Der Glückspilz - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Der Glückspilz E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

Ilse Gräfin von Bredow nimmt ihre Altergenossen ins Visier: Von ausgeklügelten Gedächtnistrainings für Senioren und den besorgniserregenden Gedächtnislücken der Jugend, von überbesorgten Töchtern, die ihre Väter älter machen, als sie sind, und dem fidelen Ehepaar, das lieber mit seiner Haushaltshilfe Karten spielt, als diese putzen zu lassen: Mit ihrem berühmt-liebevollen Augenzwinkern erzählt Ilse Gräfin von Bredow aus dem Leben der wichtigsten "Randgruppe" unserer Gesellschaft. Wer könnte das besser als sie?

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ilse Gräfin von Bredow

Der Glückspilz

und andere Überlebensgeschichten

 

 

Inhalt

Das Zauberwort

Der Glückspilz

Der Zahn der Zeit

Der Notnagel

Das gute Kind

Eins rauf mit Mappe

Wo keine Grenze wehrt

Es wird alles gut

Die Klagemauer

Das grüne T-Shirt

Das Ende vom Lied

Löwe im Haus

Das Zauberwort

Der Herbst ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Kein weiter Himmel mit von der Sonne angestrahlten, majestätisch dahinsegelnden Wolkengebilden und leuchtendem Laub, stattdessen Regen, Regen, Regen, der den Keller wie seit hundert Jahren unter Wasser setzt, die Praxis des Dorfarztes füllt und die Kühe auf den Koppeln traurig vor sich hinglotzen lässt, darunter auch neuerdings ein zwei Tage altes Kälbchen eines Öko-Bauern, bei dem die Kühe auf der Koppel kalben. Dem Großvater, auf seinem Spaziergang durch die Marsch, tut das Kälbchen Leid, das da platt wie ein nasser, schwarzweiß gemusterter Kopfkissenbezug im Gras liegt. Doch das Wundern über solch neumodischen Kram hat er sich längst abgewöhnt. Man soll ja jetzt sogar schon Babys ins Wasser werfen, wo sie angeblich gleich munter davonschwimmen.

So gehen die Tage dahin mit Gelassenheit, aber ein wenig langweilig. Die Jahresreise haben die Großeltern hinter sich, und mit jedem Jahr liegt das anvisierte Ziel näher. Lange Flüge traut man sich nicht mehr zu. Die neuen Bundesländer tun es auch, da gibt es viel zu entdecken und sich zu erinnern. Nur regnen tut es dort ebenso häufig.

Im Haupthaus verläuft ein Tag so ziemlich wie der andere. Auch das Gespräch am Frühstückstisch: «Haben wir Post?» – «Was planst du für den Vormittag?» – «Was gibt es zu essen?» Zum Ärger der Großmutter, die noch mit Passion Briefe schreibt, lässt man sich mit den Antworten viel Zeit und reagiert, wenn überhaupt, erst Monate später auf Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Das Zauberwort, mit dem sie aufgewachsen ist, scheint verloren gegangen zu sein.

Sie muss unbedingt zum Friseur, der Großvater zur Bank. Ja, er wird auch den Fisch besorgen, den es heute Mittag geben soll. Außerdem muss er mit dem Hund zum Tierarzt, dem kleinen Liebling gehen die Haare aus. Der Hund sorgt für den lebensnotwendigen Ärger. Er kneift gern aus, gehorcht so gut wie überhaupt nicht oder nur, wenn ihm danach ist, und bekurt die wieder einmal läufige Dackeldame der Enkelkinder, die mit ihren Eltern in der umgebauten Scheune wohnen. Niemals wird der Großvater zugeben, dass dieses Tier keinen Appell hat. Aber seine Jagdprüfung hat er mit Bravour bestanden. Kein Wasser ist ihm zu tief und kein Keiler zu grimmig, wenn es ihn denn gäbe. Dass der Hund vor dem Staubsauger, dem Rasierapparat und einem aufgespannten Regenschirm in Panik gerät, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Wenn man dann von seinen vielen Aktivitäten recht erschöpft – Staus, Schlangen an der Kasse, Warten beim Friseur, beim Tierarzt, und auch der Bankberater ließ sich Zeit – zurückgekehrt ist, begutachtet man den gekauften Fisch mit der «Seele des Hauses». Sie gehört seit vierzig Jahren dazu und hat ihre Rechte. Eins davon ist, sich nicht reinreden zu lassen, wenn sie kocht. Ihre besondere Spezialität ist Rehrücken, der, wie die Gäste betonen, in seiner Köstlichkeit in keinem Fünf-Sterne-Hotel zu haben ist. Auch nicht der Fisch, gekocht oder gebraten. Diesen hier befindet sie nach eingehender Musterung für gut, und der Großvater ist erleichtert. Sie hat die Großeltern und den von ihr gefütterten Hund fest im Griff. Im Haus kennt sie sich aus, als wäre sie dort geboren. Was immer verloren scheint, sie findet es, und, wie es sich für Verlorenes gehört, an den unmöglichsten Stellen: den Autoschlüssel in der Bettritze, das Armband in der Küchenschürze, die Brieftasche im Papierkorb. Verstimmungen gibt es über die verschiedenen Auffassungen von Pünktlichkeit. Jedes Mal, wenn das Essen auf dem Tisch steht, ist der Hausherr verschwunden. Kaum ist er am Platze, zieht es die Hausfrau zum Telefon. Doch heute folgt man dem Ruf der Seele des Hauses auf der Stelle. Der Fisch schmeckt vorzüglich, nur die Kartoffeln sind wie immer knapp. Niemand weiß den Grund, sie bleiben knapp und damit basta. Trotz der Pünktlichkeit herrscht dicke Luft in der Küche. Der Hausherr hat wieder Falläpfel herangeschleppt, aus eigener Ernte, ungespritzt, wenn auch recht klein. Er rühmt sich sehr, dass er sie aufgehoben hat. Aber die Verwertung ist nicht Männersache.

Zusammen ergeben alle drei weit über zweihundert Jahre, und so ist es mit dem Gehör nicht mehr zum Besten bestellt und die Unterhaltung laut. Die Seele des Hauses findet, es gibt hier viel zu tadeln. Nie ist der Kühlschrank richtig zu, und es tropft, die Ordnung in der Gefriertruhe ist für die Katz, weil der Großvater ungeduldig darin herumwühlt, und die Großmutter, mit der sie noch zusammen zur Schule gegangen ist, hat im Alter den Wäschetick. Schon wieder läuft die Waschmaschine, und wo bitteschön soll sie bei dem Wetter mit der Wäsche bleiben? Mehr als arbeiten kann sie nicht, und sie hat auch nur zwei Hände.

Am nächsten Tag gibt es deshalb Resteverwertung. Der Großvater sinnt, über den Teller mit Nudeln gebeugt.

«Nun, er wird schon wieder steigen», sagt die Großmutter beruhigend, «der Euro.»

«Wie kommst du auf den Euro?» Der Großvater ist verdutzt. «Ich überlege gerade, was wir zum Abendbrot essen könnten.»

Zum Tee erscheint die geliebte Enkeltochter, um von ihrer Party zu berichten. Sie wird am Sonnabend stattfinden, und nun dieses Wetter! Es ist zum Mäusemelken. Sie kuckt ganz unglücklich und wird von den Großeltern getröstet. Aber man hat einen Gesprächsstoff, selbstverständlich interessiert die Party auch die Großeltern sehr. Allein die Planung Wochen davor! Es gab so viel zu bedenken, das Essen, die Getränke, ein Diskjockey sollte es möglichst sein, das bringt Schwung in die Sache. Zu Zeiten der Großeltern gab es so was nicht. Schon Grammophonnadeln waren im Krieg äußerst knapp und die Schallplatten oft reichlich zerkratzt. Man tanzte nach Schmachtendem, nach Tango, Polka, Walzer und, wenn irgend möglich, dem verbotenen Lambethwalk.

Einladungskarten sind entworfen worden, die Meinungen über guten Geschmack waren nur schwer unter einen Hut zu kriegen. Nach langem Hin und Her entschied man sich für leicht bekleidete Loriot-Figuren, denen man die Köpfe der Gastgeber, der beiden Enkelkinder, verpasste. Die Liste der Einzuladenden wurde lang und länger. Bei achtzig legte die Mutter ein Veto ein. Man einigte sich schließlich auf fünfundachtzig. Nachdem die Einladungen losgeschickt waren, hatte man das Ganze erst mal ad acta gelegt. Es war ja noch so viel Zeit, fast acht Wochen. Die Gäste sagten zu, sagten ab, die Absager sagten wieder zu, Wochen ging es hin und her. Doch die Gastgeber, die Enkelkinder, hatten die Ruhe weg. So was gehört eben dazu. Man muss flexibel sein. Die Erste, die nervös wurde, war die Mutter – «Es ist eure Party, ich sage ja nichts. Aber ich würde an eurer Stelle nun mal langsam mit den Vorbereitungen anfangen.»

Der Enkelsohn hatte in großer Ruhe seinen Koffer für das Internat gepackt. Immer diese Hektik! Er wusste die Vorbereitungen in den Händen seiner Schwester gut aufgehoben.

Aber nun bricht die Hektik wirklich aus. Keine Zeit mehr für Big Brother und ähnlichen Unfug. Und auch Großvaters Spruch «Immer mit der Ruhe und dann mit’m Ruck» ist jetzt nicht mehr angebracht. Dafür bewundern die Großeltern reichlich den neuen Rock der Enkeltochter, denn darin sind sie sich völlig einig: Mit ihren Enkeltöchtern können andere Mädchen nicht konkurrieren. Trotzdem sind sie ein wenig besorgt über die Zeitknappheit und die noch anstehende Arbeit. Aber das Kind zeigt keinerlei Nervosität. «Keine Bange, das schaffen wir schon. Nur Mami ist mal wieder echt nervig und macht Stress.»

«Das soll sie wohl», sagt die Großmutter, rührt in der Kaffeetasse und sieht versonnen nach draußen, wo es geradezu schüttet.

Die Haustür klappt, die Schwiegertochter kommt hereingehetzt. «Habt ihr noch ’ne Tasse Tee?» Und zu ihrer Tochter gewandt: «Dass du hier noch so ruhig sitzen kannst, ist mir ein Rätsel. Aber ich sag ja nichts, es ist eure Party. Ihr müsst selber sehen.»

«Tun wir auch», sagt das Kind und verschwindet.

Die Schwiegertochter rollt mit den Augen. «Ich sage euch, es wird ein Fiasko geben.» Und dann zählt sie auf, was noch alles zu tun ist: Die Scheune muss ausgeräumt, die Pferde müssen ausquartiert und der Pferdestall muss einigermaßen hergerichtet werden, damit man dort essen kann. «Und das», sagt sie, «ist nur ein Bruchteil von dem, was uns noch erwartet.» Sie verabschiedet sich wie ein ins Feld ziehender Krieger.

Der Großvater ist voller Mitleid, so dass die Großmutter einen günstigen Moment sieht, ihm etwas beizubringen, von dem er, wie sie weiß, nicht begeistert sein wird: «Die Mädchen werden im Haupthaus schlafen.»

Prompt verschluckt sich der Großvater an dem Stück Apfelkuchen, dessen Boden mal wieder viel zu dick ist. Der junge Bäcker kriegt das einfach nicht hin. «Vierzig Mädchen? Wo willst du die denn alle unterbringen?»

«Ganz einfach», sagt die Großmutter, von zarter Statur, aber mit eisernem Willen. «Wir räumen die Zimmer aus.»

Die vor zwei Tagen angereiste Freundin der Großeltern, kinderlos, aber bis zum Hals mit Weisheiten über Kindererziehung gespickt, mischt sich ein. «Mit dem Hausschlüssel, da müsst ihr euch aber etwas einfallen lassen.»

Während die Großeltern ins Grübeln kommen, wie man das regeln könnte, wenn vierzig Mädchen ständig hin- und herwandern, erinnert sich die Freundin, wie das hier mal vor fünfzig Jahren ausgesehen hat, als es von Flüchtlingen wimmelte. Jedes der Zimmer beherbergte eine Familie, und in den Fluren stapelten sich Kisten und Koffer, denn es hatte sich schnell unter den Vertriebenen herumgesprochen, dass hier noch die Devise galt: Des Hauses Ehr ist Gastlichkeit. Zunächst kam das Haus bei diesem Ansturm fast aus dem Tritt, und auf das Zauberwort konnten die Gastgeber lange warten: Sicherungen brannten ständig durch und wurden, da es keine neuen gab, fachmännisch mit Draht geflickt, was die Gefahr eines Brandes in bedenkliche Nähe rückte. Tischchen aus der Rokokozeit zierten jetzt nicht mehr Nippes, sondern kaum zu entfernende Ringe – «Irgendwo muss man ja schließlich seinen Kochtopf absetzen!» –, Kachelöfen, voll gestopft mit grünem Holz, produzierten nur noch Rauch und wenig Wärme, und das einzige Klo fror im Winter prompt ein, Nachttöpfe jedoch waren Mangelware und die noch vorhandenen zweckentfremdet. Man benutzte sie für eingelegte Gurken, die ja auch sehr wichtig waren. Glücklicherweise gab es ja noch den Garten und den Park, mit denen zumindest die Herren vorlieb nehmen mussten. Mancher Historiker sollte vielleicht einmal darüber nachdenken, wie viele schwerwiegende Fehlentscheidungen wegen dieses Mangels getroffen wurden, und mit der alten Generation mehr Nachsicht zeigen. Heute ist es im ganzen Haus mollig warm, und Badezimmer gibt es auch ausreichend. Dafür hat der Großvater als Erstes gesorgt, als man endlich Schritt für Schritt so langsam wieder Boden unter die Füße bekam. Er kann ein Lied davon singen, wie es einem Flüchtling so geht und was man strampeln muss, um bei den Nachbarn etwas zu gelten. Denn nichts ist schöner, als auf andere runterzukucken.

Dass ihre Gäste im Haupthaus schlafen dürfen, findet die Enkeltochter tierisch nett. Sie kennt das Zauberwort und kommt mit einem Blumenstrauß. Opi und Omi sind fast so süß wie der alte Hund, der im vorigen Jahr gestorben ist, nur Gott sei Dank nicht ganz so hinfällig. Jeden Tag ist sie rübergekommen, um ihn zu knuddeln, so dass es nur so aus seinem stark gelichteten Fell staubte und seine mageren Rippen bei seinem erfreuten Hecheln in Bewegung kamen. Sehen konnte er fast nichts mehr, jedenfalls stieß er dauernd überall an. Sein Geruchssinn war stumpf geworden und schon die winzige Treppe zum Haus eine Last. Auch mit dem Gehör war es schlecht bestellt, es sei denn, man sprach das Wort «Keksi» vor sich hin. Augenblicklich kehrte das Leben zurück. Die Großeltern denken oft mit Rührung daran, dass das Kind es sich nicht nehmen ließ, dabei zu sein, als man ihn im Garten an einem milden, schönen Herbsttag unter einer alten Eiche mit einer Spritze einschläferte. Manchmal kommt ihnen der Gedanke, dass er einen friedlicheren, schöneren Tod gehabt hat, als er ihnen vielleicht bevorsteht. Und das Wort «Abstellkammer» geistert durch ihren Kopf, das man so oft in der Zeitung liest: «Alte Frau tot in Abstellkammer gefunden.»

Die Freundin der Großeltern inspiziert nun ihrerseits den Ort des zukünftigen Geschehens und gibt der Schwiegertochter Recht. Es herrscht tatsächlich keineswegs reges Treiben. Nur die jüngere Schwester, die später einmal Designerin oder so was Ähnliches werden will und schon jetzt, wie der Großvater findet, eine Beauté ist, malt, die Haare in etwas Buntem versteckt, die Füße in klobigen, hochhackigen Stiefeln zum knöchellangen engen Rock, mit einem Pinsel, dessen Größe in krassem Widerspruch zu der Fläche und dem Eimer Farbe steht, mit rhythmischen Bewegungen bei lauter Musik in einer Ecke des Pferdestalls fleißig vor sich hin. Glücklicherweise gibt es auf dem Hof den Mann mit den goldenen Händen, der rechtzeitig einspringt, das Kommando übernimmt und System in das Ganze bringt. «Ach, wenn wir Sie nicht hätten!» Und schon geht es zu wie bei den Heinzelmännchen, nämlich fix. Der bereits gelieferte Tanzboden wird in den nach dem Umbau übrig gebliebenen Rest der Scheune gelegt, die Wände des Pferdestalls blitzschnell noch einmal geweißt und mit den zahllosen Turnierschleifen der beiden Mädchen geschmückt, Tische aufgestellt und Schnüre aus bunten Glühbirnen gezogen. Ein Gasofen sorgt für die nötige Wärme und die roten und gelben Plastikdecken auf den Tischen für Farbe. Selbst gebastelte Kerzenhalter werden aufgestellt. Nun betritt auch der zweite Gastgeber die Bühne. Er ist gerade aus dem Internat eingetroffen und mustert alles wohlwollend. «Nicht schlecht.»

Danach murmelt er etwas von «den Großeltern guten Tag sagen» und verschwindet für eine Ewigkeit im Haupthaus, bis ihn die Mutter zur Arbeit scheucht. «Du sitzt hier und trinkst Tee, anstatt die Zimmer auszuräumen! – Ich sag ja nichts, es ist eure Party.»

Aber irgendwann ist alles vorbereitet, Essen und Trinken bestellt, nun können die Gäste kommen. Das tun sie auch, nur zwei Stunden später als vorgesehen und dass es jetzt statt achtzig über hundert sind, was den aus dem Ort bestellten Koch und die Hausfrau nicht gerade fröhlich stimmt. Den Vater packt geradezu Entsetzen. Er hatte sowieso vor, sich zu drücken. Das Schlafzimmer musste er auch noch räumen und die Nacht wieder im Elternhaus in seinem früheren Kinderzimmer zubringen. «Ist man denn nicht mal mehr Herr im eigenen Haus? Eine Zumutung so was. Und außerdem gibt es gerade jetzt beruflich viel Stress.» Hat doch der Vater, wie für Mittelständler heute warm empfohlen, zwei Berufe. Aber diesmal kommt er mit seinem Jammern nicht durch, da ist die Hausfrau gnadenlos. Bei so viel jungem Volk gehört eine Autorität ins Haus. Es ist einem ja schon so viel Unerfreuliches zu Ohren gekommen, von der Kuh im Swimmingpool will man erst gar nicht reden. Es geht dann eben leicht über Tische und Bänke. Ausgenommen die eigenen Kinder. Die wissen noch, was sich gehört.

Doch alle diese kleinen Querelen werden aufgewogen durch das Wetter. Die Sonne hat den ganzen Tag geschienen, hat die Pfützen ausgetrocknet und ist jetzt den Sternen gewichen, die gemeinsam mit einem beleibten Mond herunterfunkeln. Dazu ist es fast windstill und für Herbst noch sehr warm. Im Handumdrehen ist der Hof mit Autos voll gestellt, kreuz und quer, anstatt verünftig eingeparkt, genau so, wie sich das der Großvater gedacht hat. Sein Hund wird vorsorglich eingesperrt. Er kommt in das Kabuff neben dem Schlafzimmer. Der kleine Liebling ist außer sich. Warum darf er nicht wie sonst im Flur in seinem Körbchen schlafen? Was hat er Schlimmes angestellt? Er hat es sich weder auf dem zweihundert Jahre alten, gerade neu bezogenen Lehnstuhl bequem gemacht, noch ist er in die Speisekammer geschlichen oder hat sich das Steak vom Küchentisch geholt. Vielleicht ist die geschossene Ente schuld, die er nicht aus dem Wasser holen wollte. Aber das Wasser war wirklich sehr kalt. Ergeben, ganz Opfer, lässt er alles über sich ergehen, doch als ihm der Großvater verlockend einen seiner Lieblingskekse unter die Nase hält, dreht er den Kopf weg. Nicht mit ihm, das hat er nun wirklich nicht nötig.

Die Mädchenschar begrüßt sich mit kleinen Entzückensrufen: «Hallo, du auch hier, ist ja cool!» Die Freundin der Großeltern, die sich höflich beiseite drückt, stellt fest, dass sie sich in der Kleidung kaum unterscheiden. Sie tragen fast alle dasselbe, Jeans, Pullover, um den Hals einen dicken Schal gewürgt, kleine Perlohrringe und Pferdeschwanz. Ihr fällt ein, dass es in ihrer Jugendzeit ähnlich war. Da war es eine Zeitlang schick gewesen, den V-Ausschnitt der Pullover auf dem Rücken zu tragen.

Zwitschernden Schwalben ähnlich, aber mit Blei an den Füßen, wuchten sie die Treppe hinauf und ergießen sich in die Zimmer, die sie im Handumdrehen in ein Chaos aus Kleidungsstücken, Kosmetika, Haarbürsten und Schuhen verwandeln. Überall riecht es nach leicht verschwitzten Mädchenkörpern, Parfüms und Nagellack. Immerhin, das Resultat des Umziehens kann sich sehen lassen. Der Großvater nimmt es mit Wohlwollen zur Kenntnis, zieht sich aber bald vor so viel quirliger Jugendlichkeit ins Schlafzimmer zurück. Dann öffnet er die Tür zum Kabuff, um mit einem gnädigen «Na, komm schon» dem Hund den Eintritt in ein sonst verbotenes Reich zu gewähren. Der Hund denkt nicht daran. Er blinzelt nur ein bisschen und rührt sich nicht. «Na, denn eben nicht, du dummes Tier.» Der Großvater ist wie immer schnell beleidigt, wenn der kleine Liebling seine eigene Meinung hat und ihm jetzt nicht voller Dankbarkeit die Hände leckt. Er knallt die Tür zu.

Die Großmutter, die inzwischen auch geflüchtet ist, zuckt zusammen. «Kann man denn in diesem Haus nicht einmal eine Tür leise zumachen?» Eine oft gestellte Frage, die grundsätzlich überhört wird.

«Ich geh jetzt in den Keller und hol uns was Anständiges zu trinken», sagt der Großvater entschlossen. «Was gibt es denn im Fernsehen?»

Die Großmutter greift nach dem Programmheft. «Natürlich mal wieder nichts.»

Aber inzwischen hat sich das Haus geleert, man kann den Gang ins Wohnzimmer wagen, ohne mit einem Dutzend fremder Menschen zusammenzuprallen. Dort macht man es sich dann gemütlich. Der Wein ist wirklich gut.

«Ich sollte noch ein paar Flaschen davon bestellen», sagt der Großvater und will die Freundin des Hauses überreden, auch ein Gläschen davon zu trinken. «Ein kleiner Schluck, das kann doch nicht schaden.»

Auch diese Feststellung gehört dazu wie die Maus in der Ecke, die unbekümmert hinter der Scheuerleiste vor sich hin nagt. Aber die Freundin dankt. Eine zu langweilige Person.

Zuerst plaudert man ein wenig über das Alltagsgeschehen, dass die gestern auf dem Markt gekauften Kartoffeln nichts taugen und was man im Lokalblättchen, über dessen Niveau man die Nase rümpft, wonach aber jeder als Erstes greift, so gelesen hat. Die Interessen sind da sehr verschieden. Der Großvater möchte wissen, wer diesmal im Dorf Bürgermeister wird, die Großmutter entsetzt sich darüber, wer im letzten Monat alles gestorben ist, und nun auch noch der Besitzer der kleinen Imbissbude. «Vor ein paar Tagen konntest du ihn noch durchs Dorf laufen sehen, und jetzt … Und das mit knapp sechzig!»

«Mit sechzig ächzt sich’s, mit siebzig gibt sich’s, und mit achtzig macht sich’s», sagt die Freundin tröstend. «Wusstet ihr, dass es jährlich ebenso viele Tote durch Sodbrennen gibt wie durch Verkehrsunfälle?»

Nein, das wussten ihre Freunde nun wirklich nicht, und es ist auch schwer zu glauben. «Sodbrennen. Ich bitte dich.»

Der Großvater zieht die Uhr. Jetzt werden sie wohl drüben längst beim Tanzen sein. Und schon ist man wieder bei den Erinnerungen, wie das so nach dem Kriege war, als man auf dem von einem Trecker gezogenen Milchwagen, um die guten Nylons fürchtend, eingeklemmt zwischen Milchkannen, dem Fest entgegentuckerte. Zum wiederholten Male blättert man in den alten Alben, die noch von früher und aus der Anfangszeit des Krieges stammen. Die Freundin stellt fest: «Mein Gott, was waren wir dick.»

«Kein Wunder, bei dem vielen Pamps.»

Die Jungen, meist in Uniform, mit einem bestimmten Knick in den Offiziersmützen, der als schick galt, blicken aus ihren noch ungeformten Gesichtern mit gesammeltem Ernst dem Betrachter entgegen. Nur wenige von ihnen sind wieder einigermaßen heil nach Haus gekommen.

«Wisst ihr was? Wir gehen jetzt rüber und sehen uns den Zauber mal an.» Sie machen sich auf den Weg. Die Tür des Haupthauses ist natürlich nicht verschlossen, wie es sein sollte, und auf dem Hof ist Vorsicht geboten, um nicht über die Dackel zu fallen, die ratlos herumirren. In der Scheune ist wahrlich was los. Die Schlipse der Jungen hängen schon auf Halbmast, aber sie zeigen sich ausnahmsweise als fleißige Tänzer. Es ist so ein Gewoge, dass sie sich in die Küche der Schwiegertochter retten. Dort steht der tüchtige Sohn mit den zwei Berufen und macht Küchendienst. Gemeinsam mit einer weiteren Perle des Hofes, vor der die Kinder mehr Respekt als vor ihrer Mutter haben und ohne die die Wäscheberge nicht zu bewältigen wären, spült er unermüdlich Gläser. Aber die Musik ist doch ein wenig zu laut und die Masse Mensch zu lärmend, und so kehren die Alten wieder in die eigenen vier Wände zurück. Trotz unverschlossener Haustür beschließen sie, ins Bett zu gehen.

Am nächsten Tag ist wieder das schönste Wetter. Die Freundin der Großeltern macht einen Rundgang über den Hof. Es ist friedlich und still, die Glocken läuten den Sonntag ein. Sie zwängt sich durch die Autos hindurch, aus denen hin und wieder lautes Schnarchen dringt. Nur das Eichhörnchen ist zu sehen. Es sitzt auf einem Mercedes und wirkt völlig verzweifelt. Seit Tagen schon rennt es zwischen dem Walnussbaum und dem Ort, an dem es seine Vorräte aufzubewahren pflegt, hin und her. Denn Nüsse gibt es dieses Jahr in ungeahnten Mengen. Es müsste fast schon Schwielen an seinen kleinen Pfoten haben. Und jetzt diese vielen Ungeheuer! Wollen die etwa alle an seine Nüsse?

Das Katerfrühstück dehnt sich bis weit in den Mittag aus. Schließlich ist man erst um sechs schlafen gegangen. Doch dann leert sich der Hof, Ruhe tritt ein, sehr zur Erleichterung des Eichhörnchens, das eifrig wieder mit seinen Nüssen hin- und herflitzt. Großeltern, Freundin, Kinder und Enkelkinder finden sich zur Manöverkritik zusammen. Resultat: Alles in allem sehr gelungen, aber einiges gibt es doch zu beanstanden. Der Sohn, der, wie sich die Großeltern entsinnen, auch recht flott im Feiern war, findet, dass zu viel getrunken worden ist. Und überhaupt, gutes Benehmen sei wohl heute ein Fremdwort. So ein Lümmel habe den Kopf in die Küche gestreckt und gefragt, wo der Sekt bleibt. Ein anderer dagegen habe in die Puppenstube gekotzt. Sogar die sonst so tolerante Schwiegertochter wirkt leicht vergrätzt. Einige haben sich nicht einmal vorgestellt, sie schlichtweg übersehen, ja sich nicht einmal verabschiedet, ganz zu schweigen von dem mal wieder vergessenen Zauberwort. Das hatte sie sich doch ein bisschen anders vorgestellt. Auch mal tanzen hätte jemand mit ihr können. Das wäre wohl doch mit Anfang vierzig noch gestattet. Dieser Jugendwahn heutzutage, da konnte man doch wirklich nur den Kopf schütteln. Neulich will ein Ehepaar ihres Alters, das sich in einer Diskothek blicken ließ, gehört haben, wie jemand hinter ihnen sagte: «Nun seht euch das an! Jetzt kommen sie schon zum Sterben hierher.»

Die Großeltern hüllen sich in diskretes Schweigen. Kritik ihrerseits löst leicht Verstimmung aus, obwohl die Großmutter sich über den Zustand der Badezimmer geärgert hat, die so aussahen, als befände man sich auf dem Klo in einem Interregio. Die Freundin des Hauses spricht es ungerührt aus: «Manche denken wohl, hinter jedem Stuhl steht ein Diener», und fügt hinzu: «Aber dem hätte man so was nicht zumuten dürfen, der hätte gleich gekündigt.»

Über die nicht abgeschlossene Haustür wird erst gar nicht geredet. Es ist ja nichts passiert. Die Gastgeberin, das süße Enkelkind, ist betrübt und muss getröstet werden. «Wir meinen es doch nicht so.»

Der Gastgeber ist längst wieder im Internat. Fast eine Woche sind beide Schwestern und Mutter mit Aufräumen beschäftigt. Dafür gibt es sehr schnell jede Menge Briefe. Sie sind voller Lobeshymnen. Das Fest war außerirdisch, tierisch, unvergleichlich, toll, gut und total super. Die Freundin der Großeltern erinnert sich beim Lesen an ähnliche Briefe aus ihrer Jugend, wenn auch in andere Worte gekleidet wie «pfundig», «prima» und «bombig», was eigentlich, wie sie jetzt denkt, ein ziemlich makabrer Begriff war. Vergessen sind die kleinen Ärgernisse, nach so vielen reizenden Entschuldigungen für Kaputtgegangenes, für unangebrachten Lärm und Rauchen dort, wo es ausdrücklich untersagt worden war, und auch das peinliche Malheur in der Puppenstube. Milde breitet sich aus. Von dieser Generation ist viel Positives zu erwarten.

Die Großeltern beschließen, den schönen Herbsttag zum Anlass zu nehmen, ihren zweiten Sohn zu besuchen, der nicht allzuweit entfernt wohnt. Er hat zwei kleine Töchter. Sie lernen jetzt schon das Zauberwort. «Wie heißt das Zauberwort?»

«Danke.» Man übt schon fleißig.

Der Glückspilz