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Ilse Gräfin von Bredow, Chronistin des Alltags, liebenswerte Erzählerin kleiner und großer Geschichten», feiert in diesem Buch mit uns Weihnachten, das Fest der Liebe, mit der es, wie sie mit bissig-liebenswürdiger Feder beweist, oft nicht so weit her ist. Eine Maus unterm Weihnachtsbaum bringt endlich einen Schwiegersohn ins Haus. Doch Mäuse haben leider ein kurzes Leben ... Weihnachten auf dem Land kann manchmal stressiger sein als im Großstadtgewühl, vor allem mit einem Ehemann, der auf Überraschungsgeschenken besteht ... Manchmal muss der halbwüchsige Großneffe eine Tante zum Fest im Kreise der Familie verführen ... Und manchmal hat die Oma die zündende Idee für ein absolut extravagantes Weihnachtsfest.
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ilse Gräfin von Bredow
Ilse Gräfin von Bredow, Chronistin des Alltags, liebenswerte Erzählerin kleiner und großer Geschichten«, feiert in diesem Buch mit uns Weihnachten, das Fest der Liebe, mit der es, wie sie mit bissig-liebenswürdiger Feder beweist, oft nicht so weit her ist.
Eine Maus unterm Weihnachtsbaum bringt endlich einen Schwiegersohn ins Haus. Doch Mäuse haben leider ein kurzes Leben ... Weihnachten auf dem Land kann manchmal stressiger sein als im Großstadtgewühl, vor allem mit einem Ehemann, der auf Überraschungsgeschenken besteht ... Manchmal muss der halbwüchsige Großneffe eine Tante zum Fest im Kreise der Familie verführen ... Und manchmal hat die Oma die zündende Idee für ein absolut extravagantes Weihnachtsfest.
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1 Die Nußhörnchen
2 Liebe lud mich ein
3 Der Zwischenraum
4 Ich und meine Oma und die Liebe
5 Einer zuviel
6 Ihr Kinderlein kommet
7 Jugendliebe
8 Fast ein Held
9 Das Überraschungsgeschenk
«Und ich erst!» rief Gesa ins Telefon. «Ich ärgere mich doch darüber noch viel mehr!» Sie hustete und hielt sich die Nase zu, damit ihre Nichte ihr die Erkältung glaubte. «Höchstwahrscheinlich habe ich Fieber. Jedenfalls ist mir so danach. Und die Knochen tun mir scheußlich weh. Ich wäre nur eine Last für dich, und anstecken würde ich euch womöglich auch. Wirklich zu dumm. Ausgerechnet am Heiligabend. Aber, was soll’s.» Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. «Es gibt Schlimmeres. Mach dir keine Sorgen. Vorräte hab ich reichlich. Ich werde ins Bett gehen, ein bißchen fernsehen und an euch denken. Feiert schön.» Sie legte den Hörer auf. «Uff, das wäre geschafft.»
Merkwürdigerweise spürte sie plötzlich ein vages Bedauern. Wahrscheinlich war das, was sie sich vorgenommen hatte, eine ziemliche Schnapsidee. Aber eins war sicher: Anna und ihre Familie würden über ihre Absage nicht gerade in Schwermut versinken. Gesa sah sie vor sich, wie sie am Mittagstisch saßen vor der für den Heiligabend obligatorischen Kartoffelsuppe, und hörte Anna sagen: «Zu ärgerlich, jetzt habe ich das Bett im Gästezimmer ganz unnötig bezogen. Tante Gesa hat Grippe», eine Mitteilung, die in dem üblichen allgemeinen Durcheinandergerede – «Hat jemand die Autoschlüssel gesehen?» – «Schlürf nicht so!» – «Der Hund müßte dringend mal raus!» – unterging. Der einzige, der ihre Absage ehrlich bedauerte, war vielleicht Ulrich. Annas Sohn hatte vor ein paar Tagen den Führerschein gemacht und die Mutter bestimmt überredet, ihn doch die Tante abholen zu lassen. Im übrigen würde das Weihnachtsfest wie immer nach demselben Ritual verlaufen, wozu nicht nur das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte gehörte, sondern auch ein Mordskrach, bei dem der Gast jedesmal inständig hoffte, nicht zum Schiedsrichter aufgerufen zu werden. Und dann, gleich nach der Bescherung, würden Hausherr und Kinder wieder zur Tagesordnung übergehen und sich ihren jeweiligen Lieblingsbeschäftigungen hingeben, am Computer sitzen, fernsehen, lesen oder telefonieren, den bunten Teller stets in greifbarer Nähe, den Gesa übrigens auch sehr schätzte, vor allem die von Anna selbstgebackenen Nußhörnchen. Der Hausfrau war es dann überlassen, sich um den Gast zu kümmern.
Die gute Anna. Wie ein Schäferhund seine Herde umkreiste sie unermüdlich die Familie, um sie zusammenzuhalten. «Einmal am Tage muß eine Familie um den Tisch versammelt sein», pflegte sie zu sagen. Sie liebte Unter-vier-Augen-Gespräche. «Britta, komm doch bitte mal, ich möchte dich kurz unter vier Augen sprechen.» Unter vier Augen mochte das Gespräch bleiben, unter vier Ohren bestimmt nicht, bei der Lautstärke, mit der die vierzehnjährige aufmüpfige Tochter ihrer Mutter die Antworten entgegenschleuderte. Denn die Regel, mit der Gesa noch aufgewachsen war, «Kinder sieht man, aber hört man nicht», war längst außer Kraft gesetzt.
Annas Mann Wolfgang, von einer gewissen lärmenden Herzlichkeit, dozierte vor Gästen gern über die Offenheit als Instrument der Mitarbeiterführung, schätzte diese Eigenschaft bei seiner eigenen Familie jedoch weniger. Da liebte er es, noch wie in Großvaters Zeiten umschmeichelt zu werden, wenn man bei ihm ans Ziel kommen wollte. Britta gelang dies ohne Schwierigkeiten: «Ach, Papilein, du bist mal wieder megageil», ihrem Bruder Ulrich aber weniger gut. Der trat oft gewaltig ins Fettnäpfchen, so auch mit der lässig hingeworfenen Bemerkung: «Willkommen im Familienhotel», als sein Vater von einer Geschäftsreise zurückkehrte. Wolfgang war so gekränkt, daß er von sich aus Gesa anrief, was er sonst nie tat. Für wen ackerte er sich eigentlich so ab, setzte sich dem ständigen Streß auf der Autobahn aus? Doch nur für Frau und Kinder. Und da war er ja wohl niemandem Rechenschaft darüber schuldig, daß er nach einer anstrengenden geschäftlichen Besprechung in Rom noch eben mal für einen Tag nach Venedig fuhr. «Und dann, stell dir vor, sagt doch mein Sohn ganz gönnerhaft zu seiner Mutter: ›Vertrauen schenken heißt laufenlassen, auch wenn der Untergebene mal einen anderen Weg einschlägt, als man für richtig hält.‹ Eine Frechheit, so was!» Gesa hatte sich die Bemerkung «Deine Worte» lieber verkniffen.
Aber auch wenn Wolfgang gelegentlich mit seinem Sohn zusammenrasselte, war er doch sehr stolz auf Ulrich, der stinknormal durch die Schule ging und als einzige Macke zwei straßbesetzte winzige Ringe in den Augenbrauen trug. Und auch Britta, trotz ihrer brandrot gefärbten Haare und der Angewohnheit, hinter jeden Satz ein «geil» zu setzen, benahm sich sonst kaum als Bürgerschreck.
Anna und Gesa waren nur entfernt verwandt. Als die kleine Familie vor fünf Jahren in ihre Stadt gezogen war und Anna die Anfangszeit noch ohne Wolfgang verbringen mußte, hatte sie die Tante ausgegraben. Es entwickelte sich für beide eine lose, aber nützliche Verbindung. Sie telefonierten häufiger, besuchten sich gegenseitig ab und an, und Anna sah nach ihr, wenn mal Not am Mann war. Dafür hütete Gesa ihnen im Urlaub das Haus. Ihr eigener Freundeskreis war im Lauf der Jahre sehr zusammengeschmolzen. Es gab nur noch wenige Gleichaltrige darunter, und die lebten außerhalb der Stadt, waren in ein Seniorenheim gezogen, ständig auf Reisen oder mit Kindern und Enkelkindern beschäftigt. So hatte es sich allmählich eingebürgert, daß Gesa Weihnachten bei Anna verbrachte, obwohl die inzwischen längst mit anderen jungen Ehepaaren Freundschaft geschlossen hatte, so daß es für sie nicht gerade die Krönung des Heiligabends sein konnte, sich eine schon ziemlich taube Achtzigjährige aufzuladen, die sich immer auf den falschen Platz setzte und aus Versehen den Hund trat, daß er jaulte.
Wahrscheinlich hing die Einladung mit christlicher Nächstenliebe zusammen, die sich zum Heiligabend ja überall mit der Pracht einer Nachtkerze entfaltete. Jedermann war um diese Zeit darauf aus, Freude zu schenken, egal in welcher Form und auf welche Weise. Gesa erinnerte sich wieder einmal daran, wie sich diese plötzliche Menschenliebe in dem Waisenhaus ausgewirkt hatte, in dem sie eine Zeitlang als Sekretärin beschäftigt gewesen war. Anscheinend hatten eine Menge Leute plötzlich nichts anderes im Sinn, als Kinderaugen glänzen zu sehen. Jedenfalls klingelte das Telefon von früh bis spät, und es hagelte geradezu Einladungen für die armen Geschöpfe. Dabei wußte sie aus langjähriger Erfahrung nur zu gut, daß Mitgefühl und Hilfsbereitschaft schneller an Reiz verloren als eine Tanne Nadeln und daß bereits ein Wochenende später sich von all diesen netten Tanten und Onkeln, von denen die Waisen mit Freundlichkeiten und Geschenken überschüttet worden waren, kaum noch jemand ein zweites Mal im Waisenhaus blicken ließ.
Auch die Bettler hatten um diese Jahreszeit Hochkonjunktur. Und nicht nur sie. Wie ihr von einem Vetter erzählt wurde, gehörte es auch bei wohlsituierten Mitgliedern des Lions Clubs, der Rotarier und anderer Männervereine, die sonst von ihren Frauen nur schwer dazu zu bewegen waren, ein hinfällig und somit uninteressant gewordenes Familienmitglied zu besuchen, zum guten Ton, den Samariter zu spielen. Geschäftig eilten sie mit stärkenden Getränken und Süßigkeiten oder Blumen in Pflegeheime und Krankenhäuser und gaben sich redlich Mühe, aufmunternd zu wirken – «Hübsch haben Sie’s hier» –, was den Patienten, der in einem winzigen Dreibettzimmer dahinkümmerte, eher verwirrte. Kinderchöre sangen Weihnachtslieder auf den Fluren, und in Gesas Kirche, in der sich der junge Pastor normalerweise ein wenig deplaziert vorkam, weil er seine brillanten Reden an ein paar alte Frauen wie Gesa verschwenden mußte, konnte er endlich einmal in einer brechend vollen Kirche vor all den schicken jungen Ehepaaren und ihrem Nachwuchs zeigen, was er auf dem Kasten hatte.
Aber das Fest aller Feste forderte seinen Tribut, und es war nicht immer ganz leicht, sich dem energischen Griff christlicher Fürsorge zu entziehen. Sogar in den Medien war man ständig auf Jagd nach den Mühseligen und Beladenen und strengte sich an, sie wenigstens einmal im Jahr ans Licht zu zerren. Jedesmal, wenn Gesa sich so eine Sendung ansah, stellte sie mit einer gewissen Befriedigung fest, daß sie Gott sei Dank so ein Krepel noch nicht war. Was sie betraf, sie konnte noch gut allein zurechtkommen. Natürlich hatte sie auch so ihre Zipperlein und brauchte sehr viel längere Zeit als früher, die kleine Wohnung in Schuß zu halten. Aber sie fühlte sich durchaus noch kräftig genug, in diesem Jahr dem ganzen Brimborium einmal die Stirn zu bieten und den Heiligabend nach ihrem Gusto zu verbringen.
Sie stand auf und ging in die Küche, um sich ihr Mittagessen zuzubereiten. Während sie mit Geschirr, Kochtöpfen und Bestecken hantierte, erinnerte sie sich geradezu mit Wollust an so manchen schiefgegangenen Weihnachtsabend, an dem sie wirklich besser daran getan hätte, einfach zu Haus zu bleiben. Etwa den mit der frischgeprägten Witwe, zu der sich eine weitere gesellte. Der ganze Abend hatte überwiegend darin bestanden, daß beide sich in der Lobpreisung ihrer verstorbenen Männer zu übertrumpfen versuchten. Gesa hatte die Herren gut gekannt, aber die Farben, in denen sie jetzt von ihren Frauen geschildert wurden, mußten aus einem völlig anderen Tuschkasten stammen. Sie war froh und dankbar, nach einer gewissen Anstandsfrist die beiden «Schwestern im Leid» sich selbst überlassen zu können.
Ebensowenig erfreulich war das Weihnachtsfest gewesen, bei dem sie wohl hauptsächlich als Katalysator dienen sollte, weil einer der Partner bereits auf dem Sprung war, die Familie zu verlassen, und man nur der Kinder wegen das Fest noch gemeinsam feierte. Daran änderten auch ein hervorragendes Essen, die liebevoll für sie ausgesuchten Geschenke und ein Weihnachtsbaum wie aus dem Bilderbuch nichts. Bereits beim Nachtisch begann das Ehepaar, wenn auch mit Rücksicht auf die Kinder in liebenswürdigem Ton, die Klingen zu kreuzen, und Gesa war so bald wie möglich unter einem fadenscheinigen Vorwand geflüchtet.
Gerechterweise mußte sie zugeben, daß sie in früheren Jahren alles darangesetzt hatte, gerade Weihnachten nicht allein zu sein, vor allem im Krieg. Da hatte man es dringend nötig, diesen Tag mit den Angehörigen oder Freunden zu verbringen, und war schon voller Dankbarkeit, wenn das Fest nicht durch eine erneute Todesbotschaft, die wie ein Damoklesschwert über jeder Familie hing, belastet wurde. Gelegentlich hatte sie mit Anna darüber gesprochen. «Man hat im Alter einfach nicht mehr so das Bedürfnis nach Geselligkeit», sagte Gesa. Anna lachte. «Das redest du dir nur ein.»
Einen Adventskranz oder einen Weihnachtsbaum hatte Gesa sowieso schon lange nicht mehr, sehr zum Befremden der Nachbarn, die ihre Wohnung in der Weihnachtszeit schmückten, als könnte ein Engel persönlich bei ihnen auftauchen und die Botschaft von Christi Geburt verkünden. So brauchte sie wenigstens keine Angst zu haben, daß irgend etwas in Brand geriet, und mußte sich nicht hinterher mit einer nadelnden Tanne abplagen.
Nachdem sie gegessen hatte, spülte sie das Geschirr ab und beschloß, sich noch ein Weilchen hinzulegen. Es war noch eine Menge Zeit, bis sie ihren Plan ausführen konnte.
Sie wurde von lebhaften Geräuschen im Treppenhaus geweckt. Die Älteren unter den Mietern schienen sich auf den Weg zu ihren Kindern zu machen oder wurden von ihnen abgeholt. Sie hoffte nur, daß auch Frau Voß dazugehörte. Lange Zeit hatte sie gedacht, daß die mit ihrem Sohn wirklich gut dran war, denn nach ihren Schilderungen kümmerte er sich in rührender Weise um sie. Aber als sie diese Fürsorge einmal vor ihrem gemeinsamen Hausarzt rühmte, zog der nur die Augenbrauen hoch und sagte: «Der Sohn? Das ist mir neu.»
Der Arzt war ein noch junger Mann und klapperte auf Holzschuhen und in ausgefransten Jeans die Flure entlang. Die alten Patienten, die er regelmäßig einmal in der Woche besuchte, versuchten ihn ein bißchen zu bemuttern. «’ne neue Jacke könnten Sie sich nun wirklich mal leisten, Herr Doktor.» Er mochte anscheinend alte Menschen und packte sogar hin und wieder einen seiner Patienten, um den sich sonst niemand kümmerte, ins Auto und fuhr mit ihm in sein kleines Bauernhaus am Rande der Stadt. Ein weißer Rabe unter seinesgleichen? Dieses Vorurteil konnte Gesa ebensowenig bestätigen wie die Meinung, die Jungen scherten sich einen Dreck um die Probleme der Alten. Der Student, der ihr das Mineralwasser brachte und neben seinem Studium auf einer Sozialstation arbeitete, berichtete ihr jedesmal ganz erschüttert über das, was er so bei seiner Arbeit erlebte. «Und immer heißt es Tempo, Tempo. ’n alter Mensch ist doch keine Vase, die ich abstaube.» Ihre Generation war da eigentlich härter. Natürlich hatte man sich zwangsläufig in Krieg und Nachkriegszeit gegenseitig beigestanden. Aber als man für einen hinfällig gewordenen alleinstehenden Onkel, den sie sehr mochte, endlich einen Platz im Altersheim gefunden hatte, gaben sich die Angehörigen nicht gerade die Klinke in die Hand, wofür die schlechten Verkehrsverbindungen in diesen Jahren ein gutes Alibi boten, auch für sie.
Sie zog sich an und ging zum Fenster. Draußen war es jetzt fast schon dunkel. Die Glocken hatten angefangen zu läuten. Es war ein Heiligabend, wie er gern in den Weihnachtsgeschichten geschildert wird, mit klarem Frost, einer leichten Schneedecke und einem glitzernden Sternenhimmel, genau das richtige für das, was sie sich vorgenommen hatte. Sobald auf den Straßen Ruhe eingekehrt war, wollte sie mit der U-Bahn bis zum nahegelegenen Naturschutzgebiet fahren. Dort konnte man zwischen moorigen Wiesen, Birken und Erlen unter einem weiten Sternenhimmel die so kostbar gewordene totale Stille noch genießen.
Der Gedanke daran hatte sie schon seit einigen Wochen zu diesem Ausflug verlockt. Aber erst heute fand sie den Mut, sich vor Annas Einladung zu drücken. Mein Gott, was bist du doch für ein Feigling, dachte sie einen Augenblick zerknirscht. Aber wäre es nicht sehr verletzend gewesen, einfach so mit der Wahrheit rauszurücken? Zumindest hätte es für die eher prosaische Anna einfach verrückt geklungen. Und das war es ja auch. Aber ihr war nun mal danach zumute, auch auf die Gefahr hin, sich womöglich in einem Karnickelloch den Knöchel zu verknacksen und den Rest der Nacht auf einem Baumstamm verbringen zu müssen. Denn daß noch irgendein anderer Mensch auf die Idee käme, dort den Heiligabend zu verbringen, war kaum anzunehmen. Das nötige Licht würde ihr der zunehmende Mond geben. Außerdem sah sie noch recht gut im Dunkeln. Schließlich war sie noch mit Petroleumlampen und Kerzen aufgewachsen. Und sie fand sich in dem Naturschutzgebiet durchaus zurecht. Schon im voraus kostete sie dieses wundervolle Gefühl aus, dort zwischen Wiesen und Schonungen herumzu stapfen und die Natur ganz für sich allein zu haben, eingehüllt von einer Stille, die eine große Ruhe in einem auslöste und einem gleichzeitig das Gefühl gab, nur ein Staubkorn zu sein. Schon als Kind war es ihr so gegangen. Bevor die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum angezündet wurden und die Bescherung begann, war sie noch einmal aus dem Haus gelaufen bis zu einer Koppel außerhalb des Dorfes und hatte diese Empfindung ausgekostet, bis der Frost ihr Beine machte. Ihr Ausflug war niemandem aufgefallen, und sie sprach auch nie darüber.
Inzwischen hatten sich allerdings die Zeiten sehr geändert. Vielleicht war es ja wirklich etwas leichtsinnig, so spät abends noch allein unterwegs zu sein. Aber dann beruhigte sie sich damit, daß Missetaten am Heiligabend als besonders verabscheuungswürdig galten und daher strafverschärfend. Man konnte nur hoffen, daß Mörder und Diebe sich rechtzeitig daran erinnerten. Sogar im Kriege schwiegen die Waffen, wie es so schön hieß, was allerdings nicht verhindern konnte, daß zwar der Heiligabend von Luftangriffen verschont blieb, aber dafür die am Tag davor abgeworfenen Zeitbomben zur Weihnachtsbescherung explodierten. Doch an den Krieg wollte sie nun wirklich nicht denken.
Zwei Stunden später machte sie sich auf den Weg. Keine Menschenseele weit und breit, genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Vorsichtig stieg sie die Treppe zur U-Bahn-Station hoch. Auch hier herrschte völlige Ruhe. Die Schienen glänzten im Mondlicht. Sie sah auf den Fahrplan. Enttäuscht stellte sie fest, daß sie mindestens noch zwanzig Minuten warten mußte. Ein Zug war wohl gerade abgefahren. So marschierte sie den langen Bahnsteig auf und ab, und mit jeder Minute verflüchtigte sich ihre hochgespannte Erwartung. Der Bahnsteig war nun nicht mehr leer. Zwei wenig vertrauenerweckende Männer kamen auf sie zu und sprachen sie an. «Oma, haste mal ’ne Mark?» Als sie den Kopf schüttelte, machten sie eine unflätige Geste. Dann kam endlich der Zug wie eine funkelnde Lichterschlange herangekrochen. Der vor ihr haltende Waggon war menschenleer. Sie stieg ein, doch als sie sich umdrehte, sah sie in die Gesichter der beiden Männer mit dem finanziellen Engpaß. Schreckensbilder stiegen in Sekundenschnelle in ihr auf: Knüppel auf den Kopf, schwerer Sturz auf den harten Boden, gebrochener Oberschenkel, Handtasche weg. Sie lief durch den Waggon, und es gelang ihr, ihn wieder zu verlassen, ehe sich die Türen schlossen. Die beiden Männer sahen sie verdutzt an, als sie an ihr vorbeifuhren.
Da stand sie nun wie eine Idiotin und haderte mit ihrer Feigheit. Andere Frauen ihres Alters durchquerten noch allein die Wüste oder trampten in einem Campingwagen quer durch Mexiko und nahmen in Kauf, überfallen und beraubt zu werden. Als sie die Treppe hinunterging, wäre sie fast ausgerutscht, und als sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt war, stellte sie fest, daß sie vergessen hatte, im Schlafzimmer das Kippfenster zu schließen. Es herrschte eine eisige Kälte. Zu allem Überfluß gab auch noch die Glühbirne in ihrer Stehlampe den Geist auf, und sie konnte keinen Ersatz finden. Die Deckenbeleuchtung tauchte den Raum in ein fahles, ungemütliches Licht, und die Stille im Haus und in der Wohnung hatte jetzt etwas Bedrückendes.
Sie zog den Mantel aus und ließ sich in einen der kleinen Sessel fallen. Stille Nacht, heilige Nacht. Danach war ihr im Moment wirklich nicht zumute. Dafür ging ihr die Arie des Florestan aus «Fidelio» durch den Kopf: «Gott, welch Dunkelheit, welch grauenvolle Stille.» Das einzige Geräusch war der tropfende Wasserhahn. Anna las jetzt wahrscheinlich gerade die Weihnachtsgeschichte: «Und es waren Hirten auf dem Feld, die fürchteten sich sehr.» Gesa fürchtete vor allem, nun wirklich eine Erkältung zu bekommen. In ihrem Hals begann es bereits zu kratzen. Kein Wunder, so durchgefroren wie sie zurückgekehrt war.
Das Schrillen der Klingel an der Wohnungstür ließ sie zusammenfahren. Wer konnte das jetzt noch sein? Hoffentlich nicht Frau Voß. Zur Zeit fühlte sie sich deren Lobpreisungen über den entzückenden Sohn nicht gewachsen. Aber im Flur rührte sich nichts. Es war also die Haustür. Sie drückte auf die Taste der Sprechanlage.
«Ja, bitte?»
«Ich bin’s, Tantchen.»
«Ulrich, du?» Automatisch drückte sie den Summer, und ehe ihr viel Zeit zum Nachdenken blieb, stand er schon an der Wohnungstür. Sie öffnete sie völlig überrumpelt.
«Wo kommst du denn her? Ich denke, ihr sitzt jetzt gemütlich im Weihnachtszimmer und habt die Kerzen angezündet.»
«Haben wir auch. Aber Mami hat gesagt, ich soll mal schnell nach dir sehen und dich, wenn du dich wieder besser fühlst, gleich mitbringen. Und das tust du ja wohl auch. Oder warum bist du sonst tipptopp angezogen und liegst nicht im Bett?» Er sah sich im Zimmer um. «Kalt hast du’s hier. Und dann diese Beleuchtung!»
«Die Birne von der Stehlampe ist durchgebrannt», erklärte Gesa, während sie hastig ein paar Sachen zusammenpackte. «Und ich hab vergessen, mir Ersatzbirnen zu kaufen.»
«Kein Problem, davon hat Mami sicher reichlich. Und sie gibt dir welche mit, wenn ich dich wieder nach Haus bringe. Bist du fertig?» Sie nickte. Er half ihr in den Mantel. «Also dann, let’s go.»
Gesa zog die Wohnungstür hinter sich zu und schloß ab.
«Hat deine Mutter wieder Nußhörnchen gebacken?» fragte sie, während sie die Treppe hinuntergingen.
«Klaro», sagte Ulrich. «Und ich hab mächtig aufgepaßt, daß Britta dir noch welche übriggelassen hat. Du ißt sie doch so gern.»
«Bist ein kluges Kerlchen», lobte ihn Gesa.
«So ist es, Tantchen.»
Sie waren inzwischen am Wagen angekommen. «Und nun zeig ich dir mal, was in der Karre steckt.» Er öffnete die Wagentür, und die beiden Ringe in seinen Augenbrauen funkelten im Licht der Straßenlampe wie zwei kleine Sterne.
Am ersten Advent passierte Margret endlich etwas, worauf ihre Familie schon lange vergeblich gewartet hatte: Nach einem Kinobesuch verliebte sie sich in einen jungen Mann, der ihr in der U-Bahn gegenübersaß. Vielleicht war es das Schicksal des «englischen Patienten» auf der Leinwand, von dem ihr Herz berührt worden war, oder die vorweihnachtliche Stimmung in der Stadt: kein Schaufenster, das nicht wenigstens einen auf dem Schlitten sitzenden Nikolaus, den Stall von Bethlehem oder zwischen Schuhen und Handtaschen hervorlugende Engel zeigte. Alles strahlte, spiegelte und blendete, so daß man sich in das Innere einer teuren Parfümerie versetzt fühlte, wenn man die Straßen entlangbummelte, in denen sich das Läuten der Kirchenglocken mit Weihnachtsliedern ohne Ende mischte. Vielleicht war es einfach nur das knackige Aussehen des jungen Mannes, der sie so fröhlich anblinzelte und mit einem «Hoppla!» gerade noch verhinderte, daß ihr sämtliche Einkaufstüten vom Sitz rutschten.