Glückskinder - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Glückskinder E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

Glückskinder - Eine bewegende Familiengeschichte vor dem Hintergrund der turbulenten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Feli von Flottbach, spätere Baronin von Wiedenbrück, erinnert sich an ihr ereignisreiches Leben. Als jüngste Tochter wächst sie inmitten einer weitverzweigten, aber eng verbundenen Adelsfamilie auf dem elterlichen Schloss auf. Trotz äußerer Fürsorge und selbstverständlichem Reichtum bleiben ihre Sehnsüchte ungestillt und treiben sie ausgerechnet in die Arme des schwarzen Schafs der Familie, eines dubiosen Vetters. Im Berlin der Zwanziger Jahre verliert Feli in jeder Beziehung ihre Unschuld und zahlt einen hohen Preis dafür. Die Flucht in eine unglückliche Ehe endet auf einem abgelegenen Gutshof in Brandenburg, wo sie sich von der großstädtischen Femme fatale in eine pflichtbewusste Gutsfrau verwandelt. Politische Ereignisse, ein Unfall ihres Mannes und wirtschaftliche Schwierigkeiten stellen sie vor große Herausforderungen. Als der Vetter wieder auftaucht, erwachen erneut die alten Sehnsüchte. Doch durch die Wirren des Krieges verliert Feli nicht nur ihn, sondern auch Heimat und Besitz. Die Welt der Glückskinder ist endgültig versunken. In Glückskinder zeichnet Ilse Gräfin von Bredow einfühlsam das faszinierende Porträt einer Frau, die trotz aller Schicksalsschläge ihren Weg geht. Ein mitreißender Roman über verlorene Lebenswelten, verhängnisvolle Leidenschaften und die Kraft der Selbstbehauptung.

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ilse Gräfin von Bredow

Glückskinder

Roman einer märkischen Adelsfamilie

 

 

Über dieses Buch

 

 

Das «Glückskind» Feli von Flottbach, spätere Baronin von Wiedenbrück, erinnert sich an ihr ereignisreiches Leben. Als jüngste Tochter wächst sie im Kreis einer weitverzweigten, aber eng miteinander verbundenen Familie auf dem elterlichen Schloss auf. An pittoresker Verwandtschaft und auch Dienerschaft mangelt es wahrlich nicht. Doch bleiben trotz äußerer Fürsorge und selbstverständlichem Reichtum die Sehnsüchte des jungen Mädchens ungestillt und treiben sie - zuerst in einer Kinderfreundschaft, dann in einer problematischen Liebe - ausgerechnet in die Arme des schwarzen Schafs der Familie, eines dubiosen Vetters.

Im Berlin der zwanziger Jahre verliert Feli in jeder Beziehung ihre Unschuld und zahlt dafür einen hohen Preis. Die Flucht in die Ehe mit einem ungeliebten Mann endet auf einer hinterwäldlerischen Klitsche, auf der sie sich pflichtbewusst sehr bald von der großstädtischen «femme fatale» in eine arbeitsbesessene Gutsfrau verwandelt. Die politischen Ereignisse, ein Unfall des Ehemannes und wirtschaftliche Schwierigkeiten verlangen der jungen Baronin das Äußerste an Kraft und Einsatz ab. Als eines Tages der Vetter wieder auftaucht, werden erneut die alten Sehnsüchte wach. Doch dann verliert Feli durch die Ereignisse des Kriegsendes nicht nur ihn, sondern auch Heimat und alles Hab und Gut. Sie rettet nichts als das nackte Leben. Die Welt der «Glückskinder» ist endgültig versunken.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Anmerkung

1

«Buß’ und Reu’, Buß’ und Reu’ knirscht das Sündenherz entzwei.» Plötzlich habe ich Tante Agnes’ kräftigen Alt wieder im Ohr. Er läßt die durcheinanderfließenden Bilder der Vergangenheit in meinem Kopf zum Stillstand kommen und nur eines davon deutlich werden. Ich sehe meine Tante in ihrer großen Gutsküche vor dem altersschwachen Herd stehen und voll verzweifelter Inbrunst diese Arie aus der Matthäuspassion singen, weil ihr mal wieder der Karpfen zu zerkochen droht. Ich sehe Onkel Peter terrierhaft in der Küche herumwuseln und schnauzen: «Fisch darf nur ziehen. Zie –hen! Lernt ihr das denn nie?«

«Aber ich hab ihn gerade erst ins Wasser gelegt», verteidigt sich Tante Agnes und versucht vorsichtig, den Fisch mit einer Schaumkelle aus dem Sud zu heben. Doch er zerfällt, kaum daß sie ihn berührt. Vielleicht wird es auch mir bald so ergehen wie in meiner Kindheit diesem Karpfen, und Buß’ und Reu’ kommen zu spät. Vielleicht. Der Tod schreckt mich nicht. Noch nicht. Er ist mir nah und doch unendlich fern.

Viele Wochen liege ich nun schon auf diesem zu kurzen Sofa, das man am Fußende mit einem Stuhl verlängert hat. Fieber und Schmerzen kommen und gehen wie die Erinnerungen. Die winzige Stube mit der niedrigen Decke dient uns jetzt nach der Flucht als Wohnzimmer. Es ist beruhigend, die Familie wieder um sich zu haben. Die ganze Mischpoke, wie Onkel Paul uns nennt. Die Eltern, die Schwester, die Onkel und Tanten. Ihnen zuzuhören, wie sie reden, von früher, die alten Geschichten. Ich hab sie lange entbehren müssen. Dazu ihre unbekümmerte Selbstsicherheit, die ihnen auch die schrecklichsten Erlebnisse nicht rauben konnten. Sie haben sich abgefunden und angepaßt und verbieten es sich, über Unabänderliches nachzudenken. Mein Bekenntnis, zu dem es mich immer häufiger drängt, wollen sie nicht hören. Die einzigen Zeugen haben längst ein passendes Bild von mir entworfen. Sollen sie sich nun selbst der Fälschung bezichtigen? Mein Versuch, über Viktors furchtbares Ende und darüber, was ich Flunki angetan habe, zu reden, stößt auf Unbehagen.

«Was sollen wir dazu sagen, Feli. Der arme Viktor ist ja nun tot. Und überhaupt, du hast getan, was du konntest.«

Es fällt uns nun mal schwer, über Dinge zu sprechen, die uns wirklich an die Nieren gehen. So ein Seelenmatsch könnte leicht zur Angewohnheit werden, ist die Familienmeinung. Immerhin sind sich alle in einem Punkt einig: Es war einfach zuviel für das Kind, wie sie mich trotz meiner vierzig Jahre immer noch nennen. Sie sitzen um mein Bett herum und bemühen sich, mich abzulenken.

Onkel Peter dröhnt zu mir herüber: «Tapferes Mädchen, eine echte Flottbach.«

«Meine Vorfahren», sagt Mama, die auf ihre Sippe nichts kommen läßt, «waren auch nicht von Pappe.«

Onkel Paul versucht mal wieder, mich mit einem seiner skurrilen Erlebnisse aufzuheitern. «Habe ich dir jemals die Sache mit dem Leoparden erzählt?«

Papa ist es anzusehen, daß er ihr Mitleid für leicht übertrieben hält. «Kindern» soll man nicht soviel Beachtung schenken. Er nickt mir aufmunternd zu. «Na, wenigstens bist du Glückskind ja noch heil aus dem Schlamassel herausgekommen.» Das findet Mama auch. Sie streicht fürsorglich über das schwere Oberbett. «Es wird schon werden. Was du vor allem brauchst, ist Ruhe.» Sie gehen aus dem Zimmer und überlassen mich meinen quälenden Gedanken.

Tante Käthe ist die einzige, die weiß, daß es Flunki war, der mich aus der gemächlich in ausgefahrenen Gleisen des Lebens dahinschaukelnden Familienkutsche schleuderte. Ein Sturz mit unabsehbaren Folgen. Und während die Familie ganz damit beschäftigt ist, nach der Flucht wieder Boden unter die Füße zu bekommen, bleibt mir reichlich Zeit, um darüber nachzudenken.

Heute ist ein warmer Junitag; die Sonne hat den kleinen, weißgekalkten Raum tüchtig aufgeheizt. Das Nachthemd klebt mir am Körper. Ich stoße das Oberbett zurück. Durch die Tür dringt Essensgeruch. Tante Agnes ist gerade dabei, das Abendbrot für uns zu richten: Kartoffeln, in Lebertran gebraten. Vergnügt summt sie einen Choral vor sich hin. Es riecht penetrant nach Fisch. Wie früher zu Hause, wenn der Teich zum Fischen abgelassen wurde. Bei diesem Ereignis bin ich Flunki zum erstenmal begegnet.

 

Ich war acht und fühlte zwischen meinen nackten Zehen den kalten Schlamm des Schloßteiches, während eine milde Oktobersonne mir den Rücken wärmte. Jedes zweite Jahr wurde der Teich zum Fischen abgelassen, und die Hofeleute zogen ein Schleppnetz voll zappelnder Karpfen durch das seichte Wasser zum Ufer, wo sich die halbe Gegend zum Zugucken versammelt hatte. Auch Onkel Peter mit seiner Familie und Onkel Paul, die beiden Brüder von Papa, waren zu diesem großen Ereignis von ihren nahe gelegenen Gütern herübergekommen und begutachteten nun kritisch die Beute.

«Bißchen mickrig, dieses Jahr.«

Der Teich erstreckte sich an der Rückfront des Schlosses weit in den Park und endete in einem Sumpfgebiet, während rechts und links des Ufers gepflegte Kieswege die Anlagen durchschnitten. In seiner Mitte befand sich eine kleine, schilfbewachsene Insel. Hier nisteten Enten, Wasserhühner und Rohrspatzen und sogar ein Schwanenpaar. Daher war es uns Kindern streng verboten, dort mit dem Kahn zu landen, so daß unsere Phantasie diese Insel mit unheimlichen, verzauberten Fabelwesen ausstattete, die sich im Winter, wenn der Teich zugefroren war, oder jetzt, wo man hinüberwaten konnte, enttäuschend als dürres Gestrüpp von Heckenrosen, Schilf und Holunderbüschen entpuppten.

Ich hatte mich von den Hofekindern entfernt und stapfte allein um die Insel herum auf der Jagd nach dem sagenhaften Karpfen Gerolin, der lang wie ein Mehltrog und schwer wie ein Ferkel sein sollte und so bemoost, daß man ihn leicht mit einem im Wasser liegenden, verfaulenden Baumstamm verwechseln konnte.

Der Südwind löste die Blätter von Bäumen und Büschen, die uns wie Zitronenfalter umflatterten und auf dem trüben Wasser schaukelten. Das auf einem Granitblock erbaute Schloß war bis unters Dach in Efeu gehüllt und sah wohlwollend aus seinen vielen Fenstern auf mich herab. Eines davon öffnete sich gerade. Die anklagende Stimme unserer Nana schallte zu mir herüber: «Feli, komm da raus! Du wirst dir den Tod holen in dem kalten Wasser!«

Ich trat auf etwas Glitschiges, das sich unter mir zu bewegen schien. «Hierher! Ich hab ihn», schrie ich und wäre fast ausgerutscht.

Ein fremder Junge, der plötzlich hinter mir stand, hielt mich fest. Ich war klein für mein Alter, und so sah er gönnerhaft auf mich herunter. «Nun mal nicht so stürmisch. Du ißt wohl noch mit dem Schieber.«

Verdutzt sah ich ihn an. Er mußte mit Onkel Peter und dessen Familie gekommen sein, die ich bisher noch nicht begrüßt hatte. «Wer bist du denn?» fragte ich. Mein Vetter Georg, Onkel Peters zweitältester Sohn, wie immer von seiner Wichtigkeit tief durchdrungen, kam mit seiner Schwester Irene quer durch den Teich gestapft.

«Warum schreist du denn so?«

«Ich habe Gerolin gesehen!«

«Quatsch mit Soße!«

Ich deutete auf den anderen Jungen: «Wer is’n das?«

«Na, Flunki, unser Vetter. Du weißt schon, der aus Berlin. Da gibt’s ’ne Menge Häuser», setzte er etwas zusammenhanglos hinzu.

«Wie alt bist du eigentlich?» wollte Flunki von mir wissen.

«Acht!«

Er lachte. «Züchten deine Eltern Liliputaner?«

Neugierig musterte ich den Jungen, mit dem auch ich weitläufig verwandt war. Über Flunki, der eigentlich Heinrich hieß, kursierten in der Familie viele Geschichten. Er war der Schrecken jedes Kinderfräuleins und, wie Onkel Peter behauptete, ein rechter Satansbraten. Er gehörte zur Sippe der trutzigen Anna, ein beliebtes Gesprächsthema in der Verwandtschaft. Ein «Little Lord Fountleroy» war er gerade nicht. Das kräftige, dunkle Haar war ziemlich struppig, und für seinen mageren Körper wirkten die Füße zu groß und die Arme zu lang. Außerdem hatte seine Nase eine Delle. Angeblich war er als Baby von der Wickelkommode gefallen. Die Ohren sahen irgendwie merkwürdig aus, was wohl an ihrer unterschiedlichen Größe lag. Mit seinem durchlöcherten Filzhut im Genick glich er einer fröhlichen Vogelscheuche. Auch hatte er etwas Keckes, Verschmitztes, Unberechenbares an sich, das mich sofort für ihn einnahm. Er verdrehte seine blanken Dohlenaugen, so daß man nur noch das Weiße sah, berührte mich mit tastenden Händen und murmelte: «Blind, blind! O Gott, wo bin ich?» Ich lachte entzückt.

Georg gab ihm einen Schubs. «Laß die Faxen!«

«Schnauze, Knalli!» Flunki bückte sich und warf einen Klumpen Schlamm nach ihm, der Georg um Haaresbreite verfehlte, aber dafür Irene voll ins Gesicht traf. Ihr kreischendes «Ich sag’s Mama!» ließ die Tauben zu Dutzenden aus den Platanen flattern und das Schloß umkreisen.

«Vite, vite!« Die französische Mademoiselle, von uns «die Made» genannt, stand auf der Schloßbrücke. Sie winkte uns heftig. «In zwanzig Minuten gibt’s Vesper, und ihr seid noch nicht umgezogen.«

Wir wateten ans Ufer. Mit einem alten Kartoffelsack wischten wir uns den Schlamm von den Beinen, zogen Strümpfe und Schuhe an und rannten zur Brücke, wo sie uns erwartete. Vor dem Schloßportal blieb Flunki stehen, legte den Kopf zurück und las laut den dort angebrachten Spruch: «Des Hauses Ehr’ ist Gastlichkeit.«

«Los, beeil dich! Rein mit dir in die gute Stube.» Georg, der Knaller, machte seinem Namen mal wieder Ehre. Er ließ hinter Flunki die schwere Eichentür krachend ins Schloß fallen, so daß seine Schwester ein zweites Mal aufkreischte.

Die Mademoiselle trieb uns vor sich her durch die Halle die Treppe hinauf. «Vite, vite! Nicht herumgetrödelt. Und leise, s’il vous plaît!» Wir hatten die Treppe zum oberen Stockwerk erreicht. Hier fehlten die Läufer mit den Messingstangen. Das Holz war nicht weiß gestrichen, sondern braun gebeizt.

Im Erker unserer Kinderstube saß meine Schwester Jutta im Schaukelstuhl in ein Buch vertieft und weinte leise vor sich hin.

«Was is’n hier los?» fragte Georg.

«Was nicht angebunden ist», antwortete Jutta mit ganz normaler Stimme, um gleich darauf weiterzuheulen. Ich sah auf den Buchtitel: «Heimatlos». Es begann mit dem Satz: «Meine Eltern kenne ich nicht.» Jutta liebte die traurige Geschichte eines von seinem Pflegevater verkauften Jungen mit Namen Remi über alles. Sie hatte das Buch bestimmt schon ein dutzendmal gelesen und kannte ganze Passagen auswendig. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich jedesmal wieder aufs neue ergreifen zu lassen.

Unsere Nana, Fräulein Therese Mahlfuß, kam hereingeschossen, wie immer in einer Art Schwesterntracht mit blütenweißer Schürze. Dürr und flink, das dünne Haar zu einem Dutt zusammengedreht, schien sie mit ihrer Himmelfahrtsnase jede Unart schon im voraus zu wittern. Ihre knochige Hand griff nach mir; wortlos zerrte sie mich aus dem Zimmer, den Flur entlang, in meine Schlafstube. Sie war wütend über mein Aussehen. Das von ihr liebevoll mit Zuckerwasser gewellte Haar hing schlapp herunter und war genau wie mein Matrosenkleid mit Schlamm bespritzt. Unsanft drückte sie mich auf einen Stuhl. Ohne auf meinen Protest zu achten, begann sie mir Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Vergeblich versuchte ich mich dagegen zu wehren.

«Laß mich, ich bin kein Baby …» Weiter kam ich nicht; da hatte ich schon den nassen Schwamm im Gesicht. Sie rubbelte darauf herum wie unser Diener Erwin auf einer angelaufenen Silberkanne. Ich hielt still. Verderben wollte ich es nicht mit ihr. Sie war nun mal im Hause eine Respektsperson und hatte bereits Papa und den Onkeln kräftig den Hintern versohlt. Noch heute genügte ein mißbilligender Blick von ihr, um Papa gehorsam wieder umkehren und die Schuhe wechseln zu lassen, wenn er von seinem Rundritt über die Felder hungrig nach Hause kam und mit schmutzigen Stiefeln dem Eßzimmer zustrebte.

Die Nana zog mir ein rotes Samtkleid mit breitem weißen Kragen an, hieb mir die Bürste so unsanft ins Haar, daß mein Kopf nach hinten flog, und flocht mir trotz des festlichen Kleides zwei stramme Zöpfe.

«Ich will aber keine Zöpfe!» maulte ich.

Sie ziepte mich heftig. «Was du willst, ist mir wurscht! Mit so zotteligem Haar laß ich dich jedenfalls nicht rumlaufen.» Etwas besänftigt schob sie mich aus der Tür. «Nun sau dich gefälligst nicht gleich wieder ein!«

Im Kinderzimmer hatte sich inzwischen auch Georgs älterer Bruder Bernhard eingefunden. Er war fünfzehn Jahre alt, besuchte die Ritterakademie und wuchs und wuchs, als hätte man ihn als Baby in den Regen gestellt. Sehr zum Staunen der Familie, denn die Flottbachs besaßen alle kein Gardemaß. Er hatte die Angewohnheit, sich ständig etwas zu brechen, Handgelenk, Schlüsselbein und den rechten Knöchel, was den Kutscher zu der tiefsinnigen Bemerkung veranlaßte: «Wie gut, daß du kein Pferd bist, sonst müßten wir dich erschießen.«

Bernhard gab sich gern zackig militärisch und hatte bereits das Gehabe eines pensionierten Artillerieoffiziers. Während er Flunki und Georg mit Kügelchen aus Knetgummi bewarf, malte er genüßlich aus, was man mit ihnen beiden in der Ritterakademie anstellen würde. «Erst mal verbringt ihr eine Nacht auf dem Schrank», belehrte er sie. «Zum Frühstück, sozusagen als Willkommensgruß, müßt ihr dann ein großes Stück Speck unzerkaut runterschlucken, mit einem Bindfaden dran.«

«Warum denn mit einem Bindfaden?» fragte Georg und schüttelte sich.

«Na, damit man den Speck wieder rausziehen kann, du Dussel! Aber wahrscheinlich nimmt man solche Schlappiers wie euch erst gar nicht auf. Ihr habt doch viel zuwenig Mumm in den Knochen. Ganz famose Kiste, diese Ritterakademie!«

«Wieso bist du dann jedesmal fast am Flennen, wenn die Ferien zu Ende sind?» wollte seine Schwester Irene wissen.

«Ich?» Er stürzte sich empört auf sie. «Bei dir piept’s wohl!«

Der Gong in der Halle mußte erst ein zweites Mal mahnen, um ihrem Streit ein Ende zu machen. Während sich Irene noch schnell ihren aufgegangenen Zopf flocht und Jutta und ich auf sie warteten, waren die drei Jungen bereits die Treppe hinuntergetobt. Wir rannten hinterher und betraten als letzte das Kaminzimmer.

«Da seid ihr ja endlich, ihr Trödeltanten!» Mama, die selbst noch so aussah, als hätte man sie gerade von ihren Puppen weggeholt, blickte uns tadelnd an und spielte mit ihrem rechten Ohrring. Ihr blondes, hinten eingeschlagenes Haar war mit der Brennschere über der Stirn in schwungvolle Wellen gelegt. Sie trug etwas Nilgrünes, ziemlich Ausgeschnittenes mit einem großen Kragen. Vor dem brennenden Kamin lag, so nah, daß ihm die Flammen fast das Fell versengten, Onkel Pauls geliebter Schnuffi, eine richtige Promenadenmischung. Er schleppte den Hund überallhin mit, sehr zum Leidwesen der jeweiligen Gastgeber, denn Schnuffi war ein großer Kläffer, vor allem nachts.

Onkel Peter runzelte die Stirn: «Ich sage dir, lieber Paul, eines Tages wird dieser Köter in Flammen aufgehen!«

Wir machten artig unseren Knicks. Als ich vor Tante Agnes stand, zwickte mich Jutta kräftig und mahnte in Mamas Tonfall: «Handkuß, Feli!», wofür ich ihr am liebsten einen Tritt versetzt hätte. Aber ich traute mich nicht.

Im Zimmer war es angenehm warm. Das knisternde Feuer, der vertraute Geruch nach Buchenholz, Bohnenkaffee, frischem Hefekuchen und Tabak verstärkte die gemütliche Atmosphäre. Onkel Paul kniff mich leicht in die Backe. «Deine Tochter embelliert sich, liebe Helene», sagte er zu Mama.

«Sie müßte sich nur besser halten», meinte Tante Käthe, wie immer in Schwarz, weil gerade wieder irgend jemand bei Hof gestorben war.

«Vielleicht sollte man ihr einen Geradehalter verpassen», schlug Onkel Peter vor. Er war sehr dafür, mit Kindern nicht lange zu fackeln, und jagte seine eigenen sogar im Winter im Schnee zum Frühsport nach draußen.

Tante Käthe, unser Dauergast und deswegen «die Hausmaus» genannt, fuhr mir mitleidig übers Haar: «Wie furchtbar, das arme Kind!» Voller Interesse musterte sie Flunki, der neugierig durchs Zimmer strich und sich auf dem Beisetztischchen neben ihr eingehend eine kleine Spieluhr betrachtete. «Du bist also Annas Sohn.» Er blieb ihr die Antwort schuldig und starrte auf den gerade unter Tante Agnes’ langen Rock gekrochenen Schnuffi, und Schnuffi starrte ebenso intensiv zurück.

Im Gegensatz zu Mama war Tante Agnes recht rundlich und steckte in einem fest geschnürten Korsett aus Fischbein. Sie rückte den Stuhl etwas von Schnuffi ab und beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu streicheln. Angewidert richtete sie sich auf: «Dieser Hund ist ja voller Zecken!» Flunki lachte, und Onkel Paul sagte so stolz, als wäre es ein besonderes Schönheitsmerkmal: «Weiß Gott, das ist er!» Tante Agnes hatte gleich ein Patentrezept zur Hand. Sie schlug Petroleum vor oder Ballistol. Das würde jeder Zecke den Appetit verderben.

Mit lautem Getöse fiel eines der schweren Alben mit Familienbildern, in dem Flunki gerade blätterte, zu Boden. Papa, eben noch straff und lebhaft in seinem Sessel sitzend, sackte sofort leidend in sich zusammen und griff sich ans Herz: «Himmel, was für ein Krach!» Er machte eine scheuchende Bewegung zu uns Kindern: «Was steht ihr hier noch rum, diese Unruhe ist ja nicht auszuhalten!«

Eilig verzogen wir uns durch die offene Schiebetür ins Eßzimmer und machten uns über den noch warmen Streuselkuchen her. Auch hier war der Raum von der untergehenden Sonne in ein rötliches Licht getaucht. «Bekleckert mir nicht das Tischtuch», warnte uns Erwin, der Diener, während er uns Kakao eingoß. «Ich hab’s gerade erst frisch aufgelegt.«

Während ich den Kuchen in mich hineinmampfte, hörte ich mit halbem Ohr auf die Gespräche im Nebenzimmer. Onkel Peter und Onkel Paul stritten sich wieder einmal heftig über die Symbole in unserem Wappen. «Jedes Kind in der Familie weiß», rief Onkel Peter laut, «daß die wellenförmigen Linien einen Fluß darstellen sollen, aus dessen reißendem Wasser unser Vorfahr seinen schwerverwundeten Fürsten in letzter Minute rettete und dafür zum Ritter geschlagen wurde.«

«Blödsinn!» brummte Onkel Paul. «Der Fürst war stinkbesoffen und ist mitsamt der Rüstung in einen Bach voller Entenflott gefallen. Daher der Name Flottbach.«

«Das ist doch wohl die Höhe!» erregte sich Onkel Peter. «Hast du schon einmal einen solchen Unsinn gehört, Albi?«

Papa lachte. «Mehr als einmal. Übrigens, Peter, mit den Zuckerrüben, das wird dies Jahr nicht aufregend.» Damit waren sie bei ihrem Lieblingsthema, der Landwirtschaft, und beklagten, daß auch die diesjährige Getreideernte leider nur so lala gewesen sei. Danach wechselten sie zur Politik über und sprachen von einer beachtlichen Rede von S. M., wie der Kaiser in unserer Familie nur genannt wurde, und über die Ernennung Lettow-Vorbecks zum Kommandeur der Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika. An Afrika interessierte Onkel Peter nur die Jagd. Er hatte dort sogar einmal eine Safari mitgemacht.

Ihre Stimmen schwollen auf und ab, bis nur noch Onkel Peter zu hören war, der zum hundertstenmal die Geschichte von dem sagenhaften Hirsch berichtete, den er bei einem Freund in Österreich geschossen hatte. Dieses kapitale Tier war doch tatsächlich bei der Pirsch schnurgrade auf ihn losgezogen.

An dieser Stelle stieß mich Georg an und zitierte halblaut: «Nur wem die Lieb’ das Herz durchglüht zum Wald in seiner ganzen Weite, kann fühlen, was das Herz durchzieht …», und wie ein Trompetensignal ertönte die Fortsetzung aus dem Kaminzimmer: «… vor solcher edlen, starken Beute.«

Wir Kinder kicherten. Waren wir bis dahin noch verhältnismäßig ruhig gewesen, so redeten auch wir jetzt laut durcheinander. Flunki kasperte herum und führte das große Wort, während ich ihm fasziniert zusah, wie er mit verschränkten Armen lässig auf den hinteren Stuhlbeinen balancierte, dann jäh nach vorne kippte, um sich mit flinker Hand löffelweise Zucker in den Kakao zu schaufeln. Er tischte uns die unglaublichsten Geschichten auf und erzählte uns unter anderem von dem Schloß eines Fürsten aus regierendem Haus, einem entfernten Verwandten der trutzigen Anna, wo er ein Jahr zur Miterziehung gewesen war. Einfach phänomenal, dieses Schloß! Dagegen sei unseres richtig poplig. Eine Hundehütte, sozusagen, und unser Park ein Schrebergarten. «Es gab da ’ne Gouvernante», fuhr Flunki fort. «Ein schreckliches Weib! Jeden Morgen hat sie uns beide mit kaltem Wasser abgegossen. Und im Winter mußten wir bei weitgeöffnetem Fenster schlafen. Mal war es so kalt, da sind mir meine Haare am Kopfkissen festgefroren.«

«Wie war denn der Prinz so?» wollte Georg wissen.

«’ne ziemliche Napfsülze.«

«Wie du!» Bernhard schlug ihm mit dem Teelöffel auf die Hand.

«Er war ein bißchen plemplem.«

«Wahrscheinlich hast du ihn angesteckt», bemerkte Georg.

«Sein Lieblingsspielzeug», fuhr Flunki unbeleidigt fort, «war ein Stoffzwerg mit roter Zipfelmütze und grüner Schürze, so ein richtiges Spielzeug für Mädchen! Was er über den alles zusammengesponnen hat! Er glaubte doch wirklich fest daran, daß der Zwerg nachts, wenn wir schliefen, in den Wald zurückkehren würde. Überall hat er ihn mit herumgeschleppt, dieses alberne Ding. Eines Tages ist der Zwerg nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Wir haben das Schloß von oben bis unten durchsucht und im Park fast hinter jeden Baum geguckt. Der Prinz hat fürchterlich herumgeheult, bis ihm die Gouvernante schließlich erzählte, wahrscheinlich sei der Zwerg ausgewandert. Ihr wäre jedenfalls so gewesen, als hätte sie ihn in der Kleinbahn am Fenster sitzen sehen, von wo aus er ihr im Vorbeifahren mit der Zipfelmütze zugewinkt habe.«

«Und das hat der Prinz geglaubt?» fragte ich hingerissen.

Flunki sah mich verschmitzt an und gab mir einen Nasenstüber. «Klar doch, du Liliputaner! Du hast dir ja den halben Kakao ins Gesicht geschmiert.» Er zog ein Taschentuch hervor, und als mich seine tintenbeklecksten Finger mit sanfter Festigkeit berührten, verfiel ich ihm wie vor ein paar Jahren dem schieläugigen Bettler, dem ich durch die Felder hinterhergetrottet war, obwohl der Mann in seiner Verzweiflung, mich loszuwerden, mit Ästen und Steinchen nach mir warf, aus Angst, man könnte falsche Schlüsse aus meiner Anwesenheit ziehen. Erst der zufällig vorbeireitende Inspektor hatte ihn von mir befreit. Zu Hause bekam ich von der Nana einen tüchtigen Klaps, und Papa meinte kopfschüttelnd: «Das Kind hat den Zug nach unten.«

Ich stand auf und ging zu den Erwachsenen hinüber. Ich kauerte mich neben Mamas Sessel. Sie strich mir, ein wenig abwesend, wie es ihre Art war, übers Haar. «Na, was hast du auf dem Herzen?«

«Könnte Flunki in den Weihnachtsferien nicht zu uns kommen?«

«Ein Wunsch an den Weihnachtsmann?«

Ich nickte.

«Meinetwegen! Aber keine Klagen, wenn ihr euch dann nicht vertragt! Dein ewiges Gezanke mit Jutta reicht mir schon. Ich werde es mit Papa besprechen.«

«Aber bitte nicht jetzt», sagte mein Vater.

Das Kaminfeuer war heruntergebrannt. Die Dämmerung kam durch den Park gebummelt. Im Teich war Ruhe eingekehrt. Über dem niedrigen Wasser lag ein leichter Nebel. Der arme Gerolin und seine Kinder in ihrem Sumpfloch konnten sich von ihrem Schrecken erholen.

Tante Agnes sah auf die Uhr. «Feli, sag dem Kutscher, er soll anspannen.«

Nachdem ich den Auftrag ausgeführt hatte, ging ich ins Eßzimmer zurück. Dort hatte Erwin bereits die Vorhänge zugezogen und die Hängelampe über dem Eßtisch angezündet. Ich setzte mich neben Flunki. «Komm doch bitte in den Weihnachtsferien zu uns.«

Er griff nach meinem Handgelenk und verdrehte es spielerisch. «Mal sehen, ob ich euch die Ehre gebe.«

Vetter Georg zog mich sanft am Zopf. «Du wirst dein blaues Wunder erleben, Kusinchen.«

2

Flunkis Mutter, die trutzige Anna, kümmerte sich herzlich wenig um ihren Nachwuchs. Sie schlief gern bis in den Mittag hinein, las viel oder malte und überließ leichten Herzens ihre vielen Kinder einem hinkenden Geschöpf namens Lissy, das mehr mit dem Stock als mit Güte regierte. Auch Mama opferte sich nicht gerade für Jutta und mich auf. Ihre Ehe war ganz auf Papa abgestimmt. Wir liefen nur so am Rande mit. Aber im Haus, im Garten oder auf dem Hof fand sich immer jemand, der uns die Tränen abwischte und uns tröstend auf den Schoß zog, über Wunden und Schrammen Melkfett strich und uns Süßigkeiten in den Mund stopfte. So vermißten wir nichts. Während Flunki und seine Geschwister in der Furcht vor Lissy und ihren harten Ohrfeigen lebten, durften Jutta und ich von niemandem geschlagen werden.

Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr hatte Anna den Ruf, ein ungewöhnlich braves, folgsames und bescheidenes Geschöpf zu sein. Ihre wechselnden Erzieherinnen lobten sie über den grünen Klee. Dies aber wohl mehr, um sich lieb Kind bei ihrer fürstlichen Mutter zu machen, denn Annas ungewöhnliche Pomadigkeit, aber auch ihre Hartnäckigkeit war schon damals nicht zu übersehen. Natürlich durfte Anna, die Prinzessin, vom Personal nur in der dritten Person angeredet werden. «Wenn Durchlaucht sich vielleicht endlich auf den Topf bemühen würden …» Auch erlaubte ihre ängstliche Mutter ihr nicht, sich bei schlechtem Wetter im Freien aufzuhalten. Statt dessen mußte sie mit dem Kindermädchen eine Stunde lang bei weit geöffnetem Fenster den Tisch im Eßsaal umrunden.

Wie ungewöhnlich sie wirklich war, bewies sie zur Schadenfreude anderer Mütter jedoch erst, als herauskam, daß sie eine Affäre mit dem jungen Hauslehrer auf dem Nachbargut angefangen hatte. Eines Tages war dieses «Subjekt», wie der Fürst sich später entrüstete, auf die Terrasse gestürmt gekommen, wo Annas Vater gerade über dem dramatischen Bericht eines Kampfes zwischen einem Wildschwein und einem Schafbock in einer Jagdzeitung eingenickt war, und hatte ihn, vor Aufregung brüllend, um die Hand seiner Tochter gebeten. Der Fürst schmiß ihn wutentbrannt raus und sorgte dafür, daß er auf der Stelle gefeuert wurde. Doch Trutz Wagner gab nicht auf. Heimlich schrieb er an die Prinzessin: «Trutz, treue Anna! Wer trutzt, hat recht, wer nicht trutzt, hat alles Recht verwirkt.» Die sonst so phlegmatische Prinzessin raffte sich tatsächlich auf und brannte mit ihm durch, worauf sie prompt enterbt wurde.

Ihre Familie stand kopf, als sie von diesem «Subjekt» auch noch zehn Kinder bekam. «Von einem Pauker!» sagte jedesmal an dieser Stelle indigniert Onkel Peter, als wäre diese Tatsache allein schon unanständig. «Einfach degoutant.» Onkel Paul war da anderer Meinung: «Immerhin ein studierter Mann! Die Schwester von Annas Mutter ist mit einem Geiger durchgebrannt und soll später sogar in einem Zirkus aufgetreten sein.«

Onkel Peter nickte vielsagend: «Ja, ja, der Apfel …«

Trutz Wagner war Lehrer an einer Berliner Schule und sein Gehalt bescheiden. Mit Nachhilfestunden versuchte er die Finanzen aufzubessern, um die vielen Mäuler stopfen zu können. Wenn Lissy erkrankt war, was so gut wie nie vorkam, oder in ihr heimatliches Dorf fuhr, schickte Annas Mutter ihrer Tochter hinter dem Rücken des Fürsten eins ihrer Stubenmädchen zur Hilfe. Es war drei Tage nur damit beschäftigt, schmutziges Geschirr abzuwaschen, das sich von der Küche den Flur entlang bis zum Wohnzimmer stapelte.

Nein, eine gute Hausfrau war die trutzige Anna wirklich nicht. Dafür besaß sie das große Talent, ihre Kinder der weitverzweigten Verwandtschaft in den Ferien aufs Auge zu drücken. Vor den Familientagen fragte man deshalb besorgt herum: «Kommen Wagners auch?» Denn diese Treffen waren Annas bevorzugtes Jagdrevier, wo ihr das sozusagen eingegatterte Wild nicht entfliehen konnte.

Was man über sie redete und über sie dachte, kümmerte sie so wenig wie Armut und Enge. Sie hatte ihren Trutz und vermißte nichts. Schon gar nicht den gesellschaftlichen Rahmen. Anders Flunki: Ihn drängte es sein Leben lang in den Stall zurück, aus dem seine Mutter stammte.

 

Das mir von Georg prophezeite «blaue Wunder» blieb nicht aus. Aber es war nicht Flunki, der es mir bescherte, sondern Papa. Nachdem er zuerst einem Besuch von Flunki zugestimmt hatte, war er drauf und dran, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Plötzlich fand er, Weihnachten sei ein Fest der Familie und dabei hätte ein fremdes Kind nichts zu suchen.

«Ein fremdes Kind?» wiederholte Mama. «Heinrich Wagner ist ein Neffe von dir!«

«Ach, wirklich?» Papa tat, als höre er das zum erstenmal. «Mit so einem Lümmel ist man nun verwandt!«

«Ein armes, rumgeschubstes Kind.«

«Peter war jedenfalls heilfroh, als er ihn wieder los war.«

«Peter?» Mamas Lippen kräuselten sich spöttisch. «Der Junge hat wohl seine Gehörne nicht genug bewundert.«

«Aber er ist so überdreht und redet einen in Grund und Boden.» Papas Stimme bekam den mir nur zu gut bekannten klagenden Unterton, auf den Mama so prompt reagierte wie eine Ricke auf das Fiepen ihres Kitzes. «Hast du etwa wieder deine Kopfschmerzen?«

«Es geht», sagte Papa matt.

Ich hörte nicht weiter hin; ich wußte, wie es ausgehen würde. Ich mußte auf diesen wundervollen Jungen, der soviel interessantere Geschichten als alle Onkel erzählte, verzichten. Wütend rannte ich aus dem Zimmer und wollte gerade Erwin mein Leid klagen, als mich Papa zurückrief. Offensichtlich war seine Stimmung wieder umgeschlagen. «Ich will dir ja die Freude nicht verderben, mein Kleines», sagte er milde.

Mama blinzelte mir verschwörerisch zu. Sie tat, als sei sie von soviel Selbstlosigkeit ganz überwältigt. «Dein guter Vater ist einverstanden. Du bist wirklich ein Glückskind!«

«Danke, Papa», sagte ich gehorsam und tanzte singend vor Vorfreude den Korridor entlang, an dessen Ende Jutta wie ein Zerberus stand und mir befahl, sofort und auf der Stelle meine Spielecke im Kinderzimmer aufzuräumen.

Jutta war zwei Jahre älter als ich und kommandierte mich nach Strich und Faden herum, wobei die Made sie unterstützte. Sie bevorzugte meine Schwester, weil diese sich bereits in tadellosem Französisch mit ihr unterhalten konnte. Auch erzählte die heimwehkranke Mademoiselle meiner Schwester unter Tränen ihre vielen dramatischen Liebesgeschichten, die Jutta dann herablassend, wenn auch reichlich verworren, an mich weitergab. Die beiden hockten viel zusammen oder schlenderten tuschelnd Arm in Arm durch den Park, und Jutta bedeutete mir dann, ich solle mich wegscheren, sie wolle mit der Mademoiselle Vokabeln lernen.

Ich begann also gehorsam, meine Schätze im Nippesschrank vorsichtig herauszuholen, um die Fächer auszuwischen. Dabei entdeckte ich, daß ein Teil meines hauchdünnen, mit Röschen verzierten Puppengeschirrs zerbrochen war. Es stammte noch von Großmama Alice Flottbach, und ich liebte es sehr. «Das kommt eben davon, weil du deinen Schrank nie ordentlich zumachst», tadelte Jutta streng. «Bestimmt haben die Mäuse sich darin ausgetobt. Ich habe erst neulich eine zwischen dem Geschirr rumhuschen sehen.«

Ich geriet außer mir. «Warum hast du mir das nicht gesagt?» heulte ich.

«Hab’s vergessen – nun stell dich bloß nicht so an!«

Ich rannte zu Mama, aber die konnte das Unglück auch nicht so groß finden. Doch Papa war in leutseliger Stimmung und brachte mir schon am nächsten Tag aus der Stadt ein neues Geschirr mit. Er überreichte es mir mit großer Geste: «Ich weiß doch, was dir gefällt, mein Kleines.» Ich fand es scheußlich, und meine Tränen begannen schon wieder zu fließen, was Papa ärgerte.

«Warum bist du nicht im Kinderzimmer?» fragte Mama ungehalten.

«Sehr richtig», pflichtete ihr Papa bei.

Wahrscheinlich waren sie überhaupt nicht meine richtigen Eltern, und ich war tatsächlich ein Wechselbalg, wie Jutta behauptete. Während ich die langen Flure entlangtrottete, sagte ich mir den ersten Satz aus dem Buch «Heimatlos» – «Meine Eltern kenne ich nicht« – so oft vor, bis ich vor Schluchzen einen Schluckauf bekam und fast Erwin umgerannt hätte. Er nahm mich tröstend in die Arme und spielte mir zuliebe den «Glöckner von Notre-Dame». Die Schultern hochgezogen, mit Humpelschritt und heraushängender Zunge und mit furchtbaren Grunzlauten jagte er hinter mir her, und ich flüchtete, vor Entzücken kreischend, in die Nähstube, wo die Nana gerade unsere Strümpfe stopfte und anklagend auf riesige Löcher in den Fersen wies.

«Sie sind ja so gemein!» heulte ich.

«Wer?» Sie hielt die Nadel zum Einfädeln gegen das Licht.

«Jutta – und die Made auch. Weißt du, was sie von dir sagt? Du wärst ja nur eine Domestique.«

«Je höher der Affe klettert, um so mehr sieht man seinen Hintern», bemerkte die Nana. Sie holte für mich einen Malzbonbon aus der Schürzentasche, und ich sah ihr, an sie gelehnt und zufrieden an dem Bonbon lutschend, beim Stopfen zu.

Meine Nana war nicht grausam wie die Gouvernante aus Flunkis Geschichte, auch wenn sie uns mit ihrem Aberglauben gern in Schach hielt. «Verdreh gefälligst nicht die Augen, sonst schlägt die Uhr, und sie bleiben dir für immer so stehen. – Fuchtle nicht so mit der Gabel herum, du spießt sonst deinen Schutzengel auf. – Sei nicht so bockig, sonst wächst dir ein Horn aus der Stirn.» Mich liebte sie wirklich. Ich war ihr Herzepimpel und durfte zu ihr ins Bett, wenn Sturm und Regen das Schloß zu unheimlichem Leben erweckten oder mich schlechte Träume plagten. Ich gierte nach ihren Gute-Nacht-Geschichten, obwohl ich dabei oft vor Schreck unter die Bettdecke kroch. Vor allem die vom «Blondel» Hans konnte ich nicht oft genug hören, den die Zigeuner bei Vollmond aus dem Zimmer gestohlen hatten. Die Zigeuner waren mir viel unheimlicher als unser angebliches Schloßgespenst, ein freundliches, kleines Geschöpf, das sich mit Vorliebe im Weinkeller aufhielt oder in der Speisekammer herumwaberte und dort unnütze Dinge trieb, Eier zerschlug, den Zuckerguß von den Torten leckte oder gerade erst geöffnete Marmeladengläser im Handumdrehen leerte. Im Dienstbotentrakt, der über den Kinderzimmern lag, gab es des Nachts gelegentlich merkwürdig verzückte Schreie von sich, was meistens dann geschah, wenn Onkel Paul sich entschloß, bei uns zu übernachten. Vielleicht hatte ja das Gespenst mein Puppengeschirr zerbrochen!

Die Nana schob das Stopfei aus dem Strumpf und rollte meine Söckchen zusammen. «Du kannst sie gleich mit in dein Zimmer nehmen.«

 

Nur noch wenige Fenster in unserem Adventshäuschen waren zu öffnen. Weihnachten stand vor der Tür. Das Schloß sog sich voll mit Gerüchen. Es duftete nach Geschlachtetem, Gebackenem, nach Bohnerwachs, Harz und Kernseife und frischte auf, was sich davon seit Generationen in Teppichen, Portieren, Sesseln, Kommoden und Schränken festgesetzt hatte.

Großmama Semlin kam mit ihrer Jungfer angereist. Sie warf ihren Zobel achtlos auf den Billardtisch, wo er sich wie ein beleidigtes Tier zusammenkringelte, und umarmte uns der Reihe nach. «Ach, Helene, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, bei euch zu sein.«

In seiner Jugend war unser Großvater Semlin selbst für damalige Verhältnisse extrem arm gewesen, aber dank seiner Energie und großen Tüchtigkeit hatte er es später zu beträchtlichem Reichtum gebracht. Er besaß Kupfer- und Kohlenbergwerke, Brauereien, Mühlen und mehrere Güter, als deren Besitzer er unter Kaiser Wilhelm II. geadelt worden war. Seit seinem Tode lebte Großmama mit ihrer ältesten, unverheirateten Tochter Renata allein in der «Bonbonniere», wie Papa das Schloß seiner Schwiegereltern getauft hatte. Es strotzte nämlich nur so vor Gerüschtem, Gerafftem, Quastenverziertem, Getäfeltem und Geschnitztem, wie es dem Geschmack der Zeit und meiner Großmutter entsprach. Renata mißbilligte die Verschwendungssucht ihrer Mutter. Sie war sehr für soziale Gerechtigkeit und blickte daher mit der Bemerkung: «Von diesen Klunkern könnte eine ganze Arbeiterfamilie leben!», vorwurfsvoll auf den vielen Schmuck, den Großmama mit Vorliebe trug. Zum Glück nahm ihr Engagement für die Armen sie voll in Anspruch, so daß sie nur selten zu Hause war und die beiden Frauen leidlich miteinander auskamen; was allerdings Tante Renata nicht daran hinderte, ihre Mutter in regelmäßigen Abständen an unsere Urgroßeltern zu erinnern, die nach ihren Schilderungen so arm gewesen waren, daß sie sich die Steckrüben vom Felde klauten, um satt zu werden.

Großmama belebte mit ihrer Fröhlichkeit das Haus, und ihr schweres französisches Parfüm wies uns mühelos den Weg, wo immer wir sie suchten.

Flunki, den wir als nächsten erwarteten, sorgte bei seiner Ankunft gleich für die nötige Aufregung. Der Dienerjunge, der ihn abholen sollte, kam ohne ihn vom Bahnhof zurück. Papa erregte sich über die Unzuverlässigkeit der trutzigen Anna: «Wahrscheinlich hat sie den Jungen mal wieder nicht rechtzeitig zur Bahn gebracht.«

Enttäuscht quengelte ich im Haus herum und fragte jeden, wann Flunki denn nun käme. «Du machst mich noch wahnsinnig, Comtesse!» schimpfte Erwin und schob mich von dem Teppich im Wohnzimmer, den er gerade zusammenrollen wollte. Er war sichtlich schlechter Laune, weil Mama ihm befohlen hatte, den Teppich zu klopfen. Die Frau Gräfin wußte doch genau, daß das nicht zu seinen Pflichten gehörte. Dafür waren die Hofeweiber zuständig. Im selben Augenblick polterte ein Ackerwagen die Auffahrt hinauf. Ein Junge mit einem Schulranzen kletterte hinunter. «Man mechte sprechen, es is nich meeglich!» murmelte Erwin, der mit mir zum Fenster gelaufen war. Er eilte, mich im Gefolge, in die Halle, die Flunki gerade betrat. Trotz des Wintertags war er in kurzen Hosen und hatte einen abgeschabten, von Georg geerbten Matrosenmantel an, den vorher bereits Bernhard und Irene getragen hatten; seine Knie waren blaugefroren, seine Hände so kalt, daß ich bei seiner Begrüßung richtiggehend zurückschreckte.

«Hast du denn keine Handschuhe?«

«Ich hab sie liegenlassen.«

Natürlich wollten die Eltern wissen, wieso er den Dienerjungen verpaßt hatte. Flunki rückte nur ungern mit der Sprache heraus, gestand dann aber doch, daß er sich mit seinem Billett für die vierte Klasse in die erste Klasse gesetzt habe. «Da war’s schön warm und ganz leer.» Dort hatte ihn der Schaffner kurz vorm Aussteigen entdeckt und ihn sofort zu unserem Stationsvorsteher geschleppt, der Flunki wieder laufen ließ, als er hörte, daß man ihn auf dem Schloß erwartete. Inzwischen war aber der Dienerjunge mit den Ponys schon wieder umgekehrt, weshalb der Stationsvorsteher Flunki kurzerhand auf einen Ackerwagen aus dem Dorf verfrachtete.

Jutta und ich begleiteten ihn in sein Zimmer, das auf unserem Flur lag. Wir sahen ihm zu, wie er seine paar Habseligkeiten aus dem Ranzen holte und in der Kommode verstaute.

«Wirklich merkwürdig, dein Koffer», bemerkte Jutta.

Zwischen seiner Wäsche sah ich etwas Grünes leuchten. Neugierig griff ich danach und hielt eine Stoffpuppe mit grüner Schürze und roter Zipfelmütze in der Hand. «Mensch, Jutta, guck mal! Ist das der Zwerg vom Prinzen?» Flunki ließ meine Frage unbeantwortet. Er entriß mir den Zwerg und warf ihn aufs Bett.

Jutta rieb sich mit dem Zeigefinger nachdenklich die Nase und verschwand stillschweigend. Mir ging die Sache mit dem Zwerg durch den Kopf. «Ihr habt ihn also doch noch gefunden? Und dann hat ihn der Prinz dir sicher zum Abschied geschenkt?«

Flunki warf mir einen kurzen Blick zu. «Nicht direkt.«

«Aber?» fragte ich. Doch ich bekam keine Antwort mehr. Er war schon aus dem Zimmer gerannt, und ich lief hinter ihm her ins Kinderzimmer. Dort war Jutta gerade dabei, den Schlüssel von ihrem Nippesschrank abzuziehen.

«Warum tust du das?» fragte ich erstaunt.

«Los, los», drängte Jutta statt einer Antwort. «Wir müssen zum Mittagessen. Habt ihr nicht den Gong gehört?«