
«Ich hab sie im Wartesaal kennengelernt.»
Meine Kusine hörte schon nicht mehr zu. Sie hatte sich auf meinen Koffer gestürzt und durchwühlte meine Sachen. «Hoffentlich habt ihr mir was mitgebracht.» Gierig machte sie sich über Mamsells Plätzchen und Sahnebonbons her. «Ist sowieso verboten», sagte sie mit vollem Mund, «muß abgegeben werden. Nach dem Essen bekommst du jeden Tag ein Häppchen zugeteilt.»
Am liebsten hätte ich ihr einen Tritt versetzt, aber ich war so eingeschüchtert von der neuen Umgebung, daß ich nur fragte: «Wie ist es denn hier so?»
«Du wirst dein blaues Wunder erleben», prophezeite Didi genüßlich.
Ein Gong ertönte. Jemand rief «Vite! Vite!», und wir rannten die Treppe wieder hinunter in den Eßraum. «Du sitzt neben Fräulein von Rembold.» Elisabeth grinste schadenfroh. «Na, dann unterhalt dich man schön!»
Mit einem Schlag wurde es totenstill. Die Vorsteherin kam mit anderen Lehrerinnen herein. In tiefem Schweigen löffelten wir eine klumpige Grießsuppe. Als Fräulein von Rembold mich fragte: «Avez-vous fait un bon voyage?» wurde mir die Stille im Speiseraum klar. Es war Französisch-Tag! Ich suchte nach einer Antwort, aber mein Gehirn hatte nur Schnickschnack gespeichert. «Ne voulez-vous promener mit mir in die Boomallee?» – und: «Le bœuf, der Ochs, la vache, die Kuh, fermez la porte, die Tür macht zu.»
Die Vorsteherin runzelte die Stirn: «Ich denke, du hast Französisch gehabt? Da müssen wir dich wohl eine Klasse zurückstufen.»
Nach dem Mittagessen durften wir unsere Sachen fertig auspacken. Danach machte ich mich auf die Suche nach Viktoria. Ihr Zimmer war am Flurende, hieß «Die Kemenate» und hatte sogar einen Balkon. Dort saß sie auf einem schon recht ramponierten Korbstuhl und besah sich ein Album mit Bildern von zu Haus.