Mein Körper ist so unsozial - Ilse Gräfin von Bredow - E-Book

Mein Körper ist so unsozial E-Book

Ilse Gräfin von Bredow

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Beschreibung

Nach dem großen Erfolg von »Das Hörgerät im Azaleentopf« und »Nach mir die Sintflut« widmet sich Ilse Gräfin von Bredow erneut dem Abenteuer Alter. Mit nun über neunzig Jahren ist sie eine echte Expertin und lässt uns mal lustig, mal eher bitter, aber immer amüsant zu lesen, an ihren Einsichten und Erfahrungen teilhaben. Im vertrauten, wunderbar leichten Ton nähert sie sich Wohnformen, Herzenswünschen, enger werdenden Lebenskreisen und den körperlichen Beschwerden. Sie erzählt von ihrem Alltag im Hochhaus und von Spaziergängen in den Parks von Hamburg, aber auch, wie ihr das Gedächtnis Streiche spielt und von den wirklichen Bedürfnissen der »Uralten«, zu denen sich die Autorin nun zählt.

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EPUB
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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Ilse Gräfin von Bredow

Mein Körper ist so unsozial

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Mein Körper ist so unsozial2 Abenteuer Alter3 Singe, wem Gesang gegeben4 Der innere Schweinehund5 Immer enger, leise, leise6 Dieser Hund!7 Schnell und wendig8 Unverhofft kommt oft9 Die Grindelhochhäuser10 Der Single11 Mein Herzenswunsch12 Die Christel von der Post13 Eine Familiengeschichte14 Das Gewohnheitstier15 Helfende Hände16 Nachwort

1Mein Körper ist so unsozial

Sie denken, mit zunehmendem Alter wird das Leben vielleicht nicht leichter, aber ruhiger und friedlicher. Vergessen Sie’s! Die Zeit vergeht in immer schnellerem Sauseschritt, und wir Alten keuchen hinterher, damit wir wenigstens einigermaßen mit dem uns mehr oder weniger aufgezwungenen technischen Fortschritt mithalten können und nicht am Ende alles durcheinanderbringen, so dass die Eier in der Tiefkühltruhe landen, aus deren Innerem die Nationalhymne zu hören ist, wenn wir den Deckel heben, deren Text wir aber leider vergessen haben. Während es sich die Bestecke im Kühlschrank zwischen den Apfelsinen gemütlich machen, ist es durchaus möglich, dass wir fertigbringen, unseren kleinen Liebling, den Wellensittich, in die Mikrowelle zu packen, damit er wenigstens einmal im Leben Karussell fahren kann. Sie wissen ja, alles ist möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, denn, was die Phantasie betrifft, sind wir in Hochform, ja, manche unter uns bekommen es sogar fertig, sich ihr Paar Schuhe täglich neu zusammenzustellen: rechter Fuß Pumps, linker Fuß Pantoffel, was die Jugendlichen »supercool« finden. Auch der neu erworbene Fernseher gibt uns unlösbare Rätsel auf, ebenso wie die uns monatelang verwirrende Ankündigung der Umstellung von analogem auf digitalen Empfang. Dazu hätte in meiner Jugend auf dem Lande unsere Nachbarin die Achseln gezuckt und gesagt: »Is mich alles eins. Hauptsache, die Hühner legen.« Allerdings ging es damals, Anfang der dreißiger Jahre, mehr darum, welcher Flagge man den Vorzug geben sollte. Aber hier geht es um zwei Begriffe, die für mich trotz wiederholter Erklärungen in Presse und Fernsehen böhmische Dörfer bleiben. Wenn ich jemand, der mir fachkundig scheint, um Aufklärung bitte, ernte ich ein mitleidiges Lächeln. Doch die dann gütig erteilte Auskunft bringt mich auch nicht weiter. Immerhin habe ich begriffen, dass, wer Kabelanschluss hat, sich um nichts kümmern muss. Und tatsächlich, trotz meines alten Gerätes hat sich für mich nichts geändert.

Ganz anders bei einer Freundin. »Das Erste ist weg«, klagt sie fast schluchzend am Telefon.

»Das ist ja ein Ding«, sage ich in meiner Begriffsstutzigkeit. »Sind die pleite oder was?«

»Sei nicht albern«, sagt meine Freundin unfreundlich. Im Gegensatz zu mir hat sie einen nagelneuen Fernseher, röhrenlos mit Flachbildschirm und Hunderten von Möglichkeiten. Und sie hat ebenfalls wie ich einen Kabelanschluss. Meinen fachkundigen Rat, jemanden zu beauftragen, der ihr den richtigen Kanal einstellt, verhallt. Sie hat aufgelegt. Einen Tag später erzählt sie mir, dass ein Fachmann gekommen und nun alles in Ordnung sei. Aber, wie sie beteuert, hat sie das eine Menge Geld gekostet. Im Laufe der nächsten Tage häufen sich die Hiobsbotschaften. Bei dem einen ist Phoenix unauffindbar, bei dem anderen SAT1. Ich gebe meinem alten Fernseher einen leichten Klaps. »Siehste«, sage ich, »wie gut, dass ich mir ein Zusatzgerät gespart habe.«

Aber das sind alles Bagatellen gegen das, was uns der Körper täglich bietet, mit dem wir jahrelang sehr viel sorgloser umgegangen sind als jetzt mit all dem technischen Kram. Hat man hier einmal auf den falschen Knopf gedrückt, muss man damit rechnen, dass es für das zwei Jahre alte Gerät kein Ersatzteil mehr gibt. Das ist das Merkwürdige an unserer Zeit. Nur um das Wachstum zu beschleunigen, landet anscheinend alles schnell wieder auf dem Müll. Ganz anders der Mensch, der anscheinend gar nicht alt genug werden kann. Im Gegenteil, die heutige Generation ist darauf aus, uns im Alter noch zu überflügeln und trainiert ihren Körper deshalb schon rechtzeitig dafür, was früher bei uns nicht so in Mode war, und schon gar nicht im Krieg. Kein Wunder also, dass unser Körper am Schluss des Lebens noch einmal so richtig zupackt und damit zeigt, wer hier jetzt der Bestimmer ist.

Während ich meine Hände eincreme, stelle ich plötzlich fest, dass der Zeigefinger der rechten Hand nun ebenso wie der linke den Kopf gebeugt hält und dass der Ringfinger seinen Dienst verweigert, so dass sich meine Ringe nicht mehr abstreifen lassen. Eben noch bin ich forschen Schrittes durch den Park marschiert, da signalisieren mir plötzlich meine Beine, Schluss mit lustig, und zwingen mich, die nächste Bank anzusteuern. Sie empfängt mich nicht gerade freundlich, sondern der Jahreszeit entsprechend äußerst kühl, was wiederum anderes in meinem Körper in Aufruhr bringt. Am nächsten Tag dagegen geben mir die Beine das Gefühl, dass ihnen so etwas wie Schlappmachen völlig fremd ist. Dafür beklagt sich mein rechtes Knie über das flotte Tempo. Doch wie wir wissen, soll man den Tag nicht vor dem Abend loben. Wer heutzutage den Bürgersteig wechseln will, tut gut daran, sich vorher umzudrehen, ob nicht gerade ein Radfahrer zum Überholen ansetzt, der, was das Tempo betrifft, sein Gefährt mit einem Porsche verwechselt. Ich drehe mich also um, und mein Körper lässt mich unerwartet Karussell fahren, so dass ich an einem geparkten Auto Halt suchen muss. Als ich einer Nachbarin, der sich andere Interessierte zugesellen, diese Leidensgeschichte erzähle, sind sofort mehrere Diagnosen und Ratschläge zur Hand, denn schließlich sind wir allesamt durch die vielen medizinischen Berichte in der Presse allmählich selber halbe Ärzte und benutzen fehlerfrei die am schwierigsten auszusprechenden medizinischen Fachwörter. Ich selbst, hier der »Patient«, habe allerdings nicht für möglich gehalten, wie viele Ursachen so ein kleines Missgeschick, wie es mir passiert ist, hat. Ein zu hoher oder ein zu niedriger Blutdruck, die Halswirbel, die Bandscheiben, Rheuma, Arthrose und vieles andere. Dabei liegt die Antwort auf der Hand: Es sind die Jahre. Das Alter kommt nun mal auf seine Weise und für jeden anders. Es ist also müßig, wie man es gerne tut, alle Alten über einen Kamm zu scheren, womöglich noch mit dem Hinweis: »Andere sind viel kränker als du und kommen trotzdem zur Konfirmation, Hochzeit, Taufe« oder zu sonst was. Nur der inzwischen verstorbene Autor Robert Gernhardt hat für mich in seinem Gedicht »Siebenmal mein Körper« den Nagel auf den Kopf getroffen: »Mein Körper ist so unsozial. Ich rede, er bleibt stumm. Ich leb ein Leben lang für ihn. Er bringt mich langsam um.«

Es gäbe noch viele Geschichten zu erzählen, was der Körper im Alter mit uns treibt. Besonders nachts habe ich zum Beispiel manchmal das Gefühl, dass sich sämtliche Organe auf dem Kriegspfad befinden und Dinge tun, die sie sich am Tage nicht trauen.

Aber außer immer zahlreicheren körperlichen Zipperlein wird mit zunehmenden Jahren auch unser Redebedürfnis größer. Deshalb sind wir dankbar, dass in der heutigen Zeit viel Gerede über nichts und alles wieder sehr in Mode ist. Jeder, mich inbegriffen, scheint sich verpflichtet zu fühlen, zu allem, was er hört und sieht, seinen Senf dazuzugeben. Dabei hieß es noch in meiner Jugend – lang, lang ist’s her – »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«. Sobald wir Kinder, wie es hieß, Quasselwasser getrunken hatten, bekamen wir diesen Spruch zu hören. Und wenn meinem schweigsamen Vater unser vieles Geplapper, an dem sich meine Mutter gern beteiligte, zu weit ging, bekamen wir die Geschichte zweier Onkel aufgetischt, die gemeinsam einen Spaziergang durch Wald und Heide machten. Nach einer halben Stunde tiefen Schweigens deutete der eine auf einen Storch, der sich auf einer Wiese die Frösche schmecken ließ, und sagte: »Da ist ein Storch.« Nach einer weiteren halben Stunde, nun bereits auf dem Rückweg, kamen sie wieder an dieser Wiese vorbei, und der zweite Onkel sagte: »Und da steht noch einer.« Zu Hause angekommen, konnten sie gar nicht genug beteuern, wie prächtig sie sich unterhalten hatten. Während mir diese Geschichte einfällt, habe ich gleich wieder die Stimme meiner verstorbenen Schwester im Ohr: »Haste schon mal erzählt.«

2Abenteuer Alter

Hin und wieder schmökere ich in alten Büchern, die ich als Kind gern gelesen habe. Selma Lagerlöfs »Nils Holgerssons wunderbare Reise« oder Mark Twains »Tom Sawyer«. Der Einfallsreichtum dieses Jungen würde ihm in der heutigen Zeit eine blendende Karriere versprechen. Schon allein, wie er es fertigbringt, die ihm von seiner Tante verpasste Strafarbeit, nämlich am Sonntag den Zaun zu streichen, in ein wunderbares Hobby zu verwandeln, so dass die an dem Zaun vorbeischlendernden und eben noch spottenden Klassenkameraden plötzlich ganz versessen darauf sind, ihm diese Arbeit abzunehmen und auch noch dafür bezahlen müssen, ist beispielhaft. Von allen diesen Büchern ist es aber Robinson Crusoe, dessen Erlebnisse mich im hohen Alter immer noch begeistern können. Die Geschichte dieses jungen Abenteurers, der sich, nachdem sein Schiff in einem Orkan auf Grund gelaufen ist, als Einziger auf eine felsige Insel retten kann und dort achtundzwanzig Jahre verbringen muss, ist mit Weisheiten gepflastert, die auch heute noch gelten, so der Spruch: »Jähe Freude, jäher Schreck raffen selbst den Stärksten weg.« Seine Erfahrung, die er vor dreihundert Jahren machte, kennen auch wir, nämlich, dass Geld manchmal nicht mehr Wert hat als Sand unter den Füßen und auch die kostbarsten Schätze wenig helfen, wie der Reichtum der Inkas in Peru sie nicht vor den Spaniern retten konnte.

Dummerweise habe ich die Angewohnheit, wenn ich mich für ein Buch begeistere, andere damit zu öden. »Was für ein Theater um dieses Buch«, bekomme ich zu hören. »Und was du dir da so an Gemeinsamkeiten herauspickst zwischen einem auf sich gestellten jungen Spund und dir. Du fühlst dich ja geradezu mit ihm seelenverwandt. Eins hast du ihm zumindest voraus: Du kannst deine Rederitis an uns auslassen. Dein neuer Freund musste sich mit einem Papagei begnügen.« Ich höre mir die Kritik an und beschließe, wieder mehr die Kunst des Zuhörens zu üben.

Aber noch einmal zurück zu Robinson Crusoe. Er gerät, wie wir Alten, in Situationen, die er nie für möglich gehalten hat. So etwa, als durch ein Erdbeben seine in Monaten mühsam geschaffene Unterkunft zusammenbricht. Mit den Naturgewalten hat natürlich unsereins weniger Probleme. Die erleben wir nur noch im Fernsehen, wo uns Windhosen, Orkane und auch Erdbeben sehr anschaulich vorgeführt werden. Unsere Fenster lassen sich gut schließen, und die Heizung können wir höherstellen.

Mir setzen jetzt im hohen Alter andere Dinge zu, die mir mein griesgrämig gewordener Körper täglich neu beschert und die ich meistern muss. Ihm geht alles zu schnell, kaum hat er sich mühsam an etwas gewöhnt, ist es kurz darauf schon wieder überholt. Robinson allerdings hatte andere Probleme, die mir erspart bleiben, nämlich von Kannibalen gefressen zu werden, zum Beispiel. Aber für jemanden wie mich, der früher verhältnismäßig fix war, ist das nur ein schwacher Trost. Ich muss nun hinnehmen, mit einer Schnecke verglichen zu werden. »Geht’s nicht ein bisschen schneller, Tantchen?«

Während ich mich also im Zeitlupentempo durch meine kleine Wohnung bewege, klingelt das Telefon. Besuch sagt sich an. »Tantchen, wir müssen dir unbedingt unsere Wohnung zeigen«, sagt eine vergnügte Stimme. »Etwa in zehn Minuten sind wir bei dir und holen dich ab.«

Zehn Minuten! Ich gerate in Panik. Wie soll ich das nur schaffen! Ich muss mich umziehen und meine Brille suchen, die sich wieder auf Reisen befindet. Außerdem zeigt mein rechtes Hörgerät durch dumpfes Pochen an, dass die Batterie dringend ausgewechselt werden muss, ein Vorgang, den meine steifen, ungeschickten Finger hassen, und wie vorauszusehen, klappt es auch nicht. Die Batterie fällt auf den Boden, und die Sucherei nach ihr beginnt. Man glaubt es nicht, wie weit so ein Winzling rollen kann, und grundsätzlich in eine völlig andere Richtung, als man vermutet. Auch sonst ist noch so viel zu bedenken! Aber wie meist im Leben ist alles halb so wild. Die Jugend von heute nimmt es nicht mehr so genau mit der Pünktlichkeit. Aus den angekündigten zehn Minuten werden zwei Stunden.

Während ich mich mit der jungen Ehefrau bereits auf den Weg zum Auto begebe, sieht sich der Ehemann fürsorglich noch einmal in der Wohnung um, ob die Herdplatten abgeschaltet und die Fenster geschlossen sind. Im Auto frage ich ihn: »War alles in Ordnung?« Er nickt. »Alles okay. Nur der Deckel der Tiefkühltruhe stand mal wieder offen.«

Es stimmt, das Leben steckt voller Überraschungen, besonders im Alter. Eben noch war In-die-Hocke-Gehen kein Problem, und plötzlich komme ich nicht mehr hoch. Das rechte Handgelenk streikt beim Brotschneiden, und der Daumen ist schmerzhaft angeschwollen. In solchen Momenten tröste ich mich und sage mir, wenigstens herrscht in deinem Kopf noch einigermaßen Ordnung. Allerdings war schon in jungen Jahren mit meinem Gedächtnis nicht viel Staat zu machen. Aber Gott sei Dank wird heute Vergesslichkeit sehr toleriert, es sei denn, man vergisst Kinderwagen samt Kind bei strömendem Regen im Park. Um ähnlichen Katastrophen vorzubeugen, trainiere ich täglich meine mentale Fitness. Die Übungen sollen mein Gedächtnis nicht nur auf Trab bringen, sondern sogar wesentlich verbessern. Da gibt es Übungen für die Konzentration, für die Ausdauer und für die Kreativität. Dummerweise brauche ich sehr lange, bis ich die mir gestellten Aufgaben überhaupt begriffen habe. Auch lässt meine Ausdauer zu wünschen übrig. So werde ich wohl nie in Günter Jauchs Fußstapfen treten können, der laut Umfrage zu den intelligentesten Deutschen gehören soll. Allerdings beruhigt mich sehr, dass viele junge Menschen sich in der gleichen Lage wie ich befinden und schon am Anfang ihres Lebens mehr als schusselig sind.

Diese Feststellung machte ich mal wieder, als mich der Urenkel einer Freundin besuchte. Es war ein sehr gelungener Nachmittag, in dem der Fünfzehnjährige mal so richtig loslegen konnte, ohne ständig von seinem zwei Jahre älteren Bruder gedeckelt zu werden. Wie er mir erzählte, hatte er im Internet die Bekanntschaft einer coolen Band gemacht, mit der er sogar in den Sommerferien quer durch Schweden gereist war. Seine Schilderungen waren äußerst detailliert, besonders wenn die Sprache auf eine gewisse Mausi kam, was mich wiederum sofort an seinen Vater erinnerte, der mir etwa im Alter seines Sohnes mit derselben Genauigkeit ein Mädchen namens Rotraud schilderte, die sein älterer Bruder zu seiner großen Wut grundsätzlich nur Rotkraut nannte. Während ich darüber noch still in mich hineinlächelte und wieder mal wehmütig dachte, wo sind die Jahre geblieben, hatte er das Thema gewechselt und fragte: »Sag mal, Tantchen, hast du eigentlich noch ein Grammophon?«

»Durchaus möglich«, sagte ich. »Es müsste auf dem Boden stehen. Du kannst es gern haben.«

Er bedankte sich überschwänglich und rief: »Ein Grammophon, das ist der Hammer. So etwas hat keiner in meiner Klasse.«

»Ich gehe gleich mal gucken«, sagte ich und erhob mich ziemlich steifbeinig. »Ich bin gleich wieder zurück.«

»Klasse«, rief er. »Alte Jazzplatten gibt es zu Haus noch stapelweise.«

Wie üblich war der Fahrstuhl gerade unterwegs nach unten. So beschloss ich kühn, die Treppe zu nehmen. Komisch, vor vierzehn Tagen hatten mir die Stufen gar nichts ausgemacht. Doch diesmal gebärdeten sich meine Beine, als wollte ich sie zwingen, den Mount Everest zu besteigen. Ich musste mich förmlich am Geländer hochziehen. Als ich ziemlich außer Atem die letzte Stufe bewältigt hatte, war ich sehr erleichtert, kam aber gleichzeitig ins Grübeln. Was wollte ich bloß hier oben? Bestimmt nicht durch das Flurfenster im achten Stock die Aussicht genießen. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir der Grund einfiel: Richtig! Das Grammophon! Dummerweise konnte ich mich nun wieder nicht daran erinnern, auf welcher Flurseite meine Bodenkammer lag. Und deren Nummer fiel mir auch nicht ein. Nach einigem Herumgesuche ließ sich mein Gedächtnis gnädig herab, mir die richtige Nummer zu nennen. Dass es wohl doch die falsche war, merkte ich erst, als meine ungeduldigen Finger vergeblich versuchten, Schlüssel und Schloss in Einklang zu bringen. Finster betrachtete ich mir den Schlüssel, und dann fiel mir plötzlich ein, die Nummer war richtig, der Schlüssel war falsch. Das zu ihm passende Schloss gab es nicht mehr. Vor zwei Wochen war nämlich auf dem Boden eingebrochen worden, und das Schloss musste erneuert werden. Was ich da in der Hand hielt, war der alte Schlüssel. Und dann fiel mir ein, dass es auch das so brennend gewünschte Grammophon nicht mehr gab. Einer der Einbrecher hatte daran Gefallen gefunden. Zu dumm aber auch!

Ich sah auf die Uhr und erschrak. Fast eine Stunde gurkte ich hier schon herum, mein Gast würde sich bestimmt schon Sorgen machen. Aber dieser Gedanke war überflüssig. Mein junger Besucher hatte mich keineswegs vermisst. Er war ganz mit seinem neuen Handy beschäftigt und exerzierte alle Möglichkeiten mit ihm durch. Meine lange Abwesenheit war ihm anscheinend überhaupt nicht aufgefallen. Begeistert begann er, mir jede Neuerung dieser Erfindung zu erklären.

»Tut mir leid«, sagte ich, »dass du so lange warten musstest. Das Grammophon gibt es leider nicht mehr. Es ist geklaut worden.«

Verdutzt sah er mich an. »Was’n für’n Grammophon?«

Wie schön, dass es zwischen Jung und Alt noch viele Gemeinsamkeiten gibt, und an erster Stelle – die Vergesslichkeit!

In dieser Woche gaben sich die Gäste förmlich die Klinke in die Hand. Zwei Tage später erschien ganz aufgelöst Cousine Irmgard. Mit ihr gibt es immer reichlich Gesprächsstoff, denn wir waren im selben Internat gewesen und sogar zur selben Zeit. Doch diesmal musste sie erst etwas loswerden, womit sie im greisen Alter überhaupt nicht gerechnet hatte: Sie war durch eine Erbschaft sozusagen über Nacht eine wohlhabende Frau geworden. Ich gab ihr den Rat, möglichst wenig davon in der Familie zu erzählen, sonst werde sie bestimmt gleich angepumpt. Irmgard ist ein höflicher Mensch und wollte auch mich mal zu Worte kommen lassen. So wechselte sie das Thema und fragte mich nach einer gewissen Rosi. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Muss ich die kennen?«

»Du warst im Internat mit ihr auf einem Zimmer, und ihr wart dicke Freundinnen.«