Und immer droht der Weihnachtsmann - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Und immer droht der Weihnachtsmann E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

Nach den Erfolgen von ›Ich und meine Oma und die Liebe‹ und ›Benjamin, ich hab nichts anzuziehn‹ hat sich Ilse Gräfin von Bredow neue Geschichten zum Fest der Liebe ausgedacht. Gewohnt unsentimental beschreibt sie Spannungen zwischen den Generationen unterm Weihnachtsbaum. Denn gerade wenn alles so schön festlich sein soll, schleichen sich oft Misstöne ein, und Traditionen haben ihre Tücken. Die gefürchtete Erbtante will jedes Jahr ein anderes Familienmitglied zum Fest bei sich sehen. Ein Ehepaar droht sich über die eingefahrenen Feiertagsroutinen endgültig zu entzweien. Ein Überraschungsgast sprengt eine vertraute Runde am ersten Weihnachtstag - Harmonie, wohin man schaut. Frei von Rührseligkeit, aber mit liebevollem Blick nimmt Gräfin von Bredow menschliche Schwächen aufs Korn, die diese Zeit des Jahres etwas weniger gnadenbringend erscheinen lassen.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ilse Gräfin von Bredow

Und immer droht der Weihnachtsmann

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nach den Erfolgen von ›Ich und meine Oma und die Liebe‹ und ›Benjamin, ich hab nichts anzuziehn‹ hat sich Ilse Gräfin von Bredow neue Geschichten zum Fest der Liebe ausgedacht. Gewohnt unsentimental beschreibt sie Spannungen zwischen den Generationen unterm Weihnachtsbaum. Denn gerade wenn alles so schön festlich sein soll, schleichen sich oft Misstöne ein, und Traditionen haben ihre Tücken. Ob es die gefürchtete Erbtante ist, die jedes Jahr ein anderes Familienmitglied zum Fest bei sich sehen will, oder das Ehepaar, das sich über die eingefahrenen Feiertagsroutinen endgültig zu entzweien droht, oder der Überraschungsgast, der eine vertraute Runde am ersten Weihnachtstag sprengt – all diese skurrilen Begebenheiten laden augenzwinkernd zur Besinnlichkeit ein.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Lieber guter Weihnachtsmann

Die Erbtante

Öfter mal was Neues

Der Gutmensch

Der Überraschungsgast

Das Kriegstagebuch

Der Liebesdienst

Das Nettchen ist sehr brav

Monti und Konsorten

Lieber guter Weihnachtsmann

In jenen nun schon fast sagenhaften Jahren, als Kinder noch nicht Kids hießen, so manche unverheiratete Frau großen Wert darauf legte, mit »Fräulein« angesprochen zu werden, Kindergärtnerinnen als »Tante« bezeichnet wurden und chronischer Schnupfen keine Krankheit, sondern ein Zustand war, liebte ich einen Kater namens Moritz, Geschichten vom Weihnachtsmann und meine Mutter, wobei die Reihenfolge häufig wechselte. Natürlich liebte ich auch meinen Vater, aber der war nun mal im Krieg, kam selten nach Hause und wenn, nur sehr kurz. Mehrere Weihnachtsfeste hatten wir bereits auf ihn verzichten müssen. Erst als wir in diesem Jahr gerade sangen: »Leise rieselt der Schnee«, stand er plötzlich in der Tür. Die Freude war groß, und endlich konnte ich wieder auf seinem Schoß sitzen und gemeinsam mit ihm auf den Weihnachtsmann warten. Er hörte sich mein eifriges Geplapper freundlich an, sagte: »Hm, hm, also wirklich«, zog dabei an seiner Pfeife und sah auf die Uhr. »Ich muss mal raus, ich bin gleich wieder da.« Mutters Lieblingssatz: »Es kommt immer alles anders«, sollte auch hier zutreffen, denn kaum hatte er das Zimmer verlassen, betrat fünf Minuten später der Weihnachtsmann mit wuchtigen Schritten den Raum, und ich musste ihm Rede und Antwort über mein Betragen stehen. Ebenso meine Mutter, die etwas gezwungen darüber lachte und mit einer Kleinmädchenstimme herunterhaspelte: »Lieber guter Weihnachtsmann, sieh mich nicht so böse an, stecke deine Rute ein, ich will auch immer artig sein.«

»Das will ich mir auch ausgebeten haben«, sagte der Weihnachtsmann. »Mir ist da so einiges zu Ohren gekommen. Es wird sogar behauptet, dass du eine wilde Hummel bist.«

Mutter schwieg, aber es war ihr anzumerken, dass sie sich über ihn ärgerte. Allerdings waren die Geschenke, die er aus seinem Sack holte, prima. Ich bekam die sehnlichst gewünschte Mundharmonika und Mutter einen goldenen Armreif.

Der Weihnachtsmann verschwand, und Vater erschien, ganz außer sich, ihn verpasst zu haben. Na so was aber auch! Danach ließ er sich von uns die Geschenke zeigen, fand unglaublich, dass ihn der Weihnachtsmann anscheinend gar nicht auf der Rechnung hatte, bewunderte Mutters Armreif und spielte auf der Mundharmonika: »Morgen, Kinder, wird’s was geben, morgen werden wir uns freu’n.« Mutter gab ihm einen Kuss, der von ihm ausgiebig erwidert wurde, was meine Eifersucht hervorrief. »Oller Mamaknutscher«, murmelte ich vor mich hin. »Und überhaupt«, sagte ich, »der Weihnachtsmann im vorigen Jahr war viel netter.«

»Was soll denn das heißen?«, fragte mein Vater nicht mehr ganz so zärtlich meine Mutter.

»Na, was schon«, sagte Mutter, »du warst schließlich nicht da. Ein Ersatz musste her.«

»Erklär mir das Wort Ersatz ein wenig näher.«

Ich sah verständnislos von einem zum anderen, und Vater sagte: »Geh mal schnell raus und sieh nach, ob du den Weihnachtsmann noch erwischst. Wir haben total vergessen, ihm nach seiner langen Reise etwas Warmes anzubieten.«

Ich gehorchte, aber vom Weihnachtsmann war nichts mehr zu sehen. Nur das tiefe Brummen der Bombengeschwader war zu hören, und am Horizont sanken gerade die von ihnen abgeworfenen Leuchtsignale, Weihnachtsbäume genannt, langsam zur Erde. Enttäuscht kehrte ich ins Haus zurück, und ich merkte gleich, zwischen meinen Eltern hatte es Knies gegeben, der aber nicht lange vorhielt. Mutter schickte mich ins Bett und verwöhnte mich, ehe sie mir gute Nacht sagte, noch mit einer Geschichte über den Weihnachtsmann, allerdings eine wenig erfreuliche, jedenfalls für ihn, denn als er Petrus, seinem Dienstherrn, von seiner Reise berichtete, bekam er von ihm kein Lob, sondern nur einen missbilligenden Blick, sodass ihm klar wurde, irgendetwas verbockt zu haben. Seine Ahnung trog ihn nicht. Statt eines leckeren Abendessens bekam er zur Strafe Brotsuppe serviert.

»Was hat er denn Böses getan?«, wollte ich wissen.

»Er war sehr unhöflich zu einer sehr netten Mutter.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte ich weiter.

»Er hat sie eine wilde Hummel genannt. Das gehört sich nicht.«

»Brotsuppe, iih.« Ich schüttelte mich wohlig.

Und ausgerechnet die gab es auch am nächsten Tag bei uns.

»Ich hasse Brotsuppe!«, rief ich. »Außerdem hab ich gar nichts verbrochen.«

Vater, der ebenfalls ziemlich unfroh auf seinen von Mutter wohlgefüllten Teller starrte, fuhr mich an: »Ein deutscher Junge isst, was auf den Tisch kommt.«

»Wie recht du doch hast«, sagte Mutter sanft. »Lasst es euch schmecken. Übrigens gibt es in der Küche reichlich Nachschlag. Es wird wohl noch für morgen reichen.«

Aber das ersparte sie uns dann doch gnädig. Sie überraschte uns mit Koteletts, Bratkartoffeln und Grießpudding, denn es war Vaters letzter Urlaubstag.

Gemeinsam brachten wir ihn zum Bahnhof, und als wir wieder nach Hause gingen, kämpfte Mutter mit den Tränen. Auch ich vermisste ihn, seine Späße, wenn er mich lachend durch die Wohnung jagte oder in die Luft warf. Er roch angenehm nach Tabak, an seiner Hand fühlte ich mich sicher, er konnte mir die Welt erklären, und ich glaubte ihm jedes Wort. Mutter ließ wie gewohnt nicht lange den Kopf hängen und machte sich selbst Mut: »Ach, wer weiß, vielleicht ist der Krieg ja wirklich bald vorbei, und er steht wieder vor der Tür. Es kommt immer anders, als man denkt.« Ein Satz, der auch hier stimmte, wenn auch auf sehr traurige Weise. Erst wurde unser Städtchen bei einem Luftangriff zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt, dann Vater als vermisst gemeldet. Wir versuchten uns gegenseitig zu trösten, obwohl ich von dem Begriff »vermisst« nur eine sehr unklare Vorstellung hatte, und schliefen gemeinsam in einem Bett. Doch zum Trauern ließ uns der Krieg nur wenig Zeit. Die Front rückte von Tag zu Tag näher, sodass wir, wie andere Mütter mit Kindern, evakuiert wurden. Es wurde wahrlich kein Spaziergang, aber Mutters Charme und ihr erfreuliches Aussehen halfen uns dabei, manche Klippe zu überwinden, egal, in was für eine Situation wir gerieten. Immer fanden sich hilfreiche Männerhände zur Unterstützung, ob sie mich zog, schob oder festhalten musste. Man verschaffte uns Sitzplätze, brachte uns was Heißes zu trinken oder drückte uns rücksichtslos in jeden noch so überfüllten Zug, ungeachtet des Gejammers, wenn wir jemandem auf die Füße traten. Ebenso war es mit den Übernachtungen. Für uns fand sich immer eine Unterkunft, auch wenn es nur ein Stall oder eine Scheune war.

Verdreckt und erschöpft landeten wir schließlich in einer ehemaligen Arbeitsdienstbaracke, die uns Flüchtlingen von der Gemeinde zugeteilt worden war. Sie lag mitten in der freien Natur und war in einem ziemlich desolaten Zustand. Durch klapprige Fenster pfiff der Wind, die von Frost glitzernden Fensterscheiben waren mit Fliegendreck gesprenkelt, die gekalkten, fleckigen Wände wirkten nicht gerade anheimelnd, und die Kanonenöfen in den Zimmern brauchten eine Ewigkeit, bis sich in ihnen so etwas wie ein Feuer entwickelte. Auf den doppelstöckigen Betten lagen Seegrasmatratzen, deren Inhalt bei jedem Umdrehen sanft auf den unteren Schläfer rieselte, und jedes Zimmer war auf das Sparsamste möbliert. Die Tische wackelten, und an den Stühlen zerriss man sich die Hosen und Strümpfe. Es gab nur ein einziges Klo im Haus und ein Plumpsklo auf dem Hof sowie einen Duschraum, in dem nur die beiden Waschbecken zu benutzen waren. In der großen Küche stand ein riesiger unbrauchbarer Herd, für den uns die Gemeinde hochherzig eine bei weitem nicht ausreichende zweiflammige Kochplatte zur Verfügung gestellt hatte. Die Frauen sahen sich ratlos an, aber Mutter sagte, wie immer mit unverwüstlicher Zuversicht in der Stimme: »Das kriegen wir schon hin.« Und tatsächlich kehrte sie, mit reichlich Kartoffeln, Erbsen, Sirup, Mehl und Schmalz auf einem Lastwagen sitzend, aus dem Dorf zurück. Ja, der Bürgermeister hatte uns sogar eine zweite Kochplatte spendiert. Auch entdeckten wir neben der Garage aufgestapeltes gehacktes Brennholz und Briketts.

Mutter und ich teilten uns ein Zimmer mit einer sehr viel älteren, aber noch rüstigen Frau und deren Enkelin Olga, die ein Jahr jünger war als ich. Sie hatte ihren linken Arm durch einen Bombenangriff verloren, bei dem auch ihre Eltern umgekommen waren. Trotz dieses großen Unglücks war sie recht munter und sagte »oller Jammerlappen« zu mir, weil ich so viel heulte. Doch man hatte mir auf der Flucht meinen geliebten Teddy aus dem Rucksack geklaut, und ich hatte allen Grund dazu. Aber dann, von Mitleid gepackt, tröstete sie mich mit einem Stück Würfelzucker, das sie plötzlich aus ihrer Tasche hervorzauberte. Während ich behaglich lutschte, aber gewohnheitsmäßig still weiterweinte, sprang mir etwas Riesiges auf den Schoß, sodass ich vor Schreck aufschrie. Ein braun-weiß getigerter Kater hatte mich als Ruheplatz erkoren und machte es sich nun auf meinem Schoß bequem. Schnurrend und schmusend rieb er seinen dicken Kopf an meinem Gesicht, als ich seinen schweren Körper fest an mich drückte, was er sich gleichmütig gefallen ließ. Ich hatte einen neuen Freund gefunden, und einen Namen hatte ich auch gleich für ihn bereit. Ich legte mich auf mein Bett, Moritz im Arm, und war im Nu eingeschlafen.

Niemand wusste, woher der Kater kam und wem er gehörte. Aber eins stand fest: Er hatte meine Mutter und mich als Familie adoptiert und tat alles, um unsere Gunst zu gewinnen. Er wärmte Mutter nachts die Füße und verhielt sich manierlich. Die anderen Frauen runzelten die Stirn. Es war schon eng und unbequem genug, und nun stolperte man noch dauernd über eine Katze. Moritz verstand und verzog sich, wenn dicke Luft herrschte, weil es in Strömen goss und alle drinnen hocken mussten, in einen nur ihm bekannten Schlupfwinkel. Moritz ging nicht nur auf Mäusejagd, seine kräftigen Muskeln, die scharfen Krallen und das glänzende Fell ließen vermuten, dass er auch größere Beute durchaus nicht verschmähte, was uns sehr schnell bestätigt wurde. Schnurrend legte er uns eines Tages einen stattlichen Hasen vor die Füße, was teils mit Abscheu, aber teils auch mit großem Wohlwollen aufgenommen wurde, denn Hasenbraten hatten wir schon lange nicht mehr gegessen. Von da an wurde Moritz von allen akzeptiert. Niemand gab ihm mehr heimlich einen Tritt oder scheuchte ihn mit einem Besen nach draußen.

Allmählich begann sich unser Leben in der Baracke zu normalisieren. Mütter sind nun mal pragmatisch, und wenn es gut für ihre Kinder ist, halten sie zusammen. Sie teilten sich die Arbeit und organisierten den Alltag. Bald beherrschten sie den Kniff, mit Öfen umzugehen, und jemand, der erstaunlicherweise in seinem Fluchtgepäck sogar seinen Volksempfänger mitgeschleppt hatte, sorgte an den Abenden für Unterhaltung. Während draußen ein scharfer Ostwind pfiff und den Gang ins Dorf durch Eis und Schnee beschwerlich machte, saßen wir im ehemaligen Gemeinschaftsraum zusammen, hörten Musik und erzählten uns Geschichten. Noch war der Krieg nicht zu Ende, noch waren feindliche Bomber und die gefürchteten Tiefflieger unterwegs und zogen über uns ihre Bahnen. Und immer, wenn wir die Kondensstreifen am Himmel sahen und das gleichmäßige Geräusch der Motoren hörten, wurden alle still. Nur ich saß meist recht zufrieden in einer Ecke mit Moritz auf dem Schoß und erzählte ihm vom Weihnachtsmann, der nun bald kommen würde, was mir Mutter aber auszureden versuchte. »Denk doch mal nach, Junge, wie soll der Weihnachtsmann uns denn finden. Diesen Ort hier gibt es doch auf keiner Landkarte. Womöglich nehmen ihn noch die Tiefflieger aufs Korn. Und dann steht er da mit gewaschenem Hals.«

Die anderen Frauen lachten und sagten: »Also, was du dem Jungen so erzählst!« Doch ich sah das vollkommen ein, wenn es mich auch betrübte.

Aber wieder mal kam alles anders. Zwei, drei Tage vor Heiligabend stand eine zusammengeschnürte Tanne vor der Barackentür, und darin verborgen waren ein Briefumschlag mit Lametta und für uns Kinder kleine Geschenke. Trotz Mutters Geunke erschien am Heiligabend dann doch der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass sich Olgas Oma geradezu darum gerissen hatte, ihn zu spielen. Wir waren gerade im Aufenthaltsraum um den Weihnachtsbaum versammelt, als Schritte auf dem Flur zu hören waren. Die Tür wurde aufgerissen, und da stand er nun, der Ersehnte und Gefürchtete. Er fragte uns barsch, ob wir artig gewesen seien, und schwang drohend seine Rute, sodass selbst Olga, die mir zehn Minuten vorher gerade erklärt hatte, ich sei plemplem, einen Weihnachtsmann gebe es nicht, ganz eingeschüchtert war. Geschenke allerdings brachte er nicht mit, nur für alle gemeinsam einen Marmorkuchen. Dann verabschiedete er sich mit ermahnenden Worten und stiefelte davon.

Das Frühjahr kam, und unsere Lebensgeister erwachten. Auch die Natur gab sich alle Mühe, die trostlose Landschaft aufzumöbeln. Der Efeu an der Barackenwand bekam wieder glänzende Blätter, Schneeglöckchen blühten, und Felder und Birken zeigten den ersten grünen Schimmer. Es wurde Mai, der Krieg war zu Ende, und man konnte überall wieder ohne die Gefahr, von einem Tiefflieger erwischt zu werden, herumstöbern. Das taten Olga und ich nur zu gern, besonders der Wald hatte es uns angetan, wo wir Hänsel und Gretel spielten. Wir waren Stadtkinder, und alles, was wir entdeckten, war uns fremd und weckte unsere Neugier. Ein Ameisenhaufen hatte es uns besonders angetan, und wir versuchten mit vorsichtigem Herumstochern, ihn zum Leben zu erwecken. Doch dann fing Moritz, der uns begleitet hatte, an, wild zu fauchen, und kletterte blitzschnell auf einen Baum, als sich hinter uns jemand räusperte. Wir fuhren herum. Vor uns stand ein junger Mann in einer ziemlich verwaschenen grünen Uniform. Wir lebten in einer Frauenwelt, mal abgesehen von den Opas, die sich gern über uns entrüsteten, mich einen Lümmel nannten und von uns nicht für voll genommen wurden. Und so flößte mir schon der Anblick eines kräftigen Mannes Respekt ein. Auch machte er nicht gerade den Eindruck, dass man ihm auf der Nase herumtanzen konnte, und so sagten wir beide wie auf Kommando gleichzeitig: »Guten Tag.« Grüßen war immer gut, meist besänftigte Höflichkeit die Erwachsenen, wenn man nicht genau wusste, was sie mit einem vorhatten. Es schien auch hier zu wirken, denn seine Stimme klang ganz ruhig, als er sagte: »Ich warte.« Wir sahen ihn verständnislos an. »Auf eine Erklärung. Was gibt es für einen Grund, den Ameisenhaufen zu zerstören?«

»Wir dachten …«, stotterte ich.

»Ihr dachtet«, sagte er ganz freundlich. »Es macht euch wohl Spaß, die Ameisen zu erschrecken. Aber Tiere sind kein Spielzeug. Ihr kommt bestimmt aus der Stadt und habt von nichts ’ne Ahnung. Ich heiße übrigens Martin und bin der Förster hier.« Dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und fragte uns ein bisschen aus.

Während Olga sehr schnell das Interesse an der Natur verlor und lieber mit zwei anderen gleichaltrigen Mädchen Vater und Mutter spielte oder den einzigen Ball, den es gab, an die Wand schmetterte, hatte ich wieder einen neuen Freund, und Martins Revier wurde fast ein zweites Zuhause für mich.

Leider zeigte auch Moritz nur noch selten Lust, mich zu begleiten. Der Frühling hatte seine Gefühle in Wallung gebracht, und ihm lag anderes im Sinn. Außerdem sah Martin es nicht gern, wenn er im Wald herumstromerte. Meine Mutter war froh, mich bei meinem Freund gut aufgehoben zu wissen. Denn sie hatte inzwischen den Förster ein bisschen unter die Lupe genommen, um festzustellen, was das eigentlich für ein Mensch war, von dem ihr Sohn dauernd sprach und dem er wie ein Schatten folgte. Martin war von ihr sichtlich beeindruckt, was aber, wie ich schnell merkte, auf Gegenseitigkeit beruhte. So durfte ich weiter mit oder ohne Martin herumstreifen. Aber, wie Olgas Oma gesagt hätte, »das Unglück schreitet schnell«, und es war mein Kater Moritz, den es während eines Spaziergangs mit mir durch die Felder traf. Das Getreide war inzwischen mächtig gewachsen, und ich sah gerade interessiert einer Blindschleiche zu, wie sie sich an einem schmalen Graben entlangschlängelte. Als ich mich lange genug damit beschäftigt hatte und wieder aufsah, war Moritz verschwunden und nirgends zu entdecken. Plötzlich überkam mich ein unheimliches Gefühl, und ich rannte los Richtung Wald. Kurz davor machte der Feldweg eine Kurve, und da sah ich einen Mann mit einem Hafersack über der Schulter, in dem es mächtig zappelte. Ich schaltete blitzschnell. Das, was sich in dem Sack bewegte, war Moritz. Hatte Olgas Oma uns nicht gerade erzählt, dass im Dorf dauernd Katzen verloren gingen, und was von einem Labor gemunkelt? Außer mir vor Angst und Wut, stürmte ich los und versuchte mit aller Kraft, dem Mann den Sack wegzureißen, der ihn, völlig verdutzt über den plötzlichen Angriff, tatsächlich fallen ließ, sodass Moritz sich befreien und die Flucht ergreifen konnte. Dafür hatte mich sein Räuber fest im Griff, und die Ohrfeigen, die er mir versetzte, waren nicht von schlechten Eltern. Er hielt mich fest, so viel ich auch kratzte und trat. Glücklicherweise kam in diesem Moment ein Bauer auf seinem Trecker angetuckert. Der Mann ließ mich los und rannte nun seinerseits davon. Ich rettete mich in den Wald, setzte mich auf einen Baumstumpf und schluchzte mir nicht nur diesen Schrecken, sondern auch alle traurigen und ängstigenden Erlebnisse der letzten Zeit von der Seele, während Moritz, längst wieder neben mir sitzend, sich ungerührt putzte. Ich schluchzte und schluchzte, bis sich eine Hand auf meine Schulter legte und Martins Stimme sagte: »Komm mal mit. Ich zeig dir was Schönes.« Wir krochen durch dichtes Unterholz, bis er auf etwas Winziges in einem Busch deutete, das Nest eines Zaunkönigs. Der Hausherr kam gerade mit Futter im Schnabel herbeigeflogen und schlüpfte hinein.

Von da an wurde ich sozusagen Forsteleve, und Martin zeigte mir alles, was im Wald so kreucht und fleucht. Sehr bald konnte ich eine Eiche von einer Buche unterscheiden, wusste, wann Pappeln blühen und wo Waldmeister wächst. Ich hackte, schnitt und pflanzte mit ihm, mühte mich mit heißem Kopf ab, so mit einer Säge umzugehen, dass sie nicht dauernd klemmte, und sah in respektvoller Entfernung staunend zu, wenn ein großer Baum gefällt wurde. Dafür, dass ich einmal Weihnachtsmann werden wollte, schämte ich mich noch im Nachhinein. Aber da war ich wohl noch sehr klein gewesen. Jetzt gab es für mich nur noch einen Beruf: Förster. Ich war mittlerweile sieben Jahre alt und fühlte mich groß und stark und dem Leben gewachsen. Wenn das Wetter umschlug, konnte es passieren, dass Martin plötzlich taumelte und durch eine schwere Kriegsverletzung hervorgerufene rasende Kopfschmerzen bekam. Dann spielte ich den Sanitäter, suchte sorgsam eine trockene Stelle im Waldboden aus, befahl ihm, sich hinzulegen, rollte meine Jacke als Kopfkissen zusammen, holte seine Tabletten aus dem Rucksack, gab ihm aus seiner vorsorglich mitgebrachten Feldflasche zu trinken und bewachte seinen Schlaf, während ich mich Tagträumen hingab, in denen er an die Stelle meines Vaters getreten war und mich lobte, weil ich ihm einen von mir mit großer Überlegenheit dingfest gemachten und nun winselnd um Gnade flehenden Holzdieb brachte.

Ich war mir ganz sicher, Mutter mochte Martin. Sie kam immer häufiger mit der Begründung, mal sehen zu wollen, was ich denn so triebe, in den Wald spaziert und holte sich bei Martin Rat, wenn sie mit mir nicht mehr weiterwusste. Tatsächlich hatte ich mich zu einem ziemlichen Flegel entwickelt und verbot der armen Olga großspurig, Moritz auch nur anzufassen. Aber der blieb mir weiter untreu, würdigte mich meist keines Blickes und saß lieber schnurrend auf ihrem Schoß, was mich sehr wurmte, aber sicher auch daran lag, dass er Waldverbot hatte. Denn Katzen duldete Martin nun mal nicht in seinem Revier. Ich legte mich sogar mit Arnold, unserem Großmaul, an. Der Zwölfjährige hatte sich durch die amerikanischen Besatzer angewöhnt, hinter jedem Satz ein »Okay« anzubringen. Ich machte mich darüber lustig, und das bekam mir schlecht.

Olga und ich waren endlich eingeschult worden. Mutter zeigte sich richtig froh, mich los zu sein. »Ich hoffe, du kriegst einen ordentlich strengen Lehrer, der dich auch mal übers Knie legt.«

Den bekam ich nicht. Ich bekam das herzensgute, schon leicht angegraute Fräulein Schreiber, die, wie wir fanden, noch mächtig hinterm Mond lebte und vergeblich versuchte, uns nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen, sondern auch die inneren Werte in uns zu fördern, und das mit Hilfe eines Buches, das den Titel trug: »Wie leite ich das deutsche Kind«.

»Ein deutsches Kind«, las sie uns vor, »versteckt nicht die Scherben, wenn es etwas zerschlagen hat. Es trägt sie zur Mutter und erklärt offen und treuherzig, was es angerichtet hat. Ein deutsches Kind, dem man jeden Wunsch erfüllt, wird immer anmaßender und lästiger in seinen Begierden.«

Olga fing an, bitterlich zu weinen. »Ich will kein deutsches Kind mehr sein«, schluchzte sie.

»Und warum nicht?«, fragte Fräulein Schreiber irritiert. »Auch wenn wir den Krieg verloren haben, auf unser Vaterland können wir trotzdem stolz sein.«

»Weil«, wimmerte Olga, »mir meine Oma dann keinen Puppenwagen schenken darf.«

Ein paarmal erlaubte ich Moritz gnädig, mich zu begleiten, obwohl mir nicht ganz klar war, ob es nicht eigentlich Olga war, der er zur Schule folgte. Die Klasse war begeistert, und Fräulein Schreiber nannte ihn »süß«. Er durfte beim Unterricht auf einem Stuhl neben ihr sitzen, und ich sah, wie seine Zunge jedes Mal über sein kleines Maul fuhr, wenn er sie anblickte. Ob Moritz auch seine Tagträume hatte? Vielleicht verwandelte sich für ihn das nette Fräulein vorübergehend in eine mollige Maus, oder plante er vielleicht schon seinen nächsten Verrat?

Das Glück mit Fräulein Schreiber dauerte nicht lange. Wir waren noch dabei, an der Wandtafel »rauf, runter, rauf und ein Pünktchen drauf« zu üben, da bekamen wir zur großen Zufriedenheit meiner Mutter einen Lehrer. Er übte mit uns erst mal Sitzen und Aufstehen, bis es militärisch zackig vonstatten ging. Und leider musste meine Mutter feststellen, dass ich nach einiger Zeit weit mehr Ahnung vom Gebrauch einer Panzerfaust hatte als vom Rechnen.

»Wird schon werden«, sagte meine Mutter, sich selbst tröstend, hübschte sich auf und ging ins Dorf, um sich dort, wie ich hoffte, mit Martin zu treffen und mit ihm in die Stadt zu fahren. Ich würde darüber kein Wort verlieren, da konnten beide ganz sicher sein. Mir war es nur recht, wenn er ein Mamaknutscher wurde.

Inzwischen hatte sich die Baracke sehr geleert. Mal war ein Ehemann aufgekreuzt und hatte Frau und Kinder abgeholt, mal hatte jemand eine bessere Unterkunft gefunden oder war bei der Verwandtschaft untergeschlüpft. Von den Kindern waren nur Arnold, das Großmaul, und Olga übrig geblieben. Umso erstaunter war ich, als sich am Heiligabend tatsächlich noch einmal ein Weihnachtsmann blicken ließ. Aber an seiner Stimme erkannte ich gleich, wen ich da vor mir hatte. Ich war ganz außer mir vor Freude, als Martin die Maske abnahm und mich und meine Mutter lachend mit den Worten in die Arme schloss: »Alle mal herhören, im Frühjahr wird geheiratet! Ihr seid alle eingeladen!«