Willst du glücklich sein im Leben - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Willst du glücklich sein im Leben E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

»Mit Nora wollte ich eine Frau meiner Generation zu Wort kommen lassen, wie es viele gibt: unbekümmert und unsentimental, selbstironisch und ein wenig naiv, immer bereit, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.« Genau das hat Nora ihr Leben lang getan, denn auch sie ist eine jener Frauen, von denen eine der eindrucksvollen Gestalten in diesem Roman so treffend sagt, sie seien alle »zur falschen Zeit jung gewesen und werden zur falschen Zeit alt«. Der Krieg mit all seinen Folgen hat sie um ihre besten Jahre betrogen - und was sie nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben an Rente zu erwarten hat, kann ihr ohne weiteres ein geruhsames, sorgenfreies Alter sichern. Doch Nora hat gelernt, ihr Leben zu meistern, und sie wird es auch weiterhin tun: tatkräftig, aufgeschlossen und mit einer gesunden Portion Humor. Denn sie empfindet sich keineswegs als zum alten Eisen gehörend, sondern sieht auf einmal bisher nicht geahnte Möglichkeiten, sich überall dort nützlich zu machen, wo ein reifer, zuverlässiger Mensch gebraucht wird. So wird das »dritte Alter« für sie zu einem Lebensabschnitt, der ihr neue Erfahrungen, neue Befriedigungen und ein ganz neues Gefühl von Freiheit schenkt. Auch in diesem neuen Buch zeigt sich die Stärke der Autorin in der kleinen literarischen Form. Sie versteht es unvergleichlich, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verweben, mit sparsamen Mitteln Zeitkolorit zu evozieren und mit eine untrüglichen Gefühl für Zwischentöne Menschen zu schildern, an deren Schicksal man Anteil nimmt.

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Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ilse Gräfin von Bredow

Willst du glücklich sein im Leben

Geschichten von gestern – Geschichten von heute

 

 

Über dieses Buch

 

 

Mit Nora wollte ich eine Frau meiner Generation zu Wort kommen lassen, wie es viele gibt: unbekümmert und unsentimental, selbstironisch und ein wenig naiv, immer bereit, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.«

Genau das hat Nora ihr Leben lang getan, denn auch sie ist eine jener Frauen, von denen eine der eindrucksvollen Gestalten in diesem Roman so treffend sagt, sie seien alle «zur falschen Zeit jung gewesen und werden zur falschen Zeit alt». Der Krieg mit all seinen Folgen hat sie um ihre besten Jahre betrogen - und was sie nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben an Rente zu erwarten hat, kann ihr ohne weiteres ein geruhsames, sorgenfreies Alter sichern.

Doch Nora hat gelernt, ihr Leben zu meistern, und sie wird es auch weiterhin tun: tatkräftig, aufgeschlossen und mit einer gesunden Portion Humor. Denn sie empfindet sich keineswegs als zum alten Eisen gehörend, sondern sieht auf einmal bisher nicht geahnte Möglichkeiten, sich überall dort nützlich zu machen, wo ein reifer, zuverlässiger Mensch gebraucht wird. So wird das «dritte Alter» für sie zu einem Lebensabschnitt, der ihr neue Erfahrungen, neue Befriedigungen und ein ganz neues Gefühl von Freiheit schenkt.

Auch in diesem neuen Buch zeigt sich die Stärke der Autorin in der kleinen literarischen Form. Sie versteht es unvergleichlich, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verweben, mit sparsamen Mitteln Zeitkolorit zu evozieren und mit eine untrüglichen Gefühl für Zwischentöne Menschen zu schildern, an deren Schicksal man Anteil nimmt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Für Gertrud und Dietrich von Saldern

1

«Frau Lechow, können Sie mir vielleicht sagen, was ich damit soll?« Die Redakteurin hatte die Hand über die Telefonmuschel gelegt und schnippte Nora einen Brief quer über die Schreibtische, an denen sich die beiden Frauen gegenübersaßen. Ihre überhebliche Art brachte Nora wieder einmal in Harnisch. Was bildete sich diese Person eigentlich ein! Sie führte stundenlange Privatgespräche und überließ ihr die Arbeit. Im Augenblick schien sie wieder mal ihren Ehemann am Wickel zu haben. Der ehemalige Soziologiestudent suchte, wie er sich geschwollen ausdrückte, seine Selbstverwirklichung im familialen Bereich. Anscheinend hatte er Ärger mit der Waschmaschine. »Dann mußt du eben den Wartungsdienst anrufen, der Haushalt ist schließlich deine Sache – Liebes«, hörte sie die Redakteurin ungehalten sagen.

Nora seufzte bei dem nicht enden wollenden Gespräch. Wie sollte sich da ein Mensch konzentrieren. Sie stand auf und ging zur Tür, nicht ohne auf dem Weg dorthin mit geübtem Griff das seit Stunden vor sich hindudelnde Radio abzuschalten. Noch ehe sich die Tür hinter ihr schloß, hatte die Stimme des Sängers sie wieder eingeholt.

Wirf nicht mit der Spieluhr nach mir! Nimm ’ne Vase, nimm ’nen Topf, wirf mir Goethe an den Kopf … Was für schwachsinnige Texte!

Mißmutig wanderte Nora den grünen Veloursteppich entlang zum Waschraum – eine rundliche, mittelgroße, unauffällig angezogene Frau auf schlanken Beinen, das blonde Haar von weißen Strähnen durchzogen. Während sie sich die Hände wusch, betrachtete sie sich im Spiegel. Lachfältchen konnte man das kaum nennen. Dagegen war auch Lilos Geheimtip, eine Maske aus Kartoffelpüree, wirkungslos. Aber Wunder konnte man nicht erwarten. Im Januar wurde sie schließlich sechzig, also für Bundesbahn und Reiseveranstalter jedenfalls eine Seniorin. Verkäuferinnen, Busfahrer und Krankenschwestern scherten sich allerdings nicht um diese neumodische Bezeichnung. Für sie war man eine Oma und damit basta! Wenn der Körper so unverändert bliebe wie die Träume, dann könnte man es noch mit jedem jungen Ding aufnehmen.

Sie fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. Es kam ihr reichlich dünn vor. Sie hatte sich neulich bei ihrer Friseuse über ihre schlechtsitzende Frisur beklagt. »Das kommt so mit dem Alter«, war die nüchterne Antwort gewesen. »Das Haar verliert halt an Spannkraft.»

Zwei Jahre war es nun schon wieder her, seitdem die Werbeagentur sie als Sekretärin für das Kundenblättchen einer Möbelfirma angestellt hatte. Wenige Monate später wurde der Rotstift angesetzt, und die Redaktion schrumpfte auf einen schlaksigen jungen Mann und sie zusammen. Der Redakteur war frisch geschieden und versuchte, mit Hilfe eines Psychotherapeuten herauszufinden, woran seine Ehe gescheitert sein könnte. Dazu war es nötig, noch einmal die frühkindliche Phase zu durchleben, wie er Nora ernsthaft auseinandersetzte. «Ich habe mir sogar ein Kinderbett angeschafft», sagte er etwas verlegen.

«Ein Kinderbett?» staunte Nora.

Der junge Mann gab zu, daß es nicht sehr bequem sei, aber was zähle, sei schließlich der Erfolg. Nora enthielt sich jeden Kommentars. Ihrer Generation war eine so herrliche Nabelschau nie vergönnt gewesen. Die Medizin, die sie schlucken mußten, hieß: «Reiß dich zusammen!»

Bald danach verließ der junge Mann die Redaktion, und ein älterer Redakteur trat an seine Stelle. Er war in allem das Gegenteil seines Vorgängers. Ein jovialer Herr mit Falstaff-Stimme und einem prächtigen Bauch, der es liebte, seine immer noch makellosen Zähne verstohlen in einem Taschenspiegelchen zu betrachten. Er sprach gern, wenn auch etwas verschlüsselt, von jenen großen Zeiten, da deutsche Frauen auf deutschen Straßen und im deutschen Heim nicht fürchten mußten, von Ausländern und ähnlichen kriminellen Elementen belästigt zu werden. Aber eines hatten beide Männer doch gemeinsam: Sie hielten sich möglichst wenig im Büro auf. Nora war’s nur recht. Die Arbeit machte ihr Spaß, und ihre Selbständigkeit hatte sie auch. Fachkenntnisse waren nicht erforderlich. Ihre Aufgaben hatte man ihr schnell beigebracht. Sie mußte nur Text und Bildunterschriften mit dem Grafiker abstimmen und mit dem Anzeigenvertreter verhandeln.

Und nun war ihr diese herrschsüchtige Frau mit den riesigen Ohrringen und dem schwarzen Stichelhaar vor die Nase gesetzt worden. Wahrscheinlich hätte die Redakteurin lieber jemand Gleichaltriges als Sekretärin zum Quatschen gehabt und nicht so ein «Grufti», wie ihre Altersklasse gern von den jungen Leuten bezeichnet wurde, das weder Interesse an Rockmusik noch an der Zubereitung einer indischen Reistafel zeigte.

Als Nora ins Büro zurückkehrte, war die Redakteurin gerade im Aufbruch. «Falls jemand nach mir fragen sollte, ich hab einen Termin.» Gib doch nicht so an, dachte Nora. Diese Termine kannte man – ein Essen von irgendeiner unbedeutenden Firma, die irgendein unbedeutendes Produkt neu auf den Markt gebracht hatte. Früher, als die Männer ihr diese Einladungen oft großzügig überließen, hatte sie allerdings etwas anders darüber gedacht. Immerhin, sie konnte vorzeitig Feierabend machen. Daß die Redakteurin noch einmal zurückkommen würde, war nicht anzunehmen.

 

Wie gewöhnlich war der Bus überfüllt. Der Fahrer, dem Aussehen und Akzent nach ein Spanier, hatte seinen südländischen Charme zu Haus gelassen und kommandierte herum wie ein preußischer Feldwebel. Trotz des Gedränges erwischte Nora einen Sitzplatz. Der Türke neben ihr war ganz euphorisch. «Ich – achtes Kind – Frau in Krankenhaus und geschriiien!» Er sah Nora von der Seite an. «Du noch arbeiten? Du noch keine Rente?»

Der ahnungslose Türke brachte Nora wieder etwas Unangenehmes in Erinnerung. Sie hatte für das nächste Jahr die Unterlagen für die Rente eingereicht, und sie wußte immer noch nicht, wie hoch sie sein würde. Schon längst hätte sie sich darum kümmern müssen, aber sie hatte das Ganze Jahr für Jahr vor sich hergeschoben, was teils ihrem Temperament entsprach, teils auch der Unlust, über das Altwerden nachzudenken. Erst in den letzten Monaten hatte sie sich um die nötigen Dokumente bemüht. Es war umständlich genug gewesen, die verlangten Bescheinigungen zusammenzukriegen. Mit jeder Zeugenaussage kam die Vergangenheit zurück. Krieg … Flucht … Nachkriegsjahre … die kurze Zeit mit Werner.

Anfang des Krieges, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, hatten sie sich verlobt. Während er, wie es den Konventionen seines und ihres Elternhauses entsprach, bei ihrem Vater saß und mit der unbeholfenen Würde seiner zweiundzwanzig Jahre seine beruflichen Pläne nach dem Krieg ausbreitete, malte sie sich das Echo ihrer Freundinnen auf diesen «wichtigen Schritt im Leben einer Frau» aus und hoffte, daß ihre Mutter zwei Saphire für die Verlobungsringe herausrücken würde.

Sie betrachtete sich den Ring an ihrem Finger. Er hatte sich besser gehalten als sie.

Der Bus leerte sich allmählich. Als er die Brandmauer mit der rätselhaften Aufschrift SOLIDARITÄT MIT MICKYMAUS passierte, drückte Nora auf den Halteknopf. Sie strebte durch die kleine Anlage dem Hochhaus zu, das wie ein hochkant aufgestellter Dominostein zwischen Reihenhäusern und Schrebergärten stand. Der späte Herbstnachmittag war milde. Alle Bänke waren besetzt. Ein ferngesteuerter Jeep kurvte um ihre Füße. Fast wäre sie darüber gestolpert.

Natürlich war schon wieder der Fahrstuhl kaputt. Nora stieg langsam die Treppe zum siebenten Stockwerk hinauf. Unterwegs begegnete sie einem jungen Mann, der in der obersten Etage wohnte.

«Da sieht man sich wenigstens mal. Fahrstühle haben so was Kommunikationsfeindliches», sagte er munter.

«Das erzählen Sie mal meinen Beinen!» Sie keuchte weiter.

Das Treppenhaus war mehr als renovierungsbedürftig. Wo sich irgend Platz bot, hatte man Kinderkarren und Fahrräder abgestellt. Im vierten Stock war eine ältere Frau gerade dabei, die Schwingtür zwischen Flur und Treppenhaus mit einer rosa Wäscheklammer festzustellen.

«Der Klammerklau war wohl mal wieder da», sagte Nora im Vorbeigehen. Früher hatte sich niemand darum gekümmert, ob diese Türen offen standen, und sie wurden eigentlich nur in sehr kalten Wintern geschlossen. Aber dann hatte das jemand von der Baupolizei beanstandet. Die Haken mußten entfernt werden, und weil das den Mietern nicht paßte, behalfen sie sich mit Wäscheklammern, die sie unter die Türen schoben. Regelmäßig wurden die Klammern von der Hausverwaltung eingesammelt und ebenso regelmäßig wieder durch neue ersetzt.

Auf dem Flurteppich in ihrer Wohnung lagen einige Briefe, die der Briefträger durch den Türschlitz geworfen hatte. Sie hob sie auf und legte sie auf den Schreibtisch. Dann öffnete sie das Fenster, um den Essensgeruch hinauszulassen, der vom Hausflur hereingezogen war. Ihre Gedanken waren noch mit der Vergangenheit beschäftigt.

In der Verlobungszeit waren Werner und sie ganz wild aufeinander gewesen. Jede Möglichkeit hatten sie ausgenützt, um allein zu sein. Aber ihr Elternhaus, in dem er seine kurzen Fronturlaube verbringen durfte, bestand auf einmal nur noch aus knarrenden Treppenstufen und quietschenden Türen. Nachteulige Onkel und Tanten geisterten bis zum Morgengrauen durch die Korridore, tappten zum Klo und fragten beim kleinsten Geräusch: «Ist da wer?» Auch die freie Natur, auf die sie so große Hoffnungen gesetzt hatten, ließ sie im Stich. Bei jedem Besuch regnete es Blasen. So küßten sie sich im Keller zwischen Rotweinflaschen, im Pferdestall, im Holzschuppen und kuschelten sich in der Remise in das alte Coupé. Aber auch dort wurde ihnen die Stimmung verdorben. Der Kutscher riß die Tür auf. «Ich dachte, es sind die Ratten!»

«In vier Wochen werde ich auf einen Lehrgang geschickt», versprach ihr Werner. «Dann treffen wir uns in Berlin.» Sie wurde sich mit der Mutter über die Zahl der Hochzeitsgäste einig – hoffentlich war da nicht schon wieder Tanzverbot! – auch darüber, ob Tante Olga, die olle Bißgurke, eingeladen werden sollte. Aber dazu war es ja dann nicht mehr gekommen.

Fünf Jungen hatte sich Werner gewünscht, und sie hatte ihn angehimmelt und gesäuselt: «Aber ein Mädchen wirst du mir doch wenigstens gönnen.» Was wußten sie schon voneinander, außer daß ihre Körper sich mochten.

Nora erinnerte sich auch wieder an den Tag im Mai 44, an dem ihr Vater schwerverwundet, mit verwirrtem Geist aus Rußland zurückgekommen war. Das Arbeitsamt befreite sie von jeder Dienstverpflichtung und erlaubte, daß sie offiziell als Hausgehilfin daheim angemeldet wurde, damit die Mutter sich um den Kranken kümmern konnte. Trotzdem führte sie ein recht angenehmes Leben, was sie nur als gerecht empfand. Schließlich hatte sie für das Vaterland genug geopfert.

Dann mußten sie fliehen. Ihr Treckwagen wurde von Tieffliegern zusammengeschossen und die Pferde und die Mutter dabei getötet. Die Betäubung über das Unfaßbare war erst im Flüchtlingslager langsam von ihr gewichen. Aber für Trauer blieb keine Zeit. Sie mußte sehen, wie sie allein zurechtkam. Auf Mitleid konnte man nicht zählen. Ein Schicksal wie ihres galt damals als fast normal. Da bekam sie ganz andere Geschichten zu hören, wenn irgendwo Flüchtlinge zusammensaßen, und wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie eigentlich noch Glück gehabt. Der Bauer, bei dem sie arbeitete, war nicht der schlechteste. Während sie Kartoffeln legte, Rüben verzog und der Bäuerin bei der großen Wäsche half, hütete der sechsjährige Bauernsohn ihren Vater. Sobald er sich von der Bank neben dem Kuhstall erhob und dem Hoftor zustrebte, führte ihn der Kleine fürsorglich zurück und befahl: «Opa, Platz!» Dann blitzte in dem verwirrten Geist manchmal so etwas wie Humor auf. Der Vater lächelte den Jungen an, machte «Wuff!» wie ein Hund und setzte sich gehorsam. «Brav, brav», lobte das Kind und verteidigte ihn gegen den Knecht, der grinsend aus dem Stall auftauchte: «Der ist bloß halb so doof wie du!»

Nora schloß das Fenster und wandte sich abrupt zum Schreibtisch, um die Post durchzusehen. Außer Drucksachen schien nichts dabeizusein. Fast hätte sie den Brief der Bundesversicherungsanstalt mit in den Papierkorb geworfen. Verdammte Computerschrift! Sie überflog die zweiseitige Erklärung und suchte nach einer Zahl mit der Angabe über die Höhe ihrer Rente. 630 Mark! Einen Augenblick saß sie ganz still. Sie hatte deutlich die Stimme der Büroputzfrau im Ohr, die 1958 aus der DDR gekommen war und zwei Jahre lang mit Mann und fünf Kindern in einer Zweizimmerwohnung hausen mußte. «Frau Lechow, ich sag’s, wie’s ist: Wir sind zur falschen Zeit jung gewesen und werden zur falschen Zeit alt!»

2

Der Rentenberater, dem Nora ein paar Tage darauf gegenübersaß, hörte sich ihre Klagen mit resignierter Freundlichkeit an. Seit mehr als fünfzehn Jahren versuchte er mit mäßigem Erfolg, begriffsstutzige Bürger in die Geheimnisse der Rentenberechnung einzuweihen und ihnen Begriffe wie «Bemessungsgrundlage» oder «verkürzte Halbbelegung» zu erklären.

«630? Da sind Sie doch noch gut dran. Ich hatte mal ’ne Frau, die bekam vier Mark neunzig. Damals lag der monatliche Mindestsatz noch bei fünf Mark. Den hat sie fünf Jahre lang geklebt.»

«Vier Mark neunzig?» Nora lachte und guckte ihn ungläubig an. «Was für ein Wahnsinn!»

«Sagen Sie das nicht. Dadurch hatte sie schon Anspruch auf Kuren und eine kostenlose Krankenversicherung.» Er nahm den Taschenrechner und beugte sich über Noras Berechnungsbogen.

Nora sah sich in dem schäbigen Büro um. Es war so winzig, daß man fast Platzangst bekommen konnte. Durch die dünne Trennwand drangen die Gespräche aus dem Nachbarzimmer. Die Büromöbel aus den fünfziger Jahren besaßen bereits Sammlerwert.

Der Beamte blickte auf: «Ich kann keinen Fehler finden. Durch eine Nachentrichtung hätte man zwar eine erhebliche Steigerung erzielen können, aber da hätten Sie eher kommen müssen. Die Frist dafür ist abgelaufen. Sie könnten ja bis dreiundsechzig arbeiten, aber viel bringt das auch nicht.»

«Bis dreiundsechzig? Bis ich umfalle!» sagte Nora in dramatischem Ton.

«Na, na, der Staat läßt schon keinen hungern. Wofür gibt’s denn das soziale Netz?» Er erhob sich, um Nora zu verabschieden. «Mancher aus Ihrer Generation ist da schlechter dran.»

«Ich kenne aber jemand, der bekommt dreitausend Mark Rente und hat auch weiter nicht groß was geleistet», behauptete Nora.

«Tja, wenn’s danach ginge …» Der Beamte blieb freundlich, aber sein rechtes Augenlid begann nervös zu zucken. Nora blieb ruhig sitzen.

«Ich dachte, die Rentenreform sollte mehr Gerechtigkeit bringen.»

«Gerechtigkeit?» Der Beamte lachte kurz. «Liebe Frau!» Damit endete das Gespräch.

 

Zu Noras Erstaunen zeigte sich die Redakteurin in der Werbeagentur von einer ganz neuen Seite. Sie hörte sich ihre Klage mitfühlend an, ließ entrüstet die Ohrringe wippen und war sofort bereit, sich beim Personalchef für Nora zu verwenden: «Die müssen Sie einfach länger behalten, Frau Lechow.»

«Sehr kameradschaftlich», sagte Nora gerührt und merkte im selben Augenblick, daß sie das falsche Wort gewählt hatte.

«Solidarität», wurde sie von der Redakteurin belehrt, «ist gerade für uns Frauen oberstes Gebot.» Aber bald danach kam diese niedergeschlagen von der Unterredung zurück.

«Stellen Sie sich vor, das Blatt wird eingestellt. Mir wird auch gekündigt.» Ein wenig tröstete sie sich über ihre eigene Misere hinweg, weil Noras Zukunftsaussichten noch unerfreulicher waren.

«630 Mark, eine Schande», entrüstete sie sich. «Das liegt ja noch unterm Bafög-Satz!»

«Na ja, ich gebe zu, daß ich meine zwanzig versicherungspflichtigen Jahre für das vorgezogene Altersruhegeld nur zusammenbekommen habe, weil schon zu Hause für mich geklebt wurde. Und in den ersten Jahren als Sekretärin habe ich nicht viel verdient.»

«Sie werden natürlich Wohngeld beantragen», sagte die Redakteurin. «Das ist das mindeste, was Ihnen zusteht. Das ist schließlich Ihr gutes Recht.»

In den folgenden Wochen waren sie ein Herz und eine Seele, und die Redakteurin vertraute Nora sogar an, daß sie es mit ihrem Karl-Heinz nicht immer leicht habe. Sie beugte sich zu Nora hinüber: «Ich glaube, wir brauchen mal wieder eine Beziehungsdebatte.» Sie sah Nora an: «An Ihrem Sechzigsten, da ist doch bestimmt der Bär los!»

Nora schüttelte den Kopf. «Wohl kaum», sagte sie trocken. Sie mußte plötzlich an die Schwiegermutter ihrer Freundin Lilo denken, die schick und lebenslustig ihren Sechzigsten zu einem großen Familienfest gemacht hatte. Es war ein heiterer, harmonischer Tag gewesen, bis Lilos Mann auf die Idee kam, über die Zukunft seiner Mutter zu sprechen. «Mamchen, wir finden, du solltest dich langsam nach einem geeigneten Altersheim umsehen. Denk an dein Herz!»

Die Mutter war vom Kaffeetisch aufgesprungen und hatte ihn angeschrien: «Denk du lieber dran, endlich mal nicht mehr an deinen Nägeln zu pulen!» Sie setzte ihn damit so matt, daß er keinen Ton mehr herausbrachte.

Lilos Schwägerin kam ihrem Bruder zu Hilfe: «Aber Mami, er macht sich halt Gedanken.»

«Darum hat ihn niemand gebeten. Und du –» die Tochter bekam auch gleich ihr Fett weg – «solltest dir lieber die Haare vernünftig schneiden und nicht mit diesem albernen Zopf herumlaufen, als wärest du noch ein Backfisch und nicht schon dreißig!»

Lilo hatte ihr aufgeregt darüber berichtet. «Verstehst du das?»

Damals hatte Nora es nicht verstanden.

An ihrem letzten Arbeitstag gab es die übliche Abschiedsfeier. Ein Gedicht wurde vorgelesen, und die Redakteurin hielt eine rühmende Ansprache, über die Nora fast so gerührt war wie Tom Sawyer über die auf ihn gehaltene Grabrede, als man ihn in der Kirche für tot erklärte. Dann wurde ihr ein Kuvert überreicht. Hoffentlich kein Theaterabonnement! dachte Nora. Moderne Theateraufführungen mit viel nacktem Fleisch langweilten sie. Sie öffnete das Kuvert. Zum Vorschein kam ein Gutschein für einen Yoga-Kurs.

«Karl-Heinz ist auf die Idee gekommen», erklärte die Redakteurin stolz. «Er sagt, Yoga ist der einzige Weg zur Selbstbefreiung.»

Nora sah sich bereits in einen schwarzen Elastikanzug gezwängt, im Lotos-Sitz mühsam Balance haltend, auf dem Weg zum eigenen Ich. Es gelang ihr noch rechtzeitig, ihrem Auflachen den richtigen Ton von Dankbarkeit zu geben. Die Redakteurin verabschiedete sich herzlich.

«Lassen Sie sich bald mal wieder sehen», sagte sie zu Nora. «Und vergessen Sie nicht, das Wohngeld zu beantragen!»

Versuchen kann ich’s ja, dachte Nora.

 

Eine Woche später begab sie sich zum Bezirksamt. Sie hatte ihre Brille vergessen und beäugte auf der Suche nach der Dienststelle für das Wohngeld kurzsichtig die angebrachten Türschildchen mit den Namen der Sachbearbeiter, mißtrauisch von den Wartenden beobachtet, die den tunnelartigen düsteren Flur bevölkerten. Dabei stolperte sie fast über eine deutsche Dogge. Sie lag zu Füßen eines jüngeren Mannes in ausgetretenen Lederstiefeln und schlief. «Verzeihung», sagte Nora höflich zu dem Hund.

Der Besitzer lächelte gnädig und rückte beiseite: «Kann ja mal passieren. Zu wem wollen Sie denn?»

Nora setzte sich, um noch einmal in ihrer Handtasche nach der Brille zu suchen, und erklärte es ihm.

«Da sind Sie hier falsch. Die Abteilung für das Wohngeld befindet sich am unteren Ende. Das hier ist das Sozialamt.»

«Und es geht immer der Reihe nach», mischte sich gereizt die Mutter eines Dreijährigen ein, der einen Hausschlüssel belutschte, als sei es Vanilleeis.

Der junge Mann und Nora kamen ins Gespräch, und sie verriet ihm die Höhe ihrer Rente.

«630 Mark! So sieht’s in unserem Lande aus», sagte der junge Mann anklagend. «Die Verarmungstendenzen nehmen von Jahr zu Jahr zu.» Trotz dieser eher traurigen Feststellung schien ihn Noras Fall geradezu freudig zu erregen. «630 Mark», wiederholte er und zog ein kleines Heftchen aus der Tasche, «da haben Sie nicht nur Anspruch auf Wohngeld, da müßte auch auf dem Sozialamt etwas für Sie herauszuholen sein. Man muß Ihnen schließlich die Führung eines Lebens zubilligen, das der Würde eines Menschen entspricht. Paragraph I des Bundessozialhilfegesetzes.»

«Sie kennen sich ja sehr gut aus», sagte Nora. «Aber was hat meine Würde mit dem Einkommen zu tun?»

Der junge Mann sah sie an, als wollte er sagen: Muttchen, du hast ja keine Ahnung! Dann nannte er ihr seinen Beruf. «Sozialpädagoge.»

«Dann sind Sie wohl aus beruflichen Gründen hier?» sagte Nora.

Er schüttelte den Kopf. «Ich bin seit dem Studium arbeitslos; krank war ich zwischendurch auch. Aber lassen wir das, sehen wir mal lieber, was bei Ihnen herausspringen könnte.» Er ließ sich von Nora die Höhe der Miete, das Baujahr ihres Hochhauses und die Quadratmeterzahl der Wohnung nennen und tippte die Zahlen in einen Taschenrechner. «Wußt’ ich’s doch!» Er blickte sie triumphierend an. «Außer dem Wohngeld haben Sie noch Anspruch auf rund 20 Mark Sozialhilfe. Dazu kommen dann noch die Hilfen in besonderen Lebenslagen, die Sie beantragen können. Für die Teilnahme am kulturellen Leben stehen Ihnen außerdem sechs Straßenbahnfahrten, ein Zeitungsabonnement und eine Kino- und Theaterkarte zur Verfügung. Ihr Konto müssen Sie natürlich vorher räumen. Mehr als 2000 DM Erspartes ist nicht drin. Es sei denn, Sie besäßen ein Haus. Das ist wiederum geschütztes Vermögen im Sinne des Sozialhilfegesetzes und somit nicht anrechenbar.» Er blätterte wieder in seiner Broschüre wie in einem Kursbuch.

«Haben Sie Zucker?»

«Nein.» Nora wunderte sich allmählich über nichts mehr. Sie bedankte sich für die Auskünfte und machte, daß sie wegkam. «Geschenke werden Ihnen auch bezahlt!» rief ihr der Sozialpädagoge nach. «3 Mark 25 im Monat!»

Nach diesem verwirrenden Gespräch fühlte sich Nora außerstande, auch noch die Wohngeldstelle aufzusuchen. In ihrer Wohnung mußte sie sich erst einmal mit einer Tasse Tee beruhigen. Sie beschloß, vorläufig auf das Wohngeld zu verzichten. Überhaupt auf jede Art staatlicher Hilfe. Eine kleine Reserve besaß sie ja noch, obwohl vom Lastenausgleich nicht viel übriggeblieben war, denn sie hatte ihn sich mit zwei Schwestern ihres Vaters teilen müssen. Lieber wollte sie sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Ihre Generation war da weniger wählerisch als die Jungen.

 

Trotz dieser Überlegungen beklagte Nora sich bei Lilo über ihre schlechten Finanzen, als ihre Freundin sie abends besuchte.

«Fang bloß nicht wieder damit an!» Lilo wurde allmählich ärgerlich.

«Schließlich ist das mein Hauptproblem», sagte Nora gekränkt.

«Dann such dir eben eine neue Arbeit», sagte Lilo gereizt.

Nora versicherte, Stellenangebote wären ihre Lieblingslektüre. Die Freundin blickte skeptisch. «Bei deinem Phlegma?»

«Hier, bitte!» Sie kramte einen Zeitungsausschnitt aus der Handtasche und las ihn vor: «Wo ist die Frau, die mir, Olivetti BCS 2025, drei Monate alt, das Laufen beibringt? – Glaubst du, daß ich geeignet bin, den Herzenswunsch dieses Computers zu erfüllen?»

«Laß doch den Quatsch», sagte Lilo, «es wird sich bestimmt was Vernünftiges finden lassen.»

«Mit sechzig? Bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt? Du hast mal wieder keine Ahnung. In deiner Lage durchaus begreiflich.»

Die wohlhabende Lilo fühlte sich angegriffen. Opferte sie sich für ihre Freunde nicht geradezu auf und sorgte dafür, daß die Kontakte nie abrissen? War es ihre Schuld, daß sie übers Geld nicht viel nachzudenken brauchte? Ihr Ehemann, der gute Fritz, hatte ihr reichlich genug davon hinterlassen. Aber auch sie als Witwe hatte ihre Sorgen. Aus einer eher lässigen Mutter war eine fanatische Großmutter geworden, vorausgesetzt, die Schwiegertöchter geruhten, ihr die Kinder zu überlassen. So hatte sie jetzt gerade ihre kleine Enkelin Melle zu Besuch.

«Man traut sich ja kaum, anständig essen zu gehen, wenn man dich so jammern hört», sagte sie zu Nora.

Sie trennten sich ein wenig verstimmt.

Nora und Lilo waren Schulfreundinnen. In der Kreisstadt hatten beide zunächst das Lyzeum besucht und anschließend eine Frauenfachschule in der Nähe von Berlin. Während sich Noras Eltern um die Garderobe ihrer Tochter wenig den Kopf zerbrachen, aus Sparsamkeitsgründen ihre Ada-Ada-Schuhe grundsätzlich eine Nummer zu groß kauften und mehrfach gestopfte Strümpfe keineswegs als Makel ansahen, gaben sich Lilos Eltern Mühe, ihre Tochter bereits mit vierzehn hübsch herauszuputzen. Auch besaß Lilo im Gegensatz zu Nora ein richtiges Jungmädchenzimmer mit viel Tüll an den Fenstern, einer Frisierkommode und einer silbernen Toilettengarnitur mit Monogramm. Trotzdem war das Apothekerstöchterchen Lilo eines der nettesten, wenn auch ziemlich herrschsüchtigen Mädchen aus der Klasse. Sie bemutterte die etwas dösige Nora und half ihr oft bei den Schularbeiten.

Mit Lilos quakiger Mutter, die damals noch lebte, und dem unzufriedenen Vater, der daran litt, nur Apotheker und nicht Arzt geworden zu sein, wußte Nora wenig anzufangen. Lilo kam auch viel lieber zu den Lechows. Dort ging es sehr ungezwungen und gemütlich zu, und es war immer viel Betrieb. Die Freundinnen teilten alle ihre Mädchengeheimnisse, und ein runtergezogener Mundwinkel, eine abwertende Handbewegung konnten ihnen die Verehrer schneller vermiesen als jedes Gerede der Eltern. Glücklicherweise hatte Werner vor Lilos Augen Gnade gefunden. «Könnte mir auch gefallen», war ihr knapper Kommentar gewesen.

Nach dem Krieg, als Noras Vater gestorben war und sie nicht mehr in dem Dorf bleiben wollte, hatte ihr Lilo vorgeschlagen, doch in ihre Stadt zu ziehen und sich in Abendkursen zur Sekretärin ausbilden zu lassen. Die erste Zeit wohnte sie bei Lilo, bis sie ein Zimmer bei einem pensionierten Justizwachtmeister fand. Er hielt auf Sitte und Anstand und ließ sie gern an seinem reichen «Erfahrungsschatz aus den Gerichtssälen» teilhaben: «Ich weiß mehr, als in den Zeitungen gestanden hat.» Als weiterer Schritt zur «besseren Lebensqualität» folgte dann der Raum mit Notküche und eigenem WC hinter einem Sarggeschäft. In der ersten Zeit graulte sie sich, noch zu später Stunde an Särgen und Marmorengeln vorbei zu müssen. Sie gewöhnte sich jedoch schnell daran und wandelte sogar, wenn sie nicht schlafen konnte, im Nachthemd im Verkaufsraum herum, was die Passanten erschreckte.

 

Nora war nach ihrer Pensionierung weniger unglücklich, als sie vorgab. Sie langweilte sich kein bißchen, genoß ihren veränderten Tagesablauf und endlich ihre Wohnung. Sie gewöhnte es sich an, bis tief in den Vormittag im Bademantel herumzutrödeln, und hatte plötzlich volles Verständnis für die jungen Leute, die bis mittags in den Betten lagen. Sie stellte sich den Fernseher an und kroch wieder auf die Bettcouch zurück.

Ganz aus dem Häuschen war sie vor fünfzehn Jahren gewesen, als es endlich mit der Wohnung geklappt hatte, und das auch nur, weil Lilos Fritz über Beziehungen zu der Wohnungsgesellschaft verfügte. Die ersten eigenen vier Wände und ein richtiges Bad! Keine Verrenkungen mehr an seifennapfgroßen Waschbecken. Sie brauchte nun nicht zum Baden und Wäschewaschen zu Lilo zu gehen. Das Hochhaus besaß einen Trockenraum und eine gemeinschaftliche Waschmaschine, die aber inzwischen niemand mehr benutzte.