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In ihrer unnachahmlichen Weise beschreibt Ilse Gräfin von Bredow in diesen Geschichten Augenblicke aus dem Alltag - liebenswürdig, aber mit Biss, irnonisch, aber zutiefst menschlich. Da ist die strebsame Karrierefrau, die von ihrer eigenen langjährigen Freundin ausgebootet wird; der Rentner, der um keinen Preis seine Selbständigkeit aufgeben will; der Schriftsteller, der die Glaubwürdigkeit seiner Romanideen an älteren Damen testet; die prächtige Bärbel, die Frau Petersen etwas zu kräftig unter die Arme greift; der temperamentvolle Teenager, der sich mit seiner etwas verschrobenen Tante solidarisiert - Unterhaltung im besten Sinn.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ilse Gräfin von Bredow
und andere alltägliche Geschichten
In ihrer unnachahmlichen Weise beschreibt Ilse Gräfin von Bredow in diesen Geschichten Augenblicke aus dem Alltag – liebenswürdig, aber mit Biss, irnonisch, aber zutiefst menschlich.
Da ist die strebsame Karrierefrau, die von ihrer eigenen langjährigen Freundin ausgebootet wird; der Rentner, der um keinen Preis seine Selbständigkeit aufgeben will; der Schriftsteller, der die Glaubwürdigkeit seiner Romanideen an älteren Damen testet; die prächtige Bärbel, die Frau Petersen etwas zu kräftig unter die Arme greift; der temperamentvolle Teenager, der sich mit seiner etwas verschrobenen Tante solidarisiert – Unterhaltung im besten Sinn.
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Widmung
König Pimpernel
Die gute Tat
Lizzy
Ein ganz normales Kind
Der Sündenbock
Die Schönste im Land
Die Erbtante
Freundinnen
Das Weihnachtsgeschenk
Das offene Wort
Die prächtige Bärbel
Der Dritte im Bunde
Raus bist du
Familienbande
Der Lockvogel
Für die Kartoffel-Pflanzer Rudolf Streit-Scherz und Ursula Griessel
«Na, denn noch schöne Urlaubstage», sagte der Taxifahrer und ließ, ungeachtet des strömenden Regens, Stefanies Koffer an der Gartenpforte stehen. Sie zog ihn bis zur Haustür hinter sich her und kramte die Schlüssel hervor. Während sie Koffer und Tasche im Flur abstellte, floh wie üblich allerlei kleines Getier, das sich, vor Kälte und Nässe Schutz suchend, durch Spalten und Risse in den Flur gedrängt hatte, erschreckt in alle Richtungen und verschwand unter der Scheuerleiste und dem rotbraunen aufgerollten Kokosläufer. Als sie durch die Räume ging, empfing sie als erstes das hauseigene Parfum, eine Mischung aus spakigen Kleidern, frischer Farbe und irgend etwas Verfaultem, das sich später als eine unter den Küchentisch gerollte Kartoffel entpuppte. So mühte sie sich, wenigstens eines der Fenster in der Diele zu öffnen, was ihr mit einigen Schwierigkeiten gelang, denn der frischgestrichene Rahmen war mal wieder von Farbe verklebt. Das gleiche tat sie im Wohnzimmer, voller Angst, bei dem herzhaften Versuch könne die Fensterscheibe sich aus dem bröckligen Kitt lösen. Dabei fiel ihr eine dicke Spinne auf die Hand, und es war schwer zu sagen, wer wen mehr erschreckte. In den Räumen war es angenehm warm. Der Nachbar hatte wohl vorsorglich die Heizung angestellt, und der Durchzug ließ einen Schwall frischer Seeluft durchs Haus strömen.
Im Lauf der Jahre sah sich Stefanie immer weniger imstande, den schweren Koffer die steile Treppe nach oben in die Mansarde zu bugsieren. So packte sie ihn unten aus und trug Stück für Stück hinauf, sortierte die Kleider in den kleinen Verschlag, der als Schrank diente, und die Wäsche in die Kommode. Das Zimmer, in dem sie sich seit vielen Jahren einquartierte, war mehr und mehr modernisiert worden. Man hatte den Bodenraum neben der Schrägwand isoliert, den Holzfußboden neu lackiert, einen Durchlauferhitzer unter dem Waschbecken angebracht, einen Heizkörper installiert und hier das einfache Glasfenster durch Thermopanescheiben ersetzt. Das einzige altmodische Stück war die Matratze, wie übrigens in den anderen Schlafzimmern auch. Sie war bestimmt mehr als fünfzig Jahre alt und natürlich noch dreigeteilt. Wem vorher Rückenschmerzen unbekannt gewesen waren, der lernte sie jetzt kennen. Nur Loni, der Hausbesitzerin und Freundin, schien der liebe Gott ein völlig anderes Kreuz beschert zu haben. Ihre Matratze in dem ehelichen Schlafzimmer war die schlimmste von allen und ließ die meisten Gäste das großzügige Angebot, dort einzuziehen, abschlagen. Außer auf Dellen und Buckeln lag man darauf wie auf einem schrägen, ständig wippenden Brett, was Loni als besonders gemütlich empfand. So verhallten Stefanies Mahnungen, doch endlich diese ungesunden alten Dinger rauszuschmeißen, denn ein Drittel seines Lebens verbringe man schließlich im Bett, ungehört. Auch störte es sie überhaupt nicht, daß man sich im Freundeskreis erzählte, einige Gäste hätten noch durchaus aufrechten Ganges und elastischen Trittes ihr Schlafzimmer aufgesucht und seien am Morgen darauf um Jahre gealtert, stöhnend und in greisenhafter Haltung am Frühstückstisch erschienen.
Stefanie ging nach unten, nahm aus dem kleinen Bauernschrank in der Diele eine Tasse und brühte sich in der Küche einen Tee auf. Mit dem Geschirr und einem Teller in der Küche vorgefundener ziemlich muffiger Kekse ging sie ins Wohnzimmer und nahm sich das Gästebuch vor. Von den nächtlichen Martyrien war darin allerdings nichts zu lesen, um so mehr von Regentagen. «Anfangs war es zum Verzagen, denn der Petrus war uns gram, bis nach circa zwanzig Tagen doch die liebe Sonne kam.»
Wie sie feststellte, war sie der erste Gast gewesen. Das Häuschen war von Lonis Ehemann Anfang 1962 recht preiswert erworben worden. Er hatte die ewigen Auseinandersetzungen, wohin man in den Ferien mit den Kindern aus zwei Ehen reisen sollte, satt gehabt. Im Februar war sie zum ersten Mal hingefahren, bei Windstärke neun und Eisregen. Es war die erste längere Strecke nach Lonis Führerscheinprüfung, die erst nach dem dritten Anlauf geklappt hatte. Der Fahrlehrer war entzückt gewesen über diese sichere Einnahmequelle und hatte sie väterlich ermahnt, nur ja nicht die Geduld zu verlieren.
Stefanie saß ziemlich unruhig neben ihr und schloß bei jedem Überholmanöver krampfhaft die Augen. Aber die Fahrt verlief reibungslos, bis auf die Kleinigkeit, daß an der Tankstelle weder der unbedarfte Lehrling noch Loni die Öffnung des Benzintanks fanden.
Das Haus empfing die Freundinnen im Schneegestöber, vom Nordost umbraust, mit klappernden Dachziegeln. Es lag wie verloren in einem kahlen Garten, vor dem sich bis auf ein paar zerstreut liegende Nachbarhäuser leer und endlos die Heide dehnte. Nur im Wohnzimmer gab es eine Gasheizung, so daß sie es vorzogen, ihre Mäntel anzubehalten. Das Zimmer war mit den alten Möbeln der früheren Hausbesitzerin eingerichtet, die, neu gestrichen und wie in der Diele mit Blumen bemalt, ganz behaglich wirkten. Auch im Mansardenzimmer, in das Stefanie sich einquartiert hatte, herrschte eine Temperatur von etwa null Grad, und es zog heftig durch die breiten Ritzen zwischen Holzverschalung und Boden. Dazu glitzerte das Holz vor Feuchtigkeit, und gelegentlich fiel ein Tropfen auf das kojenartige Bett. Aber mit einem Unterbett und zwei bleischweren Federbetten, die ebenfalls aus dem Haushalt der alten Frau stammten und Stefanie an ihre Flüchtlingszeit erinnerten, einer Wärmflasche und dicken Socken ließ sich die Kälte ganz gut überstehen, und auch die erste Bekanntschaft mit der antiken Matratze war noch einigermaßen auszuhalten. Man war ja noch jung und Kummer gewöhnt. Nur hatte sie in der Nacht ein paarmal das unbehagliche Gefühl, Hunderte von Augen seien auf sie gerichtet. Beim Frühstück mit starkem Kaffee und frischen Brötchen erzählte sie ihrer Freundin davon. Loni lachte. «Das sind die Holzwürmer. Die sitzen noch zu Hunderten in den Brettern. Irgendwann müssen wir da wohl mal mit Petroleum ran.» Aber trotz Kälte und Nässe, einem Boiler im Badezimmer, der nicht anspringen wollte, und klammer Bettwäsche waren es doch drei sehr schöne Tage mit Strandspaziergängen und Erkundigungsfahrten über die Insel.
Allmählich wurde das Haus zu dem, wofür es gedacht war: einem Sammelplatz für Mütter mit Kindern und deren Freunden während der Ferien. Kinder aller Altersstufen durchtobten es, und man konnte sich nur immer wundern, wie viele Personen in den fünf winzigen Zimmern Platz fanden und wie man mit dem einen Klo, der einen Dusche, dem einen Waschbecken zurechtkam. Lonis Mann ließ sich in den Ferien nur selten blicken. Gelegentlich kam er an den Wochenenden mit dem Bullenzug, von den Insulanern so genannt, weil ihn die meisten Ehemänner aus der Stadt für die Wochenenden bei den Familien benutzten.
Stefanie verbrachte regelmäßig ihren Urlaub hier, und jedesmal, wenn sie kam, gab es eine Neuerung: Kostbare Teppiche und Brücken schmückten die Räume, an den Wänden hingen wertvolle Bilder, sämtliche Zimmer waren mit einer Heizung versehen, und ihre Mansarde überraschte sie mit dem Durchlauferhitzer. Nur die Küche war ihrer Freundin gleichgültig. Sie hätte gut für eine Fotoausstellung unter dem Motto «Wie Flüchtlinge damals kochten» dienen können. Von den drei Flammen des Gasherds waren nur noch zwei zu benutzen, und beim Anzünden war es ratsam, wegen der stichartigen Flamme, die man zunächst erzeugte, den Kopf abzuwenden und einen Schritt Abstand zu halten. Der Kühlschrank von der Größe eines Pappkartons hatte selbstverständlich noch kein Tiefkühlfach, und die Spüle mußte aus derselben Zeit wie die Matratzen stammen. Als endlich, endlich eine fahrbare Waschmaschine in das Badezimmer einzog, verhedderte man sich an dem langen Kabel, das von ihr in die Diele führte, und beim Schleudern tanzte die Maschine wie ein Derwisch, so daß der Ablaufschlauch, der sich in dem teuren Waschbecken aus Porzellan nicht befestigen ließ, herunterrutschte und das Badezimmer unter Wasser setzte.
Einen Fernseher fand Loni überflüssig, und ihre Gäste wagten nicht zu widersprechen. Sich gegenseitig versichernd, was für eine Wohltat es doch sei, auf diese alle Unterhaltung tötende Flimmerkiste zu verzichten, fand man sich nichtsdestotrotz für den «Alten» oder «Derrick» bei Freunden oder im Kurhaus ein. Auch auf ein Telefon durfte man nicht hoffen, und man stand vor den wenigen Telefonzellen auf der Insel geduldig Schlange. Dagegen war der verwilderte Garten nun tipptopp gepflegt und das Grundstück mit einem Steinwall eingefaßt. Das Haus selbst prangte in einem altrosa Außenanstrich, und die Initialen der Freundin schmückten die Vorderfront. Die herrliche, duftende Heide gab es schon lange nicht mehr, dafür jede Menge Reihenhäuser, eins häßlicher als das andere, und der Autoverkehr konnte sich durchaus mit der Rush-hour in einer Großstadt messen.
Die erste Partie Kinder war verheiratet und teilweise schon wieder geschieden, und nun, in den neunziger Jahren, stellte sich endlich wenigstens eines der ersehnten Enkelkinder ein. Seinem Erscheinen verdankte das Haus eine Einbauküche mit Waschmaschine und Geschirrspüler, neue Bettwäsche, einen Fernseher, wenn auch ohne Fernbedienung, mit winzigem Bildschirm und nach kurzer Zeit bereits defekt gewordenem Einschaltknopf, und ein Telefon. Nur die Matratzen krümelten und mieften weiter vor sich hin, und Loni widersetzte sich allen flehentlichen Bitten ihrer Tochter, wenigstens für ihr Enkelkind eine neue anzuschaffen, denn diese Matratzen seien ja wohl das Unhygienischste, was es gebe. Hatte sich die Matratze bis jetzt auf Bettina schädlich ausgewirkt? Hatte sie davon eine Allergie bekommen, irgendwelche Stiche von irgendwelchen geheimnisvollen Tieren? Asthma? Nein. Also war doch alles in Ordnung. «Denk doch mal nach, Kind, was das alles kostet!» Und Loni drehte sich wohlgefällig in ihrem neuesten Yves-Saint-Laurent-Kleid vor dem Spiegel.
Stefanie schenkte sich Tee nach, blätterte weiter im Gästebuch und vertiefte sich in die Gedichte. «Ich bin das kleinste Kind im Haus, doch meine Ferien sind jetzt aus.» Und immer wieder: «Naß war’s, kalt war’s, windig war’s.» Gekritzeltes, Gezeichnetes, Gedichtetes, Geklebtes, alles war in dem fast vollen Gästebuch zu finden. Was war in diesen über dreißig Jahren im Freundeskreis nicht alles passiert! Ehen waren geplatzt und das oft auf schockierende Weise. Die Silberhochzeit eines befreundeten Ehepaares war groß gefeiert worden, mit Toasts auf die gemeinsamen schönen und schweren Jahre, mit Scharaden und neckischen Theateraufführungen. Launige Gedichte wurden vorgetragen, und jemand sang: «Dat du meen Leefsten büs.» Als endlich die letzten Gäste gegangen waren, hatte der Ehemann seinen Ring abgezogen und ganz ruhig zu seiner völlig sprachlosen Frau gesagt: «So, mein Liebling, das war’s. Nun möchte ich endlich, endlich meinen eigenen Weg gehen.» Und wie sich herausstellte, hatte er bereits seit zwanzig Jahren eine Geliebte. Es gab Krankheiten, Konkurse, Selbstmorde und grauenhafte Unfälle. Ein Sechsjähriger erdrosselte sich beim Schaukeln, ein anderes Kind trank eine giftige Flüssigkeit und verätzte sich den Magen, und ein Siebzehnjähriger verschwand auf Nimmerwiedersehen in einer Sekte.
Im Vergleich zu diesen Ereignissen war Stefanies Leben eher ruhig verlaufen: ihre Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Mann, der von den Freunden nur «der gute Karl» genannt wurde, das geordnete Leben in dem gemütlichen Reihenhaus, die Halbtagsbeschäftigung nach Karls Tod. «Bist du nicht manchmal traurig, daß du keine Kinder hast?» wollten die Freunde wissen.
«Nein, überhaupt nicht», sagte sie, und sie meinte es ehrlich. Die Kinder ihrer Freunde reichten durchaus zur Befriedigung ihrer eher verkümmerten mütterlichen Triebe, wobei sich allerdings die Sympathie auf beiden Seiten in Grenzen hielt. Die Mitteilung, die liebe Tante Stefanie werde über sie wachen, während die Eltern auf eine kleine Reise gingen, wurde nicht gerade mit Jubelschreien begrüßt. Stefanies Kochkünste waren mager, und sie konnte einer Meuterei nur vorbeugen, indem sie ein tägliches Frühstücksei bewilligte, das es sonst nur an Sonntagen gab. Das einzige, was die Kinder, bevor sich das Fernsehen ihrer Seelen bemächtigte, wirklich an ihr mochten, waren ihre Gutenachtgeschichten, die es an Gruseleffekten durchaus mit diesem Medium aufnehmen konnten. Die Kinder waren versessen darauf, auch wenn sie danach Alpträume hatten und wimmernd durch die Wohnung geisterten. Dagegen lehnten sie Bücher wie «Was drei kleine Bären im Walde erlebten» oder «Heidi» kategorisch ab. Manchmal gelang es Stefanie sogar später noch, sich gegen das Fernsehen zu behaupten. Sie hatte inzwischen eine ganze Sammlung von Horrorgeschichten. Da gab es die von dem armen Meerschweinchen, das von einem bösen Karnickel als Sklave im Bau gehalten wurde, oder von der betagten Maus, die mit letzter Kraft tief in einen riesigen Käse vorgedrungen war und dann doch verhungerte, weil sie ihr Gebiß zerbrochen hatte. Die Eltern waren entsetzt, und jüngere Mütter, die bereits einer Generation angehörten, der die Wissenschaft eingebleut hatte, Märchen strotzten vor sexuellen Symbolen und Sadismus, sagten zu ihren Männern, Tante Stefanie mit ihrer merkwürdigen Phantasie müsse bei aller Nettigkeit sexuell ja doch ziemlich verklemmt sein. Und dann fielen dunkle Andeutungen über «Alice im Wunderland» und ihren Autor, bei dem ja auch wohl nicht alles gestimmt habe.
Ein Blick aus dem Fenster sagte Stefanie, daß das Wetter sich gebessert hatte. Sie klappte das Gästebuch zu, trug das Teegeschirr in die herrschaftliche Küche und griff nach ihrem Parka, um an den Strand zu gehen. Der Wind hatte nachgelassen. Die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne gab sich Mühe, die viele Feuchtigkeit verdunsten zu lassen. Trotz fortgeschrittener Jahreszeit war die Insel noch voller Urlauber, und von einem einsamen Strandspaziergang konnte keine Rede sein. In den letzten Jahren hatte sich das Strandleben verändert. Burgen gab es nicht mehr und auch nicht mehr die strenge Trennung zwischen Nackten und Bekleideten. Nur die alberne Mode, daß bei kaltem Wetter die Männer sich nur oben herum dick einmummelten und die Frauen zu blankem Busen lange Hosen trugen, war geblieben.
Nach einer Stunde kehrte Stefanie in das Häuschen zurück. Zwei Tage noch, dann würde Loni mit der Enkeltochter erscheinen, Bettina, dem Herzepimpel. Wie hatte sie sich über andere Großmütter lustig gemacht! Jetzt jedoch entblödete sie sich nicht, der Friseuse, dem Berater bei der Bank, der Fußpflegerin und der Schneiderin jedesmal die neuesten Fotos von ihrem Engelsgeschöpf unter die Nase zu halten. Und da sie eine geschätzte Kundin war, bemühte man sich eilfertig, ihr Entzücken zu teilen. Sie nahm es daher Stefanie auch etwas übel, daß sie sich nur sehr gelegentlich bei ihr blicken ließ, wenn das Kind in ihrer Obhut war.
Am Tage der Ankunft ihrer Freundin bezog Stefanie die Betten und ärgerte sich wie immer über die Matratzen, diesmal vor allem über Bettinas. Sie schlug unwillig mit der Hand darauf. Eine Staubwolke löste sich, so daß sie niesen mußte, und etwas Spitzes bohrte sich in ihren Finger. Loni selbst hatte sich, wie Stefanie feststellte, eine Kaschmirdecke, die dreimal so teuer gewesen sein mußte wie eine neue Matratze, unter das Bettlaken gelegt.
Die Freundin kam mit Bettina allein. Ihrem Mann lag die Insel nicht besonders. Er fand sie deprimierend. Loni war’s nur recht. «Zwei Quengelköppe sind ein bißchen ville», sagte sie zu Stefanie bei der Ankunft und, mit Panik in der Stimme, zu Bettina, die ihnen voraus ins Wohnzimmer rannte: «Aber bitte nicht mit den Schuhen auf das neu bezogene Sofa!» Die Warnung war berechtigt. Der hellgelbe Seidensatin war überaus empfindlich.
Stefanie half ihr, den Koffer in ihr Schlafzimmer zu schleppen. «Was für eine abgestandene Luft!» Loni riß die Fenster auf, die Stefanie erst vor ein paar Minuten geschlossen hatte, weil es mal wieder regnete.
«Du willst es ja nicht wahrhaben, aber es sind nun mal die Matratzen», sagte Stefanie.
«Mag sein», sagte die Freundin, «aber du hast ja keine Ahnung, was das alles kostet! Außerdem, das ist eben der Inselgeruch. Den kannst du in fast allen Häusern finden.»
«Inselgeruch?» sagte Stefanie mit erhobener Stimme. «Das ist ja das Neueste, was ich höre.» Und darüber mußten sie beide lachen.
Gemeinsam brachten sie Bettina ins Bett, und Stefanie nahm die Gelegenheit wahr, darauf hinzuweisen, daß die Matratze für das geliebte Enkelkind eigentlich nur noch aus Staub bestehe. Loni ging jedoch nicht darauf ein, und Bettina verlangte energisch nach einem Schlummerlied, das ihr auch von Stefanie sofort serviert wurde. Es war ein Gedicht über einen kleinen Drachen, und Stefanie erfand ohne Schwierigkeit eine passende Melodie dazu.
Bin ein kleiner fieser Drache,
fies, solang es mir gefällt.
Bin von allen fiesen Drachen
wohl der fieseste der Welt.
Fies ist meine Denkungsweise,
fieser Atem strömt aus mir.
Ich war fies zu meinen Eltern
und bin fieser noch zu dir.[1]
Das Kind wollte mehr und gab keine Ruhe. Aber seine Großmutter meinte, nun sei es genug, und Stefanie versprach ihr die zweite Strophe für ein andermal. Während Bettina noch herumquengelte und sich nicht damit zufriedengeben wollte, klingelte unten das Telefon, und Loni verließ das Zimmer. «Aber eine Geschichte kannst du mir wenigstens noch erzählen», sagte Bettina.
«Hm», sagte Stefanie und starrte düster auf die verrottete Matratze unter dem verrutschten Bettlaken, die sicherlich voller Milben steckte. Milben liebten Matratzen. Sie hatte so ein Tier tausendfach vergrößert in einer Apothekenzeitung gesehen. Milben! Das war das Stichwort. Ihre Phantasie setzte sich sofort in Gang, und es entstand ein ganzes Volk dieser grausligen Geschöpfe. «Was sind denn Milben?» fragte Bettina schon etwas schläfrig und nur undeutlich, denn sie hatte mal wieder den Daumen im Mund.
«Milben gibt es seit Millionen von Jahren, und ein Volksstamm lebt nun in deiner Matratze.»
«In meiner Matratze?»
«In deiner Matratze», bestätigte Stefanie, «und natürlich, wie jedes Volk, haben sie auch einen König. Was meinst du, wie der heißt?»
Während das Kind nachdachte und Stefanie mit halbem Ohr auf die Stimme ihrer Freundin am Telefon lauschte, legte ihr die Phantasie bereits einen passenden Namen auf die Zunge. «Nun, ich will ihn dir verraten: Scarlet Pimpernel. Aber», fuhr Stefanie feierlich fort, «du darfst mit niemandem darüber sprechen. Es ist ein großes Geheimnis, das nur wir beide kennen dürfen.»
Das Kind legte einen Finger auf den Mund und sah sie verschwörerisch an. «Niemand», versprach es.
Als junges Mädchen hatte Stefanie den Roman «Die scharlachrote Blume» förmlich verschlungen und mit seinem Helden, einem waghalsigen englischen Lord, der unter dem Decknamen «Scarlet Pimpernel» während der Französischen Revolution zahlreiche französische Standesgenossen unter höchsten Gefahren vor der Guillotine rettete, alle Höhen und Tiefen dieses Abenteuers durchlebt. Und erst die mit Mißverständnissen, Verstellungen und verhaltener Leidenschaft gewürzte Liebesgeschichte!
«Aber wie ist denn der König in meine Matratze gekommen?» riß Bettina sie aus ihren Gedanken.
«Eine interessante Frage», sagte Stefanie, um Zeit zu gewinnen, und ließ ihre Augen über die Matratze wandern. «Wahrscheinlich durch das Loch da», sagte sie dann und deutete auf ein offensichtlich von einer brennenden Zigarette herrührendes kleines Loch, das unter dem verrutschten Laken sichtbar wurde.
Bettina bohrte interessiert darin herum. «Aber es ist sehr klein.»
«Völlig ausreichend für Milben», sagte Stefanie. In diesem Augenblick kam Loni zurück. «Wer war’s denn?» fragte Stefanie und machte dabei Bettina ein Zeichen, ja den Mund zu halten.
«Schröders natürlich.» Schröders waren ein Neuzugang in der Seniorenclique. Obwohl sie eines der schönsten Häuser mal eben aus dem Handgelenk für fünf (oder waren es zehn?) Millionen gekauft hatten, mußten sie sich noch sehr abstrampeln, um in dieser Clique Anerkennung zu finden. Eine Einladung von ihnen bedeutete immer ein fulminantes Essen in einem der teuersten Restaurants auf der Insel, sozusagen Hummer und Kaviar satt. Man rümpfte zwar über diesen zur Schau gestellten Reichtum die Nase, zierte sich aber beim Zugreifen nicht. Die Gastgeber nahmen es demütig hin, daß sie zu fortgeschrittener Stunde selbst kaum noch zu Worte kamen und man sich angeregt über ihre Köpfe hinweg unterhielt. Es war wie in Kinderzeiten, wo der Neue sich erst seine Sporen verdienen mußte und sich bis dahin bescheiden im Schatten der Platzhirsche zu halten hatte.
«Sie haben mich für heute abend eingeladen. Ich hab gar nicht erst erwähnt, daß du auch hier bist. Du wärst ja sowieso nicht mitgegangen, oder?» Loni sah Stefanie fragend an.
Stefanie nickte. Sie haßte diese sich endlos hinziehenden Abendeinladungen. Man saß festgenagelt am selben Platz und hatte sich im Grunde schon nach zwei Stunden nichts mehr zu sagen. «Bestimmt nicht», sagte sie.
Eine der vielen positiven Seiten ihrer Freundschaft war, daß auf der Insel jeder seine eigenen Wege gehen konnte. Auch diesmal stellte sich wieder ein gewisser Rhythmus ein. Tagsüber gehörte Bettina ihrer Großmutter und dem Strandleben, an den Abenden, an denen Loni reihum Bekannte und Freunde besuchte, dem Stamm derer von Pimpernel. Wenn Loni, bevor sie loszog, sich noch einmal bei ihrem Enkelkind aufs Bett setzte, um ihr gute Nacht zu sagen, zuckte das Kind jedesmal nervös zusammen. «Nicht, Omi!»
Ihre Großmutter starrte sie verständnislos an. «Warum soll ich mich nicht an dein Fußende setzen?»
«Es tut ihnen weh», murmelte Bettina.
«Was tut dir weh?» sagte die Großmutter, mit deren Gehör es nicht mehr zum besten stand. Aber weil das Kind ein so unglückliches Gesicht machte, holte sie dann doch einen Stuhl. Nach einer Weile verschwand sie, und Stefanie konnte ihre Geschichten über die unglaublichen Vorkommnisse in der Matratze weiterspinnen.
Eines Tages wurde für Loni eine Gegeneinladung fällig, und so kam der Nachmittag, an dem zehn Personen in der kleinen Diele und im Wohnzimmer zusammenkamen und sich mit gekonnter Unbekümmertheit auf Sesselchen und Sofa fallen ließen. Unter ihnen natürlich auch Schröders, die – Gastgeschenke waren in der Clique nicht üblich – Loni mit einem kunstvoll eingepackten exquisiten Parfum überraschten. Sie bewunderten hingerissen alles, sogar einen alten zerlumpten Bettvorleger auf der Diele. Bettina hatte ihn dort hingeschleppt, einen Pappkarton daraufgestellt und Arche Noah gespielt. «Menschen, nehmt mich mit, ich bin doch eine Mutter!» hatte sie dabei die ganze Zeit gerufen. Das Herzepimpel wurde natürlich sehr herausgeputzt, voll Stolz herumgereicht und hatte alle Mühe, sich Frau Schröders innigen Umarmungen zu entziehen. Die Kleine war von den vielen Fremden und den Schlückchen Sekt völlig überdreht und begann plötzlich, den erstaunten Gästen mit durchdringender Stimme eine verworrene Geschichte von Milben in einer Matratze zu erzählen. Die Unterhaltung erstarb, und alles starrte auf das Kind, das in entzückender Unbefangenheit von etwas sprach, wofür man normalerweise den Kammerjäger bestellt hätte.
«Milben, wie reizend», sagte Frau Schröder, und es war ihr anzusehen, wie sehr sie es ihrer Gastgeberin gönnte, von ihrer Enkeltochter blamiert zu werden. Aber Loni zeigte sich der Situation wieder einmal vollkommen gewachsen. «So ist es nun mal in diesen alten Häusern», sagte sie unbekümmert und, zu Schröders gewandt: «In Ihrem Haus, hat mir ein Handwerker erzählt, soll es ja nur so von Ratten gewimmelt haben.»
Man wandte sich sehr schnell anderen Themen zu, nämlich der Feststellung, daß das Publikum auf der Insel von Jahr zu Jahr schlechter werde und daß trotz der großen Arbeitslosigkeit niemand bereit sei, im Haushalt zu arbeiten.
Nachdem die Gäste gegangen waren, wappnete sich Stefanie für das, was sie wohl jetzt von Loni zu hören bekommen würde. Aber auch hier reagierte Loni wieder völlig anders. «Deine Phantasie möchte ich haben», war alles, was sie sagte, und sie betrachtete sich stirnrunzelnd einen dicken schwarzen Streifen auf der Schabracke des Sofas.
«Können sich denn die Leute nie vernünftig die Schuhe abputzen?»
Am nächsten Tag ging diesmal Stefanie mit der Kleinen zum Strand. Ihre Freundin hatte sie darum gebeten, weil sie, wie sie sagte, ein volles Programm habe. Als sie den Strand erreichten, herrschte dort bereits viel Betrieb. Während es sich Stefanie im Strandkorb bequem machte, tobte Bettina mit anderen Kindern herum. Zwischendurch aßen sie allerlei Ungesundes wie Pommes frites, irgend etwas Klebriges mit einer fetten Soße und natürlich Eis. Plötzlich hörte Stefanie, die wieder im Strandkorb eingenickt war, wie Bettinas Stimmchen ganz in ihrer Nähe einem betagten Ehepaar mitteilte, sie habe kein Zuhause. Sie müsse jede Nacht im Strandkorb schlafen. «Du armer kleiner Engel. Wirklich grauenhaft!» erregte sich die Frau. «Jetzt setzen sie in der Urlaubszeit schon Kinder aus. Früher waren es wenigstens nur Hunde.» Bettina hatte sich zu ihren Füßen gekauert und vertraute ihnen die Milbengeschichte an. «Verstehst du, was das Kind uns sagen will? Sie redet immerzu von einem König und von Milben.»
«Kinder muß man nicht verstehen», sagte der Mann und vertiefte sich wieder in die Bild-Zeitung.
Früher als üblich kehrte Stefanie mit Bettina in das Häuschen zurück. Dort waren inzwischen erstaunliche Dinge passiert: Loni hatte sämtliche Matratzen ausgetauscht. Die neuen waren von erlesener Qualität, allergiegetestet und bandscheibenfreundlich. Stefanie spürte förmlich, wie sich ihr Rücken auf diese herrliche Lagerstatt freute. Nur das Kind geriet außer sich. Scarlet Pimpernel samt Hofstaat und Volk für immer verschwunden! Ja, vielleicht sogar auf einer Mülldeponie gelandet, wo sie ihr Leben von hackenden Möwen und von Sturm und Regen bedroht fristen mußten. Bettina schmiß sich auf die Erde, trampelte und schrie und benahm sich wie eine Verrückte. Loni blieb gelassen. Kinder waren nun mal unberechenbar, nie wußte man so recht, was in ihren Köpfen vorging. «Nun wollen wir aber nicht albern sein», sagte sie schließlich nur.
Merkwürdigerweise fühlte auch Stefanie eine gewisse Wehmut. Galt sie den geschichtsträchtigen Matratzen, die ihr Leben so lange begleitet hatten, oder ihrem Geisteskind Scarlet Pimpernel? Ihre Phantasie tröstete sie sogleich mit dem Einfall, das Volk der Milben habe sich wahrscheinlich rechtzeitig auf den Bettvorleger gerettet und warte nur darauf, neues, noch jungfräuliches Land zu erobern. Das Kind schluchzte immer noch vor sich hin, und selbst die zweite Strophe des kleinen Drachen, die Stefanie ihr vorsang, konnte sie nicht beruhigen.
Ich bin fies, weil ich so fies bin,
fies bei Tag und fies bei Nacht.
Jeder weiß, daß ich so fies bin,
wer mir fies ins Auge lacht.
Nach mir schaut nur selten einer,
wenn ich fies vorüber geh.
Bin ein fieser, fieser Drache,
groß nur wie der dicke Zeh. [2]
«Selbsterkenntnis», sagte Loni zu Stefanie. «Dem Kind so einen Unsinn zu erzählen. Aber mit Milben ist es nun wohl endgültig vorbei.» Und sie schlug kräftig auf die neue Matratze, aus der auch nicht das kleinste Staubkorn entwich.
«Omi ist fies», schrie Bettina außer sich. Aber ihre Großmutter reagierte nicht, denn das Telefon klingelte mal wieder, und sie war schon halb zur Tür hinaus.
«Pscht!» sagte Stefanie zu der Kleinen. «Beruhige dich. Scarlet Pimpernel ist längst wieder in deinem Bett. Er hat mir eben zugewinkt.»
«Aber wo denn?» sagte die Kleine und hörte prompt mit Weinen auf.
«In deinem Kopfkissen», sagte Stefanie und gab den klumpigen Daunen in dem ausgeblichenen Inlett, das ihr schon längst ein Dorn im Auge war, einen kleinen Puff.
[1]
aus: Jack Prelutsky, «Lied vom fiesen Drachen». Aus dem Amerikanischen von Ludwig Harig. Aus dem Kinderbuch: Jack Prelutsky/Peter Sis, «The Dragons Are Singing Tonight».
© 1993 by Jack Prelutsky. Auf deutsch erschienen in: Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill … © 1994 Carl Hanser Verlag München Wien.
[2]
s. Fußnote 1
Was für ein bedauernswerter Mann und was für eine nachdenklich stimmende Geschichte, dachte Sigrid, als sie dem Ausgang des Stadtparks zustrebte. Sie hatte Glück gehabt, gerade heute schien die lange Regenperiode ein Ende gefunden zu haben, und die Sonne zeigte sich wieder, so daß sie ihren Stammplatz aufsuchen konnte, die Rasenbank. Im Rücken von einem dichten Wall Heckenrosen abgeschirmt, gab sie den Blick frei auf eine große Rasenfläche, auf der nur einige Silberpappeln und eine riesige Rotbuche standen. Das allerdings hatte gelegentlich den Nachteil, daß sich schwitzende Fußballer, wie dem Stall zustrebende Kühe brüllend, austobten und den herrlichen Rasen ramponierten. Von der Nachbarbank hatte ein Obdachloser Besitz ergriffen. Wie sie pochte er auf sein Gewohnheitsrecht, nur mit sehr viel mehr Erfolg. Wenn sein Platz von anderen Leuten besetzt war, drängte er sich ungeniert zwischen sie, handelte es sich um eine einzelne Person, rutschte er ihr immer mehr auf die Pelle, in beiden Fällen unappetitliche Geräusche von sich gebend, sich kratzend oder leise vor sich hinmurmelnd, bis auch die Dickfelligsten, auch des strengen Geruchs wegen, der von ihm ausging, die Stellung räumten. Nur mit alten Damen gab es gelegentlich Schwierigkeiten. Sie schienen gegen Gerüche jeglicher Art unempfindlich zu sein, redeten gütlich auf ihn ein und fragten ihn, ob er nicht Lust habe, sich ein paar Mark zu verdienen, in ihrem Garten gebe es eine Menge zu tun. Das wiederum erschreckte den Berber so, daß er sich einen Schluck genehmigen mußte mit der Entschuldigung: «Gut gegen Läuse.» Das war den Damen zwar neu, aber Grund genug, ihn seinem bedauernswerten Schicksal zu überlassen. Wenn er dann die Bank wieder für sich alleine hatte, streckte er sich darauf aus, faltete seine Hände auf dem recht stattlichen Bauch und gab sich dem Nichtstun hin.
So etwas hätte Sigrid nie gewagt. Sie fläzte sich auch nicht herum, sondern saß in manierlicher Haltung da, wie es sich für eine Frau mittleren Alters gehörte, ordentlich gekleidet, mit gepflegtem Haar und einer damenhaft distanzierten Freundlichkeit. Auf ihre weiblich-raffinierte Weise war sie auch sehr hinterher, ihren Stammplatz zu verteidigen, und hatte im Laufe der Jahre ihr eigenes System entwickelt. Sie nahm sich inzwischen das Recht heraus, allein zu bestimmen, wer neben ihr sitzen durfte. So pflanzte sie sich in die Mitte der Bank und belegte wie in einem Eisenbahnabteil den Rest mit Strickjacke, Sonnenschirm, Sonnenmilch, Zeitschriften und Obst, so daß sich die meisten Spaziergänger schon davon abschrecken ließen. Trotzdem blieb gelegentlich jemand stehen und sah sie fragend an. Aber dann genügte der Hinweis, im Prinzip sei die Bank besetzt, ihre beiden Enkel holten sich nur ein Eis. Es gab jedoch auch Unerschrockene, die trocken sagten: «Na, bis jetzt sind sie ja noch nicht da», oder: «Es ist ja genug Platz vorhanden», und sich in aller Ruhe neben ihr niederließen. Vor allem junge Frauen fürchtete Sigrid. Sie kamen mit ihrem Baby in der Kinderkarre den kleinen Kiesweg entlanggestampft, ließen sich neben ihr auf die Bank fallen, zerrten mit besitzergreifender Bewegung das erschreckt zappelnde Kleinkind aus der Karre und steckten ihm eine mit Tee gefüllte Nuckelflasche in den Mund, was in Sigrid jedesmal unangenehme Erinnerungen an ihre eigene Kindheit weckte, als sie noch von ihrer älteren Schwester wie eine Puppe behandelt worden war und ihr fürchterliche Dinge wie ungesüßter Rhabarbersaft oder Zuckerwasser eingeflößt wurden.
Ebenso lästig waren die Trostbedürftigen. In der Art, wie sie sich dahinschleppten und dann schwerfällig auf die Bank niedersinken ließen, wußte Sigrid schon im voraus, was ihr blühte, nämlich unerquickliche Gespräche über Krankheiten jeder Art, mit und ohne Operation, Scheidung und anderes Liebesleid. Daran änderte auch das keckste Äußere, flatternder Minirock, hochgeschnürte, klobige Schuhe und Ringe in Ohrläppchen und Nase, nichts. Sigrid erkannte sofort, daß auch dieses Menschenkind ein wahrer Jammerlappen war.
Trotz ihrer manchmal verdrießlichen Situation wäre Sigrid jedoch ebensowenig wie der Obdachlose auf den Gedanken gekommen, das Feld zu räumen. Auch ihn hatte sie, solange sie diesen Park besuchte, nie auf einem anderen Platz angetroffen, und seine Angewohnheiten hatten sich wie die ihren nie verändert. Hin und wieder trank er ein Schlückchen, aß ein Brot und entledigte sich, wenn es sehr warm war, seiner Schuhe und Socken, zog aber niemals Hemd und Jacke aus. Sein dunkles Haar war inzwischen ergraut, aber seine blühende Phantasie ließ nichts zu wünschen übrig. Nach wie vor bewunderte Sigrid seinen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, irgendeinem Neugierigen seine Lebensgeschichte aufzutischen. Sigrid, die noch ein sehr gutes Gehör besaß, folgte den immer neuen Varianten mit Spannung. Von der Vollwaise bis zum schwarzen Schaf der Familie war alles drin, und je nach politischer Mode war er ein Verfolgter des Nationalsozialismus, des Stalinismus oder des Rassismus. Er war das Opfer eines gewalttätigen Vaters, einer lieblosen Mutter, von herzlosen Vermietern auf die Straße gesetzt, von seiner Frau im Stich gelassen. Oft lachte Sigrid anerkennend still in sich hinein, wenn es ihm wieder einmal gelungen war, seine Zuhörer zu beeindrucken und einen stattlichen Geldschein zu kassieren. Sie selbst hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, nur die Blicke, die sie austauschten, wenn sie sich sahen, verrieten eine gewisse gegenseitige Sympathie. Nie hatte sie ihm etwas zugesteckt oder das geringste Mitleid gezeigt. Instinktiv spürte sie, daß er das als große Taktlosigkeit empfunden hätte und daß damit ihre wortlose freundschaftliche Beziehung verlorengegangen wäre.
So gaben sich beide ihrer Muße hin, wobei Sigrid in ihrem Dösen hin und wieder von jemandem gestört wurde, der sich neben sie setzte. Glücklicherweise gab es nicht nur Jammerlappen. Hin und wieder wurde ihr auch sehr Unterhaltsames geboten. Nach dem üblichen Blabla über das Wetter, die Jahreszeit, zu kleine und zu teure Brötchen, die Arbeitslosigkeit und die Rabauken, die die hübsche kleine Bronzestatue eines Schulmädchens in den Teich geschmissen hatten, nahm das Gespräch eine jähe Wendung, und sie bekam Spannendes zu hören. Wie etwa von dem netten Witwer, der erst nach dem Tode seiner geliebten Frau begann, ihre Begeisterung für klassische Musik zu teilen. Zum Andenken an sie war er mit einem CD-Player und ihrem Lieblingsstück, der Alpensymphonie von Richard Strauss, in die Berge gefahren, um dieses herrliche Stück bei Sonnenaufgang zu genießen. Doch statt der aufgehenden Sonne gab es ein plötzliches Unwetter, und er wäre fast samt CD-Player und Alpensymphonie unter dem herunterstürzenden Geröll begraben worden.
Auch Lehrreiches hatte sie in Gesprächen erfahren. Der Gutachter einer Versicherung war sogar in der Lage gewesen, ihr die Bedienung eines Laptops einleuchtend zu erklären. Sie hatte tatsächlich alles begriffen. Dabei war sie gewöhnt, daß ihr die Verkäufer in der Elektronikabteilung an der Nasenspitze anzusehen schienen, daß sie auf diesem Gebiet ein Steinzeitmensch war. Jedenfalls verkrümelten sie sich schleunigst, sobald sie auftauchte. Erst der Geschäftsführer ermunterte sie mit einem scharfen Blick zur Bedienung. Viel herausgekommen war dabei nicht. Ihre Begriffsstutzigkeit hatte die Geduld der jungen Männer auf eine harte Probe gestellt und ihre Frage, wieso man diesen ständig blinkenden Pfeil nicht abstellen könne, sie in ratlose Verwirrung versetzt.
Der Laptop-Besitzer hatte dazu sehr spannend aus seinem Beruf erzählt. Er klärte sie darüber auf, daß Einbrecher und Taschendiebe keineswegs mehr wie früher dunkle, verwahrloste Gestalten seien, sondern gut gekleidete, außergewöhnlich höfliche Männer und Frauen. Wenn einen solche Typen nach dem Weg, nach dem Zug, nach der Zeit fragten, hieß es, besonders wachsam zu sein, denn meist merkte man erst zu Hause, daß die Brieftasche fehlte. Das Neueste heutzutage seien Einbrüche in den Versicherungen selbst, wo man dann die Kundenunterlagen klaute, um sie an einschlägige Kreise zu verkaufen, die damit gezielt und auf Bestellung Antiquitäten und anderes Wertvolle stehlen ließen. Die Herren Einbrecher seien eben heutzutage von ganz anderem Kaliber. Sich zum Beispiel als Schutz einen Hund zu halten, sei völlig überflüssig. Die hätten so ihre Tricks, das Tier blitzschnell außer Gefecht zu setzen, ohne daß es überhaupt jemand mitbekomme.
Ja, es wurde Sigrid viel Unterhaltsames geboten, aber auch Trauriges oder Tragikomisches wie das, was ihr eine Frau ihres Alters erzählte. Sie hatte ihre Tante rührend gepflegt, so daß diese im Krankenhaus das Testament zu ihren Gunsten änderte. Satz für Satz erfuhr sie von dem zu erwartenden großen Erbe, bis sie vor Überraschung und Dankbarkeit zu weinen begann, was die Tante sichtlich genoß. «Und nun», sagte sie zum Abschluß, «gib mir mal den Kugelschreiber vom Nachttisch, ich muß noch unterschreiben.» Das waren ihre letzten Worte in diesem Leben. Dieses traurige Erlebnis des bedauernswerten Geschöpfes war ihr wegen seiner grotesken Seite noch lange nachgegangen.